Individuelles Fortbewegungsmittel der nächsten

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Individuelles Fortbewegungsmittel der nächsten
Individuelles Fortbewegungsmittel der nächsten
Generation
Mit Wasserstoff auf zwei Rädern
Stefan Oßwald...Industrial Design...
...2004
"Wäre die Wäscheleine groß, kantig und generell
klobig, hätte sie die Abmessungen eines Überseekontainers, sähen, mit an Sicherheit grenzender Wahrscheinlichkeit, auch Wäscheklammern anders aus."
Individuelles Fortbewegungsmittel der nächsten
Generation
Mit Wasserstoff auf zwei Rädern
Eingereicht als Diplomarbeit (schriftlicher Teil) von
Stefan Oßwald
an der Hochschule für Kunst und Design Halle – Burg Giebichenstein
Fakultät Design
Studiengang Industriedesign
2004
Betreuer:
Prof. Frithjof Meinel
Michael Suckow
Gliederung
Seite
Kapitel
Thema
06
1.
Einleitung
07
2.
Das Ziel der vorliegenden Arbeit
08
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18
20
21
21
22
22
23
23
3.
3.1
3.2
3.3
3.4
3.5
3.6
3.6.1
3.6.2
3.6.3
3.6.4
3.6.5
3.6.6
Historie der zweirädrigen Mobilität
Aufbruch in eine neue Ära der Mobilität
Auf der Suche nach dem Motor – und einer Form dafür
Alternative Antriebskonzepte
Gefährliche Herausforderungen
Zur Erfindung des Motorrades
Zur Entwicklung des Motorrades – einige Beispiele
Beginn der Serienfertigung
Ungewöhnliches Erscheinungsbild – Alternatives Antriebs- und Marketingkonzept
Ästhetik der Maschine – Technische Innovation
Leichtbau – Neue Materialien
Reduziertheit
Dauerhaftigkeit
24
24
25
4.
Gebrauchskultureller Charakter des Motorrades im Wandel der Zeit
4.1
Jugendkulturen – Subkulturen – Gegenkulturen
4.1.1 Bobber, Chopper, Teddy-Boys und Biker (Umbauten und Umnutzung – handgefertigte Individualisierung)
4.1.2 We are the Mods, we are the Mods...
4.2
Die Wandlung vom Brot-und-Butter-Fahrzeug zum "Abenteuerspielzeug" (was
war Motorradfahren vor 50 Jahren – was ist es heute?)
28
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33
35
36
38
5.
5.1
5.2
5.3
5.4
Stand des Designs – aktuelle Tendenzen in der Motorradbranche
Motorraddesign heute: Superlativistisch – höher, schneller, weiter...
Umdenken in der Motorradbranche
Sicherheitaaspekte beim Motorradfahren
"Ich habe einen Traum..." – Gedanken zum Baukast enprinzip
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42
43
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46
48
48
6.
6.1
6.2
6.2.1
6.2.2
6.2.3
6.3
6.4
6.5
6.6
6.7
Ausgangslage – Stand der Technik
Die Nutzung von Wasserstof f als Energiespeicher zum Antrieb
Möglichkeiten der Speicherung
Die Flüssigspeicherung in vakuumisolierten Behältern
Die gasförmige Wasserstoffspeicherung in Druckbehältern
Die Speicherung im chemisch gebundenen Zustand
Zur Geschichte der Brennstoffzelle
Zur Funktionsweise der Brennstoffzelle
Der Einsatz von Brennstof fzellen in der mobilen Anwendung
Betankung eines Flüssigwasserstoffspeichers
Gefahren und Probleme von Wasserstoff
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7.
Forderungskatalog an den gestalterischen Teil – Synthese – Konzeptansatz
1. Einleitung
Die Motivation, ein individuelles
brennstoffzellengetriebenes Fortbewegungsmittel zu gestalten, kommt
nicht von ungefähr. Seit gut 10
Jahren beschäftige ich mich mit
der Wiederherstellung alter oder –
wenn man so will – historischer
Motorräder und seit geraumer Zeit
auch mit der Umgestaltung eines
Motorrades zu einem Caféracer im
klassischen Stil der wilden 70er.
Das bedeutet für mich ein Hobby,
dem ich in selbstauferlegter Isolationshaft im Keller beim Schrauben
genauso fröhne wie mit guten
Freunden bei ausgedehnten gemeinschaftlichen Tourenerlebnissen, Testfahrten und im gedanklichen Austausch darüber. Die
Ausgewogenheit zwischen beiden
Polen ist hier das Salz in der Suppe.
Allerdings geht mit diesen klassischen Fortbewegungsmitteln – Autos wie Motorräder – auch eine
schleichende Entwertung der Lebensqualität, gerade in Ballungszentren einher. Stichworte sind hier
Atemluftverschmutzung, der generelle und immer vorhandene Verkehrslärm und natürlich der immense Platzbedar f einer innerstädtischen Verkehrsstruktur. Hier
gilt es den Bogen zu schlagen und
die neuesten technischen Errungenschaften mit der ältesten Sehnsucht
der Menschheit zu verknüpfen, der
Sehnsucht nach Mobilität .
Abb. 01: Wanderer 11AS der WandererWerke in Chemnitz, restauriert 1996
Abb. 02: MZ-Caféracer, modifiziert 2004
06
In der Brennstoffzelle liegt der
Schlüssel zur emissionsfreien Alternative der Zukunft, die uns auch
weiterhin Mobilität mit unbeschränkter Reichweite garantieren
wird. Die Forschung und Entwick-
lung weist dafür ein immer größer
werdendes Potential auf, und die
aktuellen Prognosen bestätigen,
dass die Zeit eindeutig für den
Brennstoffzellenantrieb arbeitet.
Die fossilen Brennstoffe gehen zur
Neige, dabei dürfen wir nicht vergessen, dass sie die Qualität des
heutigen Entwicklungsstandards
maßgeblich beeinflusst haben.
Der Brennstoffzellenantrieb funktioniert. Das Prinzip ist seit über einem
Jahrhundert bekannt. Seit gut 20
Jahren wird am Einsatz für die individuelle Mobilität geforscht. Allerdings hat sich seit den ersten rollenden Laboratorien unter den
Gesichtspunkten des Designs nicht
viel verändert. Mittlerweile ist man
so weit, dass der Brennstoffzellenantrieb in Kompaktwagen verpflanzt
werden kann. Die geläufige Methode ist allerdings, ein Serienfahrzeug,
ob Automobil oder Scooter, leerzuräumen und die Brennstoffzelle "hineinzustopfen". Ist sie so hässlich?
Muss man sich gar dafür schämen?
Ich denke nein. Warum also nicht
ein Fortbewegungsmittel gestalten,
das die Brennstoffzelle in ihrer Präsenz, Funktion und Zukunftsfähigkeit kommuniziert?
Ein Fortbewegungsmittel auf dieser
Basis zu gestalten ist mir also eine
Herzensangelegneheit, und ich hoffe die Erkenntnisse aus der privaten
Beschäftigung kommen der Arbeit
genauso zugute wie die in der theoretischen Arbeit erarbeiteten Erkenntnisse.
Stefan Oßwald
2. Das Ziel der vorliegenden Arbeit
Dem Thema des gestalterischen Teils werde ich mich
aus drei unterschiedlichen Richtungen nähern. Ein
Hauptpunkt ist die Analyse der Historie und des gebrauchskulturellen Charakters der Zweiradmobilität im
Generellen. Dem folgt eine Abschätzung der aktuellen
Tendenzen im Sektor der Motorradbranche. Dritter
und letzter Themenschwerpunkt ist die Analyse der
Brennstoffzelle als Antriebseinheit für Fahrzeuge.
Das sind drei Bereiche, die unabhängig voneinander
gelesen werden können. Es ist also nicht zwingend
nötig, diese Arbeit chronologisch zu lesen. Die Kongruenz wird sich im gestalterischen Teil niederschlagen.
Aus den Resultaten der Überlegungen soll ein Erscheinungsbild für die Kommunikation einer neuartigen
Technologie – der Brennstoffzelle im Individualverkehr
– abgeleitet werden.
1 Historie
Entwicklung &
Gebrauchskultur
2 Design
Märkte, Motorräder
& Baukastensysteme
3 Technik
Brennstoffzelle &
Elektroantrieb
07
3. Historie der zweirädrigen Mobilität
"Wenn man erstmal begriffen hat, wie grundlegend das Prinzip der
Evolution ist, dann sieht man alles, was einem begegnet, in einem völlig
anderen Licht."
Douglas Adams
In dem folgenden Kapitel werde ich mich im Groben mit der Geschichte
der Zweiradmobilität befassen. Es soll nun keinesfalls die gesamte
Geschichte der Zweiradmobilität dargestellt werden, das kann sehr viel
ausführlicher in einem der zahllosen Bücher zu diesem Thema geschehen.
Es sollen vielmehr im Einzelnen herausragende und auch skurrile technische
Entwicklungen zur Sprache kommen, die eine Parallele zu aktuellen
Entwicklungen darstellen und mir für meine Arbeit als kreativer Input
dienlich sein können.
Abb. 03: Das Laufrad oder auch "Draisine"
von 1817 ist wohl das Urbild aller Fahrräder.
Abb. 04: Um 1890 beginnt sich der typische
Diamantrahmen an diesem Fahrrad unbekannter Marke abzuzeichnen.
3.1 Aufbruch in eine neue Ära der Mobilität
Gegen Ende des 19. Jahrhunderts
begünstigen die allgemeinen Umstände eine in dieser Form nie mehr
dagewesene immense Anzahl revolutionärer, technischer Neuerungen
die individuelle Mobilität. Bis dato
war diese nämlich nur unter Zuhilfenahme von Zug- oder Reittieren
– in Kutschen von ihnen gezogen
oder direkt auf deren Rücken –,
dem Wind oder eben – etwas moderner – der Eisenbahn möglich; in
diesem Falle können wir aber auch
nur von einer eingeschränkten generellen Mobilität sprechen, da der
Ausbau des Eisenbahnnetzes zu
08
dieser Zeit zwar vehement vorangetrieben wurde aber im Vergleich
zu heute noch in den Kinderschuhen steckte.
Die technisch notwendigen Komponenten zur individuellen Mobilität
wie Zahnrad, Rollenkette (Renold,
1880*1)), Rad und Ballonreifen (Dunlop, 1888*1)) zur sinnvollen und effizienten Übertragung von Kräften
einer Energiequelle auf ein Medium
zur Fortbewegung sind zu dieser
Zeit bereits gemacht oder gerade
im Entstehen begriffen. Die Energiequelle für diese Art der Fortbe-
wegung war bislang der Mensch
selbst, der sich mittels seiner eigenen Muskelkraft in einer entsprechenden Vorrichtung fortbewegte,
wie beispielsweise Carl Freiherr von
Drais, der Erfinder der "Laufmaschine". Dieser bewerkstelligte seine
individuelle Mobilität, in Ermangelung einer nützlichen Kraftübertragung mittels Kette oder Kardan,
direkt, sozusagen "per pedes". Dies
fand schon 1817, ein gutes halbes
Jahrhundert vor den Versuchen
seiner Nacheiferer auf dem Zweiradsektor statt.
Die Erfindung des Fahrrades kann
als Initialzündung der individuellen
Fortbewegung mit den geringsten
technischen Mitteln angesehen
werden. Man muss sich vor Augen
halten, dass die Artefakte und
Grundprinzipien in eben dieser
"fruchtbaren" Zeit, also im letzten
Viertel des 19. Jahrhunderts, gemacht wurden und in den letzten
130 Jahre nur verfeinert und optimiert wurden. Die Diamantform,
der von Starley 1886 entwickelten
Rahmengeometrie, die im Wesentlichen auch noch lange für Motorräder übernommen wurde, basiert
auf der logischen konstruktiven
Umsetzung der wirkenden Kräfte
und hat bis heute an Gültigkeit nicht
verloren. Sie ist in den aktuellen
Rahmenkonzepten noch immer rudimentär präsent, wenn auch mittlerweile neue Materialien und veränderte Bedürfnisse der Gestalt
einen neuen Ausdruck verleihen.
*1) Charles M. Falco in "The Art of the Motorcycle", S.24,
Solomon R. Guggenheim Foundation
Abb. 05: 1903 glänzte dieses schicke Rennrad der Marke Opel in den Schaufenstern
mit voll entwickeltem Diamantrahmen.
Abb. 06: ebenfalls 1903 kam dieses Fahrrad
der Marke Corona mit Kardanantrieb in die
Läden.
Abb. 07: Hundert Jahre später – Gleiches
Prinzip, gesteigerte Ansprüche. Hier am
Beispiel eines Mountainbikes der Marke
Canyon mit Scheibenbremse und Vollfederung
09
3.2 Auf der Suche nach dem Motor ...und einer Form dafür
Abb. 08: Ein kleiner Wagen wird durch
ausströmenden Dampf angetrieben, 1749
Abb. 09: Maurice Greene freut sich – das
darf er auch, hat er doch gerde den Weltrekord über die 100 Meter gebrochen.
10
Der Mensch versucht, seit er die
Fähigkeiten seines Geistes in einigermaßen klaren und logischen
Bahnen lenken kann, seine physiologisch gesetzten Grenzen mit Geisteskraft zu Überwinden. Diese Tatsache brachte das älteste und
bestbewährteste Werkzeug des
Menschen, den Faustkeil, hervor.
Das Werkzeug blieb immerhin rund
430.000 Jahre "en vogue", ein absoluter Klassiker also, von dessen
Erfolg heutige Werkzeughersteller
nur träumen können. Die Lust und
der Wille zur Erschaffung einer Prothese, einer Körperverlängerung
oder eines Mechanismus zur Beschleunigung, um damit den Einsatzradius des eigenen Körpers zu
erweitern, scheint des Menschen
innigster Wunsch und unterscheidet
ihn durch dieses Bestreben von
allen anderen Tieren dieses Planeten.
Dieser Wille zieht sich wie ein roter
Faden durch die Geschichte der
bahnbrechenden Entwicklungen
und Erfindungen der Menschheit
und kumuliert in den aktuellen Virtualisierungstendenzen in allen Bereichen des täglichen Lebens. Der
intelligente Kühlschrank, das digitale Auto, das Neutronengehirn. All
diese Erfindungen und Konzepte
lösen den Körper des Menschen
ab und ersetzen ihn durch etwas
Allmächtiges und Unendliches.
Hierbei gibt es sicherlich regionale
Unterschiede. Während einige, wollen sie beispielsweise fliegen, dies
durch Medidation versuchen und
damit reüssieren, strengen andere
ihren Denkapperat in der Formulierung eines Konstruktes zum Fliegen
an.
Eine physiologisch gegebene Grenze in der Geschichte war und ist
die der Bewegungsgeschwindigkeit. Ein trainierter menschlicher
Körper erlaubt seinem glücklichen
Besitzer eine Peakgeschwindigkeit
von knapp 37 km/h. In diesem Falle
ist das ein spezifischer Körper, nämlich der von Maurice Greene, dem
Weltrekordhalter über den 100Meter-Sprint mit 9,79 Sekunden.
Ob nun auf der Suche nach Möglichkeiten der Erweiterung des Einsatzradius und der damit verbundenen Geschwindigkeit der Motor
erfunden wurde, oder ob der Motor
zur Fortbewegung eingesetzt wurde, weil das die berühmte erste fixe
Idee war, sei dahingestellt. Eine
unumstößliche Tatsache ist allerdings, dass sobald eine Antriebseinheit in eine einigermaßen zuverlässig funktionierende Maschine
umgestzt worden war, befassten
sich sofort andere findige Köpfe
mit der Plantierung dieser Arbeitsmaschine in ein Fortbewegungsmittel.
