Portrait - Anja Lehmann

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Portrait - Anja Lehmann
PORTRÄT
W
ir suchen uns den schönsten Platz
im Bahnhofscafé: die Ecke mit den
schwarzen Ledersesseln vor dem Bücherregal. Auf einem Flachbildschirm flackert
ein künstlicher Kamin. «Schön hier»,
meint Anja Lehmann und bestellt einen
Cappuccino, während sie aus ihrem Leben erzählt. Die 35-Jährige trägt eine
braune Lederjacke, ihre Haare sind fesch
gestuft und etwas kürzer als auf dem Cover ihrer neuen CD «Beautiful».
Dieser Titel kommt nicht von ungefähr. Schönheit ist ein zentrales Thema
für die Sängerin. «Es geht dabei nicht
um Eitelkeit, sondern darum, die schönen Dinge, die wir von Gott empfangen,
zu geniessen», erklärt Anja, die durch
ihre Solo-Alben und zahlreiche öffentliche Auftritte bekannt wurde. «Schönheit
ist ein Teil von Gottes Wesen. Das spiegelt sich wider in dem, was er geschaffen hat und in der Art und Weise, wie er
wirkt. Es zeigt sich auch in den Dingen,
die wir kreieren können. Das kann ein gutes Essen, schöne Kleidung sein. Alles, was
mit Liebe gemacht ist, hat etwas mit die-
Gottes
Schönheit
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ser Schönheit Gottes zu tun.» Dabei sei es
nicht unwichtig, wie man in Erscheinung
trete. «Wir sind als Geschöpfe Repräsentanten Gottes – das sollten wir nach aussen ausstrahlen.»
Das bedeute aber nicht, die Augen vor
dem Hässlichen in der Welt zu verschliessen. In ihrem Lied «Still greater» beschreibt Anja, wie Schmerzvolles im Leben sie oft sprachlos macht und wie sie
vieles nicht versteht. «Ich versuche Gottes Souveränität über alles zu stellen. Der
grösste Ausdruck des Lobpreises liegt da-
Anja Lehmann hat eine Leidenschaft dafür, Menschen zu fördern.
Mit ihren Liedern berührt und ermutigt sie ihre Zuhörer.
ethos traf sie zu einem persönlichen Gespräch.
rin, dass wir trotz der negativen Dinge,
die uns im Leben passieren, sagen können: Gott, Du bist immer noch grösser,
You are still greater.»
Ums Loslassen geht es in dem Lied «Alright Now», das auf Situationen Bezug
nimmt, die uns zu entgleiten scheinen:
«Manchmal erlebe ich, dass sich ein Problem buchstäblich in Luft auflöst, wenn
ich es an Gott abgebe – alles wird dann
gut», sagt Anja. Die Sängerin und Songwriterin möchte mit ihren Liedern anderen Mut machen und sie im Glauben stärken. So gibt sie während ihrer Konzerte
am Mikro auch immer etwas über Gott
weiter. «Ich will meine Plattform als Sängerin nutzen. Ein gelungenes Konzert ist
es, wenn Gottes Geist mein Herz und das
der Zuhörer tief berühren kann.»
Lobpreis, Gesang, Tonstudios – Anja
ist mit dieser Welt schon seit frühester
Kindheit vertraut: «Meine Eltern, beide
Schweizer, stammen aus musikalischen
Familien, bei denen es üblich war, vierstimmig zu singen. Meine Mutter holte
uns Kinder oft ans Klavier, um mit uns
Choräle und Erweckungslieder zu singen.» Anjas Vater ist seit 40 Jahren in dem
internationalen Missionswerk Janz Team
tätig und liebt Gospel-Musik. Die Strasse, in der Anja als Zweitälteste von fünf
Schwestern aufwuchs, wurde auch scherzhaft «holy street» oder «Canadian ghetto»
genannt: «Von den neun Familien, die in
unserer Strasse wohnten, stammte die
Hälfte aus den USA oder Kanada. Wir haben viel Englisch gesprochen und oft zusammen gesungen.»
Musik spielte beim Janz Team immer eine grosse Rolle. «Wenn es zum
Beispiel Bedarf an einer neuen KinderPlatte gab, kamen wir Janz-Team-Kinder
im Tonstudio zusammen. Als Belohnung
gab es Pizza und Eis», erzählt Anja und
spricht dabei ein Deutsch, dem man weder einen badischen noch einen Schweizer Akzent anhört. Aber: «Ich kann auch
anders», sagt sie lachend und meint damit ihr Schwyzerdütsch. So ergab es sich
fast von selbst, dass sie ihr erstes Solo
bereits mit fünf Jahren auf einer Weihnachts-Musical-Platte sang. «Manchmal
kamen auch bekannte Musiker ins Lörracher Tonstudio oder unser Kinderchor
wurde auswärts gebucht. Dann wurden
wir Janz-Team-Kinder in ein anderes Studio eingeladen, um zum Beispiel für eine
‹Arno & Andreas›-Platte, damals von Dieter Falk produziert, einzusingen. Ich war
gerade zwölf.»
