Daten aus der Zeitgeschichte
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Daten aus der Zeitgeschichte
Heiner Lichtenstein Daten aus der Zeitgeschichte Deportationen, Chelmno, »Generalplan Ost«, »unter dem Galgen« S eit einiger Zeit blickt TRIBÜNE in jedem Heft zurück auf die deutsche Zeitgeschichte und wählt einige Daten aus, an die zu erinnern sich lohnt. Dabei muss stets eine Auswahl getroffen werden, die nicht immer leicht fällt. Dieses Mal sind es drei Ereignisse aus dem Jahr 1941 und eines aus dem Jahr 1946. Im September 1941 erlaubte Hitler die Deportation auch deutscher Juden. Anfang Oktober wurde zum ersten Mal der »Generalplan Ost« erörtert, nach dem Millionen Osteuropäer aus ihren Ländern vertrieben werden sollten, um Platz für Deutsche zu schaffen. Wenige Wochen später begannen Deutsche in der Nähe der polnischen Stadt Chelmno mit dem Bau des ersten Vernichtungslagers. Fünf Jahre später, Anfang Oktober, verkündete das internationale Militärgericht in Nürnberg die Urteile. Wir blicken nicht auf das Strafverfahren zurück, sondern schildern im Wesentlichen, wie die Angeklagten reagiert haben – bei der Verkündung der Urteile und unter dem Galgen. Zuerst also der Deportationsbeginn auch deutscher Juden. Sie waren zwar spätestens seit dem Boykott vom 1. April 1933 Opfer, verloren nach und nach alle Rechte bis hin zum Halten von Haustieren, sie mussten ihre Wohnungen räumen und in Massenunterkünfte »umziehen«, aber in Todeslager verschleppten sie die Nazis vorerst noch nicht. Das begann erst nach dem Überfall auf die UdSSR vom Sommer 1941. Nun konnten SS, Polizei, Wehrmacht und andere Organisationen ohne jede Rücksicht auf die Welt tun und lassen, was sie wollten. Dabei stand der Völkermord an erster Stelle. Das europäische Judentum sollte so schnell und vollständig wie möglich ausgerottet werden. Diese Gelegenheit bestand nun mit dem »Russlandfeldzug«, wie dieser Vernichtungskrieg auch heute noch verniedlichend genannt wird. Mit dem Überschreiten der sowjetischen Westgrenze und dem rasanten Vormarsch gegen die völlig unvorbereitete Rote Armee brauchte auf niemanden und nichts mehr Rücksicht genommen zu werden. Damit war nicht nur das Schicksal der baltischen und polnischen Juden besiegelt. Es begann auch das physische Ende der etwa 500.000 deutschen Juden – in aller Öffentlichkeit. In Würzburg ist das auf Filmen und Fotos festgehalten worden. Lange Kolonnen alter und junger, weiblicher und männlicher, armer und wohlhabender Deutscher ziehen durch die Straßen, bepackt mit Koffern, Säcken, Taschen und Beuteln, bewacht von Schutzpolizeibeamten. In Hanau ist dokumentiert, wie sie in einem Hof auf die LKWs warten, die sie zum Viehbahnhof bringen werden. In Lippe regeln junge Soldaten die Verteilung der Familien auf Personenwaggons der Deutschen Reichsbahn. Und in Bielefeld winken unbeschwerte, mitunter sogar lächelnde Menschen aus den Zugfenstern. Sie ahnten ganz offensichtlich nicht, dass sie zuerst in Ghettos und danach in den Tod fuhren – Reisen ohne Wiederkehr. Nach neuesten Untersuchungen hat Hitler den Deportationsbefehl Mitte September 1941 erteilt und zwar offenbar auf Druck deutscher Gauleiter. Sie wetteiferten darum, als erste nach Berlin melden zu können, ihr Gau sei »judenfrei«. Die ersten Deportierten wurden nach Lodz oder in besetzte Gebiete der UdSSR gebracht. Massenmorde in großen Gaskammern gab es in dieser Phase des Vernichtungskrieges noch nicht, denn sie 91 standen erst zwischen März und Juli 1942 zur Verfügung: Auschwitz, Belzec, Sobibor, Treblinka und bedingt auch Majdanek. Das erste Vernichtungslager war Chelmno, zu Deutsch Kulmhof. Dort begannen die Bauarbeiten am 1. November 1941, also vor 65 Jahren. Viel gebaut werden musste nicht, weil ein altes Schloss den Mittelpunkt des Lagers bildete. Es lag etwa 70 km westlich von Lodz und war als zentrale Vernichtungsstätte