Die naheliegenste und wichtigste Komponente zur
Konstruktion eines Fahrzeuges ist ein angemessen
kompakt bauender Motor, der genügend Leistung für
Vehikel und Fahrer aufbringen kann. Der stand allerdings
nicht sofort zur Verfügung. Bis etwa in das Jahr 1890
war es dazu eine offene Frage, welcher Motortyp denn
nun der geeignete für die motorisierte Fortbewegung
sei.
Es gibt keine belegenden Zeugnisse, dass der Elektroantrieb für die Zweiradmobilität ins Auge gefasst wurde.
Die Akkumulatoren hatten zum damaligen Zeitpunkt
und Entwicklungsstadium rießige Abmaße. Der Elektroantrieb spielte in der frühen Entwicklungsgeschichte
des Automobils eine tragendere Rolle. Bereits um 1900
wurden von Ferdinand Porsche in Zusammenarbeit
mit Lohner zwei Elektrofahrzeuge realisiert, die mit
einer 44-zelligen Batterie mit 80V ausgerüstet waren.
Dieses "Monstrum" garantierte immerhin eine Leistung
von 300Ah, welches den Fahrzeugen eine immense
Reichweite von ca. 50 Kilometern ermöglichte.
Abb. 10: Das Lohner-Porsche Elektrofahrzeug
von 1901 – Reichweiten bis zu 50 km wurden mit Batteriestrom realisiert.
Die Dampfmaschine hatte bis dato schon eine vielversprechende Entwicklung durchgemacht. 1868 ließ
sich der Erfinder Louis Guillaume Perreaux eine Dampfmaschine patentieren, die bereits bei einem Gewicht
von 61kg so kompakt war, dass sie in das erste kommerziell erfolgreiche Pedalfahrrad der Gebrüder Pierre
und Ernest Michaux eingesetzt werden sollte. Mit
demontierten Tretkurbeln, modifiziertem oberen Rahmenholm und einer Keilriemenscheibe für den Antrieb
präsentierten sie drei Jahre später das Dampffahrrad
"Michaux-Perreaux". Im Grunde eine recht prickelnde
Art der Fortbewegung, sitzt man doch mit gespreizten
Beinen über einem heißen Dampfkessel (s. Bild S. 20).
Die Dampfmaschine wäre aber viel ausgereifter, wenn
nicht in der Euphorie um den Ottomotor ihr Todesurteil
gesprochen worden wäre.
11
Abb. 11: Der Daimler Patentmotor von 1889
war der erste Zweizylinder-ViertaktOttomotor der Welt.
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Der Viertaktverbrennungsmotor wurde bereits 1862
von Alphonse Beau de Rochas vorgeschlagen und
1876 von Nikolaus Otto in eine funktionierende Maschine umgesetzt. Dabei gelangt eine brennbare Mischung aus Luft und Brennstoff in einen Zylinder, wird
von dem nach oben strebenden Kolben komprimiert,
arbeitet nach erfolgter Verbrennung gegen diesen und
wird schließlich ausgestossen. Dies geschieht in folgenden vier Arbeitstakten: Ansaugen, Verdichten,
Verbrennen, Auslassen.
Fünf Jahre später setzte Gottlieb Daimler eine optimierte
– und vor allem leichtere – Version dieses Motors in
einen vierrädrigen Holzrahmen. Er schuf damit, noch
bevor er sich mit Automobilen beschäftigte, das erste
Motorrad mit Verbrennungsmotor, das eigentlich nur
als Testlauf vor dem Einsatz in einer Motorkutsche
gedacht war. Dieses knochenbrechende Konstrukt aus
Holz und Stahl hatte noch recht wenig gemein mit
einem wirklichen Motorrad und besaß neben den zwei
Haupträdern vorne und hinten auch noch zwei "Stützräder" links und rechts vom Fahrers (s. Bild S. 18). Hier,
wie generell bei den ersten Motorrädern bis 1901, hieß
der Beifahrer immer Nervenkitzel. Die Vehikel waren
nämlich ausgestattet mit einem Oberflächenvergaser,
bei dem der Kraftstoff in einer offenen Pfanne verdampft
und vom Motor freiweg "eingeatmet" wird und einer
Glührohrzündung mit offener Flamme am Ende eines
Platinrohres. Hier hätte es nicht viel gebraucht um das
Fahrzeug im wahrsten Sinne des Wortes in einen
Feuerstuhl zu verwandeln.
elektronisch gesteuerte
H2-Einspritzdüse
3.3 Alternative Antriebskonzepte
Exzenterwelle
Wie der Blick auf eine befahrene Straße beweist, hat
sich das Prinzip des Verbrennungsmotors für fast alle
im heutigen Straßenverkehr betriebenen Fahrzeuge
etabliert. Doch weist die Geschichte immer wieder
Stellen auf, in der die Entwicklung – selbst für den
unangezweifelten Sieger, den Verbrennungsmotor –
nicht geradlinig verläuft, sondern mehrere Prinzipien
im großen Rennen um Verwirklichung gleichauf liegen.
Grob gesehen, kann man die Ideen in zwei Kategorien
unterteilen: jene, die mit unkonventionellen Methoden
die Nachteile der Verbrennungsmotoren überwinden
wollen, und jene, die visionär auf prinzipiell andere
Motorkonzepte setzen.*1)
Seitendichtung
Scheitelleiste
Luft
Abgase
Dichtbolzen
Zündkerzen
Läufer
Abb. 12: Ein speziell zum Betrieb mit Wasserstoff ausgelgter Hybrid-Wankelmotor im
Mazda RX-08 Hydrogen
Zu erster Gruppe gehören beispielsweise die recht
skurrilen Umlaufkolbenmotoren. Bei dieser Technik
wird mit geschickt angeordneten Kolben nicht die
Kurbelwelle im Inneren, sondern gleich das Gehäuse
selbst angetrieben. Das Geniale daran ist, dass der
Motor keine zusätzliche Kühlung benötigt, denn er
führt sich diese durch seine Rotation selbst zu. So
wurde er um 1920 in der Luftfahrt und sogar einem
kommerziellen Motorrad, der Megola von 1922, eingesetzt. Diese Technologie beinflusste das Erscheinungsbild dieses Motorrades nachhaltig. Da der Motor nicht
herkömmlich im Rahmen unterhalb von Tank und
Fahrer sondern im sich drehenden Vorderrad untergebracht war, konnte der ursprüngliche Platz einem tiefen
Durchstieg weichen (s. Bild S.21).
Der Kreiskolben- oder Wankelmotor hat ebenfalls seinen
Platz in dieser Gruppe. Er arbeitet genauso wie der
Otto-Motor mit vier Arbeitstakten, doch werden diese
in unterschiedlichen Bereichen des Gehäuses erledigt.
Der Effekt ist in etwa so, als gäbe es für jede Funktion
einen separaten Zylinder. Im Inneren dreht sich ein
dreieckiger Läufer auf einer exzentrischen Bahn, der
die Aufgabe der Taktung übernimmt. Dabei muss – im
Gegensatz zu einem Otto-Motor – keine lineare Bewegung umgewandelt werden. Bei der Verbrennung wird
der Läufer unmittelbar bewegt.
Abb. 13: Der Umlaufkolbenmotor in der
Vorderradnabe der Megola
Abb. 14: Ein Sternmotor aus der Luftfahrt
*1) Wolfgang König, Technikhistoriker von der Technischen
Universität Berlin in der "Stuttgarter Zeitung" vom
03.06.2000
13
Abb. 15: Der NSU Ro 80 mit Wankelmotor
war seiner Zeit weit voraus. Vorne tief, hinten
hoch ergibt die strömungsgünstige Keilform.
Abb. 16: Ein früherer BSA-Prototyp mit Wankelmotor – Der Motor ein KM914 stammte
von Sachs und brachte 18 PS Leistung.
Abb. 17: Eine Herkules Motorrad-Rennmaschine mit Sachs-Wankelaggregat
14
Schwingungen werden reduziert
und die potenzielle Motordrehzahl
wird erhöht. Diese höhere Effizienz
ermöglicht eine viel kleinere Bauweise bei gleicher Leistung gegenüber einem herkömmlichen Kolbenmotor. Außerdem müssen keine
Ausgleichsgewichte, wie die Kurbelwellenbacken zum Kompensieren der translatorischen Massen,
mitbeschleunigt werden. Das verleiht Wankelmotor wiederum eine
drehfreudige Charakteristik. Mitte
Oktober 1967 wurde die Produktion
des richtungweisend strömungsgünstigen NSU Ro 80 mit dem
Zweischeiben Wankelmotor KKM
612 aufgenommen. Im Februar
1968 wurde das Auto, das formgestalterisch seiner Zeit um 10 Jahre
voraus war, von einer Fachjournalistenjury zum "Auto des Jahres"
gewählt.
Anfang der 70er Jahre ist die Wankel-Technologie so zukunftsfähig,
dass alle namhaften, japanischen
Motorradhersteller wie Suzuki, Yamaha und Kawasaki aber auch die
britische Motorradschmiede BSA
unter Lizenz Wankelmotoren im
Bereich von 20-80 PS für den Motorradbereich konzipieren. Ungelöstes Problem ist allerdings die Abdichtung und der Verschleiß der
Kanten des Läufers zum Motorgehäuse. So wurde dieser Technologie, bedingt durch Ausfälle und
damit verbundenem erhöhten Benzinverbrauch, ein eher abenteuerliches Image beschert.
Durch neue Hochleistungsmaterialien wird dieses Problem aber immer stärker minimiert. Mazda hat
diese Antriebstechnologie seit den
60er Jahren ebenfalls nicht aus den
Augen gelassen. Aktuell ist zum
Beispiel der RX-8 mit WankelTechnologie ausgerüstet, der hybrid
mit Wasserstoff-Direkteinspritzung
betrieben werden kann.
In der zweiten Gruppe der Alternativen zum Verbrennungsmotor sind
Konzepte zu finden, die tatsächlich
das Zeug dazu gehabt hätten oder
immer noch haben, mit dem Verbrennungsmotor mitzuhalten. Beispielsweise lässt sich der Stirlingmotor mit jedem beliebigen Brennstoff betreiben und erreicht den
Wirkungsgrad einer Dieselmaschine. Gasturbinen arbeiten noch etwas effizienter.
Der Elektroantrieb, welcher eine
saubere und logische Alternative
zum Verbrennungsmotor stellt, hat
auch seine liebe Not, sich gegen
den Goliath Verbrennungsmotor zu
behaupten. Viele Hersteller haben
sich dennoch in den letzten Jahren
einen kleinen Markt erobert und
diesen mit einer erfreulichen Vielfalt
von Elektromobilen für den privaten
täglichen Gebrauch bedacht. Der
große Nachteil liegt derzeit noch
in der Größe, dem Gewicht und
nicht zuletzt dem enormen Preis
der Batterie. Die Batterie macht
ungefähr ein Drittel des gesamten
Fahrzeugpreises aus und "beschwert" ein E-Fahrzeug wie den
ThinkCity auf ganze 940 Kilogramm. Ließe sich diese durch eine
Brennstoffzelle ersetzen, wären die
Fahrzeuge um ein Vielfaches effizienter. Die Vorteile des Elektroantrie-
Abb. 18: Der Th!nk City ist ein Stadtfahrzeug
mit einer Höchstgeschwindigkeit von 95
km/h und eingefärbter Kunststoffkarosserie.
bes liegen auf der Hand. So übertreffen sie den Otto-Motor durch
ein gänzlich lineares Drehzahlband.
Das bedeutet, dass der Beschleunigungsfaktor bei jedweder Geschwindigkeit der gleiche ist (der
Otto-Motor liefert nur bei bestimmten Laufgeschwindigkeiten seine
Höchstleistung). Außerdem ist ihr
Lauf wesentlich vibrationsärmer,
damit ruhiger und nicht zuletzt ist
die Komplexität eines solchen Aggregates im Vergleich relativ überschaubar und störungsunanfällig.
Der serielle Einsatz all dieser Alternativen, zumindest in der Automobilität, ist bisher allerdings als gescheitert zu betrachten. Das liegt
daran, dass Technik aus rein ökonomischen Gründen zutiefst konservativen Charakter aufweist. Hat die
Großindustrie einmal in eine tech-
nische Entwicklung investiert, wird
dieser eingeschlagene Weg auf
"Biegen und Brechen" beibehalten.
Selbst die Entwicklung des eigentlich ökomomisch arbeitenden Wankelmotors wurde durch diesen Konservatismus be-, wenn nicht gar
verhindert. Nur wenige Außenstehende ahnten damals, wie groß der
geistige und materielle Aufwand
sein musste, um eine solche Revolution im schon altehrwürdigen Motorenbau herbeizuführen. Auch an
Widerständen der einschlägigen
Industrie, die um die Rentabilität
konventioneller Fertigungsanlagen
bangte, hatte es naheliegenderweise nicht gefehlt. Nicht selten fristen
alternative Einfälle ihr Dasein als
aufgekaufte und nie verwirklichte
Patente in Schubladen, die nicht
mehr geöffnet werden.
15
Ein PS bezeichnet übrigens die
Leistung (Arbeit pro Zeiteinheit),
die benötigt wird, um in einer
Sekunde 75 Kilogramm einen Meter
anzuheben. Mit einem PS kann man
auf der Straße 150 kg bewegen, auf
der Schiene 500 kg und auf dem
Wasser 4000 kg. Ein durchschnittliches Pferd hat eine Höchstleistung
von ca. 24 PS. Die Dauerleistung
beträgt allerdings ziemlich exakt vier
PS. Seit 1.1.1978 gilt offiziell die
Leistungseinheit Kilowatt (kW), das
sind umgerechnet 1,36 PS.
Die Frage welche sich stellt, ist: wie
würde denn ein aktuelles Motorrad
aussehen, wenn sich aus bestimmten Gründen der Praktikabilität, Verfügbarkeit oder technischen Entwicklung ein anderes Motorenprinzip mit anderem Potential durchgesetzt hätte? Diese Frage kann
man natürlich auf alle uns bekannten – oder noch unbekannten –
Energiewandlungsprinzipien ausweiten. Wie würde wohl ein Motorrad
heutzutage, nach gut einem Jahrhundert Entwicklungs- aber auch
Fetischierungsgeschichte aussehen,
hätte beispielsweise das Schwungrad, der Elektroantrieb, eine gänzlich
unbekannte Antriebstechnologie
oder eben der Brennstoffzellenantrieb die Oberhand gewonnen?
Und welche Funktionen wären dann
bei geänderten Prinzipien wichtig?
Wäre es beispielsweise sinnvoll den
Fahrer stärker zu schützen (vielleicht
sogar vor der eigenen Antriebsquelle). Sollte der Umgang mit dem
Fahrzeug völlig neu überdacht werden und ein gänzlich differentes
Nutzungskonzept als "nur" die private Fahrt in Betracht gezogen werden? Für eine Neukonzeption gilt
es sowohl Risiken als auch Potentiale neu zu beurteilen.
Das in seiner Form bekannte Motorrad ist sicherlich mehr als ein "Gehäuse" für den Motor. Der Motor ist
konstruktives Element. Motor und
Vehikel stehen in formästhetischer,
funktionaler, kommunikativer Wechselbeziehung. Die Entwicklung die
Motor und Vehikel gemeinsam
durchlaufen haben, spiegelt sich in
dem gesamten Fahrzeug wieder.
