Zauber der Muschelbucht

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Zauber der Muschelbucht
Wochenend
Samstag, 9. Januar 2016
Das Rathaus (l.) macht Werbung für die Kulturhauptstadt San Sebastián, die sich spektakulär an eine muschelförmige Bucht (r.) schmiegt.
(Fotos: Baer-Bogenschütz)
Zauber der Muschelbucht
San Sebastián will mit einem Mitmachprogramm als europäische Kulturhauptstadt 2016 punkten
Sie parieren das Spiel des Windes
wie die Federboa einer Catherine
Deneuve. Feingliedrige Tamarisken
säumen in San Sebastián – baskisch: Donostia – die muschelförmige Bucht La Concha, Flaniermeile
und Badestrand in einem. Die Pflanzengattung mit schlanken Zweigen
und zarten Blättern ist an der rauen
Biskaya
dank
ausgezeichneter
Windschutzqualität und großer Toleranz gegenüber salzhaltigem Boden goldrichtig. Und weil sie die
rund 185 000 Einwohner der Filmund Gourmetkapitale nicht blickdicht abschirmt von ihrer postkartenperfekten Concha, kommt der
biegsamen Tamariske aus wahrnehmungspsychologischer Sicht eine
Schlüsselposition zu. »Wir schätzen«,
sagt
Fremdenführerin
Lourdes Gorriño, »den freien Blick
aufs Meer.«
Die spritzige Nordatlantiklage
birgt Metaphern für die europäische
Kulturhauptstadt 2016, deren Abkürzung DSS2016.EU SuperstarAssoziationen beschert. »Wellen der
Energie, Kultur gegen Gewalt« lautet das Horizonte überspannende
Motto. Imaginäre »Leuchttürme«
stehen symbolisch für Frieden oder
Leben. Das traditions- wie stilbewusste Seebad, das sich den werbewirksamen Europatitel mit Breslau
teilt – beide sind Partnerstädte der
hessischen Landeshauptstadt Wiesbaden, wo indes der historische Moment eher untergeht –, will mehr
als Touristenzahlen steigern, näm-
lich Modell sein für Koexistenz. Bürgerbeteiligung ist der Dreh- und Angelpunkt, der Baske Souverän des
Programms.
Die Kulturkapitale soll mit rund
90 Aktivitäten Beteiligungskultur
fördern, propagiert den inneren Zusammenhalt auch als Reaktion auf
jahrzehntelangen ETA-Terror. Nicht
Gijón
San Sebastian
Zaragoza
Barcelona
Madrid
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SPANIEN
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Sevilla
Málaga
València
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MDV-Grafik: B. Rühl
Events und Stargäste wollen abgearbeitet werden, sondern Inhalte.
Prominente Künstlernamen fehlen,
Personenkult wird von dieser Kulturhauptstadt selbstbewusst umschifft. »Soziale Transformation«
zählt. Eine »Friedensmeile« lädt zur
Besinnung, der »Caravan des Begehrens« zu sinnlichem Erleben,
mit der »Zeitmaschinensuppe« löffelt man in vergangenen Epochen.
Schulkinder bekommen fünf Tage
Tanz- statt Schulunterricht, an
Ostern findet ein »partizipatives«
Anti-Kriegs-Festival statt. »Man
muss mehr selbst tun, als man vorgesetzt bekommt«, heißt es offiziell.
Die Tamariske steht dabei nicht im
Weg. Sie macht alle Bewegungen
von Stadtkörper und Protagonisten
des Alltags förmlich mit.
Fünf Tage, vom 20. bis 24. Januar,
dauern die Eröffnungsfeierlichkeiten. Die zentrale Ausstellung ist eine
breit angelegte Friedensinitiative:
»1516-2016. Tratados de Paz« (17.
Juni bis 2. Oktober) siebt aus 500
Jahren Kunstgeschichte mehr als
300 Werke, die aus 21 Museen anreisen. Die Künstlerliste reicht von
der Gerolsteinerin Alice Creischer
bis zum Barockmeister Zurbaran,
und natürlich darf die Urmutter aller Peaceniks und Weltfriedensfrau
Yoko Ono nicht fehlen.