für alle Juden im Ghetto von Lodz und im gesamten dem Deutschen Reich angegliederten Warthegau gedacht. Chelmno bestand aus zwei Teilen: Dem Schloss, wo unter anderem das Lagerpersonal wohnte und wo der Massenmord vollstreckt wurde, sowie dem angrenzenden Lager im Wald von Rzuchow, wo die Leichen in Massengräbern verschwanden und später verbrannt wurden. Zum »Sonderkommando Kulmhof« gehörten 70 bis 80 Schutzpolizisten und 10 bis 15 Männer der Sicherheitspolizei. Am Beispiel Chelmno lässt sich besonders überzeugend beweisen, dass auch ganz gewöhnliche Schutzpolizisten zu den Massenmördern gehörten. Als Mitglieder des »Schlosskommandos« führten sie die Opfer in den Schlosskeller. Dort mussten sie sich entkleiden und ihre Wertsachen abgeben. Ihnen wurde gesagt, ihre Kleidung müsse desinfiziert, die Wertgegenstände mit ihrem Namen markiert werden. Dann wurden die Menschen nach Geschlechtern getrennt zu einer Rampe getrieben, an deren Ende der Gaswagen stand. Erst hier ließen die Polizisten ihren niedrigsten Trieben freien Lauf. Sie trieben die Menschen mit Schlägen in den Lkw, der sofort geschlossen wurde. Dann verriegelte der Fahrer des Wagens von außen die Tür und ließ den Motor an. Nach etwa zehn Minuten herrschte im Laderaum des Lkw Totenstille. Erst jetzt fuhr der Fahrer in den erwähnten Wald. Dort hatten andere Häftlinge Massengräber ausgehoben. Sie mussten die Leichen aus dem Gaswagen in die Gräben tragen. Im Sommer 1942 wurden im Wald zwei Krematorien gebaut, die aber erst später in Betrieb gingen. Die Vorbereitungen für die Massenmorde dauerten nur wenige Wochen. Schon am 7. Dezember kam der erste Transport an. Am Tag darauf begannen die Morde und zwar an Juden aus der Umgebung des Lagers. Obwohl seit Anfang Januar 1942 nur drei Gaswagen zur Verfügung standen, wurden zwischen dem 16. und dem 29. Januar 1942 mindestens 10.003 Juden aus dem Ghetto Lodz in Chelmno ermordet. So ging das weiter bis zum März 1943. Dann lebte im Warthegau kein Jude mehr – außer im Ghetto Lodz. Das Personal sprengte das Schloss und andere Anlagen, weshalb seitdem vom Vernichtungslager Chelmno nichts mehr zu sehen ist. Das Personal wurde nach Jugoslawien verlegt und von der Waffen-SS-Division »Prinz Eugen« übernommen. Das Morden in Chelmno begann erneut im Februar 1944, als die Rote Armee immer näher kam und daher das Ghetto Lodz aufgelöst werden musste. Deshalb ließ das aus Jugoslawien zurückgeholte Personal im Wald zwei Verbrennungsöfen und zwei Baracken für die Opfer bauen. Sie kamen wie auch zuvor mit LKW aus Lodz in den Wald von Chelmno, mussten sich ausziehen und wurden in eine Passage gejagt, an deren Ende der Gaswagen stand. Weil das Morden nach Meinung der Führung in Berlin nicht schnell genug ging, wurden die letzten Juden des Ghettos von Lodz in die Gaskammern von Auschwitz deportiert. In der Nacht des 17. Januar 1945 verließ das »Sonderkommando« Chelmno. Das war das Ende des ersten Vernichtungslagers. Nach der Befreiung führte die polnische Justiz Strafverfahren gegen zwei Angehörige des Lagerpersonals: Walter Piller und Hermann Gielow. Sie wurden zum Tode verurteilt und hingerichtet. In der BRD dauerte es bis 1962, ehe vor dem Landgericht Bonn zwölf Chelmno-Schergen zur Verantwortung gezogen wurden. Das Verfahren endete zum Teil mit hohen Haftstrafen, aber auch mit Freisprüchen. Eine Verhandlung vor dem Landgericht Kiel im Jahr 1965 war eher eine Groteske als ein Strafprozess. Ein Schutzpolizist des Sonderkom- 92 mandos kam mit 13 Monaten und zwei Wochen Haft davon. Eine Justizfarce, von der die Öffentlichkeit leider so gut wie nichts erfuhr. Das gilt übrigens auch für die »Neuordnung« der besetzten Ostgebiete. Betroffen waren Polen, die baltischen Länder, Weißrussland, Teile der Ukraine und des Dnjeprbogens, der Großraum Leningrad und die Halbinsel Krim. Dort lebten insgesamt etwa 45 Millionen Menschen. 