Berliner Seminare
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Berliner Seminare Ausgabe 1 | 2012 Prof. Dr. med. …………… Ergebnisqualität Qualitätsfaktoren4 Validität8 Register12 Effektivität24 Fortbildung26 Infektion30 Versorgungsprozess32 Inhaltsverzeichnis von …………… Editorial3 Qualitätsfaktoren: Dimensionen der Ergebnisqualität Prof. Dr. med. Heino Kienapfel4 Statistik: Validität wissenschaftlicher Ergebnisse PD Dr. med. Dirk Stengel, MSc(Epi)8 Entscheidungswege: Register steigern Qualität Prof. Dr. med. Steffen Breusch, FRCSEd12 Register: Erkenntnispotential von klinischen Studien und Registerdaten PD Dr. med. Gerold Labek 14 Register: Unikondyläre Knieendoprothetik und Registerdaten Prof. Dr. med. David Murray 18 KTEP: Vanguard-Kniesystem im Spiegel von klinischen Ergebnissen und Registerdaten Benjamin Hohaus 22 Wirbelsäule: Qualität und Effektivität in der Wirbelsäulenchirurgie Prof. Dr. med. Friedrich Weber 24 Fortbildung: Implantation nur nach spezifischem Training Prof. Dr. med. Bernd Fink 26 Fortbildung: Train and Use Implantatspezifisches Training zur Sicherung der Ergebnisqualität Thomas Schüssler 28 Infektion: Indikatoren der Ergebnisqualität in der Behandlung implantatassoziierter Knochen- und Gelenkinfektionen PD Dr. med. Dirk Stengel, MSc(Epi) 30 Versorgungsprozess: Partizipative Entscheidungsfindung Prof. Dr. Edmund Neugebauer 32 Versorgungsprozess: Evidenzbasierte Endoprothetik Dr. rer. pol. Philipp Schwegel 34 2 Editorial Liebe Leserin, lieber Leser, das Streben nach dem bestmöglichen Behandlungsergebnis ist eine selbstverständliche Prämisse der Medizin. Sie gilt für Ärzte, Pflegepersonal und Krankenhausmanagement genauso wie für die Hersteller in der pharmazeutischen und medizintechnischen Industrie. Dieses Streben ist der ursprüngliche Beweggrund für alle Handlungen im Gesundheitswesen. Auf den medizinischen Kongressen stehen – völlig zu Recht – die klinischen Details im Vordergrund, die auf dem Weg zu besseren Ergebnissen eine Rolle spielen: Der Fortschritt in Richtung besserer Versorgung ist eine kollektive Aufgabe, zu der jeder Laborversuch, jeder Fallbericht, jede Studie einen Teil beiträgt. Auch die Berliner Seminare wurden konzipiert, um im Sinne der Fortbildung einen kleinen Beitrag für den klinischen Alltag zu leisten. Mit diesem Heft wollen wir aber einen Schritt zurücktreten und medizinisches Handeln im Bereich Orthopädie/Unfallchirurgie aus einem etwas größeren Abstand betrachten. Auf den folgenden Seiten sollen die Prämissen der Prämisse untersucht werden. Schon die Definition, was eigentlich ein gutes Ergebnis ausmacht, ergibt sich ja keineswegs aus sich selbst. Welche Parameter haben das größte Gewicht? Welche Fragen können mithilfe von Registerdaten, die weithin als die ultima ratio in der wissenschaftlichen Diskussion gelten, tatsächlich beantwortet werden und welche nicht? Wo können sie, nach oberflächlicher Analyse, vielleicht sogar in die Irre führen? Wo beginnt überhaupt die wissenschaftliche Validität? Wie beeinflusst der Patient das Ergebnis seiner Behandlung, und wie kann die Medizin diesen Einfluss zu einem positiv wirkenden Faktor machen? Dies sind nur einige der Fragen, mit denen sich unsere Autoren beschäftigt haben. Der rote Faden, der sich durch ihre Beiträge zieht, ist der genaue, differenzierende Blick, mit dem sie die Grundlagen in Augenschein nehmen, auf denen Ergebnisqualität definiert, analysiert und weiter verbessert werden kann. Ich habe die Aufsätze mit großem Gewinn gelesen und wünsche auch Ihnen eine anregende Lektüre. Dr. med. Hadi Saleh Geschäftsführer Biomet Deutschland 3 Qualitätsfaktoren Dimensionen der Ergebnisqualität von Prof. Dr. med. Heino Kienapfel Jeder Arzt strebt mit jeder Behandlung ein gutes Ergebnis an, und dasselbe wünscht sich natürlich auch der Patient. Das scheinbar Selbstverständliche bedarf aber gerade in der Endoprothetik des differenzierenden Blickes. Die gesamthafte Qualität des Ergebnisses wird nicht nur von zahlreichen medizinischen Faktoren beeinflusst, die in der Versorgung berücksichtigt werden müssen. Auch die Erwartungen des Patienten spielen eine wichtige Rolle und beeinflussen seine Ergebnisbeurteilung. Zunehmend rücken zudem Aspekte der Prozessoptimierung und systematischen Qualitätssicherung in den Vordergrund. Bei der Suche nach Möglichkeiten, die Ergebnisqualität weiter zu verbessern, müssen alle diese Dimensionen einbezogen werden. Was ist ein gutes Ergebnis? Die unterschiedlichen Perspektiven von Arzt und Patient können zu durchaus abweichenden Antworten auf diese Frage führen. Im Rahmen der externen Qualitätssicherung wird in Deutschland bisher nur die Komplikationsrate bis zum Entlassungstag kontrolliert. Kommt es zu schwerwiegenden Frühkomplikationen wie einer Luxation, Infektion oder zu irreparablen neurologischen Defiziten, wird das nicht nur in den QS-Daten, sondern auch bei den Beteiligten als eindeutig schlechtes Ergebnis erkannt. Nach Eingriffen ohne Frühkomplikation – also der großen Mehrzahl – ergibt sich dagegen trotz des vordergründigen Erfolgs nicht selten ein diffuses oder gar widersprüchliches Bild. Aus der Sicht des Patienten ist die Lebensqualität entscheidend. Bei der Beurteilung der Ergebnisqualität einer zunächst geglückten endoprothetischen Versorgung stehen aus ärztlicher Sicht der klinische Befund, die Bildgebung und Funktionsscores an erster Stelle. Aus der Sicht des Patienten ist aber ein anderer Wert entscheidend: die Lebensqualität. Auch diese wird inzwischen in Scores gemessen, die zunehmend Anwendung finden und an Bedeutung sicher gewinnen werden. Die Sicht des Patienten Selbstkritisch ist anzumerken, dass im klinischen Alltag die Ergebnisparameter, von den Scores zur Lebensqualität abgesehen, überwiegend aus der ärztlichen Perspektive definiert werden. In der primären Hüftendoprothetik ist die Übereinstimmung mit der Perspektive des Patienten meistens recht groß. Das gilt für die primäre Knieendoprothetik aber schon nicht mehr. Hier ist der Anteil der zufriedenen Patienten deutlich geringer, zwischen den beiden Perspektiven zeigt sich häufig eine große Diskrepanz. Nicht selten erleben wir, dass Röntgenbild, Implantantausrichtung und 4 Prof. Dr. med. Heino Kienapfel ist Chefarzt der Klinik für spezielle orthopädische Chirurgie und Unfallchirurgie am Vivantes Auguste-Viktoria-Klinikum in Berlin. Funktionsscores eine gelungene Behandlung ausweisen, die Erwartungen des Patienten aber trotzdem nicht erfüllt sind und er das Ergebnis als schlecht beurteilt. Wenn also die „Ergebnisqualität“ erhöht werden soll, muss zunächst die Patientensicht in der Endoprothetik einen größeren Stellenwert bekommen. Auch die Kostenträger werden dies zunehmend einfordern. Eine einfache Frage liefert hier eine verlässliche Orientierung: „Würden Sie diesen Eingriff wieder vornehmen lassen und ihn auch einer nahestehenden Person empfehlen?“ Diese Frage sollte schon bei der Indikationsstellung als Leitmotiv dienen. Immer wieder sieht man Röntgenbilder mit schweren Arthrosen, doch der Patient lebt ohne wesentliche Beeinträchtigung im Alltag. Da wir nicht Röntgenbilder sondern Menschen operieren, müssen wir die Beeinträchtigung im Alltag und den tatsächlichen Leidensdruck als mindestens gleich wichtige Kriterien hinzuziehen. Es gehört nicht nur zur ärztlichen Aufgabe, die Erwartungen des Patienten möglichst genau zu verstehen, sondern auch, zu hohe Erwartungen frühzeitig zu relativieren. Standardisierung, Zertifizierung, Register Aus den Erfahrungen der Industrie wissen wir, dass standardisierte Abläufe entscheidend zur Qualitätssteigerung beitragen. Schon die selbstkritische Auseinandersetzung mit bestehenden Abläufen, die vor einer Standardisierung stattfinden muss, bringt Verbesserungsmöglichkeiten hervor. Die EndoCert-Initiative, die darüber hinaus eine Zertifizierung von Endoprothetik-Zentren anstrebt, bietet hier einen sinnvollen Weg an. Die freiwillige Verpflichtung auf Mindestmengen ist zu unterstützen, auch wenn die Literatur zu diesem Thema bisher noch nicht eindeutig ist. Leidensdruck und Beeinträchtigung im Alltag sind mindestens so wichtige Kriterien für die Indikationsstellung wie die Bildgebung. Mindestmengen können nur dann eine positive Wirkung entfalten, wenn sie nicht nur für die Klinik, sondern für den einzelnen Operateur gelten. Dass besonders komplexe 5 Quelle: Wikipedia, Madprime Qualitätsfaktoren Reaktionsgefäße für die Polymerase-Kettenreaktion Eingriffe nur in spezialisierten Zentren durchgeführt werden sollten, ist eine Forderung, die nicht erläutert werden muss. Die Standzeit eines Implantats ist ein eindeutiges und zentrales Qualitätskriterium, das in Deutschland bisher nicht systematisch erfasst wurde. Mit dem neuen Endoprothesenregister haben wir endlich ein Instrument, die bisher fehlende langfristige Qualitätskontrolle durchzuführen. Wünschenswert wäre, auch die Beurteilung des Patienten sowie des niedergelassenen Arztes standardisiert und bundesweit einheitlich einzubeziehen. Ein standardisiertes Vorgehen bei der Analyse von Explantaten ist ein wichtiger Baustein bei der Ermittlung von Versagensursachen. Definierte Standards1 sind vorhanden aber leider immer noch nicht überall bekannt. Infektion, Hypersensitivität Die Infektionsraten in der Endoprothetik sind nach der Einführung antibiotikahaltiger Zemente gesunken, steigen seit einiger Zeit jedoch wieder an. Wir brauchen deshalb in Deutschland eine verbesserte Vorbeugung, etwa mit einem Screeningprogramm für die multiresistenten Erreger, wie es in den Niederlanden mit großem Erfolg durchgeführt wird. Mit der Polymerase-Kettenreaktion steht ein molekularbiologisches Verfahren zur Verfügung, das die Besiedlung mit bestimmten Mikroorganismen in relativ kurzer Zeit nachweisen kann und eine schnellere Reaktion ermöglicht. Hypersensitivität gegenüber Metallen oder Bestandteilen des Knochenzements ist ein weiteres Problem, das anscheinend immer häufiger auftritt. Auch hier ist neben erhöhter Aufmerksamkeit das Einhalten bestehender Vorgaben2 der Grundstein der Qualitätssicherung. Neue Verfahren zur histologischen Testung können eine zielgenauere Reaktion ermöglichen, zumal mit ihnen die Abgrenzung zwischen allergischer Reaktion und Infekt zuverlässiger wird.3 6 Patient Operateur Kostenträger Implantat Technologie Schließlich stellt sich die Frage, was die Implantate zur Verbesserung der Ergebnisqualität beitragen können. Eine Reihe von Beispielen belegt, dass Produktinnovationen nicht unbedingt helfen, chirurgische Probleme zu lösen. So können etwa randüberhöhte Pfannen zwar die Luxationsrate senken, doch geschieht dies mit dem Risiko häufigeren Impingements und dem daraus resultierenden erhöhten Abrieb oder gar Bruch des Inlays. Eine OP-Technik, die der Luxation entgegenwirkt, und eine angemessene Nachbehandlung sind dem Einsatz eines modifizierten Implantats vorzuziehen. Grundsätzlich sollte die chirurgischmedizinische vor der technischen Lösung in Betracht gezogen werden. Krankenhaus Hersteller Hauptfaktoren (links) und Interessensgruppen (rechts), die Struktur- , Prozess- und Ergebnisqualität beeinflussen Grundsätzlich sollte die chirurgisch-medizinische Lösung eines Problems vor der technischen in Betracht gezogen werden. Es gibt aber auch Bereiche, in denen Material und Technologie den entscheidenden Unterschied ausmachen. Das klassische Beispiel ist der Verschleiß in den Gleitpaarungen. Hochvernetzte Polyethylene und verbesserte Keramik-Werkstoffe haben zu einer starken Reduzierung des Abriebs beigetragen. Zu einer qualitativ hochwertigen Behandlung gehört deshalb auch, Technologien zu nutzen, die zugleich überlegen und bewährt sind. Einen weiteren technologischen Beitrag zur Qualitätssteigerung könnten in der näheren Zukunft funktionalisierte Oberflächen bieten, die einer Besiedlung mit Mikroorganismen entgegenwirken. Siebert H, Stockheim M, Kienapfel H, Blömer W. Meldeverfahren bei Vorkommnissen mit Implantaten. Unfallchirurg. 