16
3.4 Gefährliche Herausforderungen
Wie wir an der Entwicklungsgeschichte des Verbrennunsmotors
ersehen können, ist die Fortbewegung mit diesem in der frühen Entwicklungsphase immer etwas heikel
– um nicht zu sagen brandgefährlich – gewesen. Ganz egal, welche
historische Bauform wir betrachten,
es ist kein Wunder, dass das Hantieren mit Zündverstellhebel, Hochdruckaggregaten, rückschlagender
Anlasserkurbel, brennbaren und
gesundheitsschädlichen Treibstoffen Sportsmänner und Wagemutige
geradezu herausforderte. Tankstellen gab es übrigens genauso wenig
wie Straßenwachten. Die Brennstoffe wurden aus der Apotheke bezogen. Und das einzige, auf das man
sich hunderprozentig verlassen
konnte, war die generelle Unzuverlässigkeit der Konstrukte. Wer es
sich also leisten konnte und in sportlicher wie draufgängerischer Hinsicht nur einen Funken auf sich
hielt, legte sich eine solche "Höllenmaschine" zu, um die Fortschrittlichkeit, Luxuriösität oder Einzigartigkeit seiner Person zum Ausdruck
zu bringen.
Allerdings trifft dies noch lange
nicht für alle Menschen zu. Es ist
lächerlich zu glauben, dass derart
technische Segnungen auch schon
vom Durchschnittsverdiener um die
vorletzte Jahrhundertwende erworben werden konnten. Der Preis für
ein Automobil beträgt nämlich gerade das 100-fache des Monatslohnes eines Durchschnittsverdieners.
Selbst kleine Motorfahrzeuge wie
Voiturettes, Cyclecars oder eben
Motorräder lagen schlichtweg außerhalb seiner finanziellen Reichweite. Erst im Laufe des ersten
Weltkrieges trat neben die Bedeutung des Autos als Luxusgut und
Sportartikel auch seine Bedeutung
als Transportmittel.*1)
Machen wir einen kleinen Sprung
und betrachten die Ausgangslage
der Brennstoffzelle, denn es bietet
sich gerade wieder an. Die Startbedingungen für die Brennstoffzelle
heute und die der Benzinmotoren
zu Anfang des 20. Jahrhunderts
sind im Grunde ziemlich identisch.
Sie sind teuer, gefährlich und unpraktikabel. Die KW -Leistung der
Brennstoffzelle steht in keinem vernünftigen Verhältnis zum Preis. Wir
haben schon wieder ein unkonntrollierbares Hochdruckaggregat (den
Wasserstofftank) und die Brennstoff-Versorgungsfrage unterwegs
ist auch noch lang nicht gelöst. Alle
Mineralölkonzerne lehnen, was die
Versorgung eines Fahrzeuges an
ihren Tankstellen angeht, "tankend"
ab. Erschwerend für den Brennstoffzellenantrieb kommt hinzu, dass die
Äquivalente bereits vorhanden sind.
Der direkte Vergleich zwischen
hochentwickeltem Benzineinspritzmotor (der mit einem guten Jahrhundert Entwicklungsvorsprung
glänzt) und Brennstoffzelle für die
Transportation fällt für letztgenannte
ungünstig aus. Aber betrachten wir
allein die begrenzete Verfügbarkeit
von Mineralöl, ist die Suche nach
einer Alternative viel mehr als purer
Pioniergeist und Spaß an der Herausforderung. Sie ist ein zwingendes Muss, denn ohne die liebgewonnene Mobilität ist unsere Welt
in dieser Form schlichtweg nicht
mehr denkbar.
*1) Wendler, F. (Hrsg.): Automobile Moden. Eine AutomobilDesigngeschichte, Fokke-Museum, Bremen, 1998, S. 9
Abb. 19: Cyclecar von 1914 mit 6-PSBlumfeld-V-Twin-Aggregat, einfachem Kettenantrieb und zwei Gängen
Abb. 20: das gleiche Cyclecar ohne Verkleidung – Interessantes Gestaltungsmerkmal:
der Tank, direkt über den Zylinderköpfen
des V-Motors, tritt vorne aus der Karosserie
heraus und verleiht ihr somit etwas torpedoähnliches.
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3.5 Zur Erfindung des Motorrades
Wenn es in der heutigen Zeit der Diskotheken keine
Hörgeräte geben würde, ständen Hörrohre im Ruf
eines schicken modischen Accessoires.
S. Schulze
Abb. 21: Gottlieb Daimler baute 1885 einen
leichten Petroleummotor in einen vierrädrigen Holzrahmen und schuf damit das erste
Motorrad mit Verbrennungsmotor.
Abb. 22: So befestigt man fachgerecht den
Sattel auf dem Pferderücken.
Abb. 23: Bei dem Rahmen der Cyclone von
1914 ist deutlich die Verwandschaft zum
Fahrrad zu erkennen.
Im Anfangsstadium einer Entwicklungsgeschichte
dauert es eine gewisse Zeit, bis sich verbindliche
Erscheinungsbilder durch Versuch und Irrtum etablieren.
Die Zuverlässigkeit, die Infrastruktur, das Image, der
aktuelle Zeitgeist und nicht zuletzt die Industrie richten
über Zukunftsfähigkeit oder Untergang eines Produktes.
Kuriose Entwicklungen in die evolutionäre Sackgasse
werden im nachhinein gerne belächelt – der Ausgang
der Geschichte ist bekannt. Befindet man sich allerdings
an der historischen Weichenstellung zweier möglicher
Varianten, dürfte die Entscheidung schwerer fallen;
man weiß ja nicht, wie die Zukunft aussieht. Und noch
viel gewichtiger: der Designer, Ingenieur, Wissenschaftler, Theologe, Schriftsteller et cetera gestaltet sie immer
aktiv mit. Alles, was denkbar ist, ist möglich, und alles
was möglich ist, wird irgendwann umgesetzt werden.
Anhand des Daimler'schen "Reitwagens mit Petroleumantrieb" ist diese These klar zu erkennen: Gibt es
(noch) keine Äquivalente ist der Erfinder vergeblich
auf der Suche nach alternativen Erscheinungsbildern.
Fahrräder mit modernem Starley-Rahmen machen um
1885 schon Stadt und Land unsicher. Diese haben
zumeist auch schon gefederte und nicht selten komfortable Ledersättel, die doch als Leitbild dienen konnten. Viele der ersten Motorräder stehen dem Fahrrad
sehr nah, denn zumeist wurden für sie Fahrradrahmen
adaptiert. Doch sieht man sich den Reitwagen etwas
genauer an, erkennt man, dass Pferd und somit die
Allegorie des Reitens auf einem Pferderücken, in
näherer Ver wandschaft zu st ehen scheint .
Von einer umfassenden Gestaltung kann bei den ersten
Prototypen also nicht gesprochen werden. Das klingt
gemein und im Nachhinein sicherlich auch anmaßend
– aber es ist so. Heute nicht anders als vor 130 Jahren.
18
Zur Aufnahme der ersten Otto-Motoren mussten allegorisch Kutsche und Pferd herhalten, aus denen sich
dann, in einem längeren, antagonistischen Verhältnis
aus stetig optimierten Motoren und Vehikeln schließlich
die Kategorie Automobil und Motorrad kristallisierte.
Was die Brennstoffzelle betrifft, sind wir heute wieder
in dieser Prototypenphase. Diesmal sind es nicht
Kutsche und Pferd, sondern eben Automobil und
Motorrad, die formal und somit ihres Erscheinungsbildes
beliehen werden. Ein Mediziner würde sagen: man
entfernt den Dahinsiechenden ihr altertümliches, ausrangiertes Aggregat und transplantiert ihnen ein neues,
zukunftsfähiges Spenderaggregat. Der Korpus bleibt
also der alte, der in allen Ausformungen und Zeichen
auf sein altes Herzstück verweist, während dieses
jedoch ein anderes, neues ist. Das kann nicht gutgehen.
Warum also nicht Herz und Korpus erneuern? Wir sind
ja zum Glück keine Mediziner.
Abb. 24: Äußerlich ein herkömmlicher Serien-Fiat, innwendig allerdings mit der neuesten technischen Entwicklung aus dem
Brennstoffzellensektor ausgerüstet. Das ist
nicht nur unsensibel, da es die Technologie
nicht kommuniziert, sondern auch gefährlich,
da man dieses Auto im Verkehr über das
Gehör nicht mehr als solches wahrnehmen
kann und es schlichtweg "übersieht".
Abb. 25: Neue Technologie, neues Erscheinungsbild - Das ist Produktsprache und
Kommunikation.
19
3.6 Zur Entwicklung des Motorrades – einige Beispiele
Konzeptionell betrachtet ist das
erste Motorrad, die dampfbetriebene Michaux-Perraux von 1871, genauso Fahrrad mit Motor wie die
Benelli TNT 1130 von 2004. Dass
zwischen beiden Maschinen trotzdem ein himmelweiter Unterschied
in Leistung, Fahrkomfort, Anmutung und Erscheinung liegt, ist offensichtlich aber nicht nur der rein
technischen Optimierung zu Verdanken. Das Motorrad wird nicht
nur als technisch immer weiter verbessertes Konstrukt seinen Besitzer,
sondern auch bald dessen Wünsche und Träume, transportieren
müssen.
Das Motorrad ist – wie eigentlich
jedes industriell gefertigte Produkt
– immer ein Spiegel seiner Zeit.
Dieser Spiegel ist allerdings, vor
allem heute, mit einem verschleiernden, weichzeichnenden Nebel
überzogen, denn es gilt zu bedenken, dass Motorradfahrer – entgegen allen gängigen Klischees –
beim Kauf eines neuen Modells
ausgesprochen konservative Kaufargumente ins Feld führen. Die Hersteller wissen ganz genau, dass ihre
Kunden revolutionären Entwürfen
gegenüber sehr zurückhaltend sind.
Abb. 26: 1871 ging das patentierte Micheaux-Perreaux Dampffahrrad in Produktion.
Abb. 27: 2004 ist dann dieses Motorrad,
eine Benelli TNT 1130 zu erwerben.
Abb. 28: Trotz vollkommen neuem Motorkonzept ähnelt die Erscheinung des Motors
der BMW K 100RS den älteren lluftgekühlten Boxer-Zweizylindern.
20
BMW hat beispielsweise bei der
wassergekühlten Vierzylindermaschine K 100RS von 1985, die eine
radikale Abkehr der 60-jährigen
Tradition luftgekühlter BoxerZweizylinder darstellte, bewusst
das Erscheinungsbild den älteren
Modellen nachempfunden. * 1 )
Und bereits vor 50 Jahren hieß es:
Für ein Motorrad ist jede Farbe
recht , solange sie schwarz ist .
Andererseits eignet sich ein Motorrad aber auch in besonderer Weise,
eine revolutionäre Technologie zu
kommunizieren, da es, im Gegensatz zu den meisten anderen Produkten, in der Öffentlichkeit bewegt
wird und dadurch allseits präsent
ist. Immer wieder stechen besondere Exemplare aus dem MotorradEinheitsbrei heraus, ob sich diese
jedoch behaupten können oder wieder in der Versenkung verschwinden, kann nur die Zeit zeigen.
Im Folgenden werden einige Besonderheiten der zweirädrigen Mobilität aufgeführt, die durch ihr ungewöhnliches Erscheinungsbild, eine
außergewöhnliche Innovationsleistung, oder schlicht ihrer Skurrilität
wegen ins Auge stechen.
*1) The Art of the Motorcycle, S. 24
3.6.1 Beginn der Serienfer tigung
Das erste Serienmotorrad, das offiziell erworben werden
konnte, war 1894 die deutsche Hildebrand & Wolfmüller
mit 2,5 PS bei 240 U/min. Entscheidend bei diesem
Motorrad war der Verzicht auf die Pedale als Antriebskraft. Das Motorrad war jetzt nicht länger ein Hybridfahrzeug, sondern eine Maschine mit eigener individueller Qualität . *2) Leider war der Aufbau, der die
Pleuelstange des knapp 11/2 Liter fassenden Motors
direkt mit dem Hinterrad verband (einer Dampflokomotive gleich), eine denkbar ungeeignete Methode
der Kraftübertragung. Immerhin wurden knapp 1000
Stück dieser Maschinen in Frankreich gefertigt und
verkauft, was die damalige immense Nachfrage nach
komplett unausgereifter aber trotzdem teurer Technik
als puren Imagefaktor belegt.
Abb. 29: Ein Archetypus der Motorradentwicklung und gleichzeitig das erste Serienmotorrad der Welt – die Hildebrand & Wolfmüller von 1894
*2) The Art of the Motorcycle, S. 98
Abb. 30: Anderes Antriebskonzept, andere
Erscheinung – Die Megola von 1922 besitzt
den Umlaufkolbenmotor in der Vorderradnabe und erzielt damit beachtliche 90 km/h.
3.6.2 Ungewöhnliches Erscheinungsbild
– Alternatives Antriebs- und Marketingkonzept
Abb. 31: Zeitgenössische Werbung für die
Megola – Bewusst werden Frauen als neue
Zielgruppe anvisiert.
Die Megola, schon im Kapitel zu alternativen Antriebskonzepten angesprochen, ist nicht nur aufgrund des
im Voderrad befindlichen Nabenmotors eine Besonderheit erster Güte. Wir müssen uns vor Augen halten,
dass die Ambiguität der 20er Jahre zwischen einer
Abkehr von unkontrollierbarer Macht der Technik, die
im ersten Weltkrieg entfesselt wurde, sowie einer
revolutionären und positiven Fortschrittsgläubigkeit
durch Mechanisierung besteht. Die Megola ist dafür
wohl das eindeutigste Manifest zweirädriger Mobilität.
Mit ihrer Vollverkleidung, dem tiefen Durchstieg und
dem bequemen Lenker hat sie fast genausoviel Ähnlichkeit und bietet damit auch einigen Komfort, den
man nur von Automobilen gewöhnt war. Hinzu kommt,
dass erstmals auch Frauen durch eine gezielte Marketingstrategie als Käuferinnen, in einem bis dato strikt
von Männern dominierten und auch mit männlichen
Attributen besetzten Bereich, angepeilt wurden.
21
3.6.3 Ästhetik der Maschine – Technische Innovation
Gegen Anfang der 30er Jahre entsteht die französische
Majestic. Sie ist ein vollverkleidetes Motorrad, dessen
stromlinienförmiges, eigenständiges Erscheinungsbild
mehr ist, als nur oberflächliche Hülle. Die Majestic
besitzt im Gegensatz zu den meisten kontemporären
Motorrädern statt der Vorderradgabel eine Nabenlenkung, bei der lediglich Vorderrad und Bremse bewegt
werden. Diese Konstruktionsvariante, die – zumindest
theoretisch – für mehr Stabilität sorgt, war lange Zeit
in Vergessenheit geraten. Sie wird heute aber, neben
der Achsschenkellenkung, zumindest in Konzeptstudien
für moderne oder futuristische Motorräder wieder
desöfteren ans Licht geholt. Das Erscheinungsbild der
Majestic ist so eigenständig und geschlossen, dass
Fahrer und selbst die Sitzgelegenheit für diesen wie
optische Störfaktoren wirken.
3.6.4 Leichtbau – Neue Materialien
Abb. 32: Die Majestic von 1930 – Hier
scheint der Name Programm zu sein.