31 Millionen von ihnen galten als unerwünscht und sollten nach Westsibirien ungesiedelt werden. Über das Schicksal der fünf bis sechs Millionen Juden wurde gar nicht erst diskutiert. Das stand ohnehin fest. Die verbleibenden sieben Millionen sollten »germanisiert« oder ermordet werden. Diese schier unermesslichen Gebiete – es handelte sich um 700.000 Quadratkilometer – waren für deutsche Siedler vorgesehen. Das Deutsche Reich war damals 583.000 qkm groß. Die ersten vier Millionen hätten binnen zehn Jahren dort ihre neue Heimat finden sollen, sechs Millionen bis 1961. Den im Reichssicherheitshauptamt (RSHA) ausgearbeiteten Plan erwähnte Reinhard Heydrich zum ersten Mal im Oktober 1941 in Prag während einer Rede nach seiner Ernennung zum »Reichsprotektor von Böhmen und Mähren«. Er sprach freilich noch nicht vom »Generalplan Ost«. Diesen Begriff prägte vielmehr der Rassenreferent im Reichsministerium für die besetzten Ostgebiete, Erhard Wetzel. Auf Befehl Himmlers hieß der Plan seit Ende 1942 »Generalsiedlungsplan«. In der Forschung ist aber weiter vom »Generalplan Ost« die Rede. Die Kosten für diese Aktion wurden auf 45,7 Millionen Reichsmark geschätzt. Sie sollten aus Sondersteuern in den besetzten Gebieten, Krediten und dem Staatshaushalt finanziert werden. Nicht nur die Umsiedlung der Deutschen musste bezahlt werden. Auch die Deportation der Polen, Russen, Ukrainer und der anderen Volksgruppen kostete viel Geld. Ferner brauchten die deutschen Siedler neue Höfe und Geräte. Die alten galten als nicht mehr verwendungsfähig. Schließlich sollten die Dörfer und Siedlungen vom Feinsten sein. Unter anderem mussten Straßen, Kanalisationen, Bahnhöfe, Schulen, Krankenhäuser gebaut werden. Es handelte sich um eine Umsiedlung, die in der Weltgeschichte ohne Beispiel war und die zugleich den Wahnsinn des Systems zeigte. Doch die Zeit der Blitzkriege schien alle normalen Gesetze außer Kraft zu setzen. Die NS-Führung war davon überzeugt, alles zu können. Ihr oberstes Ziel, die »Endlösung der Judenfrage«, machte schließlich sichtbare Fortschritte und näherte sich seiner Erfüllung. Umso überraschender kam das Ende des hegemonialen Rausches. Mit der Kapitulation der 6. Armee in Stalingrad am 2. Februar 1943 verschwand auch der »Generalplan Ost« in den Aktenschränken. Auch wenn der »Generalplan Ost« nur im Südosten Polens rund um Lublin umgesetzt wurde, so zeigt er doch, was außer den europäischen Juden anderen Völkern angetan werden sollte. Auch deshalb ist und bleibt der 8. Mai 1945, an dem das »Dritte Reich« bedingungslos kapitulieren musste, der Tag der Befreiung. Das galt allerdings nicht für alle. So mussten Millionen deutsche Soldaten den Weg in die Gefangenschaft antreten, was freilich für viele gleichzeitig das Ende der Todesangst bedeutete. Sie brauchten nicht mehr zu fürchten, irgendwo an der Front den »Heldentod« zu sterben. Für andere begann nun die Zeit der Rechenschaft. Es war in den meisten Fällen keine Siegerjustiz, die Anklage erhob, etwa gegen führende Funktionäre aus Militär und Verwaltung, die sich seit dem Winter 1945 in Nürnberg verantworten mussten. (s. TRIBÜNE, Heft 175, S. 137ff) Die Hauptverhandlung hatte am 20. November 1945 begonnen. Nicht einmal ein Jahr später begannen die Richter im großen Sitzungssaal des Landgerichts Nürnberg mit der Verlesung der Urteile: Am 1. Oktober 1946. Der US-Hauptankläger Telford Tayler hat zum 50. Jahrestag des Prozessbeginns ein dickes Buch über die Nürnberger Prozesse vorgelegt und dabei auch geschildert, wie die Angeklagten die Urteile aufgenommen und die Todeskandidaten gestorben sind. (Telford Taylor: Die Nürnberger Prozesse. Hintergründe, Analysen und Erkennt- 94 nisse aus heutiger Sicht, Wilhelm Heyne Verlag München 1994, 800 S.) Das sind bisher kaum beachtete Aspekte geblieben, weshalb TRIBÜNE diese Reaktionen zum 60. Jahrestag der Urteile in den Mittelpunkt