2011 Sep;114(9):786–93 1 P. Thomas, A. Schuh, J. Ring, M. Thomsen, Orthopädisch-chirurgische Implantate und Allergien. Gemeinsame Stellungnahme des Arbeitskreises Implantatallergie (AK 20) der Deutschen Gesellschaft für Orthopädie und Orthopädische Chirurgie (DGOOC), der Deutschen Kontaktallergie Gruppe (DKG) und der Deutschen Gesellschaft für Allergologie und Klinische Immunologie (DGAKI), Der Orthopäde, 1, 2008 2 Krenn V, Morawietz L, Jakobs M, Kienapfel H, Ascherl R, Bause L, Kuhn H, Matziolis G, Skutek M, Gehrke T. Gelenkendoprothesenpathologie. Histopathologische Diagnostik und Klassifikation. Der Pathologe; 32 (3); p. 210–9, 5/2011 3 7 Validität Validität wissenschaftlicher Ergebnisse von PD Dr. med. Dirk Stengel, MSc(Epi) Der Begriff „Validität“ steht in der Wissenschaft für Richtigkeit, Glaubwürdigkeit und Vertrauenswürdigkeit einer ursächlichen Beziehung zwischen einer Variablen und einem Ereignis. Die explosionsartig wachsende und ständig verfügbare Informationsmenge im Gesundheitswesen stellt hohe Ansprüche an die Frustra tionstoleranz des klinisch tätigen Arztes und verlangt zudem Kenntnisse in Wissenschaftstheorie und Methodik, um die Forschungsspreu vom validen Weizen zu trennen. Es mag ein wenig beruhigen, dass es auch den Methodik-Experten nicht anders ergeht. Es geht in jedem Forschungsprojekt immer und ausschließlich um die Wahrscheinlichkeit einer Ursache-Wirkung-Beziehung zwischen einer Variablen – etwa einem Risikofaktor oder einer bestimmten Therapie – und dem beobachteten Ergebnis. Ein Beispiel ist die wohl von niemandem ernsthaft bezweifelte Assoziation zwischen Rauchen und Lungenkrebs. Nicht immer ist eine augenscheinlich kausale Beziehung jedoch auch echt: Es gibt rein zufällige Zusammenhänge wie die belegte Korrelation zwischen der Anzahl von Storchenpaaren und der Geburtenrate.1 Sogenannte Confounder – eine bestimmte Art von Störvariablen im Hintergrund – spielen ebenfalls eine wesentliche Rolle. Ein Beispiel dafür ist die methodisch sehr saubere, multizentrische randomisierte Studie zur Wirksamkeit von Bone Morphogenetic Protein 2 (BMP-2) bei offenen Unterschenkelfrakturen. 2 In ihr konnte eine klare Dosis-Wirkung-Beziehung zwischen der applizierten BMP-2-Konzentration und der Rate sekundärer Interventionen (wie autologe Spongiosaplastik, Re-Osteosynthese oder Verfahrenswechsel) nachgewiesen werden. Es bestand jedoch ein Ungleichgewicht in der Häufigkeit gebohrter Mark nagelosteosynthesen zwischen den Gruppen, welches ebenfalls mit dem Risiko für sekundäre Interventionen vergesellschaftet war. Es konnte nicht klar entschieden werden, ob BMP-2, die gebohrte Nagelung oder beide Faktoren für die beobachtete Reduktion der sekundären Interventionsrate verantwortlich waren. In einer derartigen Situation gibt es nur eine konsequente Lösung: die Untersuchung zu wiederholen und die experimentellen Bedingungen dabei noch schärfer zu kontrollieren. In der Folge8 studie, in der ausschließlich gebohrte Nägel verwendet wurden, konnte im Hinblick auf das Risiko für eine sekundäre Intervention kein Vorteil von BMP-2 gegenüber der Kontrolle ohne BMP-2 nachgewiesen werden.3 Dieses Beispiel zeigt eindrücklich, dass die Reproduzierbarkeit eines Ergebnisses ein wesentliches Merkmal für die Glaubwürdigkeit einer Beobachtung darstellt. Wahrscheinlichkeit Im brillanten Essay „Warum die meisten publizierten Forschungsergebnisse falsch sind“ beschreibt John Ioannidis die gegen unendlich strebende Zahl möglicher Assoziationen zwischen Variablen und dem Einfluss verschiedener Störgrößen. Sein überzeugender Schluss: Die Wahrscheinlichkeit, dass ein positives Forschungsergebnis, etwa die Wirksamkeit einer Therapie, tatsächlich positiv oder wahr ist, kann 85 Prozent kaum übersteigen.4 Ein gesunder Zweifel an der Richtigkeit einer Aussage ist also allein aufgrund dieser „natürlichen“ Grenze gerechtfertigt. Neben der Reproduzierbarkeit postuliert Ioannidis einen Kriterienkatalog, welcher in die Wertung und Gewichtung von Forschungsresultaten einfließen sollte. Demnach ist die Wahrscheinlichkeit, dass ein Forschungsergebnis richtig ist, umso geringer, 1. je kleiner die Studien oder untersuchten Stichproben in einem wissenschaftlichen Gebiet sind (dies trifft leider in besonderem Maße auf die Orthopädie und Unfallchirurgie zu) 2. je kleiner der beobachtete Effekt ist (auch dies gilt ebenfalls für Orthopädie und Unfall- PD Dr. med. Dirk Stengel, MSc(Epi), leitet das Zentrum für Klinische Forschung im Unfallkrankenhaus Berlin. chirurgie, denn die verfügbaren Materialien und Techniken sind bereits so ausgereift, dass eine wesentliche oder messbare Verbesserung der Ergebnisqualität nur noch mit großen und damit auch ressourcenintensiven Anstrengungen erzielt werden kann) 3. je größer die Anzahl möglicher Assoziationen in einem Gebiet ist, und je weniger sie selektiv, gezielt und fokussiert untersucht werden (beispielhaft seien populäre Microarray- und andere Hochdurchsatzmethoden zur Untersuchung genetischer Polymorphismen genannt, welche hypothesenfrei arbeiten und aus einem riesigen Variablensatz multiple mögliche Assoziationen ableiten) 4. je größer die Variabilität in Definitionen, Outcomes und analytischen Methoden ist 5. je größer die monetären und nicht-monetären Interessenskonflikte in einem Forschungsfeld sind 6. je aktueller und brennender ein Forschungsthema ist (es ist typisch, dass die anfängliche Euphorie über eine therapeutische Intervention durch vergleichende und Langzeit-Studien gedämpft wird). berichtet, diese Vortestwahrscheinlichkeit radikal ändern würde. Dies mag allenfalls für ausgesuchte Einzelfälle mit dramatischen Effekten gelten. Beachtet man diesen Katalog, fällt die Entscheidung bereits leichter, ob man einem berichteten Forschungsergebnis trauen oder misstrauen sollte. Grundlage bildet in jedem Fall die durch Plausibilität und Erkenntnis aus Vorbeobachtungen geprägte Vortestwahrscheinlichkeit (gerne als „gesunder Menschenverstand“ bezeichnet), dass ein Ergebnis wahr sein könnte. Leider herrscht noch zu häufig der Irrglaube vor, dass sich durch eine einzelne Studie, sei sie noch so gut geplant, durchgeführt oder Der p-Wert ist die „Wahrscheinlichkeit der beobachteten oder noch extremeren Ergebnisse im Fall der zutreffenden Nullhypothese“, notiert als P (X ≥ x | H0). Da spätestens jetzt die Lust auf das Weiterlesen stark eingeschränkt sein dürfte und der Disput hierüber bereits Bände füllt, soll lediglich das Grundverständnis darüber aufgefrischt werden, was der p-Wert nicht ist. Signifikanz Wohl kaum ein anderer Begriff in der Biomedizin wird so wenig verstanden und dabei so häufig missbraucht wie „Signifikanz“. Signifikanz beschreibt die Wichtigkeit oder Bedeutsamkeit einer Beobachtung, nicht den Schnittpunkt zwischen zutreffend und unzutreffend. Untrennbar damit verbunden ist der ebenso häufig fehlinterpretierte pWert.5 Der Zufall spielt immer eine Rolle, wie etwa im Storchen-Beispiel, aber auch bei der Entdeckung des Penicillins. Er lässt sich nicht ausmerzen, sondern lediglich auf ein akzeptables Maß verringern. In medizinstatistischer Bedeutung bezieht sich Signifikanz auf einen Korridor von Beobachtungen, Therapieerfolgen und -misserfolgen, diagnostischen Ergebnissen usw., die nicht mehr mit dem Zufall zu erklären sind. Wann immer in einem Methodenteil eines wissenschaftlichen Artikels oder einer Kon9 Validität gresspräsentation der uniforme Satz „Statistische Signifikanz wurde bei p < 0,05 angenommen“ auftaucht, umso weniger wahrscheinlich ist es, dass sich dahinter ein zwischen Klinikern und Methodikern abgestimmter Grenzwert verbirgt. Fragen Sie laut: „Warum 0,05 (oder 5 %) – warum nicht 1 % oder 10 %?“ 2. Zeigen die Daten im genannten Beispiel, dass die lokale und systemische Therapie nicht zu identischen 3-Monats-Heilungsraten führen, muss man sich von der Annahme der Gleichwertigkeit und der Nullhypothese verabschieden. 3. Feststellbar ist mit diesem Ansatz lediglich, dass die Nullhypothese entweder abzulehnen oder nicht abzulehnen ist. Die etablierten Teststrategien zielen nicht darauf ab, die Alternativhypothese „Die lokale ist der systemischen antimikrobiellen Therapie überlegen“ zu beweisen – sie stellt lediglich eine mögliche Denkoption dar, wenn die Gleichwertigkeit ausgeschlossen ist. Ein p-Wert von 5 % ist keine Naturkonstante, sondern eine reine Konvention. In der ursprünglichen Interpretation des Statistikers Ronald A. Fisher sollte der Wert 0,05 lediglich den Weg für weitere Untersuchungen bahnen, nicht jedoch als Beweis herangezogen werden.6 Dahinter steckt eine rationale Überlegung: Tritt ein Ergebnis nur in einem von zwanzig (5 %) aller Experimente per Zu- Beck-Bornholdt und Dubben haben 1996 fall auf, kann eine Ursache-Wirkung-Bezie- mit einer Korrespondenz im Fachblatt Nahung durchaus vermutet werden. ture unter der Überschrift „Ist der Papst ein Außerirdischer“ eine mehrmonatige Debatte Der p-Wert ist ein aus einem statistischen in der wissenschaftlichen Gemeinschaft Testverfahren abgeleiteter Wert (also nach- über die sperrig anmutende Logik hinter dem die Forschungsergebnisse vorliegen), dem Falsifikationsansatz ausgelöst.7 Ihre welcher einen Hinweis darauf gibt, ob die Argumentationskette (aktualisiert auf 2012) Differenz zwischen einem erwarteten und lautet wie folgt: dem tatsächlich beobachteten Ergebnis so 1. Trifft man irgendwo auf der Welt einen groß ist, dass sie sich nicht mehr mit dem Menschen, handelt es sich nur mit einer Zufall erklären lässt. Je kleiner der p-Wert, sehr geringen Wahrscheinlichkeit um den desto weniger ist das Ergebnis ein reines Papst (1/ 7 x 109). Zufallsprodukt. 2. Benedikt XVI. ist der Papst. 3. Folglich ist Benedikt XVI. nur mit sehr geOhne eine vor Durchführung einer Studie ringer Wahrscheinlichkeit ein Mensch. gestellte, qualitativ und quantitativ beantwortbare Hypothese (z.B. „Die lokale anti- Über das blinde Vertrauen, welches in mikrobielle Therapie einer Plattenlagerinfek- statistische Signifikanz, statistische Testtion führt zu einer um 10 % höheren Rate verfahren und p-Werte ohne Berücksichklinischer Heilungen 3 Monate nach dem tigung bereits verfügbaren Wissens, Ratio Eingriff als die systemische Therapie“) ist und tatsächlich beobachteter Effektgrößen ein p-Wert praktisch nutzlos. gelegt wird, mag man den Kopf schütteln. Dennoch bleiben diese Methoden, richtig Falsifikation angewendet und interpretiert, ein wertvolles Instrumentarium der Forschung. In Die typische Beweisführung in der Biome- jedem Falle muss am Anfang jeder Studie dizin führt über den Weg der Falsifikation: eine präzise Hypothese stehen, und p < 1. Es wird hierbei angenommen, dass, ob- 0,05 bedeutet nicht, dass das beobachtete wohl das Ziel der Untersuchung der Nach- Ergebnis mit einer Wahrscheinlichkeit von weis eines Effektes, Zusammenhanges 95 Prozent zutrifft! oder Unterschiedes ist, dieser eben nicht existiert. Die Fragestellung wird als soge- Ehrlichkeit nannte Nullhypothese formuliert, beispielsweise „Die lokale antimikrobielle Therapie Die genannten Aspekte treffen allerdings einer Plattenlagerinfektion führt 3 Monate nur dann zu, wenn ein entscheidendes nach dem Eingriff zur gleichen Rate kli- Validitätskriterium gewahrt wird, das nicht nischer Heilungen wie die systemische vom klinischen oder methodischen KonTherapie.“ sumenten, sondern nur vom Produzenten 10 Wiederholungsstudie: ausschließlich gebohrte Marknagelosteosynthesen. Govender et al. J Bone Joint Surg Am 2002;84:2123–34 Aro HT et al. J Bone Joint Surg Am 2011;93:801–8 60% 60% 50% 50% Rate (95% Konfidenzintervall) Rate (95% Konfidenzintervall) Ursprüngliche BESTT-Studie: gebohrte und ungebohrte Marknagelosteosynthesen. 