Als Teenager gründete Anja Lehmann
mit Freunden die Band «All For The
One», mit der sie über sieben Jahre durch
Deutschland und die Schweiz tourte. Viel
praktische Erfahrung sammelte sie auch
durch ihre Mitwirkung bei «One Accord»,
einem Chorprojekt unter der Leitung des
Sängers und Songwriters Danny Plett.
«Gab es Bedarf an einer neuen
Kinder-Platte, kamen wir Janz-
Team-Kinder im Tonstudio
zusammen. Als Belohnung
gab es Pizza und Eis.»
1997 war die Zeit reif für ihre erste
Solo-CD «More than a little». Beim zweiten Album («Still believe in you», 2002)
und der jetzt aktuellen CD hat sie ihren
eigenen Stil gefunden: Pop mit Soul-,
Gospel- und R&B-Einflüssen. Rhythmische Beats, groovige Sounds und melodische Balladen mit tiefsinnigen englischen
Texten erwarten den Hörer von «Beautiful».
«Bei der ersten CD war die Musik
weitgehend von Danny Plett komponiert, was er sehr treffsicher hinbekam.
Auf der zweiten CD habe ich mich das
erste Mal so richtig ausprobiert. Bei den
letzten beiden Alben habe ich noch mehr
selbst arrangiert und produziert», erläutert sie die musikalische Entwicklung der
Alben. Textideen entstehen mitten im Leben. «Manche Lieder werden durch Unterhaltungen mit Freunden angeregt,
während Predigten oder stiller Zeit mit
Gott.» Viele Einfälle hat sie auch im Bad,
auf dem Fahrrad, im Zug oder Flugzeug.
Dafür ist immer ein Notizbuch zur Hand.
«Oft kommen zu den Texten Melodiefetzen dazu, die ich schnell ins Handy singe,
um sie nicht zu vergessen.» Dann folgt
die eigentliche Arbeit: sich an den Laptop setzen («manchmal gehe ich dafür ins
Café»), den Text ausformulieren, mit der
Band musikalische Ideen ausprobieren,
die Musik festhalten. «Bis zum fertigen
Song kann teilweise sehr viel Zeit vergehen, manchmal gräbt man eine Idee erst
nach Jahren wieder aus, manchmal steht
der Song aber auch sofort.»
Insgesamt ist ihre Stimme auf über 300
Tonträgern zu hören, neben den drei genannten Solo-CDs gibt es die SampleCDs «Gnade» und «Liebe» mit Lobpreisliedern, die von Anja über Jahre hinweg
gesungen und aufgenommen wurden
und die CD «Trésore» von 2007, auf denen sie mit ihren Schwestern alte Choräle
und Heilslieder aus ihrer Kindheit singt,
Lieder wie «Das alt rauhe Kreuz».
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«Ich habe auch immer wieder mit meiner eigenen Unzulänglichkeit zu kämpfen.
Davon singe ich viel in meinen Liedern.»
Doch Anja, die neben geistlichem
Liedgut auch Interpretinnen wie Eva
Cassidy, Alicia Keys, Joss Stone, Macy Gray
oder Sade favorisiert, kann nicht nur selber gut singen, sondern bringt es auch
anderen mit viel Leidenschaft bei. Bereits
als sie Anfang 20 war, fragten christliche Organisationen bei ihr an, ob sie helfen könnte, die musikalische Qualität des
Chores zu verbessern. Das war der Beginn ihrer Karriere als Vocal Coach, Gesangstrainerin. «Ich höre schnell, an welcher Stelle noch etwas rauszuholen ist»,
erklärt sie. Sie sagt dann nicht: «Das klang
nicht gut», sondern versucht, das Vorhandene mit Hilfe von Bildern zu verbessern.
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«Stell dir vor, du präsentierst den Ton auf
dem Silbertablett», heisst dann zum Beispiel so ein Anja-Tipp. Und weil sie pädagogisches Talent hat und gern eine
handfeste Ausbildung machen wollte, hat
sie zusätzlich in Freiburg Musik, Deutsch
und Englisch auf Lehramt (Grund- und
Hauptschule) studiert. Seitdem ist sie in
Freiburg hängengeblieben und hat über
die zweisprachige «Calvary Chapel», die
sie besucht, weiterhin viel englischsprachige Kontakte. Deshalb gehen ihr im Gespräch gern auch mal englische Redewendungen über die Lippen.
Die Zeit nach dem ersten Staatsexamen 1999 war eine Periode der Neuori-
entierung. «Ich war so richtig blank und
nicht sicher, wie es weitergehen sollte.»
Da kam die Anfrage einer Gemeinde in
Chicago. «Ich sollte ‹Stille Nacht, Heilige
Nacht› auf Deutsch singen. Das wurde
mein erstes Weihnachten ohne meine Familie.»