des Rückblicks stellt. Die Richter schilderten zuerst den Aufstieg der NSDAP zur stärksten politischen Kraft und die Ernennung Hitlers zum Reichskanzler. Es folgten die Besetzung Österreichs, der CSSR, der Beginn des Angriffskriegs mit dem Überfall auf Polen am 1. September 1939, die Besetzung Belgiens und der Niederlande, schließlich die Überfälle auf die skandinavischen Staaten. Danach wurden die NS-Organisationen genannt, die aus Sicht des Gerichts verbrecherisch waren, also SS, SD und einige andere. Der eigentliche Tag der Urteilsverkündung war der 1. Oktober 1946. Nachdem alle 23 Beschuldigten auf den Anklagebänken Platz genommen hatten, folgten die Schuld- und Freisprüche, aber noch nicht die Strafen. Die hörten die Männer erst am Nachmittag und zwar einzeln. Je zwei Wachen – es waren immer US-Soldaten – führten jeden Angeklagten in den Sitzungssaal. Dort blieb er an der Tür stehen, die zu den Zellen führte. Dann begründete einer der vier Richter (sie kamen ebenso wie die Ankläger aus den USA, der UdSSR, England und Frankreich), warum welche Strafe verhängt werde. Als erster betrat Hermann Göring den Saal. Er verzog beim Urteil »Tod durch den Strang« keine Miene, verneigte sich leicht und verließ den Saal. Es folgte Rudolf Hess, der gar nicht zuzuhören schien und deshalb auch nicht reagieren konnte. Außenminister Joachim von Ribbentrop, der Generalbevollmächtigte für den Einsatz der Millionen Zwangsarbeiter, Fritz Sauckel, der Reichsminister ohne Geschäftsbereich, Arthur Seyss-Inquart, und sein Amtskollege Hans Frank, Julius Streicher, der Herausgeber des Hetzblattes »Der Stürmer«, der Chef der NSDAP-Parteikanzlei und Hitlers persönlicher Vertrauter Martin Bormann, Reichsinnenminister Wilhelm Frick, die Generale Alfred Jodl und Wilhelm Keitel, der Chef des Reichssicherheitshauptamtes, Ernst Kaltenbrunner, und der Parteidogmatiker Alfred Rosenberg wurden zum Tod verurteilt. Auf den Freispruch für den ehemaligen Präsidenten der Reichsbank, Hjalmar Schacht, reagierte das Publikum mit Rascheln und Raunen. Nicht überrascht war das Publikum vom Freispruch für Franz von Papen, der gerade mal ein Jahr lang – von 1933 bis 1934 – Hitlers Vizekanzler war. Es würde hier zu weit führen, die Reaktionen auf alle Urteile zu schildern. Nur noch so viel: Streicher zeigte sich empört, Sauckel war sprachlos. Nachdem die Urteile verlesen worden waren, begannen Bauarbeiter, in der Turnhalle des Gefängnisses drei Galgen aufzustellen. Die Todesurteile sollten am frühen Morgen des 16. Oktober 1946 vollstreckt werden. Am Vorabend gegen 22.40 Uhr wurde der Suizid Görings entdeckt. Er hatte eine Kapsel mit Zyankali zerbissen, die in einer Cremedose versteckt gewesen war. Die anderen Todeskandidaten mussten die Anzüge anziehen, die sie vor Gericht getragen hatten. Als Erster wurde von Ribbentrop zum Galgen geführt. Er ging mit auf dem Rücken gefesselten Händen kerzengerade die Stufen zum Galgen hinauf. Dann wurden seine Füße zusammengebunden. Auf die Frage, ob er noch etwas zu sagen habe, antwortete er »Gott schütze Deutschland!«. Danach legte ein Sergeant namens Woods die Schlinge um Ribbentrops Hals, stülpte eine schwarze Kapuze über dessen Kopf und stieß die Falltür auf. Wilhelm Keitel trug schon die Kapuze, als er schrie: »Alles für Deutschland! Deutschland über alles!« Rosenberg war der Einzige, der wortlos in den Tod ging. Streicher schrie noch auf den Stufen zum Galgen »Heil Hitler!« Nach den Exekutionen wurde jeder Leichnam mit dem Gesicht nach oben in einen hölzernen Sarg gelegt. Mehrere Tote trugen Zeichen von Verletzungen. Erfahrene Gerichtsreporter warfen dem Henker Woods vor, der Fallweg sei zu kurz gewesen. Deshalb sei ihnen beim Fall nicht das Genick gebrochen worden. Sie seien vielmehr langsam erstickt. Die Leichen wurden in einem Nürnberger Krematorium verbrannt, ihre Asche heimlich über der Isar verstreut.