40% 30% 20% 10% 0% 40% 30% 20% 10% 0% Standard BMP 0,75 mg/ml BMP 1,50 mg/ml Standard Intervention Sekundäre Intervention BMP 1,50 mg/ml Intervention Anteil gebohrter Nägel Abbildung 1: Einfluss von BMP-2 auf die Rate sekundärer Interventionen nach Marknagelosteosynthese offener Unterschenkelbrüche. gewährleistet werden kann und muss: Ehrlichkeit. Der Vertrauensvorschuss der klinisch-wissenschaftlichen Gemeinschaft für dieses Grundprinzip ist enorm und darf nicht entwertet werden. Trotz zunehmend strengerer, überwachter Forschungsregularien* zeigen Beispiele aus der Vergangenheit, welche Blüten der Drang nach wissenschaftlichem Ruhm treiben kann.8, 9 Leider sind es gerade die führenden internationalen Fachzeitschriften wie Lancet oder New England Journal of Medicine, welche gelegentlich Opfer derartiger Machenschaften werden. Wie im Gerichtssaal gilt für jedes Forschungsergebnis, jeden wissenschaftlichen Fachartikel und jede Präsentation zunächst die Unschuldsvermutung. Wurden die Ergebnisse ehrlich erhoben und transparent dargestellt, müssen sie sich gegenüber der Wahrscheinlichkeitstheorie, zahlreichen zufälligen Fehlern und den Ergebnissen von vorausgegangenen und zukünftigen Studien behaupten. Hierfür bedarf es eines kritischen Lesers, der sich nicht von statistischen Fachtermini beeindrucken lässt sondern die Resultate im Kontext und mit dem gebotenen Sachverstand beurteilt und behutsam in die eigene Praxis einfließen lässt. Literatur: 1 Hofer T, Przyrembel H, Verleger S. New evidence for the theory of the stork. Paediatr Perinat Epidemiol 2004;18(1):88–92. Govender S, Csimma C, Genant HK et al. Recombinant human bone morphogenetic protein-2 for treatment of open tibial fractures: a prospective, controlled, randomized study of four hundred and fifty patients. J Bone Joint Surg Am 2002;84-A(12):2123– 2134. 2 Aro HT, Govender S, Patel AD et al. Recombinant human bone morphogenetic protein-2: a randomized trial in open tibial fractures treated with reamed nail fixation. J Bone Joint Surg Am 2011;93(9):801–808. 3 4 Ioannidis JP. Why most published research findings are false. PLoS Med 2005;2(8):e124. 5 Goodman S. A dirty dozen: twelve p-value misconceptions. Semin Hematol 2008;45(3):135–140. 6 Fisher RA. Statistical Methods for Research Workers. Edinburgh: Oliver and Boyd; 1925. 7 Beck-Bornholdt HP, Dubben HH. Is the pope an alien? Nature 1996;381(6585):730. Horton R. Retraction – Non-steroidal anti-inflammatory drugs and the risk of oral cancer: a nested case-control study. Lancet 2006;367(9508):382. 8 9 Horton R. Expression of concern: non-steroidal anti-inflammatory drugs and the risk of oral cancer. Lancet 2006;367(9506):196. * vgl. http://www.equator-network.org 11 Entscheidungswege Register steigern Qualität Ein Gespräch mit Prof. Dr. med. Steffen Breusch, FRCSEd Endoprothesenregister entfalten auf mehreren Ebenen eine messbare Wirkung und tragen zur besseren Qualität der Versorgung bei. Der größte Nutzen entsteht in den Register-Ländern selbst, vor allem wenn die Rückkopplung bis zum einzelnen Operateur reicht. Kann das Register als Frühwarnsystem funktionieren? Das klassische Beispiel dafür ist der Boneloc-Zement, der 1991 eingeführt wurde und bald hohe Versagensraten aufwies. Ein Bericht1, 2 aus dem norwegischen Register führte dazu, dass er recht zügig wieder vom Markt genommen wurde. Heute erfahren wir dank Internet noch schneller von auffälligen Häufungen, wenn sie in einem Land mit Endoprothesenregister beobachtet werden. Prägnante Beispiele dafür sind die Metall/Metall-Gleitpaarung und der Oberflächenersatz der Hüfte. Die hohen Komplikationsraten für diese Implantate in den Registern Australiens und Englands haben inzwischen zu einem drastischen Rückgang in ihrer Verwendung und zu einer differenzierteren Indikationsstellung geführt. Der Oberflächenersatz wird fast nur noch bei jüngeren Männern eingesetzt, weil die Ergebnisse nur in dieser Gruppe eine vertretbare Qualität erreichen. Darüber hinaus sind zum Teil sehr große Unterschiede zwischen verschiedenen Modellen des Oberflächenersatzes offenbar geworden. Ein Hüfttotalendoprothesenmodell mit Metall/ Metall-Großkopfartikulation (ASR), das in den Registerdaten durch besonders hohe Versagensquoten auffiel, wurde sogar per Produktrückruf vom Markt genommen.3 Wie kann ein Register eine optimale Rückkopplung entfalten? Neben dem Implantat muss zwingend auch die Leistung des Operateurs darin abgebildet sein. Im Scottish Arthroplasty Project (SAP) werden die Ergebnisse – in anonymisierter Form – für jeden einzelnen Operateur erfasst. Wer bei seiner Casemix-bereinigten Komplikationsrate deutlich negativ vom Durchschnitt abweicht, wird als „Outlier“ identifiziert und nach den möglichen Ursachen befragt. Das Siegel Outlier bedeutet aber nicht unbedingt schlechter! Der Operateur erhält eine Hilfestellung, die Ursachen für die erhöhte Komplikationsrate zu identifizieren und wenn 12 möglich zu beseitigen. Typisches Beispiel ist der Anstieg der Luxationsrate nach einem Wechsel zum posterioren Zugang oder von der zementierten zur unzementierten Pfanne. Der Operateur kann reagieren, indem er etwa zum bewährten Verfahren zurückkehrt. Die individuelle Rückmeldung ist unerlässlich, wenn die Versorgungsqualität auf der ganzen Linie verbessert werden soll. Die Zahlen zeigen, dass die Ergebnisse in Schottland seit der Einführung des Registers und dieses Rückkopplungverfahrens signifikant besser geworden sind.4 Nach schottischem Vorbild werden jetzt auch Schweden und Australien mit individuellem Feedback nachziehen. Was passiert, wenn ein Operateur dauerhaft ein Outlier bleibt? In den letzten zehn Jahren haben etwa acht schottische Operateure freiwillig aufgehört, Hüft- und Knieendoprothesen zu implantieren. Es findet also eine Selbstreinigung statt, welche die Versorgungsqualität verbessert. Interessanterweise gibt es in England und Wales (National Joint Registry) keinen Outlier unter den Anwendern zementierter Hüftendoprothesen. Welche anderen Schlüsse erlauben die Register zu diesem Thema? Beim Endpunkt Revision wegen aseptischer Lockerung haben die unzementierten Pfannen etwas bessere Ergebnisse. Wenn man aber die Revisionen wegen Luxation und Abriebkomplikationen, insbesondere Osteolysen, hinzunimmt, spricht die Gesamtüberlebensrate für die zementierte Pfanne, unabhängig vom Patientenalter – entgegen der verbreiteten und von der Industrie suggerierten „Datenlage“. Offensichtlich lässt diese sich reproduzierbarer positionieren als die unzementierte. Deshalb ist der Anteil der invershybriden Versorgung zum Beispiel in Norwegen und Schweden in den letzten Jahren kontinuierlich gestiegen.5 Der Trend geht weg von der zementfreien Pfanne. Warum geht in vielen Ländern der Trend trotzdem zu zementfrei? Ich sehe vor allem zwei Faktoren. Zum einen gibt es eine – vom Marketing gesteuerte – Überbewertung vermeintlich „innovativer“ Implantate. Zum zweiten spart die zementfreie HTEP Operationszeit und erlaubt damit eine höhere Schlagzahl, respektive Fallpauschalenzahl, die für viele Kliniken finanziell unverzichtbar ist. Im deutschen System werden derzeit evidenzbasierte Endoprothetik und langfristige Versorgungsqualität nicht belohnt. Was lässt sich zum Thema unikondyläre Knieendoprothetik ableiten? Die Versagensrate hängt stark von der Erfahrung des Operateurs ab. Bei mehr als 20–25 Eingriffen pro Jahr gibt es gute Ergebnisse. Liegt die Zahl darunter, sind die Ergebnisse unterdurchschnittlich und schlechter als bei der Totalendoprothese. Die Shewhart-Kurve zeigt die Luxationsraten schottischer Operateure im ersten postoperativen Jahr.4 x Einzelner Operateur (Consultant) Outlier im vergangenen, aber nicht mehr in diesem Jahr Vier Jahre durchgehend Outlier CUSUM-Kurve2 bei HTEP eines Operateurs in Schottland: Der Wechsel vom transglutealen zum posterioren Zugang (2005) und von der zementierten zur unzementierten Endoprothese (2009) lassen die Komplikationsrate bis zum Outlier-Status ansteigen.4 CUSUM = cumulative sum of outcomes Eingriff ohne Komplikation innerhalb 365 Tagen Eingriff mit Komplikation innerhalb 365 Tagen Grenzwert für überdurchschnittliche Komplikationsrate Die Komplikationsraten bei HTEP in Schottland sind seit der Einführung des Registers – mit Ausnahme der Infektionen – signifikant gesunken.4 Luxation innerhalb eines Jahres Tiefe Venenthrombose/ Pulmonale Embolie innerhalb 90 Tagen Infektion innerhalb eines Jahres Tod innerhalb 90 Tagen Havelin LI, Espehaug B, Vollset SE, Engesaeter LB. The effect of the type of cement on early revision of Charnley total hip prostheses. A review of eight thousand five hundred and seventy-nine primary arthroplasties from the Norwegian Arthroplasty Register. J Bone Joint Surgery (1995), 77:10, 1543–1550 1 Liebensteiner M, Janda W Williams A , Pawelka W , Labek G. Erfassung von minderwertigen Produkten in der Endoprothetik und Umsetzung der Erkenntnisse: eine retrospektive Analyse am Beispiel des Boneloc-Knochenzements. Z Orthop Unfall 2009; 147(6): 683–688 2 3 http://www.mhra.gov.uk/home/groups/dts-bs/documents/medicaldevicealert/con143787.pdf Macpherson GJ, Brenkel IJ, Smith R, Howie CR. Outlier Analysis in Orthopaedics: Use of CUSUM. The Scottish Arthroplasty Project: Shouldering the Burden of Improvement. J Bone Joint Surg Am. 2011;93 Suppl 3(E):81–8 d http://dx.doi.org/10.2106/ JBJS.K.01010 4 5 http://nrlweb.ihelse.net/eng/Report_2010.pdf 13 Register Erkenntnispotential von klinischen Studien und Registerdaten von PD Dr. med. Gerold Labek Die medizinische Wissenschaft strebt nach objektiven und reproduzierbaren Daten, aus denen sich klare Empfehlungen für die Behandlung des einzelnen Patienten ableiten lassen. In der Endoprothetik scheinen die Voraussetzungen dafür besonders günstig, denn wir verfügen über eine sehr breite Basis aus zahllosen klinischen Studien und vielen nationalen Implantatregistern. Allerdings unterliegt das Erkenntnispotential von Studien und Registern spezifischen Einflüssen und Beschränkungen, die berücksichtigt werden müssen, um belastbare Schlussfolgerungen ziehen zu können. Bei den Studien sind zum Teil sehr große Qualitätsunterschiede und Verzerrungen zu beachten. Nationale Register bieten zwar verlässliche Daten, bilden aber nur bestimmte Aspekte ab, deren valide Interpretation eine präzise Differenzierung erfordert. Methodische Probleme klinischer Studien Auffällige Häufungen in der Literatur Das Prinzip der klinischen Studie ist die Betrachtung einer Stichprobe, aus der Schlüsse für die Grundgesamtheit gezogen werden. Dieser Ansatz hat einige systemimmanente Schwächen, etwa wenn die Studienkohorte nicht der durchschnittlichen Patientenpopulation entspricht (selection bias) oder ausgewählte Studien – mit bestimmten Ergebnissen – in den Publikationen überrepräsentiert sind. Die Kliniken, in denen die meisten Studien durchgeführt werden, sind zudem für die durchschnittliche Patientenversorgung nicht immer repräsentativ. Um die Qualität klinischer Studien in der Endoprothetik zu überprüfen, haben die EFORT und das European Arthroplasty Register (EAR) eine umfassende Untersuchung durchgeführt: Im QoLA-Projekt (Quality of Literature in Arthroplasty)1 wurden alle verfügbaren Studien zu Implantaten, die in Endoprothesenregistern erfasst sind, einer Metaanalyse unterzogen. Beim Vergleich der klinischen Ergebnisse der Studien mit den Registerdaten wurden große Auffälligkeiten erkennbar: • Zu 21 von insgesamt 95 untersuchten Produkten (= 22 Prozent) konnte keine einzige Studie mit Daten zur Revisionsrate gefunden werden. • Die in klinischen Studien publizierten Revisionsraten zu etwa der Hälfte der anderen Produkte sind in Registern signifikant und relevant nicht reproduzierbar. Zumeist sind die publizierten Ergebnisse unplausibel positiv. • Etwa 30 Prozent aller Fälle in klinischen Studien stammen von den Implantatentwicklern, die damit in der wissenschaftlichen Literatur deutlich überrepräsentiert sind. Auch hier sind etwa 50 Prozent der Datensätze aus klinischen Studien in den Registern nicht reproduzierbar. • Man kann davon ausgehen, dass Implantatentwickler in jahrelanger Beschäftigung mit der Materie über eine besondere Kompetenz verfügen, das Produkt und die In- Im Vergleich zu Untersuchungen mit Pharmazeutika ist in der Endoprothetik grundsätzlich ein sehr langer Studienverlauf vonnöten. Die Patienten müssen über viele Jahre nachuntersucht werden. Bei zentralen Fragen bräuchte man für statistisch signifikante Aussagen sehr große Fallzahlen. So würde man für eine prospektiv randomisierte Studie mindestens 13.000 Fälle benötigen, um nach zehn Jahren einen Unterschied von einem Prozentpunkt zwischen zwei Implantaten zu ermitteln. Das ist schon allein aus organisatorischen Gründen nicht zu schaffen. 