Abb. 33: Ein zeitgenössisches Werbeplakat
für die Majestic
Abb. 34: Die MGC von 1932. Komplexe
Aluminumformkomponenten, die nur einem
Zweck dienten, das Motorrad leichter zu
machen.
22
Ebenfalls den 30er Jahren entspringt die MGC. Die
Besonderheit dieses Motorrades ist der konsequente
Einsatz von Aluminium, um auf der einen Seite Gewicht
zu sparen und auf der anderen Seite möglichst viele
Komponenten zu einem Stück zusammenzufassen.
Der zentrale Motor wird von oben von einem einzigen
Teil, bestehend aus Lenkkopflager, Tank und oberer
Rahmenbrücke und von unten, mit einem Teil, das
unter anderem den Öltank enthält, in die Zange genommen. Beide Trägerkomponenten werden wiederum
mit Stahlstreben, die im Groben einem Fahrradrahmen
nachempfunden sind, verbunden. Der Aluminiumguss
– damals übrigens nur Sandguss und nicht Formdruckguss – für die komplexen Teile des Motorrades war
äußerst schwierig zu beherrschen und musste in
müheseliger Handarbeit zu funktionierenden Komponenten aufgearbeitet werden. Die MGC steht durch
ihr Erscheinungsbild und die verwendeten Materialien
absolut im Zeichen des Maschinenzeitalters im Sinne
von Mies van der Rohe und Marcel Breuer als Vertreter
der Moderne.
3.6.5 Reduziertheit
Direkt der deutschen Nachkriegsgeschichte entspringt die Imme
R100. Was auf den ersten Blick so aussieht, als ob etwas
vergessen worden wäre, entpuppt sich bei diesem Leichtmotorrad
durch näheres Hinsehen als Meisterleistung innovativer Sparsamkeit. Die Imme wurde nicht, wie die vielen Motorräder vor
ihr, mit Trapezrahmen und beidseitigen Radaufhängungen ausgestattet. Der Motor ist, genauso wie das Hinterrad, über eine
Einarmschwinge, die obendrein noch als Auspuff dient, mit dem
Rahmen verbunden. Wenn das Hinterrad einfedert, federt der
Motor einer Wippe gleich aus, was die Beanspruchung auf den
Kettenantrieb minimal hält. Die Hinterradfederung übernimmt
eine einzige, waagrechte Schraubenfeder unter dem Sitz, die
durch einen Gummiblock im Inneren und einen zusätzlichen
Reibungsdämpfer gedämpft wird.
Die technischen Neuerungen der Imme, wie Einarmschwinge
und Cantilever-Federung, wurden später von anderen Herstellern
wieder aufgenommen. Im Export, sowie im innerländischen
Absatz waren der Maschine leider nur geringe Stückzahlen
beschert, was wohl größtenteils an der, oben bereits erwähnten,
konservativen Einstellung der Kundschaft lag. Dieses Motorrad
sah eben nicht wie ein gemeinhin bekanntes Motorrad aus und
genau diese Tatsache wurde ihm und seinem Hersteller Norbert
Riedel zum finanziellen Verhängnis.
Abb. 35: Die Imme R100 von 1949 überzeugt durch die radikale Konsequenz der
Sparsamkeit.
3.6.6. Dauerhaftigkeit
Im April des Jahres 1946 ging das Modell V98 in Produktion.
Von Anfang an war die Vespa erfolgreich. Ein absoluter Hit, der
das Leben von Millionen Menschen in den harten Nachkriegsjahren praktisch über Nacht veränderte und weithin die europäische Jugendkultur nachhaltig beeinflusste. In der Presse wurde
der Roller als Kleinauto auf zwei Rädern beschrieben, was zwar
in Bezug auf Größe und Volumen nicht gerade zutraf, aber
sicherlich auf die neugewonnene Mobilität seiner Besitzer.
In den 1950er Jahren hatten die meisten Menschen die schlimmsten Nachwirkungen des Krieges hinter sich und das Leben
verlief wieder in normalen Bahnen, auch wenn alles etwas anders
war als vorher. Die Vespa trug auf jeden Fall als billiges Transportmittel dazu bei, was von Anfang an Piaggios Absicht war.
Auch heute noch werden klassische Vespas unter Lizenz in vielen
Ländern gebaut.
Abb. 36: Die Vespa GrandSport in einem
Modell von 1962 mit 146 ccm – begehrtes
Transportmit tel vieler Generationen
23
4. Gebrauchskultureller Charakter des Motorrades im Wandel der Zeit
Bis jetzt wurden nur Motorräder oder Roller der Serienfertigung erwähnt.
Das Motorrad wurde aber auch immer als Ausdruck der Ansichten seines
Fahrers verstanden. Dieser offene 'Haufen Blech und Gummi' war schon
immer dankbarer Rezipient für Identifikation und Verwirklichung durch
Umgestaltung. Es geht also um das Motorrad, um seinen Fahrer und den
Gebrauch im soziokulturellen Kontext desselbigen.
4.1 Jugendkulturen – Subkulturen – Gegenkulturen
Der Begriff der Subkultur wird in
soziologischen Wörterbüchern gewöhnlich "als ein System von Werten, Einstellungen, Verhaltensweisen und Lebensstilen einer sozialen
Gruppe" verstanden, "das sich von
der herrschenden Kultur einer Gesellschaft unterscheidet, aber auf
diese bezogen ist".*1) Der Begriff
der Gegenkultur wird teilweise synomym mit Subkultur gebraucht,
teilweise aber auch herangezogen,
um Gruppen zu beschreiben, die
sich in ihren Wertorientierungen,
Präferenzen und Lebensstilen in
bewussten Gegensatz zur hegemonialen Kultur stellen.
Die amerikanische Soziologie der
1950er und 60er Jahre zeigte ein
starkes Interesse an "delinquenten",
"devianten" bzw. "kriminellen" Subkulturen in den Großstädten. Ab
den späten 1960er Jahren verlagerte sich das Forschungsinteresse.
Nun gerieten vor allem die spektakulären Jugendkulturen in den Blick,
24
die sich einerseits aus dem Arbeitermilieu (Teds, Mods, Skins, Rocker) rekrutierten, sich andererseits
aus den Mittelschichten (Hippies)
und teilweise auch aus dem Kunsthochschulmilieu (Punks) herausbildeten.*2)
Gruppen grenzen sich gegen den
Einfluss der Elterngeneration ab
oder sie definieren sich als eigenständige Kultur neben anderen Kulturen. Dazu werden bestimmte Zeichen verwendet. Werden sie im
soziokulturellen Bereich benutzt,
nennt man sie Distinktionszeichen.
Diese sind meist chiffriert. Der Außenstehende hat insoweit keine
Möglichkeit, sich Zugang zu verschaffen, da ihm der passende
Kommunikations-Code fehlt. Die
Abgrenzung gegen "Fremde" ist
hiermit vollzogen. Als Beispiel seien
hier die Badges bzw. Buttons der
Punks genannt, oder die verschnörkelten Signaturen der Sprayer.
Einige Gruppen haben die Zeichen
ihrer Zugehörigkeit auf ihren fahrbaren Untersatz ausgeweitet. Deswegen möchte ich mich im Folgenden mIt einigen dieser Gruppen
eingehender beschäftigen, da sich
ihre Distinktionszeichen auch in
den Ausdruck ihrer Mobilität und
somit in die Wahl und die Umgestaltung ihrer Fortbewegungsmittel
erstrecken.
*1) The Penguin Dictionary of Sociology, 1988, S. 245
*2) Wuggenig "Kultur, Subkultur, Gegenkultur", S, 1-4
4.1.1 Bobber, Chopper, Teddy-Boys und Biker (Umbauten
und Umnutzung – handgefertigte Individualisierung)
"Die Bilder (...) fuhren dem anständigen, gottesfürchtigen Amerika ins
Mark. Da war das Bild von seltsam gekleideten Barbaren auf der einen
Seite der Hauptstraße des Ortes, während auf der anderen die braven,
sauberen Kleinstädter zusammengedrängt standen. Zwischen beiden
Gruppen standen nur ein paar nervös dreinblickende Polizisten.
Ein anderes Foto zeigte einen großen Kerl, der zurückgelehnt auf seinem
Motorrad lümmelte, starr in die Kamera glotzte und in jeder Hand eine
Bierflasche hielt. Das war der Stoff, aus dem Alpträume entstehen; und
viele gesetzestreue amerikanische Bürger zitterten in Gedanken, wenn
sie sich vorstellten, dass eine solche barbarische Horde ihr Dörflein
heimsuchen könnte."
Ted Polhemus
Gegen eine Welt, die aus angepassten, kleinbürgerlichen und konformen Individuuen besteht, artikulierte sich Mitte der 40er Jahre in
Amerika, einige Jahre später auch
in Europa und Australien eine motorisierte Gegenbewegung, die die
Werte und Normen ihrer Väter radikal ablehnte. Die Ausschreitungen
von 1947 in der kalifornischen Kleinstadt Hollister, die eine "Invasion
von schmierigen, dreckigen Tieren"
(Life-Magazin) ertragen musste, welche wild randalierend und zerstörend das bürgerliche Leben terrorisierte, waren Auftakt und Geburtsstunde einer Gegenkultur, die sich
radikal vom gängigen Status Quo
abwandte. Selbst die Mitglieder der
American Motorcycle Association
(AMA) verurteilten die Verantwortlichen der Eskalationen öffentlich
und distanzierten sich von diesem
geringen Prozentsatz "unwürdiger"
Motorradfahrer. Dieses Vorgehen
hatte einerseits zur Folge, dass sich
alle vorher feindlich gesinnten Motorradgangs solidarisierten und sich
andererseits nun alle Rowdies und
Störenfriede offiziell unter dem Abzeichen "Ein Prozent" gruppierten,
gemeinsam eine Front gegen die
Polizei und die AMA zu bilden.
Die Ausschreitungen waren Inspiration zu soziokulturell einflussreichen Filmen wie "The Wild One"
von Laslo Benedek, der wiederum
dazu beitrug, diesen bestimmten
Motorradfahrertypus als "Outlaw"
und (romantischen) Gesetzeslosen
zu stilisieren. Bei all den sensationellen und reißerischen, kontemporären Berichten über diese neue
innere Gefahr für Amerika, wurde
allerdings meistens außer Acht gelassen, dass es sich bei den Störenfrieden nur zu oft um Veteranen
des zweiten Weltkriegs handelte.
Jene, die nach den erlebten Schrekken, Probleme damit hatten, sich
wieder in die Zivilgesellschaft zu
integrieren.
Abb. 37: Konfrontation in der amerikanischen
Kleinstadt Hollister am 6. Juli 1947
Abb. 38: Standfoto aus Laslo Benedeks "The
Wild One" – Die Rocker in eifriger Diskussion
mit der Staatsmacht
25
Abb. 39: Eine Indian Sport Scout von 1940
im klassischen Umbau zu einem "Bob-Job"
– Vorweggenommen ist der hohe Lenker,
der sog. Ape-Hanger, der Chopperentwicklung.
Das Motorrad ist für die Outlaws
mehr als ein Zeichen von Macht
und uneingeschränkter Mobilität,
mit der sie auch den entlegensten
Punkt auf der Karte durch ihr unvermitteltes Auftauchen 'terrorisieren'
und damit beherrschen können. Es
ist ein Zeichen der Rebellion und
ein Mittel die eigenen Werte und
Normen als Gegenentwurf zur vorherrschenden Kultur zu kommunizieren. Das andauernde Unterwegssein steht dem fest installierten
Heim mit Garten des Spießbürgers
und Langeweilers diametral gegenüber. Dabei wird das Motorrad
selbst zum Heim (zur Zeltstange
und zur Schlafstätte). Der Biker
gliecht einem Nomaden, der seine
Zelte nach Belieben abbricht und
weiterzieht. Das Motorrad avanciert
zur Beziehung (die meisten Motorräder haben natürlich Frauenna26
men) und zur generellen Lebensaufgabe. Für viele dieser jungen Veteranen war ihr Beruf nur eine lästige
Unterbrechung der kontinuierlichen
Arbeit an ihrem Bike, ein Job, den
man brauchte, um die AirbrushLackierung bezahlen zu können,
die die eigene Maschine individuell
und unverwechselbar machte.*1)
*1) The Art of the Motorcycle, S. 198
Abb. 40: Windy Lindstrom um die Mitte der
30er Jahre des 20. Jahrhunderts auf seinem
Werks-Hillclimber von Harley-Davidson
Abb. 41: Standfoto aus Dennis Hoppers
"Easy Rider" – Harley Davidson wollte nicht,
dass man die Marke des Motorrades im Film
erkennt, da man Imageverluste befürchtete.
Geschwindigkeit war alles und ihr
wurde auch unnötiger Zierrat an
den Motorrädern geopfert. Die aus
dem Krieg gewohnten Indians und
Harley Davidsons wurden nach dem
Vorbild der Hillclimbing-Maschinen
aus den 30er Jahren umgebaut.
Die Devise war: "leichter machen
durch Weglassen". Schutzbleche
wurden gekürzt ("gebobbt") und die
dafür vorgesehenen Haltebügel
hochgebogen. Aus ihnen entwickelte sich später, verlängert und verchromt, die sog. Sissy-Bar. Das ist
die Mitfahrgelegenheit und Anlehnmöglichkeit für die Sozia. Die Erscheinung der heutigen Chopper
(stark verchromte Maschinen mit
einem flachen Lenkkopfwinkel für
optimalen Geradeauslauf) geht auf
die älteren Bob-Jobs zurück (to chop
= abhacken) zurück. Bei diesen
zählt jedoch Leistung und Aussehen
gleichermaßen. Die puristischen,
schnellen Maschinen also für die
illegalen Straßenrennen und die
Wettbewerbe auf den Salzseen, die
verchromten für das repräsentative
Cruisen auf den Boulevards. Der
zynische und herablassende Spruch
"if it doesn't work, chrome it!"
("wenn es nicht funktioniert, verchrome es!") geht wohl auf die erste
Segregation innerhalb der gleichen
Gruppe der Chopper zurück.
Die Identifikation findet hier also
durch das eigene Gestalten statt.
Voraussetzung ist das technische
Wissen um die Zusammenhänge
in einem Motor und den Fahrwerkskomponenten. Zuweilen ist damit
auch die regelrecht kultische Hingabe an das eigene Motorrad zu
erklären.
27
4.1.2 We are the Mods , we are the Mods ...
Montagabend, das bedeutet Tanzen gehen im Mekka, im Hammersmith
Palais, im Purley Orchard oder im Stretham Locarno.
Dienstag bedeutet Soho oder den Scene Club.
Mittwoch, das ist der Abend im Marquee.
Der Donnerstag ist dem rituellen Haarewaschen vorbehalten.
Freitag, das heißt wieder in den Scene Club.
Samstagnachmittag heißt, Kleider und Schallplatten einkaufen gehen.
Samstagnacht geht's dann tanzen, und es endet selten vor 9 oder 10 Uhr
am Sontagmorgen.
Sonntagabend ist das Flamenco dran oder, falls einer Anzeichen von
Schwäche zeigt, auch mal Ausschlafen.