Am Strand Ondarreta erinnert die
schaumweiße Statue von Königin
Maria Cristina an deren kluge Entscheidung, ihre Sommerresidenz in
San Sebastián aufzuschlagen. In der
Folge strömte die feine Gesellschaft
und dekorierte die Muschelbucht im
Belle-Epoque-Stil. In einer knappen
Stunde gelangt man vom Kursaal
im Osten bis zur Talstation der 1912
installierten Funiculaire im Westen,
wo das Haus von Eduardo Chillida
auf die Brandung blickt. Spaniens
namhaftester Bildhauer – eine Verwandte entwarf das Kulturhauptstadt-Logo in freier Interpretation
seines Duktus – wurde in San Sebastián geboren und wollte nie weg.
Wieso auch. Der Zauber seines Geburtsortes wirkt vom ersten Moment an. Eben das ist das Problem.
Welche zusätzlichen (Kultur-)Anreize soll man anlässlich des Kulturhauptstadtjahres schaffen, wofür
das Budget springen lassen wie
Steine übers Wasser?
Tabakalera beim Bahnhof
Die Stadt mit dem Doppelnamen
ist ein kulturtouristisches Juwel
auch ohne Extraanstrengungen. Sie
beherbergt seit 1953 das internationale Filmfestival, besitzt mit dem
preisgekrönten Kursaal von Rafael
Moneo direkt am Meer das weltweit
einzige Konzerthaus und Kongresszentrum, das zugleich Wellenreiter
willkommen heißt: im Erdgeschoss
die Surfschule Bera-Bera beherbergend, in die der Surferstrand Zurriola lockt. Während die einen Musikern applaudieren, klatschen die
anderen mit ihren Brettern ins
Nass. Was also den Leuten darüber
hinaus bieten? Zentral die Nachhaltigkeit allen Tuns, die sich naturgemäß in den oft etwas geschwätzigen
Programmheften kaum vermitteln
lässt, sondern nur in der täglichen
Praxis. Sie muss zeigen, was die
rund 50 Millionen Landes- und Regional-Mittel bringen.
Die Tabakalera ist die einzige
neue Institution, die unter dem Kul-
turhauptstadtetikett segelt. Die umgewidmete ehemalige Tabakfabrik
wertet das Stadtviertel beim Bahnhof auf und präsentiert sich als elegant
minimalistisch
ergänztes
Kunst- und Kulturzentrum. »Jetzt
kommt die Stadt auf die Landkarte
der führenden Kulturstädte des
Kontinents«, so Eneko Goia Laso,
Bürgermeister und Präsident der
Stiftung Donostia/San Sebastián
2016. »Mit diesem Programm erreichen wir die Bürger«, freut sich der
Verantwortliche Pablo Berástegui.
Allein schon wegen der Sprachbarrieren werden Besucher an
manchen DSS2016-Initiativen nicht
teilhaben können. Doch die Hafenstadt wie vom Filmset mit ihrem
nostalgisch zauberhaften Lunapark
auf dem Monte Igeldo und dem kapriziösen Club Naútico vom frühen
20. Jahrhundert, in Schiffsform gebaut und erste Wahl für Sundowner
– sie ist auch ohne EU-Titel umwerfend. Naturschönheit, Kultiviertheit,
Kulinarik teilen sich nonverbal mit.
Im 16-Michelin-Sterne-Paradies ist
jede Pintxo-Tour eine soziale Handlung, jede Kreation der landestypischen Miniaturküche eine soziale
(Klein-)Plastik, und die Tamarisken
sind auch als religionsübergreifende
Pflanze ein Segen. Die Bibel kennt
sie und ebenso der Koran.
Dorothee Baer-Bogenschütz
✘ Das ausführliche Programm ist
im Internet unter www.dss2016.eu
zu finden.
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Schneerose und
Schneekirsche
blühen im Winter
Medien
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Es darf wieder
geraucht werden
Bücher
Meyerhoff
beendet seine
Roman-Trilogie
Streifzug
Neohs Frontfrau
Fee auf
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