14 PD Dr. med. Gerold Labek ist Oberarzt an der Universitätsklinik Innsbruck für Orthopädie, EFORT European Arthroplasty Register Coordinator und Vice President EFORT-EAR. strumente für sie „maßgeschneidert“ sind, ein besonderes Interesse an der Nachuntersuchung vorliegt und durch die Kooperation mit einem Hersteller zusätzliche Ressourcen für Studien und Publikationen zur Verfügung stehen. • Zu einem Drittel derjenigen Produkte, die in Registern signifikant unterdurchschnittliche Ergebnisse aufweisen, wurde keine einzige Studie publiziert. • Bei der Mehrzahl der Produkte, welche in Registern schlecht abschnitten, waren die publizierten Ergebnisse gut oder durchschnittlich. • Bei keinem einzigen Produkt kann aus klinischen Studien auf Probleme oder eine mögliche Ursache für die in Registern beobachteten hohen Revisionsraten geschlossen werden. QoLA zeigt transatlantisches Gefälle Ein unerwartetes Ergebnis des QoLA-Projekts war die Entdeckung signifikanter Unterschiede zwischen den Publikationen aus den USA und Kontinentaleuropa. Während in Europa die publizierten Ergebnisse im Durchschnitt sehr gute Qualität haben, ist die Mehrzahl an Datensätzen aus den USA nicht reproduzierbar. In den USA zeigt sich zudem eine interessante Korrelation. Hinter fast allen Implantaten mit auffällig positiven Ergebnissen steht ein wissenschaftlich sehr aktiver Entwickler, der die Publikationen zu diesem Produkt beherrscht. So sind etwa die durchschnittlich publizierten Revisionsraten von Knieendoprothesen in US-Journalen deutlich niedriger als in Europa. Aber auch die US-Journale sind keineswegs homogen. Während weltweit etwa 30 Prozent aller Fälle von Entwicklern publiziert werden, stammen in US-Journalen 60 Prozent aus dieser Gruppe. Die Publikationen akkumulieren zu 97 Prozent (!) in zwei Journalen, dem Journal of Arthroplasty und dem Clinical Orthopaedics and Related Research. Die in diesen Journalen publizierten durchschnittlichen Revisionsraten würden eine Überlebensrate nach 10 Jahren zwischen 98 und 99 Prozent ergeben. Die Revisionsrate läge damit bei nur etwa 10 Prozent des Wertes, der in Registern ausgewiesen ist. Register – verlässliche Datenbasis Registerdaten werden nicht durch solche Faktoren beeinflusst und bieten inzwischen eine sehr breite Datenbasis von weltweit über 3.500.000 Fällen. Die ältesten Register bieten Daten aus einem Zeitraum von mehr als 20 Jahren. Sie liefern globale Aussagen mit einer hohen Treffsicherheit, weisen frühzeitig auf eine mögliche Häufung von Problemfällen hin und können damit erheblich zur Schadensbegrenzung beitragen. Allerdings besitzen sie in der Regel nur eine geringe Tiefenschärfe für die Untersuchung der Ursachen. Auch hier ist diese wichtigste Einschränkung systemimmanent: Eine Voll 15 Register Zeitschriften mit den höchsten akkumulierten veröffentlichten Fallzahlen Journal of Arthroplasty (US) 33.728 Primärimplantationen Clinical Orthopaedics and Related Research (US) 18.356 Primärimplantationen Acta Orthopaedica (EU) 15.919 Primärimplantationen JBJS-Br (EU) 6.625 Primärimplantationen JBJS-Am (US) 5.967 Primärimplantationen Im Rahmen des QoLA-Projekts wurde auch die Häufung von Veröffentlichungen in bestimmten Zeitschriften untersucht. Für diese Teilstudie wurden mehr als 200 Publikationen mit insgesamt über 100.000 veröffentlichten Fällen primärer Endoprothetik ausgewertet. Sie betrafen 12 Implantate und wurden in 26 Zeitschriften veröffentlicht.1 erhebung der Daten ist nur zu erreichen, wenn ihre Eingabe zeitökonomisch verläuft. Deshalb sind Register und klinische Studien nicht als konkurrierende, sondern als einander ergänzende Erkenntnisgrundlagen zu sehen. Klinische Studien sind nicht zuletzt notwendig, um die Fragen zu beantworten, die durch Registerdaten aufgeworfen werden, etwa indem sie die aufgedeckten Problemfälle im Detail untersuchen. Eine weitere wichtige Einschränkung des Registers darf ebenfalls nicht übersehen werden: Es bildet die Wirklichkeit nur in jenem Bereich ab, in dem die Daten gesammelt werden. Endoprothesenregister erfassen die Ergebnisse bestimmter Behandlungsmethoden vor einem bestimmten Hintergrund sehr genau. Wenn dieser Hintergrund mit dem Umfeld des behandelnden Arztes gut übereinstimmt, sind die Registerdaten valide Bezugsgrößen. Schwedische Daten bieten etwa in Hamburg – wo die Patienten nach vergleichbaren Standards in einem ähnlichen Sozialsystem behandelt werden – einen guten Orientierungsrahmen. Das gilt aber mit wachsender geographischer und kultureller Entfernung immer weniger. Je mehr der Hintergrund abweicht, desto größer ist die Gefahr verzerrter Interpretation. 16 Die Fallen der Fehlinterpretation Die Auswertungsverfahren für die inzwischen zahlreichen nationalen Register sind nicht standardisiert, jedes Register nutzt hier eigene, zum Teil deutlich abweichende Methoden. Zudem zielen die Registerberichte primär auf die Chirurgen des eigenen Landes, die mit dem jeweiligen Hintergrund vertraut sind. Sie enthalten naturgemäß unausgesprochene Prämissen, die bei diesem Zielpublikum zwar als bekannt vorausgesetzt werden können, einem ausländischen Leser aber häufig nicht vertraut sind. Dies kann ebenfalls zu Fehlinterpretationen führen. Das klassische Beispiel hierfür ist die mit Referenz auf das Schwedenregister getroffene Aussage, zementierte Hüftendoprothesen seien den zementfreien überlegen. Die schwedischen Operateure sind ausgewiesene Experten im Zementieren. Weniger erfolgreiche zementierte Implantate sind außerdem längst vom schwedischen Markt verschwunden. Bei den zementfreien Implantaten ist dieser Selektionsprozess dagegen noch nicht abgeschlossen. Zudem beeinträchtigt die anhaltende Lernkurve der Operateure im Umgang mit den zementfreien Implantaten deren Ergebnisse. Im bereinigten Vergleich erfolgreicher Implantate ist kein nennenswerter Unterschied zwischen beiden Gruppen zu erkennen. Die scheinbar eindeutige Überlegenheit der zementierten Hüftimplantate ist bei genauer Analyse der Daten nicht mehr vorhanden. Implantatentwickler nicht zu identifizieren 17 Veröffentlichungen 2.185 Fälle 0,41 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre Implantatentwickler 7 Veröffentlichungen 2.342 Fälle (7,5%) 0,47 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre Unabhängig 58 Veröffentlichungen 26.739 Fälle 0,47 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre In europäischen Zeitschriften wurden durchschnittlich 7,5 Prozent der Fälle von Implantatentwicklern veröffentlicht. Die durchschnittlichen Ergebnisse unterschieden sich nicht von denen anderer Autoren.1 Implantatentwickler nicht zu identifizieren 11 Veröffentlichungen 1.581 Fälle 0,28 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre Implantatentwickler 31 Veröffentlichungen 36.806 Fälle (54,6%) 0,19 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre Unabhängig 70 Veröffentlichungen 29.010 Fälle 0,56 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre In US-amerikanischen Zeitschriften wurden 55 Prozent der Fälle (primäre Endoprothetik) von Implantatentwicklern veröffentlicht. Die Überlebensrate von 98 Prozent oder 0,19 Revisionen je 100 beobachtete Komponentenjahre nach 10 Jahren lag um den Faktor 2,6 niedriger als in Veröffentlichungen von anderen Anwendern und um den Faktor 10 niedriger als in den Registern.1 Nicht zuletzt ist der Casemix-Faktor zu beachten, der in den Registerdaten meist nur sehr eingeschränkt abgebildet werden kann. Auch hier gibt es ein typisches Beispiel. Ein in Europa sehr erfolgreicher Hüftschaft wies in Australien auffällig schlechte Ergebnisse auf. 2 Die Registerdaten allein bieten dafür keine Erklärung. Erst die nähere Untersuchung fördert die offensichtliche Ursache der Abweichung zutage: In der Auswertungskohorte wurde überproportional häufig schon in der Primärversorgung die für die Revision vorgesehene Version des Schaftes eingesetzt. Es muss also unabhängig vom Implantat eine überdurchschnittliche Häufung von Problemfällen gegeben haben, die dann fälschlicherweise mit dem Implantat assoziiert wurden. Das deutsche Endoprothesenregister wird meines Erachtens für die weltweite Entwicklung der Register und ihre Aussagekraft äußerst wichtig werden: Es wird seitens der Fachgesellschaft von einem sehr kompetenten und schlagkräftigen Team koordiniert; es wird in relativ kurzer Zeit sehr große Datenmengen sammeln. Deutschland verfügt über einen bedeutenden Markt, auf dem fast alle Produkte, die weltweit häufig verwendet werden, zu finden sind. Damit werden direkte Vergleiche möglich, die etwa in den skandinavischen Ländern nicht gemacht werden können. Da die USA und die asiatischen Länder auf absehbare Zeit wahrscheinlich keine Register haben werden, könnte das deutsche Register in einer Phase entscheidender Weichenstellungen zu einem der wichtigsten Bezugspunkte werden. Solche Fehlschlüsse sind nach wie vor ein ungelöstes Problem. Eine Bewertung der Registerergebnisse nach Evidenzgrad wie bei klinischen Studien gibt es bisher nicht. Das macht ihre Beurteilung schwierig, wenn man sich nicht sehr weit in die Materie vertieft. Die Bemühungen um solche Bewertungssysteme und eine größere internationale Standardisierung sind deshalb in letzter Zeit verstärkt worden. Quality of Publications regarding the Outcome of Revision Rate after Arthroplasty, Final Report of the QoLA Project, presented at the EFFORT Congress 2011 in Copenhagen, http://www.ear.efort.org/downloads/EAR-EFORT%20QoLA%20Project.pdf 1 Labek G, Stoica CI, Böhler N. Comparison of the information in arthroplasty registers from different countries. J Bone Joint Surg Br. 2008 Mar;90(3):288–91 2 17 Register Unikondyläre Knieendoprothetik und Registerdaten von Prof. Dr. med. David Murray Unikondyläre Knieendoprothesen (UKEP) haben gegenüber Totalendoprothesen (KTEP) viele Vorteile: Sie bieten eine nahezu natürliche Kinematik, da sie den Erhalt der Kreuzbänder ermöglichen, während die Kinematik nach einer KTEP nicht mehr der natürlichen entspricht. Daraus resultierend lassen die UKEP einen größeren Bewegungsumfang und eine bessere Funktion zu, insbesondere bei anspruchsvollen Bewegungen wie dem Treppenabstieg. Die Schmerzminderung ist mindes tens so groß, das Gefühl ist besser. Es kommt seltener zu Komplikationen, die im Falle ihres Auftretens zudem weniger schwer ausfallen. Der minimalinvasive Eingriff ermöglicht eine deutlich schnellere Genesung, was das Verfahren insgesamt kostengünstiger macht. Funktionsscore Als Hauptnachteil der UKEP wird eine höhere Revisionsrate als bei der KTEP angegeben. Diese ist in allen nationalen Endoprothesenregistern ersichtlich. Diese höhere Revisionsrate wird in der Regel so interpretiert, dass mit UKEP mehr schlechte Ergebnisse erzielt werden als mit KTEP. Auf dieser Grundlage denken viele Operateure, dass von der Implantation unikondylärer Knieendoprothesen besser abzusehen sei, und einige Experten sprechen sogar entsprechende Empfehlungen aus. Eine Analyse der Daten des neuseeländischen Endoprothesenregisters zeigt aber, dass dies nicht die korrekte Erklärung der höheren Revisionsrate darstellt1 und eine solche Empfehlung somit unbegründet ist. Das neuseeländische Register gibt neben den Revisionen auch den Oxford Knee Score (OKS) an. Sechs Monate postoperativ ist der OKS bei UKEP höher als nach KTEP. Darüber hinaus weisen bei UKEP 30 Prozent mehr Patienten hervorragende Ergebnisse auf, bei 40 Prozent weniger Patienten wurden schlechte Ergebnisse erzielt. Somit kann die höhere Revisionsrate nicht darauf zurückzuführen sein, dass mit UKEP schlechtere Ergebnisse erzielt werden. Tatsächlich ist das Gegenteil der Fall. Revisionsraten Bei einem Oxford Knee Score unter 20 wird nach KTEP nur in 10 Prozent der Fälle eine Revision durchgeführt, nach UKEP in 60 Prozent der Fälle. 