Reportage aus der Sunday Times von 1964*1)
Die Mods-Bewegung (kurz für Modernists) hat ihren Ursprung in den
frühen 1960ern in England. Die
Mods waren eine Gegenbewegung
zu den schlecht gekleidet und für
primitiv befundenen Rockern der
50er Jahre. Feiner Anzug im Italooder Gangsterstil mitsamt entsprechender Krawatte, kurzer, nach vorne gekämmter French-Haarschnitt,
dazu bisweilen ein Schieberhut oder
Barret und eine möglichst dunkle
Sonnenbrille. Das ist die repräsentative Grundausstattung eines
Mods. Ferner dazu natürlich den
obligatorischen, olivgrünen Parka
bei Fahrten auf dem ebenso obligatorischen Italian-Scooter, der Vespa
oder dem Lambret ta-Roller.
Abb. 42: Outfitbewusstsein bei den Mods
– dazu gehört auch...
Abb. 43: ...eine möglichst dunkle Sonnenbrille, vor allem Nachts.
28
Doch darf dieser regelrechte OutfitFetischismus nicht als schicke, gesellschaftskonforme Anpassung verstanden werden. Im Gegenteil. Gerade in dieser extremen und von
den Mods natürlich auch selbst
reglementierten Kleider- und Verhaltensordnung steckt das Grundverständnis einer generellen Umfunktionierung von Zeichen. Dieser
penible und hyper-akkurate Stil musste sich bei näherer Betrachtung
"doch gerade in dem Maße als unverständlich und beängstigend erweisen, wie die Mods ihn selbst als
ihren Style begriffen."*1)
Die bevorzugte Musik ist Soul,
Blues, Motown und Ska Music, zum
Tanzen natürlich der Beat der Small
Faces und von The Who. Oberste
Devise ist es, ein face zu sein, was
bedeutete möglichst cool und gelassen zu erscheinen und über den
Dingen zu stehen. Dazu passt natürlich der schicke Anzug, der die
nächste Party garantierende Scooter (so viele Clubs in der Stadt, das
setzt Mobilität voraus), die Musik
und die Drogen. Vornehmlich Amphetamine schaffen Energiereserven für diesen intensiven Lebens-
wandel, wie ihn die Sunday Times
wohl leicht überzeichnet darstellte.
Pete Townshend, der Regisseur von
dem Mod-Kultfilm "Quadrophenia"
sagt dazu: "Diese Leute hatten was
in sich, das sie sagen wollten, aber
sie waren so voller Drogen, dass
sie nicht sprechen konnten. Und
sie hatten auch keine Worte dazu,
weil ihre Schulbildung so schlecht
war."
Die Mods waren wohl auch die
erste subkulturelle Bewegung, die
mehr Energie darauf verwandte,
sich von der anderen (RockerSubkultur) zu distanzieren als von
der Elterngeneration. Dieses Phänomen innerpopkultureller Segregation können wir in der Geschichte
der Subkulturen zu späteren Zeitpunkten immer wieder festmachen.
Punks gegen Hippies, Popper gegen
Metaller, Grunger gegen Raver et
cetera.
Die Rocker wurden von den Mods
generell mit den Negativattributen
schmierig und verstockt belegt,
andersherum galten die Mods den
Rockern als homosexuell und zu
weich. Die Gegensätze gipfelten ab
1964 jährlich in den Unruhen an
der Südküste Englands, wo sich
Mods und Rocker gegenseitig ans
Leder gingen.
Sehr schön kann man diese Konfliktpunkte in dem 1979 erschienen
Film "Quadrophenia" nachvollziehen. Zwei Jugendfreunde treffen
sich und stellen an ihrem Outfit
fest, dass der eine zum Rocker und
der andere zum Mod geworden ist:
Rocker: "Was'n damit los?" (mit
dem Scooter)
Mod: "Hat am Laufenden Meter
Fehlzündungen"
Rocker: "Ja?! Ah, ist die Zündkerze.
Ich hab' Werkzeug mit. Wart' 'mal,
bin gleich wieder da."
Die beiden reden über ihre Maschinen, der Mod ist beeindruckt, wie
schwer sich das Motorrad starten
lässt. der Rocker erzählt dem Mod,
wie schnell seine Maschine fährt.
Rocker: "...'n bischen mehr Saft als
dein Staubsauger da"
M o d ( a u f g e b ra c h t ) : " J a ? ! "
Rocker (bestimmt): "Ja!"
Mod: "Aber das ist doch gar nicht
die Sache. Ich mein', es geht doch
nicht um die Maschine, weißt du?!
Es geht um die Typen die draufhocken. Die Typen die auf den schweren Dingern fahren sind das Letzte.
Die kann einfach keiner."
Rocker: "Was soll'n das heißen?!"
Mod: "Ich mein' die Rocker mit
ihren fettigen Haaren und ihren
dreckigen Klamotten, die kotzen
mich an."
Rocker: "Mir ist das ganze Gequatsche völlig egal von Mods und Rockern. Irgendwie sind wir doch alle
dasselbe, oder?"
Mod: "Nein, Kev, das isses ja gerade. Weißt Du, ich will eben nicht
genau dasselbe sein, was alle anderen sind. Und darum bin ich eben
Mod, verstehst Du?! Ich meine irgendjemand muss man doch sein,
oder?!"*2)
Abb. 44: Das ewige Feindbild der Mods –
Die Rocker
Abb. 45: Der Mod im Gespräch mit seinem
ehemaligen Jugendfreund, dem Rocker
*1) Johannes Ullmaier "Subkultur im Widerstreit – Mods
gegen Rocker und gegen sich selbst", S.53ff aus "alles so
schön bunt hier" - Die Geschichte der Popkultur von den
Fünfzigern bis heute, Hrsg. Peter Kemper, 1999 Reclam
*2) Zitat aus dem Film Quadrophenia von Pete Townshend
29
Scooter wurden deshalb so schnell von den Mods als
Teil ihres Lifestyles betrachtet, weil die Hersteller
Piaggio und Innocenti mit ihren modern gestylten
Modellen Vespa und Lambretta genau den Zeitgeist
trafen. Sie stellten ein praktisches Transportmittel her,
welches den Ansprüchen der Mods nach Unabhängigkeit und starker persönlicher Identität voll entsprach.
Der Scooter wurde zur Ikone der Mods. Sie veränderten
die Optik ihres Scooters, indem sie möglichst viele
Chromstahl-Accessoires, Lampen, Hupen und Rückspiegel anbrachten und damit ihre Individualität zum
Ausdruck zu bringen. Die beliebtesten Scooter dieser
Zeit waren die Vespa Sportique 150 von 1961, die
Vespa GS160 und die Lambretta TV 175 Slimstyle,
sowie die ein Jahr später erschienene Lambretta TV
200.*3)
Abb. 46: Die Fahrt überland nach Brighton
Abb. 47: Der Mod und seine Angebetete
Abb. 48: Auf dem Fahrradsektor, speziell
bei den Stadtcruisern und Choppern erlebt
die typische Mod-Ausstattung gerade ein
kleines Revival. Das Zitat ist auch eine Form
des Kompliments.
Die Identifikation mit dem fahrbaren Untersatz ist nicht
so drastisch oder innig ausgeprägt wie bei ihren Antagonisten. Das Motorrad ist für die Rocker zum zentralen
(Lebens-)inhalt avanciert. Sie greifen umgestaltend in
die Tiefe der Komponenten ein, frisieren gekonnt die
Motoren, denn die Leistung zählt. Dafür hacken sie
ab, was stört und bauen neu. Kurz und knapp: sie
erfinden ihr Motorrad. Das Motorrad wird zum Zweck.
Die Mods verwenden ihren Scooter zur Beförderung
und zur Selbstdarstellung. Die Veränderungen sind
oberflächlicher und kosmetischer Natur. Das erklärt
den Griff ins Zubehörregal der Chromstahlaccesoires.
Die "Mod"ifikationen sind wohl eher als Anbau zu
beschreiben. Die Mods betrachten den Scooter als
Mittel zum Zweck.
Wie weit der Hang zur Selbstdarstellung geht, beschreibt Dick Hebdige in einer klaren Verhaltensregel
zur korrekten Haltung auf dem Scooter während der
Fahrt. Der Fahrer hält demnach die Beine locker nach
vorne, im 45°-Winkel vom Körper abgespreizt, während
der Beifahrer seine Hände unter der Sitzbank hält und
sich lässig nach hinten lehnt.
*3) www.scooterpoint.ch
30
4.2 Die Wandlung vom "Brot-und-Butter-Fahrzeug" zum "Abenteuerspielzeug" (was war Motorradfahren vor 50 Jahren – was ist es heute?)
Das motorisierte Zweirad hat sich von einem Nutzfahrzeug vergangener Tage, das gezwungenermaßen auch
in der Freizeit gefahren wurde, zu einem reinen Freizeitund Hobbyfahrzeug entwickelt, das u. a. auch im Alltag
eingesetzt wird.
Großvaters "Töff" war noch der Universal-Lastesel für
den harten Alltag. In seiner Tätigkeit als – sagen wir
– Dorfschmied transportierte er damit Werkzeug, um
auch entlegene Baustellen zu erreichen. Es wurden im
Beiwagen oder Lastenanhänger Möbel transportiert
und am Wochenende nahm die gesamte vierköpfige
Familie darauf Platz, um Verwandte zu besuchen oder
einfach mal ins Grüne zu fahren. Der Anspruch an den
fahrbaren Untersatz war klar: Transport!
"So mobil wie möglich, so teuer wie nötig" war die
Devise. Als Mitte der 50er Jahre allmählich der Volkswagen oder der "Bulli" attraktiver wird, gerät Großvaters
Motorrad langsam ins Hintertreffen. Das Motorrad als
Zweitfahrzeug kommt noch nicht in Frage und somit
wird das ausgediente Stück in Zahlung gegen den
langersehnten Wagen gegeben oder schlechterdings
stillgelegt.
Viele deutsche Motorradhersteller kranken bereits
Mitte der 60er an sinkender Nachfrage und für viele
steht das endgültige Aus kurz bevor. Die zweite große
Krise sucht die Motorradhersteller in den 70er und
80er Jahren heim, als die mächtige, preisgünstige
Konkurrenz aus Fernost auf den europäischen Markt
drängt . Moderne Zwei- und Viertakter mit einem
ungewöhnlichen Design und radikalen Motorkonzepten
drängen auf den Markt und machen den wenigen
übriggebliebenen Motorradherstellern den Rang streitig.
Die 'neuen' Maschinen sind Sportler oder Tourer mit
einem gänzlich anderen Markenimage als die heimischen, noch aus der Nachkriegszeit gewohnten Namen,
deutscher Hersteller. EMW, Herkules, Rixe, Zündapp
und noch einige andere Hersteller gehen letzendlich
in Konkurs. Es bleiben bis heute lediglich BMW, Sachs
und MZ.
31
In den 60er Jahren avanciert das Motorrad zum Lifestyle-Objekt. Halbstarke auf ihren Kreidlern oder NSUs
gehören ebenso zum Straßenbild, wie die ganze Familie
auf der großen BMW. Geschwindigkeit, die neu gewonnene Freiheit durch Mobilität, Sex-Appeal und
Nutzwert des Motorrads befriedigen eine Gesellschaft
inmitten einer Zeit extremen Wandels. Zu einem Bruch
in der Gestaltung von Motorrädern kommt es in den
70er Jahren. Immer mehr Hersteller setzen die bewährte
Renntechnik nun auch für den Bau von schnellen,
mächtigen Sportmaschinen ein. Der Nützlichkeitsaspekt
verschwindet zugunsten der Lust an der Leistung.
Diese setzt sich in den 80ern fort. Das schnelle Motorrad wird zum Statussymbol der Macht. Hohe Geschwindigkeiten und ein rennsportliches Erscheinungsbild
werden vor allem von den asiatischen Marken Honda,
Kawasaki, Suzuki und Yamaha verkörpert. Die 90er
Jahre bedeuten eine Entdeckung von Nischenmärkten.
Sie sind ebenfalls die Geburtsstunde der Naked-Bikes
– Straßenrennmaschinen – die sämtlicher Verkleidung
befreit sind. Zunächst individuell gestaltet, wird dieser
Trend einige Zeit später durch die Industrie aufgegriffen.
Abb. 49: Der Tricker ist ein reines Funsportgerät in Anlehnung an BMX-Bikes .
32
Das Motorrad ist heute seiner nützlichen Funktion des
Transportes befreit. Das heißt allerdings nicht, dass
ihm gänzlich keine Aufgabe mehr zukommt. Es dient
als Spielzeug, Sportgerät, Fluchtmaschine, Herausforderung und natürlich als Zeichen dafür – mehr denn
je.
5. Stand des Designs – aktuelle Tendenzen in
der Motorradbranche
5.1 Motorraddesign heute: Superlativistisch – höher, schneller, weiter...
"Das eklige, kleine Biest sah aus, als sei es schon mit
140 km/h unterwegs, wenn es noch regungslos in
meiner Garage stand. Mit dem Gerät zu fahren, erwies
sich jedoch als der reine Terrror."
Hunter S. Thompson
"Neue Bikes – Stark und schnell. Suzuki GSX-R 1000,
183 PS, 163 Kilo". So, oder so ähnlich, bewirbt gerade
die Werbung in aktuellen Zeitschriften die Motorradmodelle für das Jahr 2005. Das Leistungsgewichtverhältnis moderner Motorräder nimmt mitunter bizarre
Ausmaße an. 180 PS sind schon für einen gehobenen
Mittelklassewagen eine ordentliche Leistung und
allemal ausreichend. Ein Auto bringt allerdings auch
gut und gerne eine Tonne Gewicht – hauptsächlich
Stahl, Glas, Plastik und unzählige passive Sicherheitssysteme – mit sich. Der Trend in der Motorradbranche,
ein Superbike aus der MotorGP für den Straßenverkehr
zu adaptieren, man nennt dieses Fahrzeug dann Replika,
hält ungebrochen an. Es kann von einer Phase der
Konsolidierung ausgegangen werden. Gravierende
Änderungen sind in nächster Zeit in diesem Segment
nicht zu erwarten. Die Hersteller setzen auf die Optimierung bestehender sowie bekannter Konstruktionsprinzipien und durchbrechen damit die vormals theoretisch angenommenen Leistungsgrenzen für
Motorräder ständig. Eine unglaubliche Typenvielfalt
mit unendlich vielen Modifikationsformen, sowie ständig
wechselnde Modellpalet ten sind die Folge .
Abb. 50: Superlativ 1954 – Die Vincent
Black Shadow
Abb. 51: Superlativ 1969, das hieß vier
Zylinder, 67 PS, 218 Kilogramm Gewicht
vollgetankt und ca. 195 km/h. Honda CB750
33
Vor 35 Jahren war das Non-Plus-Ultra die Honda CB750
mit gerade einmal einem Drittel der Leistung moderner
Supersportler. Schon damals riet Ernst "Klacks" Leverkus, seines Zeichens Motorradtester der ersten Nachkriegsjahre: "Das sollte man einmal sagen dürfen! Wer
mit diesem Motorrad anbändeln will, sollte erst langsam
Erfahrungen sammeln. Gerade deswegen, weil es so
wunderbar handlich und leicht und die Maschine so
fabelhaft kurvenfreudig und spurtreu ist, dass man
meist schneller ist, als man denkt."*1)
Das Aufrüsten zieht sich also durch die Geschichte
der Motorradentwicklung und ein Ende ist bislang nicht
abzusehen.
Einen gewissen Reiz hat die Sauserei aber schon. Wer
selbst einmal auf einem Supersportler gesessen hat,
weiß wovon ich rede.
