Mythos Europa

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Mythos Europa
HELMUT WEIDHASE
Mythos Europa
Wohnfassade mit heller Skulptur. Ein nacktes Weib in Wehr und Waffen,
emanzipatorisch aufrecht, zugleich wie ein weiblicher Prometheus angeschmiedet - was hilft da die geballte Faust!
Über ihrem behelmten
Haupt sinken himmlische Heerscharen an Fallschirmen oder auf befranstem Teppich ins mythologische Trauerspiel hinab und hinein – und
irgendwann vielleicht auch hinaus. Denn das „Hinaus aus dem Mythos“ ist
mit deutlichem Zeichen eingearbeitet: Der heilige Zeus-Stier verlässt die
geliebte Europa, und korrigiert den Nietzsche-Satz „Gott ist tot“ - Gott ist
auf der Flucht, ganz klein und schon weit weg.
Man wird ins Mythologische gelockt.
Wer ist die gefesselte, bombastische Matrone? Eine phönizische Prinzessin, die der griechische Göttervater Zeus als weißer Stier mit silbernem
Mondornament auf der animalischen Stirn verführte und vom Morgen- ins
Abendland ungefragt importierte. In homerischen Hymnen wurde das vor
über 2600 Jahren besungen, in poetischen Erzählungen von Moschos und
Ovid beschrieben, von Mörike im 19. Jahrhundert übersetzt.
Aber die geraubte Schöne hatte kein glückliches Leben. Der Stier, ehe er
andere Damen in anderer Gestalt heimsuchte, verwandelte sich auf kretischem Grund in einen Adler, notzüchtigte die phönizische, andere nennen
sie auch syrische Schöne und flog davon. Außer in der dichterischen Erinnerung kam er nie wieder zu dieser Orientalin. Europa blieb nur noch dies:
Sie gab ihren Namen zu gelegentlich freier Verfügung für geographischpolitische Benennungen und gebar dem Olympier drei im antiken Jenseits
Urteile sprechende Totenrichter. Ihr berühmtester Zeus-Sohn ward Minos,
König von Kreta, verheiratet mit der Pasiphae, die mit einem keineswegs
göttlichen, dafür viehisch potenten Bullen das Ungeheuer Minotaurus
zeugte, worüber sich Großmutter Europa nicht gefreut haben kann.
Der Athener Theseus hat dieses Jungfrauen fressende Ungetüm im kretischen Labyrinth später erschlagen und Athen gerettet, damit in dieser
Stadt die künftige Demokratie samt ihrer Mischung aus Freiheitsfreude
und Finanznot, Satyrpossen und Trauerspielen erfunden werden konnte.
Europas Brüder haben nach ihrer Entführung nach ihr gesucht, sie aber
nicht gefunden. Bruder Kadmos kam dabei nach Böothien, gründete dort
die Stadt Theben, und seine Gattin Harmonia gebar ihm die Tochter Semele, die wiederum der erotomane Zeus schwängerte – und der Wein-,
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Weib- und Gesangsgott Dionysos kam zur Welt:
Das wird die Großtante Europa gefreut haben. Europa hatte ihre mythischen Nachkommen, aber genau genommen blieb sie verschwunden, wenn
sie jemals überhaupt in der unmythischen Welt ihre leibliche Wirklichkeit
besaß.
EUROPA wurde zum Staatswort, Bild- und Bildungssignal, zur verfügbaren
Bedeutungsmischung. Das zeigt das Lenksche Damen-Bild und die sie umflatternden, umzingelnden, zu bacchantischen Genüssen drängelnden Herrschaften. Sie brauchen ihre gerüstete Standfestigkeit nicht zu fürchten, denn
das Eisen schließt sie fest, bewahrt die Eroberer vor Gegenwehr und sichert
sogar den Spielraum zwischen ihren Beinen. Wie aber kommt solch reiche
mythische Erzählung zur Würde einer politischen Territorial- und Herrschaftsbezeichnung – und seit wann und warum?