18 Das neuseeländische Endoprothesenregister hat zudem gezeigt, dass die OKS-Werte nach sechs Monaten auf die spätere Revisionsrate schließen lassen. Sind die OKS-Werte nach sechs Monaten sehr schlecht (unter 20, was in etwa dem durchschnittlichen präoperativen Wert entspricht), ist die anschließende Revisionsrate etwa 30mal höher als bei sehr guten OKS-Werten. Jedoch ist zu beobachten, dass, wenn der OKS nach einer KTEP sehr schlecht ist, nur in 10 Prozent der Fälle eine Revision Prof. Dr. med. David Murray MA, MD, FRCS (Orth) ist Facharzt für Orthopädie am Nuffield Orthopaedic Centre NHS Trust in Oxford. durchgeführt wird, während bei 60 Prozent der UKEP mit vergleichbar schlechten Ergebnissen eine Revision erfolgt. Daran ist zu erkennen, dass die Entscheidungsschwelle für eine Revision bei KTEP viel höher ist als bei UKEP. Dafür gibt es zahlreiche mögliche Gründe: Die Revision einer UKEP bedeutet im Normalfall einen einfachen Wechsel zu einer primären KTEP, der deutlich leichter durchzuführen ist als die Revision einer KTEP, die in der Regel komplex ist und die Verwendung von Revisionskomponenten erfordert. Darüber hinaus sind die Ergebnisse beim Wechsel von UKEP zu KTEP üblicherweise besser als die Ergebnisse von KTEPRevisionen. Die niedrigere Entscheidungsschwelle bei der Revision und damit auch die höhere Revisionsrate unikondylärer Knieendoprothesen erklären sich durch diese relative Einfachheit der Revision. Wir sehen sie als klaren Vorteil an, da auch bei sehr schlechten Ergebnissen etwas getan werden kann, während bei sehr schlechten KTEP-Ergebnissen im Allgemeinen nichts getan wird. 80% UKEP KTEP 70% Revisionsraten von UKEP und KTEP nach zwei Jahren im Verhältnis zum Oxford Knee Score (gemessen sechs Monate nach dem Eingriff) Revisionsrate 60% 50% 40% 30% 20% 10% 0% ≤ 20 21 to 25 26 to 30 31 to 35 36 to 40 41 to 45 > 45 OKS nach sechs Monaten 19 Register Komplikationen Die Inzidenz schwerer Komplikationen wie tiefe Infektionen und Thromboembolien ist bei UKEP deutlich geringer als bei KTEP. Die Daten nationaler Endoprothesenregister können auch für andere Vergleiche zwischen UKEP und KTEP herangezogen werden. Beispielsweise zeigt das Register von England und Wales, dass der stationäre Aufenthalt von UKEP-Patienten etwa zwei Tage kürzer ist als von KTEPPatienten. Diese Zahlen bestätigen, dass die Genesung nach Implantation einer UKEP schneller verläuft als nach einer KTEP und dass das Verfahren geringere stationäre Kosten verursacht. Den Registern sind auch Informationen über Komplikationen zu entnehmen. Die Inzidenz schwerer Komplikationen wie tiefe Infektionen und Thromboembolien ist bei UKEP deutlich geringer als bei KTEP. Mortalität Die Mortalitätsrate nach Implantation einer UKEP ist kurzfristig um zwei Drittel, langfristig um ein Drittel niedriger als nach KTEP. Die vielleicht wichtigsten Registerdaten zum Vergleich von UKEP und KTEP betreffen die Mortalität. Nach einem totalen Kniegelenkersatz kommt es häufiger zum Tod als zu einer Revision – was den Patienten angeht, ist dies wohl der wichtigere Aspekt. Die Sterblichkeitsrate nach KTEP ist zudem höher als die nach UKEP. Die herkömmliche Erklärung dafür lautet, dass Patienten, die mit einer UKEP versorgt werden, tendenziell jünger sind als Patienten, die eine KTEP erhalten. In neueren Analysen von Registerdaten aus Australien, England und Wales wurden Faktoren wie das Alter statistisch bereinigt, und trotzdem blieb die Todesrate nach KTEP höher. Sie ist beispielsweise in den ersten 90 Tagen nach der OP 2,8-mal höher (95 % Konfidenzintervall, 1,7–4,5) als bei UKEP und in den ersten fünf Jahren 1,6mal höher (95 % Konfidenzintervall 1,4 –1,7). Diese höhere Mortalität bei KTEP überrascht in Anbetracht der höheren Rate schwerer Komplikationen nicht. Es ist jedoch erstaunlich, dass sie auch langfristig höher bleibt. Selbst wenn man eine inadäquate statistische Bereinigung unterstellt, legen diese Daten nahe, dass bei der Operation etwas geschieht, das langfristige Auswirkungen haben könnte. So könnten beispielsweise Embolien, die von intramedullären Stäben ausgelöst wurden, langfristige Lungenschäden nach sich ziehen oder andere frühe Komplikationen zu weiteren langfristigen Problemen führen. Damit lässt sich der Schluss ziehen, dass die Registerdaten für die Verwendung von UKEP sprechen. Den Registern zufolge sind die funktionellen Ergebnisse bei UKEP besser als bei KTEP, da bei mehr Patienten hervorragende Ergebnisse erzielt werden und bei weniger Patienten schlechte Ergebnisse. Revisionen von UKEP sind einfacher und gehen mit besseren Ergebnissen einher als Revisionen von KTEP. Aus diesem Grund wird in der Regel nichts unternommen, wenn die Ergebnisse einer KTEP sehr schlecht sind und die Patienten leiden nach wie vor, während bei vergleichbar schlechtem Ergebnis mit einer UKEP ein Wechsel zu einer 20 UKEP 50% KTEP 40% 30% 20% 10% 0% < 27 schlecht 27 bis 33 befriedigend 34 bis 41 gut > 41 sehr gut OKS nach sechs Monaten Anteile von sehr guten, guten, befriedigenden und schlechten Ergebnissen (Oxford Knee Score, OKS) sechs Monate nach dem Eingriff, auf Grundlage der Daten des Zehnjahresberichts des New Zealand Joint Registry2 Durchschnittliche Dauer des Klinikaufenthalts in Tagen 7 6 5 4 3 2 1 0 UKEP (n=16.393) TKEP zementiert (n=201.244) Patienten bleiben nach Primärimplantation einer KTEP deutlich länger in der Klinik als nach der einer UKEP.3 KTEP vorgenommen wird. Die Inzidenz schwerer Komplikationen ist bei UKEP kleiner als bei KTEP. Außerdem liegt die Mortalitätsrate nach Implantation einer UKEP kurzfristig bei einem Drittel und langfristig bei zwei Dritteln der Mortalitätsrate nach KTEP. Literaturhinweis Goodfellow JW, O’Connor JJ, Murray DW. A critique of revision rate as an outcome measure: re-interpretation of knee joint registry data. J Bone Joint Surg Br 2010; 9212: 1628-31 1 New Zealand Orthopaedic Association, The New Zealand Joint Registry, Ten Year Report, January 1999 to December 2008 2 3 National Joint Registry for England and Wales, 7th Annual Report 2010 21 KTEP Vanguard-Kniesystem im Spiegel von klinischen Ergebnissen und Registerdaten von Benjamin Hohaus Sechs Jahre nach der Einführung des Vanguard-Kniesystems in Deutschland und neun Jahre nach dessen erster Implantation in den USA erreicht diese Knieendoprothese durchgängig gute bis überdurchschnittliche klinische Ergebnisse. Dies geht aus einer systematischen Vergleichsstudie der Standzeiten des VanguardKniesystems im Vergleich mit anderen Knietotalendoprothesen hervor.1 Insgesamt wurden 15 Datenquellen, darunter sowohl veröffentlichte als auch noch nicht veröffentlichte klinische Studien sowie die Jahresberichte der englischen, schwedischen, australischen und dänischen Endoprothesenregister, analysiert. • Der Vergleich der Revisionsrate des Vanguard-Kniesystems mit den durchschnittlichen Werten der genannten nationalen Endoprothesenregister nach fünf Jahren ergibt mit nur 2,3 Prozent ein überdurchschnittlich gutes Ergebnis (Tabelle 2). Im Detail kommt der systematische Ver- • Im aktuellen Jahresbericht 2011 des gleich zu folgenden Ergebnissen: „National Joint Registry for England and Wales“ schneidet das Vanguard-Knie• Eine Überlebenszeitanalyse nach Kaplan- system mit einer Revisionsrate von 0,98 Meier von weltweit insgesamt 16.201 Van- Prozent nach fünf Jahren besonders erguard-Implantationen ergab eine Überle- folgreich ab. 17 Vanguard erreicht damit bensrate von 97,7 Prozent nach fünf Jahren das beste Ergebnis der zehn in England (Tabelle 1). und Wales am häufigsten implantierten Kniesysteme. Tabelle 1: Kaplan-Meier Überlebenszeitanalyse – Pooled Survivorship (95% CI) 2, 4–6, 8–11, 14, 16 Fallzahl Überlebensrate nach 1 Jahr (%) Überlebensrate nach 3 Jahren (%) Überlebensrate nach 5 Jahren (%) 16.201 99,5 (99 – 100) 98,7 (97,9 – 99,5) 97,7 (95,8 – 99,7) Tabelle 2: Kumulative Revisionsrate in % (95% CI) n [gesamt] Vanguard Knie (weltweit) 2–16 16.201 0,5 (0,0 – 1,0) 1,3 (0,4 – 2,1) 2,3 (0,3 – 4,2) AOANJRR11 TKA 2010 (Australien): alle Kniesysteme 231.409 0,8 (0,2 – 1,4) 2,2 (0,74 – 3,61) 2,9 (0,94 – 4,81) NJR10 TKA 2010 (England & Wales): alle Kniesysteme 39.970 – 2,0 (2,0 – 2,1) 2,8 (2,7 – 3,0) SKAR12 TKA 2010 (Schweden): alle Kniesysteme unbekannt 0,6 2,4 2,6 2,5 5,0 7,0 1,5 3,5 4,5 1,0 3,0 4,0 DNR14 TKA 2010 (Dänemark): alle Kniesysteme, zementfrei DNR14 TKA 2010 (Dänemark): alle Kniesysteme, zementiert DNR14 TKA 2010 (Dänemark): alle Kniesysteme, hybrid 22 Revisionsrate Revisionsrate Revisionsrate nach 1 Jahr nach 3 Jahren nach 5 Jahren 49.169 Benjamin Hohaus, Dipl.-Wi.-Ing. (FH), ist Produktmanager Knieendoprothetik bei Biomet Deutschland. • Die Werte des American Knee Society ster Deutschland (EPRD) eine weitere qualiScore, die Patienten mit einer Vanguard- tativ hochwertige Datenquelle entsteht. Endoprothese erreichen, zeigen eine deutliche Verbesserung der funktionellen Ergebnisse innerhalb eines Jahres nach der Weitere Information: Implantation (Abb. 1). Dieser Analyse liegen die Daten aus sechs verschiedenen Studien Zur weiterführenden Information zugrunde. steht das detaillierte White Paper „A Systematic Review on PerforNeben kontrollierten multizentrischen Stumance of the Vanguard Complete dien und der weltweit publizierten Literatur Knee System“1 zur Verfügung. Bei verfolgt Biomet auch die in den JahresbeInteresse kann dies über das beirichten verschiedener Endoprothesenregiliegende Faxformular angefordert ster publizierten Ergebnisse für das Vanwerden. guard-Kniesystem. Wir freuen uns, dass in diesem Jahr mit dem Endoprothesenregi- 100% 80% 60% 40% 20% 0% Preop 6m 1y 2y AKS – Function Score 3y 5y AKS – Objective Score Abb. 1: American Knee Society Objective und Function Scores nach Implantation einer Vanguard-Endoprothese mit fixiertem Inlay Literatur: Xie J. A Systematic Review on Performance of the Vanguard® Complete Knee System. White Paper. Biomet Inc. 1 The England and Wales National Joint Registry Data Extract (DS14) 10 2 Biomet Comparison of MIS/Usual Technique for Vanguard (DS1) 11 Australian National Joint Registry Annual Report 2010 (DS15) 3 Biomet Regenerex Tibial Tray Multicenter Data Collection (DS4) 12 Swedish Knee Arthroplasty Annual Report 2010 (DS16) 4 Schroer Vanguard MIS Approach (DS6) 13 Biomet France Vanguard Study (DS17) 5 Biomet Korea Vanguard Study (DS7) 14 Danish Knee Registry 2010 (DS19) 6 Biomet Vanguard DDRP IDE Study (DS9) 15 New Zealand National Joint Registry, 11 years 7 Biomet UK Vanguard DDRP Study (DS10) 16 Biomet Vanguard DDRP IDE Feasibility (DS21) 8 Biomet