Leistung wird mit Lust gleichgesetzt und die hat ihren
Preis. Die Vincent Black Shadow von 1954 vereinte in
sich exzellente Höchstleistung und modernste Materialien zu einem ansehnlichen Preis. Kurvenfreudigkeit
und Handlichkeit wurden hingegen eindeutig vernachlässigt, was wohl auch der Grund dafür ist, dass der
Club der Black-Shadow-Fahrer nicht mehr allzuviele
lebende Mitglieder zählt.
Abb. 52: Superlativ 2004 – dieses Motorrad
stellt wohl das Maximum dar, was an Leistung, geringem Gewicht und Fahrbarkeit,
vor allem Beherrschbarkeit derzeit möglich
ist.
Dass ein modernes Superbike nicht gerade billig ist,
versteht sich von selbst. Mitunter darf dafür ein ähnlicher Geldbetrag wie für den leistungsvergleichbaren
Mittelklassewagen gelassen werden.
*1) Motorrad, Ausgabe 15, 2004
34
5.2 Umdenken in der Motorradbranche
Seit geraumer Zeit ist eine interessante Entwicklung im Bereich der
Kleinstmotorräder, der Mopeds und
der Mokicks auszumachen. Kleine,
schicke und absolut puristische
Stadtvehikel erobern den Markt und
die Herzen der Käufer. Der Motor
hat 50 Kubik, was es schon 16jährigen Jugendlichen ermöglicht,
sie zu fahren. Und genau diese Klientel ist auch die Zielgruppe, denn
die Vehikel kommen in einem äußerst spartanischen aber überaus
sportlichen Erscheinungsbild daher.
Der Honda Zoomer-Roller, welcher
lediglich aus einem Sitz und einem
Lenker auf zwei Rädern zu bestehen
scheint, verbirgt eine Vielzahl interessanter Details. So bietet er unterhalb der Sitzbank vielfältige Transportmöglichkeiten. Ein Novum ist
auch der 50-ccm-Motor des kleinen
Flitzers. Der Viertaktmotor verfügt
über eine elektronische Kraftstoffeinspritzung mit einem geregelten
Katalysator. Der Rahmen liegt wie
bei den großen Naked-Bikes, die
als Vorbild dienten, offen.
Bei der Sachs MadAss handelt es
sich um ein stylistisch neu empfundenes Mokick-Konzept. Gestalterische Anlagen an die Honda Dax
von 1974 sind augenfällig. Ein gerades, armdickes Rahmenrohr, welches auch gleichzeitig als Tank
dient, verbindet, schräg nach hinten
unten, Steuerkopf und Bananenschwinge. Die Spritzschützer sitzen
knapp über den dicken Reifen. Vorn
ist eine hydraulisch gedämpfte Teleskopgabel mit großer Scheibenbremse verbaut und hinten ein Gasdruckfederbein mit stufenloser
Verstellbarkeit. Alles in allem also
modernste Fahrwerkkomponenten.
Bleibt zu hoffen, dass diese interessanten Fahrzeuge für die Fahrer
mehr als eine Übergangslösung bis
zum ersten Auto darstellen. Wenn
schon motorisierte, innerstädtische
Mobilität, dann doch diese Art der
angepassteren. Ein attraktives Angebot für die weiterführende, zweirädrige Mobilität sind diese Vehikel
allemal, wie ich finde.
Abb. 53: Honda Zoomer, 2004
Abb. 54: Sachs MadAss, 2004
Abb. 55: Honda Dax,1974
35
5.3 Sicherheitsaspekte beim Motorradfahren
Abb. 56: Typische Unfallsituation beim Frontalcrash mit Kopfaufprall: trotz aufrechter
Sitzposition kann sich der Fahrer (hier glücklicherweise ein Dummy) nicht vom Motorrad
lösen, da sich das Becken am Tank verhakt.
Abb. 57: Die fahrende Sicherheitszelle –
BMW C1
*1) Eberhard Faerber, Leiter der Fahrzeug-Crashanlage bei
der Bundesanstalt für Straßenwesen, aus Motorrad 13,
2004
36
Obwohl nur 20% aller Motorradunfälle von Zweiradfahrern selbst verursacht werden, können wir gegenüber den Autofahrern ein acht mal
höheres Unfallrisiko feststellen. Typischerweise werden Motorradfahrer bei Abbiege- und Kreuzungsmanövern schlichtweg übersehen.
Als besonders problematisch stellen
sich die immer höher werdenden
Autokarosserien (z.B. Mercedes AKlasse) aber auch die Busse, Vans
und Transporter heraus. Prallt bei
einem Abbiegemanöver ein Motorradlenker im stumpfen Winkel in
ein Fahrzeug mit steiler, hoher
Front, so schlägt er unmittelbar mit
Kopf und Oberkörper auf der Fahrzeugfront auf. Er hat keine Chance
über die Motorhaube hinwegzugleiten. Steile, hohe Fahrzeugfronten
behindern die Flugbahn des Zweiradlenkers und erhöhen deshalb
dessen Verletzungsrisiko.
Die Alternative, das Zweirad sicherer zu machen, existiert bisher nur
ansatzweise. So stießen bisher die
Versuche, Motorräder mit ABS auszustatten, auf wenig Resonanz. Ohnehin nur für große Maschinen angeboten, ist ABS vielen Kunden zu
teuer oder mit einem irrationalen
"Weichei-Image" behaftet. Einzig
BMW verkauft seine Motorräder
heute überwiegend mit ABS .
BMW hat vor einiger Zeit mit dem
Roller C1 einen weiteren Versuch
gestartet, die Philosophie der passiven Sicherheit aus dem Automobilbereich in den Zweiradbereich
zu übertragen. Der C1 verfügt über
zwei Sicherheitsgurte und wird
überwölbt von einem schmalen
Dach zwischen zwei stabilen Überrollbügeln. Der Fahrer soll weitgehend vor dem direkten Kontakt mit
Hindernissen und dem freien, unkontrollierten Flug bewahrt werden.
Frontale oder seitliche Kollisionen
mit einem Auto überlebten C1Fahrer in ihrer "Sicherheitszelle" mit
leichten Verletzungen. Die Fahrer
eines normalen Zweirades hätten
sich auf jeden Fall von ihrem Motorrad getrennt und wären auf das
Auto geprallt – mit entsprechend
schweren oder gar fatalen Folgen.
Dem Roller wird "in wichtigen, aber
nicht allen Unfallsituationen eine
Sicherheit" attestiert, "die etwa vergleichbar ist mit der eines Kleinwagens".*1)
Leider hat der C1 – nicht nur unter
Jugendlichen – ein Imageproblem.
Er sieht eben auch aus wie eine
Sicherheitszelle und erinnert nicht
mehr an das coole Dahingleiten
eines Easy Riders. Er ist ein vernünftiger Roller für vernünftige Anzugträger und zudem recht teuer: Der
16-Jährige Führerscheinneuling bekommt die gedrosselte Basisversion
ab circa 5000 Euro. Für dieses Geld
gibt es schon sehr gute, gebrauchte
Kleinwagen, die noch ein Stück
sicherer sind. Autos lassen sich
zudem auch bei wiedrigem Wetter
wie starkem Regen, Sturm und im
kalten Winter noch fahren, wenn
die meisten Biker ihr Freizeitmobil
ohnehin abmelden.
Eine andere Möglichkeit, den Fahrer
im Falle eines Crashes zu schützen,
ist dessen Anhebung über den besonders gefährlichen Bereich der
Dachkante mittels unterschiedlicher
Sitzkonstruktionen. Diese sind entweder rein mechanischer Natur wie
bei der Viergelenk- oder der HebelRollsitzbank oder in Kombination
mit einem Airbag realisiert . Die
Trägheit der Masse wird bei ersteren genutzt um eine AufwärtsVorwärtsbewegung des Fahrers zu
erreichen. Dieser hat dann zwar
immer noch mit seiner Geschwindigkeit zu kämpfen – im besten
Falle mit nur einigen Beckenblessuren im freien Flug über das Autodach – aber der fatale Kopfeinschlag in die Dachkante kann so
zumindest vermieden werden. Nebenstehenden Zeichnungen sind
die genauen Funktionsweisen zu
entnehmen. Die größten Potentiale
weist bisher das Konzept der HebelRollsitzbank auf.
Eine weitere Möglichkeit der passiven Sicherheit ist mit der Ausführung der Vorderradgabel verbunden.
Beim Beschleunigen steigt ein Fahrzeug vorne an, beim Bremsen
taucht es ab. Wird sehr stark gebremst, federt eine Teleskopgabel
stark ein und damit sinkt auch das
Kopfniveau des Fahrers. Anti-DiveSysteme sollen das Bremsnicken
verhindern. Dabei würden Gaspatronen ein Auseinanderdrücken von
Tauch- und Standrohr im Moment
des Frontalanstoßes bewirken. Damit wäre sogar ein Anheben im
vorderen Bereich möglich. Dies ist
aber auch schon mit einer älteren
Konstruktionvariante der Vorderrad-
führung möglich. Die Vorderradschwinge erwirkt durch eine simple
Umlenkung der Kräfte über ein Gelenk das genaue Gegenteil einer
Teleskopgabel beim Bremsen. Außerdem ist damit ein spurgenaueres
Fahrverhalten aufgrund der höheren
Verwindungssteifigkeit und generell
leichtere Lenkbarkeit wegen kürzerem Nachlauf verbunden.
Abb. 58: Die Viergelenksitzbank – Ein vorn
an der Sitzbank hochgezogener Bügel fängt
den Fahrer ab und bewirkt dabei eine Vorwärts-Aufwärtsbewegung der mit vier Gelenkstreben befestigten Sitzbank. Kopf und
Oberkörper werden über das gefährliche
Dachkantenniveau gehoben. Die Wirksamkeit wurde durch praktische Versuche bestätigt.
Abb. 59: Die Airbag-Hubsitzbank – Ein unter
der Sitzbank befindlicher Airbag wird über
Verzögerungssensoren im Crashfall gezündet
– die Sitzbank schnellt nach oben. Die fatalen
Folgen für den Motorradfahrer bei Fehlauslösung und die konstruktionsbedingte zusätzliche Erhöhung der kinetischen Energie
durch Beschleunigen der Aufsassen infolge
der Airbag-Zündung lassen einen praktischen
Einsatz dieser Variante eher zweifelhaft
erscheinen.
Abb. 60: Die Hebel-Rollsitzbank – Beim
Frontalcrash führen Sitz- und Aufsassenträgheit zum Lösen der Sitzarretierung und zu
einer Relativbewegung gegenüber dem Motorrad. Die Vorwärts- und Aufwärtsbewegung der Sitzbank wird hier durch entsprechende Hebel und Schienen erreicht .
Gegenüber der Viergelenksitzbank reicht
hier der Gesäßreibschluss und Abdomenformschluss zur Sitzmitnahme aus .
37
5.4 "Ich habe einen Traum..." – Gedanken zum Baukastenprinzip
Ro m a nt i ke r b e ra u s c h e n s i c h a m ä st h et i s c h e n E i n d r u c k .
Klassiker, andererseits, interessieren sich mehr für die Kausalität, für
Schrauben und Muttern.
Nicht Eindruck zählt, sondern Analyse.
Robert Pirsig
Die Horrorvorstellung der Industrie:
Entscheidung an den Kunden abgeben. Das bedeutet in erster Linie
Information aber auch eine ausgereifte Produktpalette. Zeit, etwas
zu fantasieren...
Ich habe einen Traum: Es gibt da
Firmen, die stellen Motorräder her.
Ein stabiler, schlichter Rahmen, der
diverse Anbauten erlaubt und eine
größere Version, die stärkere Motoren und wahlweise einen Seitenwagen aufnehmen kann.
Die Maschine besteht aus leicht zu
wartender, mit Großserienteilen
versehener Technik. Es sind weder
Sollbruchstellen noch grobe Konstruktionsmängel "eingeplant". Ein
extrem haltbares und wegen der
konstruktiven Einfachheit bezahlbares Motorrad.
Selbst Verschleißteile, wie Lager
usw., sind großzügig dimensioniert.
Das Geld verdienen die Firmen mit
dem Zubehör, denn das Motorrad
und seine Komponenten sind "frei
skalierbar". Wer also Verkleidung,
Einzelsitz und 120 PS braucht, der
greift ins Zubehörregal. Gerne werden Motoren von anderen Herstellern konfektioniert. Dank großzügiger Freigabepraxis und durchdachtem Rahmen kein Problem. Also
38
ähnlich der BMW 3er-Reihe, die
man vom 316 bis zum M3 in verschiedenen Ausbaustufen haben
kann. Allerdings bei meinem Traummotorrard wesentlich konsequenter
umgesetzt und vom durchschnittlich versierten Schrauber handhabbar.
Wie läuft das ab?
Gleich nach dem 16. Geburtstag
kaufe ich mir so ein Teil mit
125ccm, 15 PS und Trommelbremse. Mit 18 kommt ein 350er mit 27
PS rein, dazu Scheibenbremse.
Nach der Schule oder der Ausbildung gibt es den 600er.
Als der hinübergeht – warum auch
immer – kommt aus Geldgründen
ein 400er rein, bis die Kassenlage
den 660er hergibt. Später wechselt
das Mopped teilweise den Besitzer,
denn ich hole mir den stärkeren
Rahmen. Der alte Gepäckträger
passt natürlich weiterhin.
Geplant ist der 800er Motor und
die Doppelscheibenbremse. Der
alte Rahmen geht an einen jüngeren Kollegen, Motor und Bremsanlage nimmt er auch mit. Der Einzelsitz wird gegen eine Sitzbank
getauscht und nach reichlich neun
Monaten muss ein PersonenBeiwagen an die Maschine .
Aber wie das Leben so spielt, irgendwann transportiert der Personenbeiwagen wieder mehr Grillzeug
als Windeln und wird schließlich
gegen einen Lastenaufsatz getauscht.
Ein Satz Solo-Räder machen auch
kleinere Fahrten im Sommer möglich, während der Beiwagen so lange auf einem Berliner Multi-Tool™
steht. Mit 50 denkt man an vergangene Jugendträume und holt zusätzlich einen gebrauchten Rahmen, der mit dem 150er Motor,
Rennhöcker und Alu-Tank ein herrlich unvernünftiges Midlife-Mopped
abgibt.
Die große Felgenbremse vorne, die
Brülltüte hinten und die Stummellenker runden das Bild entsprechend ab.
Wie sieht das dann aus?
Die Standardausführung besteht
aus einem offenen Zentralrohrrahmen, der diverse Motoren aufnehmen kann und einer schraubbaren
Gespannbefestigung.
Eine gekapselte Kette treibt das
Hinterrad an, durch andere Schwingen sind Kardan oder Zahnriehmen
realisierbar.
Die Antriebsseite ist durch schlichtes Drehen der Schwinge, bzw.
der Radaufnahme, frei wechselbar.
Gegen zwei Stoßdämpfer spricht
im Grunde nichts. Aufnahmen für
Einzelfederbein o.ä. sind am Rahmen allerdings vorgesehen. Telegabel und Einfachbremsscheibe reichen erstmal aus.
Ein Großserienmotor ohne böse
Schwächen mit 600ccm und rund
50 PS reicht für alle Lebenslagen.
Das ganze Ensemble darf ruhig
etwas grobschlächtig und rustikal
daherkommen, da bin ich konservativ.
Bei Bedarf kaufe ich mir halt einen
ultraleichten Alu-Rahmen aus dem
Zubehör und hänge die Teile um.
