Literatur (Interpretationen)
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Literatur (Interpretationen)
ao.Prof. Eybl: VO Klassische Lyrik, neu gelesen, SS 2011, STUNDE 4 Johann Gottfried Herder (1744-1803): Erlkönigs Tochter. Dänisch. Herr Oluf reitet spät und weit, Zu bieten auf seine Hochzeitsleut; Sie hob ihn bleichend auf sein Pferd: „Reit heim nun zu dein’m Fräulein werth.“ Da tanzten die Elfen auf grünem Land, Erlkönigs Tochter reicht ihm die Hand. Und als er kam vor Hauses Thür, Seine Mutter zitternd stand dafür. „Willkommen, Herr Oluf, was eilst von hier? Tritt her in den Reihen und tanz mit mir.“ - „Hör an, mein Sohn, sag an mir gleich, Wie ist dein Farbe blaß und bleich?“ - „Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag, Frühmorgen ist mein Hochzeittag.“ – „Und sollt sie nicht sein blaß und bleich? Ich traf in Erlenkönigs Reich.“ - „Hör an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir, Zwei güldene Sporne schenk ich dir. „Hör an, mein Sohn, so lieb und traut, Was soll ich nun sagen deiner Braut?“ - Ein Hemd von Seide, so weiß und fein, Meine Mutter bleichts mit Mondenschein.“ - „Sagt ihr, ich sei im Wald zur Stund, Zu proben da mein Pferd und Hund.“ „Ich darf nicht tanzen, nicht tanzen ich mag, Frühmorgen ist mein Hochzeittag.“ - Frühmorgen und als es Tag kaum war, Da kam die Braut mit der Hochtzeitschaar. „Hör an, Herr Oluf, tritt tanzen mit mir, Einen Haufen Goldes schenk ich dir.“ - Sie schenkten Meth, sie schenkten Wein. „Wo ist Herr Oluf, der Bräutgam mein?“ - „Einen Haufen Goldes nähm ich wohl; Doch tanzen ich nicht darf, noch soll.“ - „Herr Oluf, er ritt in Wald zur Stund, Er probt allda sein Pferd und Hund.“ „Und willt, Herr Oluf, nicht tanzen mit mir, Soll Seuch und Krankheit folgen dir.“ Die Braut hob auf den Scharlach roth, Da lag Herr Oluf, und er war todt. Sie thät einen Schlag ihm auf sein Herz, Noch nimmer fühlt’ er solchen Schmerz. Johann Wolfgang von Goethe (1739-1832): Der Erlkönig Wer reitet so spät durch Nacht und Wind? Es ist der Vater mit seinem Kind. Er hat den Knaben wohl in dem Arm Er faßt ihn sicher, er hält ihn warm. 5 Mein Sohn was birgst du so bang dein Gesicht? Siehst Vater du den Erlkönig nicht? Den Erlenkönig mit Kron’ und Schweif? Mein Sohn es ist ein Nebelstreif. – Willst feiner Knabe du mit mir gehn? Meine Töchter sollen dich warten schön, Meine Töchter führen den nächtlichen Reihn 20 Und wiegen und tanzen und singen dich ein. – Mein Vater, mein Vater und siehst du nicht dort Erlkönigs Töchter am düstern Ort? Mein Sohn, mein Sohn ich seh’ es genau, Es scheinen die alten Weiden so grau. – Du liebes Kind, komm geh mit mir, 10 Gar schöne Spiele spiel’ ich mit dir, Manch bunte Blumen sind an dem Strand, Meine Mutter hat manch gülden Gewand. – 25 Ich liebe dich, mich reizt deine schöne Gestalt, Und bist du nicht willig, so brauch’ ich Gewalt! Mein Vater, mein Vater jetzt faßt er mich an! Erlkönig hat mir ein Leids getan. Mein Vater, mein Vater und hörest du nicht Was Erlenkönig mir leise verspricht? 15 Sei ruhig, bleibe ruhig, [1789: mein] Kind, In dürren Blättern säuselt der Wind. – Dem Vater grauset’s, er reitet geschwind, 30 Er hält in [1789: den] Armen das ächzende Kind, Erreicht den Hof mit Müh und Not; In seinen Armen das Kind war tot. ao.Prof. Eybl: VO Klassische Lyrik, neu gelesen, SS 2011, STUNDE 4 Zitate: „Der Sänger [...] bedient sich daher aller drei Grundarten der Poesie [...] er kann lyrisch, episch, dramatisch beginnen und, nach Belieben die Formen wechselnd, fortfahren [...] Übrigens ließe sich an einer Auswahl solcher Gedichte die ganze Poetik gar wohl vortragen, weil hier die Elemente noch nicht getrennt, sondern wie in einem lebendigen Ur-Ei zusammen sind, das nur bebrütet werden darf, um als herrlichstes Phänomen auf Goldflügeln in die Lüfte zu steigen.