Vanguard Study (DS11) 17 9 Biomet UK Vanguard Study (DS12) National Joint Registry for England and Wales 8th Annual Report 2011 23 Effektivität Qualität und Effektivität in der Wirbelsäulenchirurgie von Prof. Dr. med. Friedrich Weber Die rasante medizinische Entwicklung und der Wandel der Bevölkerungsstruktur stellen eine zunehmende Herausforderung für alle dar, die eine hohe Versorgungsqualität anstreben. Das gilt ganz besonders bei Erkrankungen der Wirbelsäule: Sie konkurrieren mit den onkologischen Erkrankungen um den Platz zwei auf der Häufigkeitsliste. Die Ergebnisqualität bei ihrer Behandlung ist eine Frage mit hoher Priorität für das ganze Gesundheitswesen. Studien im Sinne einer „Comparative Effectiveness Research“ können helfen, gleichzeitig die Qualität zu steigern und zu einem effizienten Einsatz der Mittel beizutragen. Bei operativen Eingriffen an der Wirbelsäule besteht grundsätzlich das Risiko schwerwiegender Konsequenzen für den Patienten. Diese können, etwa beim Auftreten einer Querschnittssymptomatik, die Lebensqualität erheblich beeinträchtigen und die Kosten explodieren lassen. Aber auch ohne solche Fälle steigen die Kosten stetig. Die exponentielle Entwicklung der Wirbelsäulenerkrankungen, die Vielfalt der technischen Innovationen, die veränderte Erwartungshaltung der Patienten sowie die differenziertere Diagnostik tragen zu einem starken Kostendruck bei, der kanalisiert und kontrolliert werden muss. In den USA erhielt die Agency for Healthcare and Quality ein Mandat vom Kongress, die sogenannte Comparative Effectiveness Research (CER) zu unterstützen. Das Institute of Medicine definiert diese folgendermaßen: Die Generierung und Synthese von Evidenz, die den Nutzen mit den Nachteilen verschiedener Behandlungsmethoden darstellt, um klinischen Syndromen vorzubeugen, sie zu diagnostizieren, zu überwachen und ihre Behandlung zu verbessern.1 Damit soll Patienten, Ärzten, Herstellern und Kostenträgern geholfen werden, Entscheidungen evidenzbasiert zu treffen. Insgesamt hat Washington 2,2 Milliarden US-Dollar für CER zur Verfügung gestellt.2 Ein besonderes Augenmerk sollte bei CER im Bereich Wirbelsäule auf den neuen Technologien in der Wirbelsäulenchirurgie liegen. Zu nennen sind hier Cages, Bandscheibenprothesen, dynamische Stabilisierung und neue Materialien. Sie haben völlig neue Versorgungsoptionen geschaffen und bieten eine potentiell bessere individuelle Behandlung. Auf viele Fragen gibt es aber noch keine validen evidenzbasierten Antworten. Es fehlen Daten über die Langzeitergebnisse der einzelnen Implantate bezüglich ihrer Standzeit sowie zur Lebensqualität der Patienten. Bei der Generierung evidenzbasierter Fakten zeigt sich in der Wirbelsäulenchirurgie das besondere Problem, dass die Durchführung prospektiv randomisierter Studien sehr 24 Prof. Dr. med. Friedrich Weber ist Chefarzt der Neurochirurgi schen Klinik Köln-Merheim – Lehrkrankenhaus der Universität Köln. teuer und aufwendig ist, die meisten Studien deshalb retrospektiv angelegt sind. Das macht es für die Wirbelsäulenfachgesellschaften schwierig, evidenzbasierte Empfehlungen herauszugeben. Selbst bestehende Empfehlungen werden von vielen Wirbelsäulenchirurgen mangels tatsächlicher Evidenz ignoriert und haben somit für den klinischen Alltag wenig Bedeutung. Kontrollierte randomisierte Studien sind nach wie vor der goldene EBM-Standard. Allerdings sind sie im Rahmen der Wirbelsäulenchirurgie schwer zu realisieren, da sie homogene Populationen benötigen, die nur mit stark selektionierten Patientengruppen möglich sind. Cross-OverDesigns, in denen bis zu 40 Prozent der Patienten wechseln, wie bei der SPORTS-Studie,3 machen die Situation zusätzlich problematisch. Im Gegensatz dazu fokussiert der CER-Ansatz ähnlich wie ein Register auf die Effektivität in großen Patientengesamtpopulationen, um so dank deren Größe und Heterogenität den Einfluss einzelner Faktoren bestimmen zu können. Die Kosten der Behandlung von Rückenschmerzen betragen in den USA jährlich 80 Milliarden US-Dollar. Die Anzahl der Operationen hat sich innerhalb der letzten zehn Jahre verdreifacht. Prospektive Multicenter-Datenbankstudien sollten wertvolle Ergebnisse liefern, damit sich Patienten, Therapeuten, Krankenhäuser und Kostenträger auf evidenzbasierte Therapien stützen können. Hierbei sollten veränderte Behandlungsmuster, Outcome-Parameter wie die Wiederaufnahme der Arbeit oder die gesundheitsbezogene Lebensqualität herangezogen werden. Comparative Effectiveness Research braucht im Gegensatz zur traditionellen klinischen Forschung mehr Beteiligte. So kann es dazu kommen, dass Studien nicht nur vom Medizinwissenschaftler geplant werden, sondern auch von Versicherungen oder Behörden, mit dem Ziel, Kosten zu limitieren und Veränderungen im Bereich der bisherigen Behandlungsverfahren herbeizuführen. Auf dem Spine-Tango-Fragebogen baut das Dokumentationssystem für Wirbelsäulenchirurgie der European Spine Society auf, das als internationales Register fungiert. Initial National Priorities for Comparative Effectiveness Research Committee on Comparative Effectiveness Research Prioritization Institute of Medicine, 2009, S. 13 http://www.nap.edu/openbook. php?record_id=12648 1 http://www.hhs.gov/recovery/programs/ cer/index.html 2 Tosteson ANA, Tosteson TD, Lurie JD, Abdu W, Herkowitz H, Andersson G, Albert T, Bridwell K, Zhao W, Grove MR, Weinstein MC, Weinstein JN. Comparative effectiveness evidence from the spine patient outcomes research trial: surgical versus nonoperative care for spinal stenosis, degenerative spondylolisthesis, and intervertebral disc herniation. Spine 2011;36:2061–8. 3 25 Fortbildung Implantation nur nach spezifischem Training von Prof. Dr. med. Bernd Fink Gute Schulung, ausreichendes Training und möglichst viel Routine sind die wichtigsten Voraussetzungen für gute Operationsergebnisse. Diese Aussage erscheint banal und selbstverständlich. Der Grundsatz „No train, no use“ wird aber nicht immer konsequent befolgt. Zunehmender Zeitdruck, steigende ökonomische Anforderungen, der Wunsch nach Innovation und ein stetiger Strom neuer Implantate werden hierfür als Gründe angeführt. Sie dürfen aber keine Rolle spielen, wenn es darum geht, das Risiko für den Patienten zu minimieren. Deshalb sollten Implantate nur nach ausreichendem produktspezifischem Training eingesetzt werden dürfen. Im vergangenen Herbst hat das Landessozialgericht Brandenburg die Mindestmengen für die Knieendoprothetik gekippt. Die Begründung: Es ließ sich nicht wissenschaftlich valide feststellen, ab welcher Mindestmenge die Implantationsqualität tatsächlich besser sei.1 Tatsächlich sind belastbare Zahlen rar, die für gut trainierte und/oder routinierte Operateure eindeutig bessere Ergebnisse ausweisen. Das liegt jedoch vor allem daran, dass der Evidenzgrad 1 hier aus ethischen Gründen nicht zu erreichen ist: Es ist völlig ausgeschlossen, Patienten in einer doppelblinden randomisierten Studie zwischen Neulingen und erfahrenen Operateuren aufzuteilen. Evidenzbasierte Medizin verlangt aber nicht nach dem höchsten, sondern nach dem höchstmöglichen Evidenzgrad. Unter dieser Maßgabe liegen genügend klare Beweise für das ohnehin Offensichtliche vor. Das Schwedenregister zeigt zum Beispiel für die OxfordKnieendoprothese deutlich geringere Revisionsraten, wenn die Implantation in einer Klinik mit hohen Fallzahlen erfolgt ist. So zeigt das Schwedenregister zum Beispiel für die OxfordKnieendoprothese deutlich geringere Revisionsraten, wenn die Implantation in einer Klinik mit hohen Fallzahlen erfolgt ist.2 In klinischen Studien, an denen die Autoren des untersuchten Implantats beteiligt sind, sind die Revisionsraten um bis zu zehnmal besser als in den Registerdaten.3 Selbst wenn man solchen Studien einen deutlichen Bias unterstellen darf, gibt es einen wichtigen mitentscheidenden Faktor: die große Vertrautheit der Operateure mit dem Implantat. Zudem belegt jede in zahllosen Studien ausgewiesene Lernkurve die Wirksamkeit des Trainingseffekts. Trotzdem begegnen wir in Zentren für Revisionsendoprothetik immer wieder Patienten, bei denen das Implantatversagen offensichtlich durch die ungenügende Kenntnis produktspezifischer Besonderheiten zumindest mitverursacht wurde. Neben den eingangs genannten Faktoren mag hier auch eine Rolle spielen, dass die Endoprothetik gelegentlich – als scheinbar simple Routine – unterschätzt wird. Ein gutes Beispiel für die Wichtigkeit genauer Produktkenntnis bietet die Revisionsendoprothetik der Hüfte. Hier gibt es distal verklemmende modulare Schäfte unterschiedlicher Hersteller, die auf den ersten Blick sehr ähnlich erscheinen, aber deutlich unterschiedlichen Verankerungs- 26 Prof. Dr. med. Bernd Fink ist Chefarzt der Klinik für Endo prothetik, Allgemeine und Rheumaorthopädie an der Orthopädischen Klinik Mark gröningen. prinzipien folgen. Modell 1 setzt etwa auf eine Konus-inKonus-Verklemmung und benötigt dementsprechend ein konisches Implantatbett. Modell 2 ist ebenfalls konisch geformt, erfordert aber ein zylindrisches Implantatbett für eine Konus-in-Zylinder-Verklemmung. Modell 3 ist weniger konisch geformt und benötigt eine Zylinder-in-ZylinderVerklemmung. Nicht nur die Form des Implantatbettes ist jeweils eine andere, von Modell 1 bis 3 braucht es auch eine zunehmend längere Verankerungsstrecke. Werden diese Unterschiede bei der Präparation nicht beachtet, ist das Versagen quasi vorprogrammiert. Dieses Beispiel macht deutlich, warum ein implantatspezifisches Training notwendig ist. Natürlich sollte sich der Umfang dieser Schulung nach der Komplexität des Implantates richten. Eine grobe Einteilung könnte so aussehen: 1. Sehr einfaches Implantat, das einem verbreiteten Prinzip entspricht und keine davon abweichenden wesentlichen Besonderheiten ausweist: Für den routinierten Operateur genügt eine gründliche Einweisung durch den Medizinprodukteberater. 2. Standardimplantat für die Primärversorgung, mittlerer Schwierigkeitsgrad: theoretische Schulung und praktisches Training am Kunstknochen 3. Komplexe und modulare Implantate, Revisionsendoprothetik: theoretische Schulung, praktisches Training am Kunstknochen und Kadaverworkshop oder Hospitation Neben dem Operateur muss auch das OP-Personal geschult werden. Eine komplexe Knierevision mit demselben Implantatsystem dauert mit einer ungeschulten OP-Schwester eine ganze Stunde länger als mit einer spezifisch geschulten Fachkraft. Das wissen wir aus einem direkten Vergleich in unserer Klinik. Ein guter Trainingsstand ist also nicht nur medizinisch, sondern auch betriebswirtschaftlich geboten. Es gibt heute genügend Schulungs- und Trainingsprogramme, nicht zuletzt der Implantathersteller, um alle Neuanwender eines Produkts gründlich auszubilden. Auch hier sei das Oxford-Knie als beispielhaft genannt. Die hervorragend strukturierten Oxford-Kurse sind ein wesentlicher Grund für die 35-jährige Erfolgsgeschichte dieses Implantats. Zugleich sind die Implantathersteller auch als Kontroll instanz gefordert. Sie wissen, wer vor einer Erstbestellung ihre Kurse und Workshops besucht hat. Dies sollte, entsprechend dem neudeutschen „No train, no use“, Vorbedingung für die Belieferung sein. Auch das OP-Personal muss gründlich geschult werden. Eine komplexe Knierevision dauert mit einer ungeschulten OP-Schwester eine Stunde länger als mit einer spezifisch trainierten Fachkraft. Landessozialgericht Berlin-Brandenburg, Aktenzeichen: L 7 KA 77/08 KL 1 Robertsson O, Knutson K, Lewold S, Lidgren L. The routine of surgical management reduces failure after unicompartmental knee arthroplasty. J Bone Joint Surg Br. 2001 Jan;83(1):45–9 2 Quality of Publications regarding the Outcome of Revision Rate after Arthroplasty, Final Report of the QoLA Project, presented