Der Standard-Rahmen besteht aus
einem selber reparier- und weiterverarbeitbaren Material (Stahl) und
wird ohne Änderungen über einen
großen Zeitraum gebaut.
Über Reifen, Schwingen und Gabel
(-brücken) können diverse Einsatzbereiche abgedeckt werden.
Natürlich passt auch ein 250er oder
800er Motor.
Der Standardauspuff ist aus Edelstahl. Die Basis soll möglichst haltbar sein, denn verdient wird ja, wie
gesagt am Zubehör und der Aufrüstung.
Funktionierendes Besispiel ist PCHardware. Das Gehäuse ist billig,
Geld kosten die "Innereien", wenn
sie nicht nur Mittelmaß sein sollen.
Die Kiste fährt gut 160, das reicht
für die meisten Lebenslagen. Wer
mehr will, kann tunen, wie er lustig
ist, die Unterstützung kommt vom
Werk.
Abb. 61: Hans Brockhages Entwurf eines
Schaukelwagens. Er selbst zum Entwurf: "In
den Werkstätten der Hochschule arbeitete
ich an einem gedrechselten Schaukelpferd,
wie wir es von jeher kannten – Rumpf, Kopf,
Beine und die Kufen. Als Mart Stam mir bei
der Arbeit zusah, sagte er mit seinen Worten
in gebrochenem Deutsch so ungefähr: 'Überlege – wenn gedrechseltes Pferd umfällt,
ist Pferd tot. Du musst machen Pferd, das
nicht tot ist, wenn fällt um.' Das war der
eigentliche Impuls zum Entstehen dieses
Spielgerätes."
39
6. Ausgangslage – Stand der Technik
Wir können schon auf mittelfristige Sicht nicht mehr voraussetzen, dass die fossilen Energieträger, auf die
unsere Energiewirtschaft aufgebaut ist, weiter zu den gleichen Bedingungen benutzt werden können. Dafür
gibt es zwei Gründe. Die Vorräte sind begrenzt. Die theoretischen Reichweiten der Erdölvorräte liegen bei noch
einigen Jahrzehnten, die für Erdgas bei einigen Jahrhunderten. Wegen des zunehmenden Förderaufwandes,
bei fortschreitender Erschöpfung eines Förderfeldes, ist allerdings schon dann, am Anfang vom Ende, mit
kräftigen Kosten- und Preissteigerungen zu rechnen. In Deutschland gibt es beispielsweise einige Vorkommen
von Ölschiefer. Die Gewinnung von Rohöl aus diesem Edukt erweist sich als teuer und aufwändig, so dass diese
Methode zwar auch zu Treibstoff führt, der Import aber um ein Vielfaches billiger ist. Wir können das, was wir
haben, nicht einfach verheizen, weil wir mit der Freisetzung von (bisher dem Kreislauf entzogenem CO2) in das
Gleichgewicht der Atmosphäre eingreifen. Wegen der komplexen Zusammenhänge im System Weltklima ist
es schwer, die Folgen im einzelnen bzw. genau vorherzusagen. Fest steht aber, dass wir mit der globalen
Erwärmung an dem Ast sägen, auf dem wir sitzen.
Wasserstoff, als Treibstoff der Zukunft, wurde in den letzten Jahren wieder zum großen Thema. Ist es doch das
häufigste Element des Universums, theoretisch in unendlichen Mengen erzeugbar, verbrennt zu nichts als
Wasser und könnte die schadstoffarme Mobilität der Zukunft bedeuten.
6.1 Die Nutzung von Wasserstoff als Energiespeicher zum Antrieb
"Das Wasser ist die Kohle der Zukunft. Die Energie
von morgen ist Wasser, das durch elektrischen Strom
zerlegt worden ist. Die so zerlegten Elemente des
Wassers, Wasserstoff und Sauerstoff, werden auf
unabsehbare Zeit hinaus die Energieversorgung der
Erde sichern."
aus der sog. Reformierung von Erdgas oder Methanol,
durch Elektrolyse von Wasser (Wasserspaltung in
Wasserstoff und Sauerstoff durch das Zuführen von
Strom) oder durch Bakterien und Algen, welche mit
Hilfe von Sonnenlicht und Abfällen aus der Zuckerrübenver wertung Wasserstof f produzieren. * 1 )
Jules Verne
Wasserstoff kann eine Rolle übernehmen, die der von
Erdöl und Erdgas sehr ähnlich ist. Auch diese sind
eigentlich Speicher- und Transportmittel für Sonnenenergie der Vergangenheit. Nur sind sie leider nicht
unbegrenzt vorhanden, und ihr Verbrauch ist auf die
Dauer und im heutigen Maß nicht umweltverträglich.
Wasserstoff ist das häufigste Element im Weltall, er
stellt über 90% aller Atome und rund 3/4 der gesamten
Masse. Auf der Erde ist der größte Teil des Wasserstoffs
in Wasser gebunden, daher das chemische Symbol H
für Hydrogenium. Wasserstoff kommt aufgrund seiner
Flüchtigkeit nicht natürlich auf der Erde vor, er muss
hergestellt werden. Gewonnen wird Wasserstoff entweder auf dem Weg über die fossilen Energieträger,
40
Der große Vorteil von Wasserstoff ist seine hohe
Energiedichte und die Eignung zum Speicher- und
Transportmedium für Energie. Wasserstoff hat schon
eine längere Geschichte in der Beförderung (dazu
später etwas mehr) aber seit circa 20 Jahren wird am
Einsatz des Wasserstoffes für die terrestrische Mobilität
gearbeitet und fast alle namhaften Automobilhersteller
haben mittlerweile einen fahrbaren Prototypen vorzuweisen. Die Strategien sind allerdings äußerst unterschiedlicher Natur. Während beispielsweise Mercedes,
Ford oder Opel auf die Brennstoffzelle zur Speisung
von Elektromotoren setzen, konzentriert sich BMW auf
den Betrieb herkömmlicher Verbrennungsmotoren mit
Wasserstoff.*2) Dabei wird der Wasserstoff, wie das
Benzin-Luft Gemisch, direkt in den Brennraum eingespritzt und entzündet. BMW will die letzte Modellreihe
der 7er, gegen Ende 2005 mit diesem Hybridantrieb
ausgestattet haben.
*1) http://techni.chemie.uni-leipzig.de
*2) Tobias Nagel, Brennstoffzelle und Mobilität, HKD Halle
6.2 Möglichkeiten der Speicherung
Um Wasserstoff als Brenngas für BrennstoffzellenAnwendungen und als industrielles Ausgangsprodukt
zur Verfügung zu stellen, muss er nach seiner Erzeugung
zwischengespeichert werden. Bei der Speicherung
von Wasserstoff wird zwischen der Speicherung im
flüssigen, gasförmigen oder chemisch gebundenen
Zustand unterschieden.
Abb. 62: Modell eines Flüssigwasserstoffspeichers der Firma Linde
Innenbehälter
Superisolation
Außenbehälter
Standsonde
Füllrohr
Innenbehälterabstützung
Gasentnahme
Flüssigentnahme
Flüssigwasserstoff
(-253°C)
Befüllstutzen
Sicherheitsventil
gasförmiger
Wasserstoff
(+20°C bis +80°C)
Hauptabsperrventil
elektrischer Heizer
Trocknerwärmetauscher
Kühlwasserwärmetauscher
41
6.2.1 Die Flüssigspeicherung in vakuumisolierten Behältern
In Bezug auf eine zukünftige Wasserstoff-Infrastruktur wird die Speicherung des Wasserstoffes in flüssiger Form als besonders attraktiv
betrachtet. Bei einer Temperatur
von –253 ° Celsius beansprucht
flüssiger Wasserstoff nur noch etwa
ein Fünftel des Volumens vom gasförmigen, hoch komprimierten Zustand. Somit hat flüssiger Wasserstoff einen wesentlich höheren
Energiegehalt pro Menge als komprimiertes Gas. Die Speicherung
und der Transport von großen Mengen erscheinen dadurch besonders
wirtschaftlich.
Die Speicherung des Wasserstoffes
im flüssigen Zustand ist ,vor allem
beim Einsatz in mobilen Anwendungen, sehr vorteilhaft. Nachteilig ist,
dass die Verflüssigung von Wasserstoff einen mehrstufigen Abkühlungsprozess erfordert, der sehr
energieaufwändig ist. Außerdem
werden sehr hohe Anforderungen
an das Speichermedium bezüglich
der Isolation gestellt, um eine Umwandlung in den gasförmigen Zustand und eine Verflüchtigung des
Wasserstoffes zu verhindern.
Um akzeptable Reichweiten zu erlangen, scheint das Projekt von
BMW mit Flüssigspeichern am sinnvollsten. Die Tanks sind doppelwandig ausgeführt. Dazwischen befinden sich in einem Vakuum etwa 50
Lagen aluminiumbeschichteter
Kunststofffolien.
Die Tankisolierung ist so gut, dass
bei hohen Außentemperaturen zwischen 2 und 3 Tagen kein Treibstoff
verloren geht. Erst wenn der Druck
im Tank durch die langsame Erwärmung über 5 bar ansteigt, werden
täglich ca. 3% des Volumens über
ein Abblasventil ausgestossen. Der
Druck wird somit konstant gehalten.
6.2.2 Die gasförmige Wasserstoffspeicherung in Druckbehältern
Abb. 63: Prototyp eines neuartigen Druckbehälters für Wasserstoff
Abb. 64: Innere Struktur des Druckbehälters
42
Gasförmiger Wasserstoff wird mit
einem deutlich höheren Druck als
flüssiger Wasserstoff in Druckbehältern gespeichert . Je höher der
Druck im Behälter, desto größer ist
auch die Speicherdichte. Derzeit
wird gasförmiger Wasserstoff bei
einem Druck zwischen 200 und
350 bar in einem zylinderförmigen
Behälter, mit annähernd halbkugelförmigen Endkappen gespeichert.
Traditionell sind diese Behälter aus
Stahl gefertigt oder sie bestehen
aus einer, mit Karbonfasern umwikkelten, Aluminumflasche. Druckgasspeicher werden überall dort eingesetzt, wo genügend Platz für die
Unterbringung vorhanden ist, also
beispielsweise auf dem Dach oder
im Unterboden von Bussen.
Die große Herausforderung besteht
derzeit darin, die Speichermedien
für den mobilen Einsatz so leicht
wie möglich zu halten, auf der anderen Seite aber den Füllgrad drastisch zu erhöhen. Speichermedien,
die für einen Druck von ca. 700 bar
geeignet sind, befinden sich im
Entwicklungs- und Prototypenstadium. Sie sollen annähernd genausoviel Wasserstoff aufnehmen können, wie ein im Volumen vergleichbarer Flüssigwasserstoffspeicher.
Durch eine axiale Verstärkung, die
als Kohlefasernetz durch den Speicherkörper hindurch geführt wird,
lässt sich eine nahezu 100%ige Ausnutzung der Materialeigenschaften
(Zugbeanspruchung) für die Festigkeitsstruktur der Druckbehälter erreichen.
Man kann also gespannt sein, bis
zu welchem Füllungsgrad und
Druck diese Fertigungsmethode
ausreifen wird.
6.2.3 Die Speicherung im chemisch gebundenen Zustand
Der Metallhydridspeicher
Einige metallische Elemente, intermetallische Verbindungen und
mehrphasige Legierungen, können
Wasserstof f , ähnlich einem
Schwamm, aufsaugen. Das ermöglicht eine wesentlich höhere Speicherdichte als im flüssigen Zustand.
Beispiele hierfür sind Aluminium,
Magnesium und Palladium, LaNi5
und TiNi-Ti2Ni.*1) Die Wasserstoffatome bilden dabei im Kristallgitter
dieser Metalle Einlagerungs- oder
Zwischengitteratome und werden
chemisch gebunden. Die Anlagerung des gasförmigen Wasserstoffes erfolgt bei einem Druck von 0
bis 60 bar. Die Erhöhung des Drukkes hat eine steigende Wasserstoffkonzentration im Kristallgitter zur
Folge. Wird der Sättigungsgehalt
von Wasserstoff erreicht, zerfällt
das ursprüngliche Metall in feines
Pulver.
Bei der Einlagerung des Wasserstoffes entsteht Reaktionswärme. Diese
muss abgeführt werden, um die
Reaktion und somit die weitere
Anlagerung des Wasserstoffes zu
gewährleisten. Um den Wasserstoff
bei Bedarf entnehmen zu können,
muss diese Wärmeenergie wieder
zugeführt werden. Die Reaktionswärme ist abhängig vom eingesetzten Metall und vom zugeführten
Druck. Deshalb muss, je nach Einsatzgebiet, eine geeignete Variante
gewählt werden.*1
Der Wasserstoff erreicht bei dieser
Methode gegenüber dem flüssig
komprimierten eine Dichte von
mehr als dem Doppelten. Deutlicher
Nachteil derartiger Speicher ist ihr
großes Gewicht. Ihr besonderer
Vorteil besteht jedoch in ihrer außerordentlichen Sicherheit. Auch
beim Erhitzen lecker Speicher tritt
Wasserstoff nur langsam aus .
Die Graphit-NanofaserSpeicherung
Bei der Graphit-Nanofaser-Speicherung kommt ein Werkstoff auf
Kohlenstoffbasis zum Einsatz. Diese
Art der Speicherung wird schon
jetzt als die revolutionäre Speichertechnologie für Wasserstoff bezeichnet.*1) Der Wasserstoff lagert
sich zwischen einzelnen Schichten
aus Graphitfasern mit Querschnitten von 5 bis 100 Nanometern und
Längen von 5 bis 100 Mikrometern
ein. Dabei ergibt jedes Gramm Kohlenstoff etwa 30 Liter Wasserstoff.
Graphit-Nanofasern sind also in der
Lage, 75% des eigenen Gewichtes
in Wasserstoff zu speichern. Die
Betankung des Speichers erfolgt
mit einem Druck von ca. 136 bar
und nimmt etwa 4 bis 24 Stunden
in Anspruch. Der Speicherinnendruck beträgt 40 bis 50 bar. Bei
einer Druckreduzierung entweicht
der Wasserstoff bis zu 95%. Der
Einsatz dieser Speichertechnologie
in einem PKW mit Brennstoffzellenantrieb bedeutet, dass eine Reich-
weite von ca. 6000 km erzielt werden kann.*1)
Für ein Fahrzeug im innerstädtischen Einsatz heisst das, dass der
"Tank" lediglich alle ein bis zwei
Jahre nachgefüllt werden muss.
Eine andere Möglichkeit wäre, den
leeren Wasserstoffspeicher gegen
einen Vollen in einer Art Rücknahme- oder Pfandsystem zu tauschen.
Nachteil dieser Speichermethode
ist die begrenzte Wiederholbarkeit
des Tankvorganges. Dieser kann
nämlich nur vier bis fünf mal erfolgen.
*1) http://www.wbzu.de
43
6.3 Zur Geschichte der Brennstoffzelle
"Haben wir ein galvanisches Element, welches aus Kohle und dem
Sauerstoff der Luft unmittelbar elektrische Energie liefert ...,dann stehen
wir vor einer technischen Umwälzung, gegen welche die bei der Erfindung
der Dampfmaschine verschwinden muss. Denken wir nur, wie ... sich das
Aussehen unserer Industrieorte ändern wird! Kein Rauch, kein Ruß, keine
Dampfmaschine, ja kein Feuer mehr."