Kurz darauf folgte eine Einladung nach
Peru zu einer Werner-Hoffmann-Evangelisationstour mit 17 Konzerten. «Das war
ein grosses Geschenk» und der Beginn
mehrerer Auslandsreisen, darunter auch
Besuche bei Freunden und Gemeinden in
den USA. «All die Jahre waren eine tolle
Erfahrung, doch irgendwann merkte ich,
dass mich das Leben als frei schaffende
Musikerin mit den unregelmässigen Arbeitszeiten und den vielen Reisen im Inund Ausland ausbrannte. Es gab eine
Phase, in der ich mich vor lauter Fremdprojekten sehr verzettelte und der Stress
auch meiner Gesundheit zusetzte.»
Ihr Referendariat von 2003 bis 2005
brachte wieder mehr Regelmässigkeit in
ihr Leben. «Ich wollte meine Lehrerausbildung zu Ende machen, mal ganz ‹gewöhnlich› berufstätig sein, mich erden
und im Zeitmanagement üben.» Doch
sie spürte die Berufung, sich danach wieder ganz der Musik und dem Coachen
von Bands und Sängern zu widmen. «Ich
versuche jetzt vermehrt in Projekte zu
investieren, hinter denen ich auch stehen
kann und die meinem Profil mehr entsprechen. Dabei lerne ich zunehmend,
mir die Freiheit zum Neinsagen zu nehmen.»
Gott soll stets im Vordergrund der Arbeit stehen. So hat Anja es einmal abgelehnt, einen Schlager für eine CD zu
singen, bei dem Ehebruch gerechtfertigt wird. «Dafür gebe ich meine Stimme
nicht her.» Das hätte nicht zu ihrem Anspruch gepasst: «Ich wünsche mir, eine
Art Megaphon für Gott sein zu dürfen.»
Auf ihrer Homepage steht: «Als Ministry Team und Band verstehen wir uns als
Mitarbeiter für Gottes Reich. Unsere Vision ist es, durch Musik, deren oberstes
Ziel die Anbetung Gottes ist, Menschen in
Seine Gegenwart zu ziehen und mitzuerleben, wie Mauern fallen, wie Leute umkehren zu Gott, Ihn anbeten, frei und heil
werden und neuen Mut fassen.»
Ein Bild, das Anja sehr packt, ist die
Geschichte aus Hesekiel, Kapitel 47, als
dieser bei Gottes Tempel eine Quelle entdeckt, die sich als breiter Strom entpuppt,
an dessen Ufer fruchtbare Bäume stehen.
«Solche Bäume wollen wir sein, mit den
Wurzeln nah an dem lebendigen Wasser,
Bäume, deren Blätter als Arznei dienen.»
Das klingt nach sehr hohen Idealen. «Ich
habe auch immer wieder mit meiner eigenen Unzulänglichkeit zu kämpfen»,
räumt Anja ein. «Davon singe ich viel in
meinen Liedern.»
Sie ist verständnisvoll, wenn andere mit Problemen zu ihr kommen
und durch widrige Umstände oder eine
schwere Kindheit im Leben beeinträchtigt
sind. «Da helfen keine frommen Floskeln,
wir dürfen Schmerz auch zulassen und
unserer Trauer Raum geben.» Mit ihrer
lebensfrohen und leidenschaftlichen Art
versucht Anja, aus jedem das Beste herauszuholen. «Wenn ich jemanden treffe,
sehe ich schnell, was für ein Potential in
ihm steckt. Es begeistert mich, zu helfen
und mehr daraus zu machen.»
Anjas Vorliebe, Dinge zu verschönern,
gilt auch für Inneneinrichtungen, Frisuren oder Kochkünste. Wenn sie nicht
singt, komponiert, E-Mails bearbeitet
oder Seminare hält, dann geht sie gern
Skifahren, trifft sich mit Freunden oder
ihrem Freund zum Essen. «Ich lese auch
gern oder schau mir gute Filme an, aber
nicht zu deprimierende, ich sehe schon
genug Schweres im Leben», wirft sie
ein. «Mein Herz ist oft darüber zerbrochen, was alles in Familien schiefläuft.»
Armut und Gewalt machen sie betroffen. Deshalb setzt sie sich für das Kinderhilfsprojekt «Compassion» ein. «Ich finde
es bodenlos ungerecht, wie viele Menschen in ihrer Würde getreten werden. Ich
möchte auch eine Stimme sein für Menschen, denen sonst keiner zuhört.»
In nächster Zeit will sich Anja auf ihr
Ministry-Projekt «Lilly Arts» konzentrieren. «Die Lilie steht für Schönheit, Königlichkeit und Reinheit, Attribute, die auch
auf Jesus oder auf Anbetung und Lobpreis zutreffen», erklärt sie den Hintergrund des Namens. «Meine Band, unsere
Unterstützer und ich sehen uns ganzheitlich als Musiker, Coaches, Fürbitter und
Ermutiger, und wir streben danach, dass
alles, was wir tun und sind, diesen drei
Komponenten unterstellt ist.» «Lilly Arts»
wolle Menschen fördern. Anja Lehmann
ist der festen Überzeugung: «Egal, wie unsere Umstände aussehen: Gott hat ein gutes Ziel für uns.»
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«Ich wünsche mir,
eine Art Megaphon für Gott
sein zu dürfen,
nicht allein durch meine
Stimme, sondern mit
meiner ganzen Person.»
I Bettina Hahne-Waldscheck
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