at the EFFORT Congress 2011 in Copenhagen, http://www.ear.efort.org/ downloads/EAR-EFORT%20QoLA%20 Project.pdf 3 27 Fortbildung Train and Use Implantatspezifisches Training zur Sicherung der Ergebnisqualität Fundierte Kenntnis des Implantatsystems und gründliches Training sind entscheidende Voraussetzungen für durchgängig gute Langzeitergebnisse in der Endoprothetik. Die große Nachfrage nach praktischer Fortbildung wird aber nur zum Teil befriedigt, was die Einführung verbesserter Verfahren wesentlich behindert.1 Biomet bietet Operateuren und OP-Personal seit jeher ein breites Schulungsprogramm. Um die Ergebnisqualität nachhaltig zu sichern, erhalten Erstanwender von Biomet-Produkten implantatspezifische Tainingsangebote. Ein differenziertes Punktesystem sorgt für eine nachweislich gründliche Vorbereitung von Erstimplantationen und für die Verkürzung der Lernkurve. Business Unit Director Thomas Schüssler erläutert das Konzept von „Train and Use“ im Gespräch. Warum setzt Biomet auf Train and Use? Jede Lernkurve zeigt, dass Training und Routine die Ergebnisse verbessern. Produktspezifisches Training in Theorie und Praxis ist allein schon wegen der Verpflichtung gegenüber dem Patienten unerlässlich, vor allem wenn ein für den Anwender neues Implantatsystem verwendet wird. Von den besseren Ergebnissen profitieren aber natürlich auch der Operateur und die Klinik. Wie groß ist der Trainingsumfang? Er richtet sich nach dem Schwierigkeitsgrad, den wir gemeinsam mit erfahrenen Ärzten für bestimmte Eingriffsarten in einfach, mittel und schwer eingeteilt haben. Die Implantation eines Geradschafts ist nach dieser Klassifizierung „einfach“, die eines modularen Revisionsimplantats „schwer“. Jeder Kategorie ist ein Punktwert zugeordnet, der die gründliche Vorbereitung auf eine Erstimplantation ausweist. Der Operateur kann diese Punktzahl in spezifischen Schulungsmaßnahmen ansammeln. Wie werden die Punkte vergeben? Jede Kursform bringt eine bestimmte Punktzahl. Bonuspunkte gibt es, wenn der Operateur große Fallzahlen mit einem ähnlichen Implantat vorweisen kann. Beim Ersteinsatz eines Nachfolgemodells reicht ein Workshop aus. In jedem Fall ist aber die Anwesenheit eines qualifizierten Biomet-Mitarbeiters bei der ersten Implantation eines Systems erforderlich. 1 28 http://www.ncbi.nlm.nih.gov/pubmed/20148184 Thomas Schüssler ist Business Unit Director für die Bereiche Gelenkersatz, Sportmedizin, Extremitäten und Trauma bei Biomet Deutschland. Hierarchie der Trainingsmaßnahmen: niedriger Schwierigkeitsgrad Workshops OP Begleitungen Hospitationen Instructional- und Masterkurse Kurse am Humanpräparat hoher Schwierigkeitsgrad Wie funktioniert Train and Use in der Praxis? Nehmen wir an, ein Operateur möchte das Oxford-Kniesystem verwenden. Bisher hat er pro Jahr fünf bis zehn unikondyläre Implantate eines anderen Systems eingesetzt. Das erforderliche Training umfasst einen Instruktionskurs, einen Workshop und die Begleitung der ersten Implantation. Aus den drei Modulen zusammen ergibt sich die definierte Punktzahl. Was passiert, wenn diese Punktzahl noch nicht erreicht wurde? Wir bieten immer die dafür benötigten Trainings- und Begleitungsmaßnahmen an. Bevor die Punktzahl erreicht ist, können wir das Implantatsystem allerdings nicht ausliefern. Berliner Programmheft Frühling | Sommer 2012 Training und Fortbildung für medizinisches Fachpersonal Schultersystem Comprehensive Gutes Ergebnis: GTS-Hüftschaft Neuer Oxford-Masterkurs Zementmischsystem 4 7 10 Optipac fürs Knie 13 Vanguard-Kniesystem bewährt sich 14 Rapid Recovery Symposium 16 Das aktuelle Trainingsprogramm von Biomet ist im Berliner Programmheft dargestellt. Darin finden Sie auch eine Übersicht über das breite Angebot von Kursen am Humanpräparat. Sie können es mit dem beiliegenden Faxformular kostenlos abonnieren. 29 Infektion Indikatoren der Ergebnisqualität in der Behandlung implantatassoziierter Knochen- und Gelenkinfektionen von PD Dr. med. Dirk Stengel, MSc(Epi) Dass implantatassoziierte Knochen- und Gelenkinfektionen für die Betroffenen von erheblicher Konsequenz und im Einzelfall auch mit dem Risiko des Extremitätenverlusts oder lebenslanger Behinderung vergesellschaftet sind, wird kaum jemand anzweifeln. Dennoch ist in diesem komplexen medizinischen Szenario die Quantifizierung der gesundheitlichen Belastung ebenso schwierig wie die Messung des Therapieerfolgs. Letztere stellt jedoch die Basis für die Entwicklung, klinische Prüfung, Gesundheitstechnologiebewertung und Vergütung innovativer Therapieverfahren dar. Wie in allen Gebieten der Gesundheitsversorgung setzt sich auch in der septischen Chirurgie des Bewegungsapparates ein Therapieerfolg aus verschiedenen Komponenten zusammen. Diese sind: 1. Mikrobiologische (M) und laborchemische (L) Surrogate: Hierzu zählen unter anderem die Eradikation des wahrscheinlich kausalen Erregers und die Normalisierung von Entzündungsparametern wie CRP und Leukozytenzahl. 2. Radiologische (R) Surrogate: Im Zeitalter moderner Schnittbildverfahren, insbesondere natürlich der MRT, welche eine longitudinale Abbildung der Entzündungsaktivität erlaubt, umfassen diese zum Besispiel den Rückgang von Ödemen in Knochen und Weichteilgewebe, aber auch die zunehmende knöcherne Konsolidierung. 3. Das klinische Bild (B): Beispiele sind Abschwellung und Abklingen einer Rötung, Schmerzreduktion, das Sistieren einer Fistelsekretion, der Nachweis von Granulationsgewebe oder ein intraoperativ stabiles Implantat 4. Funktion (F) und gesundheitsbezogene Lebensqualität (Q): Neben der Belastbarkeit der Extremität und Gelenkbeweglichkeit gehören hierzu spezifische muskuloskelettale Score-Systeme wie zum Beispiel der Disability of the Arm, Shoulder and Hand (DASH) oder der Lower Extremity Functional Score (LEFS). Die wohl bekanntesten generischen Instrumente sind der EuroQol 5D (EQ-5D) oder der Short Form 36 (SF-36). 5. Dauerhaftigkeit (D): Diese wird durch das Intervall bestimmt, in dem der Therapieerfolg fortbesteht. 30 6. Zeit (Z): Bei akuten Infektionen wird der drohende Verlust von Implantat, Extremität oder Leben zum zeitbestimmenden Faktor. Bei chronischen Infektionen hingegen muss die Wahrscheinlichkeit, einen oder mehr der unter 1. bis 4. genannten Zielgrößen zu erreichen, mit der hierfür aufzubringenden Zeit ins Verhältnis gesetzt werden. 7. Kosten (K): Diese sind entweder tangibel (monetär) oder intangibel (den Betroffenen zusätzlich durch Schmerz, Invasivität, unerwünschte Therapieeffekte oder ähnliches belastend), direkt (mit den Therapiekosten vergesellschaftet) oder indirekt (aus dem Verlust der Arbeitskraft, sozialer Kontakte, des Familiengefüges und so weiter resultierend). Die perfekte Therapie würde alle diese Komponenten berücksichtigen und die Ziele 1. bis 5. mit optimalem Einsatz der Ressourcen 6. und 7. erreichen. Es bleibt die Frage: Ist das überhaupt realistisch? Nach heutigem Stand der medizinischen Forschung ist es das nicht, vermutlich auch nicht nach gesundem Menschenverstand. Die einfachste denkbare Korrelationsmatrix umfasst erstens wirts-, keim- und implantatspezifische Variablen (Exposition), zweitens therapiespezifische Faktoren (Intervention) und schließlich drittens die genannten Komponenten des Therapieerfolges (Outcome). Die Zahl der Interaktionen zwischen allen drei Ebenen – ungeachtet möglicher weiterer – geht offensichtlich gegen unendlich. In der S1-Leitlinie der Deutschen Gesellschaft für Unfallchirurgie „Prothesenwechsel am Hüftgelenk“1 heißt es: „Die Infektion PD Dr. med. Dirk Stengel, MSc(Epi), leitet das Zentrum für Klinische Forschung, Unfallkrankenhaus Berlin. einer Prothese stellt eine durch evidenzbasierte Medizin oder Leitlinien nicht abbildbare Problematik dar. Die Therapie muss individuell erfolgen.“ Bedeutet dies, dass wir lediglich ernüchtert feststellen müssen, keinen einheitlichen Ergebnismaßstab definieren zu können – und damit auch keinen Versorgungsstandard, der sich an diesem Maßstab orientieren muss? Die Antwort ist nein, beinhaltet jedoch das konditionale „aber“, dass nämlich die Entwicklung einer einheitlichen Ergebnisgröße in der septischen Chirurgie die konstruktive und vorbehaltlose Zusammenarbeit aller Verantwortlichen im Gesundheitswesen erfordert. Ein erster Schritt wäre es, für die Messung des Therapieerfolges zwingend einen der unter Punkt 4 genannten patientenorientierten Outcome-Parameter (PRO) zu fordern. Leider sind die Endpunktdefinitionen in vielen klinischen Studien zur Behandlung von Knochen- und Gelenkinfektionen (wie auch anderer Infektionen) schwer reproduzierbar und umfassen Begriffe wie „klinische Besserung“, „klinische Heilung“, „mikrobiologische Eradikation“ und so weiter. Ähnlich problematisch verhält es sich in der Onkologie mit der rezidiv- oder progressionsfreien Überlebenszeit, die häufig mit dem Gesamt überleben nicht oder nur schwach korreliert. Könnte man sich hierauf einigen, und würde zudem der Nachhaltigkeit eines günstigen Outcome über eine beobachtbare Zeitspanne (zum Beispiel von zwei bis fünf Jahren) eine gleichwertige Bedeutung beigemessen werden, erhielte man eine relativ 1 http://www.awmf.org/leitlinien/detail/ll/012-007.html simple Gleichung für den Therapieerfolg E einer bestimmten Maßnahme: (1) E = (F + Q + D) / Z x K Der Therapieerfolg setzt sich aus PRO und der Zeitspanne zusammen, in welcher der Erfolg anhaltend zu beobachten ist. Bilanziert werden muss der Erfolg gegen die aufzubringenden Ressourcen Zeit und Kosten. Sind letztere größer als die günstigen Auswirkungen auf PRO, ergibt sich ein ungünstiges Nutzen-Kosten-Verhältnis für die entsprechende Intervention. In Situationen, in denen das Outcome in ferner Zukunft liegt, oder Betroffene nicht nachuntersucht werden, könnten sich Surrogate dann als wertvoll erweisen, wenn sie nachgewiesen mit PRO korrelieren. In diesem Fall, und nur in diesem Fall, könnte E wie folgt gemessen werden: (2) E = (M + L + R + B) / Z x K Diese Gleichungen sind lediglich als Denkanstoß zu verstehen – sie haben keine gesundheitsökonomische, klinisch-epidemiologische oder biostatistische Begründung. Es fehlen die minimal relevanten Effekte der unzähligen Messinstrumente von Funktion und Lebensqualität, Gewichtungsfaktoren und so weiter. Ob die einzelnen Komponenten additiv, exponentiell oder in anderer Form synergistisch wirken, ist ebenfalls unklar. Klar ist lediglich, dass die oben genannten bekannten Größen in ein messbares Format gebracht werden müssen, um die Ergebnisqualität in der septischen Chirurgie darstellen und optimieren zu können. 