Literarisch: Wenn Homer die Mythos-Überlieferung der kretisch-minoischen
und der phönizischen Kultur von Ost nach West mischt (griech. eurys - weit
und ops – Sicht, Gesicht. Europa die Weitsichtige oder phönikisch erob = der
Abend, Europa die erste „Abendländerin), dann hat man guten und aktualisierbaren Bildungsgrund gefunden. So rühmlich Europa von den Alten berufen wurde, bewunderten es neuere Poeten nicht in gleicher Weise. Gottfried
Benn beginnt sein raum- und zeitumfassendes Kurzgedicht „Alaska“ mit zwei
scharfen Zeilen:
Europa, dieser Nasenpopel
Aus einer Konfirmandennase…
Findet sich in mittelalterlicher Dichtung selten das Wort „Europa“, so doch
in einem bedeutenden Zeugnis der St. Galler Klosterpoesie, das der Märchen-Grimm (Jacob) herausgab, im lateinischen Helden-Lied „Waltharius“.
Das fängt mit einem ebenso machtbewussten wie geographisch falschem
„Europa“-Lob an und endet mit arg lädierten Europäern:
Tertia pars orbis, fratres, Europa vocatur…
Dreißig Prozent vom Erdkreis, o Brüder, heißen EUROPA…
Drei Helden kämpfen auf europäischem Grund, und so sieht ihr Sieg aus: Walther wird die rechte Hand abgeschlagen, dem König Gunther ein Bein überm
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Knie weggesäbelt, der wilde Hagen verliert ein Auge, das halbe Gesicht und
sechs Backenzähne. Was bleibt, ist heldischer Klosterwitz, wenn man diese
alte satirische Pointe so deuten darf. Der eine kann nicht mehr liebevoll umarmen, der andere nicht mehr davonlaufen, der dritte muss schräg gucken und
weichen Brei futtern.
Dass hier überhaupt „Europa“ vorkommt, kann bezeichnend sein, denn dieses mythische Wort gehört erstens vor allem der Dichtung, sodann aber den
Zeitläufen chaotischer Politik und unberechenbarer Historie. „Mythos“ hat vielerlei Wort- und Begriffsdeutungen erhalten. Zunächst ist ein „Mythos“ nichts
anderes als eine Erzählung, ein Kunstprodukt, das zunächst literarisch, dann
malerisch, danach skulptural, schließlich staatsideologisch („Staatskunst“!)
verbreitet wurde. Was transportiert solch Mythos?
Die einen sagen: Erzählungen und Phantasiebilder von allerlei Beschwernissen, von denen Künste entlasten sollen. Die anderen meinen: Mythos soll
von der Tyrannei des Faktischen befreien, wenigstens vor der Möglichkeit der
Überrumpelung warnen. Das mag Lenks „Europa“ befördern. Hat diese Europa nicht eine Fruchtbarkeitsfülle, die verdrängen hilft, dass die Saugaktivisten
eines Tages die nährenden Brüste leergezullt haben könnten? Zeigt der Blick
nach unten nicht, wie immer noch Spiel- und Freiraum bleibt? Fragt nicht der
Bildhimmel über der Dame Europa in den Stahlzwingen, ob der Schiller-Satz
„doch der Segen kommt von oben“ (Das Lied von der Glocke, Vers 8) angesichts fallender Welt-Engel nicht fragwürdig wurde? Was heute vom Himmel
kommt, ist bedenklich, furchterregend bis entsetzlich in moralischem, aber
auch in physischem Sinne. Nicht alles, was heute von oben kommt, ist Segen.
Das fast 600 Seiten starke Buch Europäische Geschichte (Frankfurt/M. und
Leipzig 1993) hat ein pointiertes Vorwort vom Historiker Horst Günther.
Es hebt an:
Europa gibt es nicht. Es muss erfunden werden. Immer aufs neue. Und jedes
Mal sieht es anders aus…Europa ist aus Konfrontationen entstanden…(S. 9)
Zustimmung mit behutsamer Widerrede: EUROPA gab es zweimal, einmal als
schöne Syrerin, dann als ihre mythische Geschichte.
Das bildlich „Schöne“ steht am Beginn, es folgt die Kunst der Erzählung. Die hat einen Vorteil:
Es kann umerzählt werden, aber immer in einer aktualisierenden Kunstform:
Immer aufs neue! Es bleibt eine ästhetische Qualität.