“ „Poesie ist die Muttersprache des menschlichen Geschlechts“ (Johann Georg Hamann: Aesthetica in nuce) Quellen: Johann Wolfgang von Goethe: Die Fischerin. Ein Singspiel. Auf dem natürlichen Schauplatz zu Tiefurt vorgestellt. Weimar 1782 (= Erstdruck des “Erlkönig”; weiters in: Gedichte, Bd 8, 1789) Thomas Percy: Reliques of Ancient English Poetry, 1765 Johann Gottfried Herder: Auszug aus einem Briefwechsel über Oßian und die Lieder alter Völker, 1773 Forschungsliteratur: Beland, Hermann: Siehst, Vater, du den Erlkönig nicht? Psychoanalytische Betrachtungen über Goethes Ballade 'Erlkönig'. In: Kunstbefragung. 30 Jahre psychoanalytische Werkinterpretation am Berliner Psychoanalytischen Institut, hg. v. Gisela Greve. Tübingen: Ed. diskord 1996, S. 13-34. Bormann, Alexander von: Erlkönig. In: Goethe-Handbuch I, 1996, S. 212-217. Freund, Winfried: Die deutsche Ballade. Theorie, Analysen, Didaktik. Paderborn 1978 Handbuch der literarischen Gattungen, hg. v. Dieter Lamping. Stuttgart: Kröner 2009 Heinz Schlaffer: Musa iocosa. Gattungspoetik und Gattungsgeschichte der erotischen Dichtung in Deutschland. Stuttgart 1971 (Germanistische Abhandlungen 37) Herwig, Henriette: Goethe, die Frau und das (getötete) Kind. Überlegungen zum „Erlkönig“, zum „Urfaust“ und zu den „Wahlverwandtschaften“. In: Goethe dnes = Goethe heute, hg. v. Milan Tvrdík u. Jana Maroszová. -121. Hinck, Walter: Die deutsche Ballade von Bürger bis Brecht. Kritik und Versuch einer Neuorientierung. 3. Aufl. Göttingen 1978 (Kleine Vandenhoeck-Reihe 1273) Kittler, Friedrich A.: Aufschreibesysteme 1800·1900. 4., vollst. überarb. Neuaufl. München: Fink 2003 Kühlmann, Wilhelm: Die Nachtseite der Aufklärung. Goethes „Erlkönig“ im Lichte der zeitgenössischen Pädagogik (C. G. Salzmanns „Moralisches Elementarbuch“). In: Gesellige Vernunft. Zur Kultur und literarischen Aufklärung. Festschrift für Wolfram Mauser zum 65. Geburtstag, hg. v. Ortrun Gutjahr, Wilhelm Kühlmann u. Wolf Wucherpfennig. Würzburg 1993, S. 145-157; auch in: ders.: Vom Humanismus zur Spätaufklärung. Ästhetische und kulturgeschichtliche Dimensionen der frühneuzeitlichen Lyrik und Verspublizistik in Deutschland [Aufsatzsammlung], hg. v. Joachim Telle, Friedrich Vollhardt und Hermann Wiegand. Tübingen: Niemeyer 2006, S. 688-700. Pethes, Nicolas: Zöglinge der Natur. Der literarische Menschenversuch des 18. Jahrhunderts. Göttingen: Wallstein 2007 Simpson, James: Freud and the ‘Erl King’. In: Oxford German studies 27 (1998), S. 30-63. Steinlein, Rüdiger: Kindheit als Diskurs des Fremden. Die Entdeckung der kindlichen Innenwelt bei Goethe, Moritz und E.T.A. Hoffmann. In: „Die andere Stimme“. Das Fremde in der Kultur der Moderne. Festschrift für Klaus R. Scherpe zum 60. Geburtstag, hg. v. Alexander Honold. Köln/Wien [u.a.]: Böhlau 1999 (Literatur - Kultur - Geschlecht: Grosse Reihe 13) Stockhammer, Robert: Dichter. Vater. Kind. In: Interpretationen, ed. Witte (1998), S. 97-108. Ueding, Gert: Vermählung mit der Natur. Zu Goethes Erlkönig. In: Gedichte und Interpretationen. Deutsche Balladen, hg. v. Gunter E. Grimm. Stuttgart 1988 (RUB 8457), S. 92-107.