31 Versorgungsprozess Partizipative Entscheidungsfindung von Prof. Dr. Edmund Neugebauer Der Patient kann aktiv dazu beitragen, das Behandlungsergebnis zu verbessern. Voraussetzung dafür ist, dass er in die Entscheidungen über seine Versorgung einbezogen wird. Dann steigt seine Zufriedenheit, er erreicht ein insgesamt besseres Ergebnis und erholt sich schneller.1 Das belegen Studien und das zeigt die Erfahrung von Kliniken, die bereits heute auf partizipative Entscheidungsfindung (Shared Decision Making) setzen. Shared Decision Making (SDM), das gemeinsame Vorgehen von Arzt und Patient, ist jedoch nur möglich, wenn der Patient seinen Zustand fundiert beurteilen kann. Hierfür muss er auf der Grundlage evidenzbasierter Medizin professionell aufgeklärt und über seine Krankheit, die Versorgungs- und Rehabilitationsmöglichkeiten informiert werden (Patient Empowerment). Besonders effektiv ist die gemeinsame Entscheidungsfindung als Teil eines umfassenden Patientenbetreuungsprogramms. Das Interesse an Shared Decision Making ist groß. Eine Studie aus England zeigt, dass sowohl Patienten als auch Ärzte zunehmend davon ausgehen, dass sie die Verantwortung für Entscheidungen künftig gemeinsam übernehmen werden2: Der Arzt stellt Wissen und Expertise zur Verfügung, der informierte Patient legt seine Vorstellungen dar, und gemeinsam gelangen sie zu einer wohlbegründeten Entscheidung für einen individuellen Behandlungsweg. Sinnvoll ist SDM vor allem bei elektiven Operationen. Für die Endoprothetik ist SDM geradezu prädestiniert. Therapeutische Wirkung von Patienteninformation Ausschlaggebend für den Erfolg der partizipativen Entscheidungsfindung ist die Qualität der Information, die der Patient erhält. Eine rudimentär gehaltene Aufklärung verbessert das Behandlungsergebnis weniger deutlich als eine umfassende.3 Die Information sollte daher unbedingt detailliert, wissenschaftlich aktuell und auf die Verständnisfähigkeit des Patienten zugeschnitten sein. Da unser Gesundheitssystem für lange Gespräche zwischen Arzt und Patient bisher kaum Zeit lässt, sind für die Patientenaufklärung und -information zusätzliche Maßnahmen nötig: evidenzbasierte Infobroschüren (EBPI), Vorträge und/oder Patientenschulungen. In den USA gibt es bereits Kliniken, die eigens Zentren für das Shared Decision Making unterhalten. In diesen erhält der Patient schon vor dem ersten Gespräch mit dem Arzt fundierte Information über Krankheitsbild und mögliche Behandlung. Gut informiert geht er selbstbewusst in die Sprechstunde, kann die richtigen Fragen stellen und auf einer soliden Grundlage mitentscheiden. Da er jetzt weiß, wie er das Behandlungsergebnis beeinflussen kann, beteiligt er sich aktiver an seiner Behandlung.4 In der Folge 32 Prof. Dr. Edmund Neugebauer ist Lehrstuhl inhaber für Chirurgische Forschung und Direktor des Instituts für Forschung in der Operativen Medizin (IFOM) an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/Herdecke, Campus KölnMerheim, sowie Prodekan für Forschung an der Fakultät für Gesundheit der Universität Witten/ Herdecke. fühlt sich der Patient wohler, seine Lebensqualität steigt und er kann früher wieder an seinen gewohnten Aktivitäten teilnehmen. Die Qualität der Interaktion zwischen Arzt und Patient sowie das Vertrauensverhältnis verbessern sich. Systemische Vorteile Eine Beteiligung des Patienten nach diesem Vorbild findet in Deutschland bisher leider kaum statt, obwohl die vorhandenen Studien die Vorteile klar belegen. Weitere Untersuchungen könnten Effektivität und Wirkung der partizipativen Entscheidungsfindung noch deutlicher nachweisen und damit einen Wandlungsprozess in Gang setzen. Dies ist das Feld der Versorgungsforschung. Bedauerlicherweise hinkt die Förderung der Versorgungsforschung dem steigenden Bedarf hinterher. Patientenbasierte Konzepte auf Basis des Shared Decision Making zu installieren bedeutet zwar zunächst einen zeitlichen wie finanziellen Mehraufwand für eine Klinik. In Summe überzeugen integrierte Programme wie etwa Rapid Recovery jedoch nicht nur aus medizinischer Sicht, sondern sind auch wirtschaftlich profitabel – zum Beispiel wenn die optimierten Abläufe dazu führen, dass die Mindestverweildauer tatsächlich eingehalten werden kann, Patienten sich wohler fühlen und ihre Zufriedenheit kommunizieren. Von der Qualitätssteigerung, die der gesamte Versorgungsprozess durch den intensiv einbezogenen Patienten erfährt, profitiert die Klinik in jedem Fall. Yoon RS, Nellans KW, Geller JA, Kim AD, Jacobs MR, Macaulay W. Patient education before hip or knee arthroplasty lowers length of stay. Journal of Arthroplasty 2010 Jun, 25(4):547–51. Epub 2009 May 8 1 Adam JA, Khaw F-M, Thomason RG, Gregg PJ, Llewellyn-Thomas HA. Patient decision aids in joint replacement surgery: a literature review and an opinion survey of consultant orthopaedic surgeons. Ann R Coll Surg Engl 2008; 90:198–207 2 Stacey D, Bennett CL, Barry MJ, Col NF, Eden KB, Holmes-Rovner M, LlewellynThomas H, Lyddiatt A, Légaré F, Thomson R. Decision aids for people facing health treatment or screening decisions (Review). The Cochrane Library 2011, Issue 10 3 Slover J, Shue J, Koenig K. Shared Decision-making in Orthopaedic Surgery. Clin Orthop Relat Res DOI 10.1007/s11999-011-2156-8 4 Weitere Literatur: Ballantyne PJ, Gignac MAM, Hawker GA. A Patient-Centered Perspective on Surgery Avoidance for Hip or Knee Arthritis: Lessons for the Future. Arthritis & Rheumatism (Arthritis Care & Research) Vol. 57, No. 1, February 15, 2007, pp 27–34 Beispiele für Patient Decision Aids des Ottawa Hospital Research Institutes für Patienten mit Hüftarthrose: http://decisionaid.ohri.ca/AZsumm.php?ID=1112 und Kniearthrose: http://decisionaid.ohri.ca/AZsumm.php?ID=1191. 33 Versorgungsprozess Evidenzbasierte Endoprothetik von Dr. rer. pol. Philipp Schwegel Evidenzbasierte Medizin ist auch in der Endoprothetik ein wichtiger Faktor, um die Qualität der Ergebnisse weiter zu verbessern. In der Praxis kommt es dabei auf die Kombination aus der klinischen Erfahrung des Arztes, der aktiven Einbindung des Patienten in die Behandlung und der Anwendung des aktuellen Wissensstandes an. Entscheidend für die Umsetzung im klinischen Alltag sind die kritische Auseinandersetzung mit dem täglichen Tun und der Abgleich bestehender medizinischer Verfahren mit der aktuellen Studienlage. Derzeit überwiegen bei der Behandlung von Gelenkersatzpatienten übernommene Traditionen und die Intuition des Arztes. Schwenk et al. (2005) verweisen auf internationale Untersuchungen, nach denen nur 30 bis 40 Prozent aller medizinischen Behandlungen auf wissenschaftlichen Erkenntnissen beruhen. Vor diesem Hintergrund hat Biomet beim Deutschen Kongress für Orthopädie und Unfallchirurgie (DKOU) 2011 eine Befragung von 101 ärztlichen Teilnehmern über die aktuelle Versorgungssituation bei der Behandlung von Knie- und Hüftgelenkersatzpatienten in Deutschland durchgeführt. Aktive Rolle des Patienten Die aktive Einbindung des Patienten in die Behandlung ist zentraler Bestandteil einer evidenzbasierten Endoprothetik. So zeigen beispielsweise die Studien von Jones et al. (2011), Vulcomanovic et al. (2008) und Yoon et al. (2009) den positiven Einfluss von präoperativen Schulungen auf den Behandlungsverlauf von Knie- und Hüftgelenkersatzpatienten. Trotz dieser Daten zeigt die Umfrage auf dem DKOU, dass lediglich 15 Prozent der Befragten auch tatsächlich eine präoperative Patientenschulung durchführen. Lokale Infiltrationsanästhesie Tradition Wunddrainage Metaanalysen von Parker et al. (2008) und Omonbude et al. (2010) sowie die aktuelle S3-Schmerzleitlinie zeigen, dass auf Wunddrainagen beim Knie- und Hüftgelenkersatz verzichtet werden kann, da diese dem Patienten keinen Nutzen bringen. Ganz im Gegenteil: Wunddrainagen fördern das Infektionsrisiko und behindern die frühe Mobilisierung. Wie weitverbreitet die Anwendung von Wunddrainagen beim Knie- und Hüftgelenkersatz in Deutschland trotzdem noch ist, zeigen die Befragungsergebnisse. Beim Hüftgelenkersatz legen 99 Prozent der befragten Ärzte Drainagen. Beim Kniegelenkersatz sind es 95 Prozent. Entfernt werden die Wunddrainagen beim Hüftgelenkersatz von 71 Prozent und beim Kniegelenkersatz sogar von rund 73 Prozent der Befragten erst am zweiten Tag nach der Operation. 34 Die evidenzbasierte Endoprothetik fördert innovative Therapieverfahren. Ein gutes Beispiel hierfür ist die lokale Infiltrationsanästhesie (LIA), die erstmals vor zehn Jahren in Australien angewendet wurde. Die mit ihr hervorgerufene Betäubung des lokalen Gewebes unterstützt unter anderem die frühe Mobilisierung des Patienten. Morin/ Wulf (2011) zeigen in ihrer Übersichtsarbeit, dass die LIA ein sicheres Anästhesieverfahren für Knie- und Hüftgelenkersatzpatienten darstellt, das keine besonderen technischen Fertigkeiten des Anwenders erfordert. Auch im Vergleich zur systemischen Analgesie, zur Epidural- oder peripheren Regionalanästhesie, zeigt die LIA positive Ergebnisse. Die DKOU-Umfrage verdeutlicht, dass nur 22 Prozent der Befragten mit der lokalen Infiltrationsanästhesie arbeiten. Möglicherweise liegt es daran, dass die S3-Schmerzleitlinie die LIA bisher nur für die Schulterendoprothetik empfiehlt und für die Knie- und Hüftendoprothetik weitere Studien fordert. Dr. Philipp Schwegel ist Health Care Manager bei Biomet Deutschland. Optimierte Behandlungs programme Die vorausgegangenen Ausführungen haben gezeigt, dass die evidenzbasierte Endoprothetik ein Umsetzungsproblem zu bewältigen hat. Die Behandlung von Gelenkersatzpatienten leidet nicht unter zu wenig Wissen, sondern unter der täglichen Herausforderung, die aktuelle Studienlage in den klinischen Alltag zu überführen. Hierfür sind insbesondere interdisziplinäre Teammeetings notwendig, die bisher nur von 34 Prozent der Befragten regelmäßig durchgeführt werden. Das optimierte Behandlungsprogramm Rapid Recovery setzt an dieser Umsetzungslücke an. Es basiert auf FastTrack- und Enhanced-Recovery-Konzepten. Bei seiner Anwendung werden die medizinischen Prozesse optimiert (Stufe 1). Die so geordneten Prozesse bilden wiederum die Grundlage für die kontinuierliche klinische Verbesserung nach evidenzbasierten Protokollen (Stufe 2). Durch ständige Evaluation (Stufe 3) wird überprüft, ob die ergriffenen Maßnahmen zu den gewünschten Ergebnissen führen. Die Evaluation, unter anderem mit Qualitätscores, ist ein wichtiger Bestandteil für den Aufbau von Reputation und einer glaubwürdigen Gesundheitskommunikation (Stufe 4) gegenüber Patienten, Krankenkassen, Rehabilitationseinrichtungen und niedergelassenen Ärzten. Die Erfahrungen mit Rapid Recovery zeigen, dass das strukturierte und interdisziplinäre Vorgehen die Patientenzufriedenheit erhöht, die klinischen Ergebnisse verbessert und gleichzeitig die Wirtschaftlichkeit optimiert. Versorgung von Knie- und Hüftgelenkersatzpatienten (Ausgewählte Ergebnisse einer Umfrage unter Teilnehmern des DKOU 2011) 15% 1. Interdisziplinäre Patientenschulung präoperativ 85% 5% 2. Wunddrainagen bei Knie-TEP 95% 1% 3. Wunddrainagen bei Hüft-TEP 99% 22% 4. Lokale Infiltrationsanästhesie (LIA) perioperativ 78% ja 11% nein 16% 73% 7% 22% 71% 1. Tag 5. Entfernung der Wunddrainage am Knie, postoperativ 6. Entfernung der Wunddrainage an der Hüfte, postoperativ 2. Tag 3. Tag Literatur: Jones S et al. Pre-operative patient education reduces length of stay after knee joint arthroplasty. Ann R Coll Surg Engl 2011, 93(1):71–5 Morin AM, Wulf H. Lokale Infiltrationsanästhesie (LIA) für Hüft- und Kniegelenksendoprothesen – Eine kurze Übersicht über den aktuellen Stand. Anästhesiol Intensivmed Notfallmed Schmerzther 2011; 46(2): 84–86 DOI: 10.1055/s-0031-1272875 Omonbude D, Calder SJ et al. Measurement of joint effusion and haematoma formation by ultrasound in assessing the effectiveness of drains after total knee replacement. J Bone Joint Surg (Br) 2010, 92-B: 51–5 Parker MJ et al. Closed suction surgical wound drainage after orthopaedic surgery. The Cochrane Collaboration 2008 S3-Leitlinie. Behandlung akuter perioperativer und posttraumatischer Schmerzen. AWMF-Register Nr. 041/001 Schwenk W et al. Beschleunigte Frührehabilitation in der operativen Medizin – “Fast-track“-Rehabilitation. Schlusswort, Dtsch Arztebl 2005; 102(51–52): A-3594 / B-3046 / C-2549 Vulcomanovic A et al. The effect of short-term physiotherapy and education on early functional recovery of patients younger then 70 undergoing Total Hip Arthroplasty. Vojnosanit Preql. 2008 Apr;65(4):291–7 Yoon RS et al. Patient education before hip or knee arthroplasty lowers length of stay. Journal of Arthroplasty 2010 Jun, 25(4):547– 51. Epub 2009 May 8 35 von …………… Weitere Informationen Möchten Sie weitere Information zu den Themen dieses Heftes zugeschickt bekommen? Möchten Sie die Berliner Seminare regelmäßig erhalten? Dann füllen Sie bitte das beiliegende Faxformular aus und schicken es an 030 / 845 81-110. 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