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Das bewährt sich auch an der Wortgeschichte, die man kurz und denkanregend nachlesen kann in Manfred Fuhrmanns Der europäische Bildungskanon des bürgerlichen Zeitalters (Frankfurt/M. und Leipzig 1999). Hier erfährt
man, wie der mythische Name immer dann politisch auftaucht, wenn die Zeit
aus den Fugen geraten war. „Europa“ als verbindende Idee zu beschwören
kam auf, als die Völkerwanderungszeit das römische Weltreich attackierte:
das Wort bezeichnete damals das Katastrophengebiet, den Siedlungsraum
der von den Invasionen heimgesuchten weströmischen Bevölkerung...(S.19)
Aber der Wortsinn „Europa“ mußte immer neu erfunden werden. Das konnte
geschehen, als wieder neue Konfrontationen am historischen Horizont auftauchten. Der Islam drängte gen Westen – und Europa musste wieder als
einheitsstiftendes Schlagwort helfen: Karl der Große wurde nicht nur schon
von seinen Zeitgenossen Carolus Magnus genannt, sondern auch
PATER TOTIUS EUROPAE – Vater von Gesamteuropa. Auch die Literatur –
aktualisiert in späterer Kreuzzugzeit – zollte ihren Kunsttribut im französischen
Epos „Charlemagne“ und im mittelhochdeutschen „Rolandslied“. Doch zu
dieser Zeit war das einigende Hauptwort nicht „Europa“, sondern „christianitas“. Europa wurde bis zur nächsten Konfrontation eingeschläfert, bis die Türken sie wieder erweckten. Nun wird bis heute „Europa“ Leitwort, Leitgedanke,
aber auch Bestandteil einer damit verbundenen Leidkultur. 1453 nahmen die
Türken Konstantinopel. Damit war das römische Reich endgültig ausgelöscht.
Der Schock saß tief – und ein Mann von hoher schriftstellerischer und dichterischer Begabung schuf ein epochemachendes Doppel-Opus:
De EUROPA. Erst 1554 eine Rede auf dem Türkentag zu Frankfurt, dann ein
Buch. Der Redner und Verfasser war der als gelehrter Humanist berühmte
Enea Silvio de´ Piccolomini, der später von 1458 bis zu seinem Tode 1464 als
Papst den Namen Pius II. trug.
Dieses geistesgeschichtliche Europa-Fundament erwies sich als tragfähig und
auch gefährdet.
Europa wird im Süden durch Spanien, Italien und den Peloponnes begrenzt, dabei gilt eine Linie, die auch durch die Insel Rhodos führt. Im
Norden schließt sich weit das Land der Germanen und Norweger an. Ein
Landrücken verbindet Europa und Asien, er erstreckt sich von den aswoschen Sümpfen und der Ostsee bis zum Quellbereich des Don...
Das war neu: geographische Fixierung, die im Buch dann zu den einzelnen
Völkerschaften und ihrer gepriesenen Pluralität führt. Deren verbindendes18
verbindliches Zeugnis ist die Kultur, die zumal in Griechenland bedroht ist.
„Europa“ ist ein geographischer, kulturell bestimmter, noch kein staatsrechtlich-politischer Begriff, der erst später mit Gedanken der Machtbalance
(vor allem bei Leibniz) und der unbeschränkten Weltlichkeit (zuerst bei Macchiavelli) weiter gefüllt und strategisch nutzbar gemacht wird.
Die Geschichte geht weiter, auch die Mythen- und Begriffsgeschichte, über
den Feldherren-Traum Napoleons oder die romantische Rückwärtsvision bei
Novalis. Nach der Katastrophe Weltkrieg II wurde EUROPA revitalisiert.
Das Ästhetisch-Mythische hatte gegenüber dem Wirtschaftlich-Machthierarchischen kaum mehr eine Chance:
Lenk hat sie genutzt.
Bindet die sagenhafte Entführte fest, macht sie zur Totenrichtermutter, saugt
sie aus, stellt sie bloß, sie bleibt lebendiges Bild voll erzählender Kraft. Wie
verschwinden die nuckelnden Geschöpfe an ihrem mütterlichen Reichtum,
den sie absahnen wollen. Sie stürzt und fällt nicht, was bei den niederfliegenden Figuren nicht so sicher ist. Die Fessel an ihren Händen bremst wohl ihre
Aktivität, aber – List der Geschichte! – sie hält zugleich, festigt ihren Stand.
Die Wege sind weit vom Stier über den großen Karl und den poetischen Papst
bis nach Radolfzell:
Europa lebt!
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