Wilhelm Ostwald
1839 beschrieb der Physiker William Robert Grove eine galvanische
Gasbatterie. Durch die sog. kalte
Verbrennung von Wasserstoff mit
Sauerstoff sollte sie – mit einen
Wirkungsgrad von nahezu 100 Prozent – elektrischen Strom liefern.
Einer der ersten Wissenschaftler,
der die Bedeutung dieser Entdekkung erahnte, war wohl Wilhelm
Ostwald, welcher seit 1887 Direktor
des ersten Lehrstuhls für physikalische Chemie in Leipzig war. Im
Jahre 1894 beschreibt Ostwald seine visionären Ideen über die "wissenschaftliche Elektrochemie der
Gegenwart und ... der Zukunft" (wie
oben erwähnt).*1)
Gleichzeitig räumte er aber bereits
ein, dass es noch ein weiter Weg
von dieser Idee bis zu einer technisch funktionierenden Maschine
44
ist: " ...denn bis diese Aufgabe einmal ernst in Angriff genommen
wird, wird noch einige Zeit vergehen. Aber dass es sich hier nicht
um eine unpraktische Gelehrtenidee
handelt, glaube ich allerdings annehmen zu dürfen."*1)
Wie recht Ostwald mit seinen Vorhersagen hatte, lässt sich an der
langwierigen Entwicklung der
Brennstoffzelle ersehen. Die ersten
brauchbaren Brennstoffzellen wurden nämlich erst in den 50er Jahren
entwickelt, um sie zur Stromversorgung an Bord der Satelliten des
amerikanischen Raumfahrtprogramms zu verwenden. Hier spielt
sowohl der "astronomische" Preis
dieser Geräte, als auch die extremen Reinheitsanforderungen an
die verwendeten Gase keine Rolle.
Später macht das Militär von der
Brennstoffzelle Gebrauch und nutzt
sie u.a. für den emissionslosen und
geräuschfreien Antrieb von Elektromotoren in U-Booten. Diese haben
den Vorteil, dass sie durch das feindliche Sonar nicht mehr zu orten
sind. Auf der Suche nach neuen,
von fossilen Kohlenwasserstoffen
unabhängigen, Energiequellen und
mit gestiegenen Umweltbewusstsein wird gegen Ende der 80er
Jahre erstmals ein breites Interesse
an der Brennstoffzelle geweckt. Die
Forschungsanstrengungen zu deren
Realisierung werden deutlich verstärkt. Insbesondere der Aspekt,
dass die Brennstoffzelle eine Möglichkeit zur kohlendioxidfreien Erzeugung von Strom darstellt, macht
sie sowohl für die stationäre als
auch für die mobile Nutzungen äußerst attraktiv.
*1) http://techni.chemie.uni-leipzig.de
6.4 Zur Funktionsweise der Brennstoffzelle
Aus der Reaktion von Wasserstoff mit Sauerstoff
entstehen Wasser und Strom. Der Wasserstoff wird
hierbei nicht verbrannt wie in der Direkteinspritzung
in einem Verbrennungsmotor – der Wasserstoff reagiert
kalt.
Die gängiste Variante ist die PEM-Brennstoffzelle (Proton
Exchange Membran). Kern dieser Brennstoffzelle ist
eine protonleitende Kunststofffolie. Sie trennt die
Reaktionsgase, Sauerstoff und Wasserstoff, voneinander. Die Folie ist nur Zehntelmillimeter dick und trägt
auf beiden Seiten eine hauchdünne Platinschicht als
Katalysator. Diese zerlegt den Wasserstoff in positive
Protonen und negativ geladene Elektronen. Die Protonen wandern durch die Folie zum Sauerstoff, mit dem
sie sich zu Wasser verbinden und zum Auspuff entweichen. Für die Elektronen ist die Membran dicht. Sie
bleiben zurück und nehmen den Umweg über den
Verbraucher. Durch den Elektronenüberschuss auf der
Wasserstoffseite und den Elektronenmangel auf der
Sauerstoffseite bilden sich Plus- und Minuspol. Verbindet
man die beiden Seiten der Trennfolie miteinander,
fließt elektrischer Strom.
Abb. 65: Die Protonen leitende Kunststofffolie trennt Wasser- und Sauerstoff voneinander. Eine Platinschicht zerlegt den Wasserstoff in negativ geladene Elektronen und
positive Protonen. Die Protonen wandern
durch die Folie zum Sauerstoff. Die Elektronen nehmen den Umweg durch den E-Motor,
der durch diesen elektrischen Strom angetrieben wird.
Abb. 66: Zusammensetzung eines Brennstoffzellenstacks
Abb. 67: Eine Brennstoffzelle in Funktion
In einem Brennstoffzellenstack (stack = Stapel) sind
viele dieser Komponenten sandwichartig hintereinander
gekoppelt, um die gewünschte Spannung. Die Bezeichnung "Brennstoffzelle" kann jedoch etwas irreführen,
da die "Verbrennung" bei relativ moderaten Temperaturen von 60-80°C stattfindet.
Noch ist die Herstellung einer Brennstoffzelle verhältnismässig teuer, da für den Platinkatalysator das
teuerste und rarste Edelmetall der Erdkruste Verwendung finden muss. Um marktfähige BrennstoffzellenAntriebe bauen zu können, wird die Industrie demnach
vor allem eines erreichen müssen: den Herstellungspreis
drastisch senken. Die Herausforderung an Chemiker
weltweit heißt also, Ersatzstof fe zu finden.
45
6.5 Der Einsatz von Brennstoffzellen in der mobilen Anwendung
Der heutige Bedarf an Mobilität
führt zu einer immensen Verkehrsbelastung und damit zu extremen
Emissionen im Straßenverkehr. Elektrofahrzeuge haben am Fahrzeug
selbst keine Emissionen, besitzen
aber mit Batteriespeicher eine relativ geringe Reichweite und einen
schlechten Wirkungsgrad bei langen Ladezeiten. Etwa 70% aller
Fahrten erfolgen im Stadtverkehr.
Da die Brennstoffzelle einen hohen
Wirkungsgrad bei einer Teillastbeanspruchung, wie es in der Stadt
oft der Fall ist, hat, könnte man
dort die Emissionen deutlich reduzieren.
Abb. 68 u. 69: Studie von Peugeot für ein
emissionsfreies Freizeitmobil, das eine Reichweite von max. 130 Kilometern hat – Die
Besonderheit dieses zweisitzigen, offenen
Vierraders ist eine Brennstoffzelle, die Energie
für die vier in den Radnaben platzierten
Motoren liefert.
Abb. 70: Der Einsatz in der Mobilität. Drehzahlmesser gibt es nicht mehr, denn der
wird durch einen kW -Meter ersetzt .
46
Seit 1994 hat DaimlerChrysler mit
bisher 10 Prototypen gezeigt, dass
die Brennstoffzellentechnologie
fahrzeugtauglich ist. Beim NECAR
1 ("New Electric Car") von 1994
nahmen die 800 Kilogramm schweren Komponenten noch die gesamte Ladekapazität eines MercedesBenz Transporters in Anspruch. Der
Nachfolger, NECAR 2, eine Mercedes-Benz V -Klasse, war dagegen
zwei Jahre später bereits mit sechs
Sitzplätzen und 100 km/h ein voll
nutzbares Fahrzeug. Mit dem ersten
Bus NEBUS verließ 1997 die Brennstoffzellentechnologie endgültig das
Laborstadium. Mit einer einzigen
Wasserstoff-Tankfüllung hat der
NEBUS eine Reichweite von 250
Kilometern und bewältigt so leicht
das für einen Linienbus typische
Tagespensum von 140 bis 170 Kilometern. Ebenfalls 1997 wurde der
NECAR 3, eine Mercedes-Benz A-
Klasse, vorgestellt. An Bord des
Fahrzeugs wird der Wasserstoff aus
Methanol erzeugt wird. Damals
brauchte das gesamte ReformerSystem noch so viel Platz, dass im
Testauto nur zwei Fahrgäste Platz
fanden. NECAR 4, ebenfalls eine AKlasse von 1999, fährt mit Wasserstoff und bietet fünf Personen plus
Gepäck ausreichend Platz. Mit dem
NECAR 5 gelang es im Jahr 2000,
den gesamten Antrieb mit Methanol-Reformer-System im SandwichBoden der A-Klasse unterzubringen.
Im Jeep Commander 2, der 2000
erstmals präsentiert wurde, liefert
ein Brennstoffzellensystem zusammen mit einer Batterie den notwendigen Strom für den Elektroantrieb.
Als Kraftstoff wird Methanol eingesetzt, welches dann wiederum an
Bord in Wasserstoff reformiert wird.
2003 werden 30 Stadtbusse an 10
europäische Städte ausgeliefert,
die dort ihren Beitrag zu einem
emissionsfreien und geräuscharmen öffentlichen Nahverkehr leisten. 2004 werden die ersten Pkw
in begrenzten Stückzahlen ausgeliefert. Es ist geplant, Ende des
Jahrzehnts mit größeren Stückzahlen auf den Markt zu kommen.*1)
Noch im Forschungsstadium befindet sich bei DaimlerChrysler die
Direktmethanol-Brennstoffzelle. Ihr
werden große Entwicklungspotentiale und Zukunftschancen eingeräumt. Mit einem Go-Kart wurde
die Machbarkeit dieser Technologie
bereits unter Beweis gestellt .
Betrachtet man nun diese Brennstoffzellenfahrzeuge unter gestalterischen Aspekten, muss man feststellen, dass sich seit den ersten
rollenden Großraum-Laboratorien
nicht viel verändert hat. Zwar wurde
Größe und Schwere der Aggregate
zur Wandlung von Wasserstoff erheblich reduziert und mittlerweile
findet die neue Technologie unter
der Motorhaube von Serienfahrzeugen Platz, doch sind diese Fahrzeuge für den Einsatz von Verbrennungsmotoren konzipiert worden.
Dabei erschließen sich gerade hier
für die Gestaltung völlig neue Horizonte. Die Brennstoffzelle kann an
beliebiger Stelle untergebracht werden, ebenso die dazugehörige Technik. Die Antriebseinheit – der Elektromotor ist völlig anders strukturiert
als der herkömmliche Verbrennungsmotor – muss nicht zwingend
eine zentrale Einheit sein, sondern
es sind auch viele, auf die Räder
verteilt, denkbar. Somit ergibt sich
ein vollkommen differentes Komponenten-Layout und damit kann über
völlig neue Nutzungshintergründe
und Funktionen nachgedacht werden.
Abb. 71: Go-Kart mit Hochdrucktank und
Brennstoffzellenantrieb von der Fachhochschule Wiesbaden
Abb. 72: Die wichtigsten Komponenten der
Brennstoffzellentechnologie zum Antrieb
eines Zweirades
*1) Manfred Ronzheimer, ScieCon, www.berlinews.de
47
6.6 Betankung eines Flüssigwasserstoffspeichers
Bevor es losgehen kann, stellt sich
aber noch eine andere Frage: Wie
kommt der Wasserstofftiger überhaupt in den Tank? Wer würde
schon gerne mit einem -253°C kalten Tankarm herumhantieren?
Für dieses Problem wurde eine gute
Lösung entwickelt: die vollautomatische Tankstelle. Dieser Prototyp
befindet sich am Münchner Flughafen und erfüllt seine Arbeit täglich.
Die Tankstelle ist ein Gemeinschaftsprojekt von vielen namenhaften
Firmen wie MAN , BMW, ARAL,
Linde und Siemens.
Fährt man in die Tankstelle hinein,
steckt man lediglich noch seine
Abb. 73: Automatisiertes Betanken von Wass e r sto f f d u r c h e i n e n Ta n k ro b ot e r
Abb. 74: Projekt einer H2-Tankstelle am Flughafen München
Nachdem eine Portion Helium die
Restluft herausgespült hat, beginnt
die Betankung mit dem flüssigen
Wasserstoff. Nach knapp drei Minuten hat man die Tankstelle wieder
verlassen und einen gefüllten Tank.
Da es erst zwei dieser Wasserstofftankstellen in Deutschland gibt, ist
es noch unmöglich, auf einen weiteren eingebauten Benzintank zu
verzichten. Nachdem der Wasserstoff verbraucht ist, kann auf Benzinverbrauch umgeschaltet werden.
6.7 Gefahren und Probleme von Wasserstoff
Molekularer Wasserstoff ist ein
leicht brennbares Gas. Beim Mischen mit Luft zu einem Volumengehalt von 4% bis 76% Wasserstoff
entsteht Knallgas, das bereits durch
einen wenig energiereichen Funken
zur Explosion gebracht werden
kann. Weiterhin reagiert es heftig
mit Chlor und Fluor. D 2 O, auch
schweres Wasser genannt, ist giftig
für viele Lebewesen. Allerdings ist
die für Menschen gefährliche Menge recht groß.
Wird molekularer Wasserstoff in
einfachen Metalltanks gelagert, so
kommt es wegen der geringen Molekülgröße zu Diffusion, d.h. Gas
48
Chipkarte mit dem Guthaben in
eine Konsole. Inzwischen sucht und
öffnet der Tankarm schon den Tankdeckel und dockt an.
tritt langsam aus. Dies ist insbesondere für mit Wasserstoff betriebene
Fahrzeuge problematisch, wenn
diese lange an einem abgeschlossenen Platz (Garage, Tiefgarage)
stehen. Flüssiger Wasserstoff in
Metalltanks neigt bei Beschädigungen oder Lecks zur Selbstentzündung.
Bei kleinen Lecks in Flüssigwasserstoff- oder Hydridspeichern ist das
Phänomen des Selbstverschließens
durch den austretenden, gefrierenden Wasserstoff zu beobachten.
Oberste Prämisse ist es, den Sicherheitsaspekt in der Gestaltung zu
berücksichtigen.
7. Forderungskatalog an den gestalterischen
Teil – Synthese – Konzeptansatz
Der Brennstoffzellenantrieb braucht ein Image: Ein
funktionierendes Vehikel, welches die Verwendbarkeit
und Zukunftsfähigkeit von Wasserstoff als Antrieb
zuverlässig demonstriert.
Einige dieser Fahrzeuge bewegen sich gerade auf
Rekordfahrt (in puncto Durchführbarkeit oder niedriger
Verbrauch) quer durch Europa. Sie sind um die Popularisierung der Brennstoffzellen-Technologie bemüht.
Meine Konzeption eines brennstoffzellenbetriebenen
Fortbewegungsmittels möchte über die reine Durchführbarkeit einer solchen Etappe hinausgehen. Sie ist
in den nächsten fünf bis zehn Jahren anzusiedeln. Das
einwandfreie Funktionieren des Antriebes wird, bei
voll ausgeschöpftem Entwicklungspotential, gewährleistet sein. Die Kommunikation der Antriebstechnologie
wird über das Erscheinungsbild und Zusatzfunktionen
stattfinden. Die Verfügbarkeit von elektrischem Strom
unterwegs ist beispielsweise ein Aspekt, der näherer
Betrachtung wert ist. Ebenfalls ist dem Transport von
Beifahrern oder von Gütern, im Kontext einer immer
stärker wachsenden Verkehrsdichte in den Städten,
Beachtung zu schenken. Ein wichtiger Gesichtspunkt
der Gestaltung ist ebenfalls das Geräusch der Elektromotoren. Im innerstädtischen Verkehr kann ein leiser
Antrieb leicht überhört werden. Deswegen ist es evtl.
sinnvoll, sich mit Warnsystemen oder Lautgebern
auseinanderzusetzen ("Loud pipes save lives"). Kurz
und knapp: die Usability des Fahrzeuges steht im
Vordergrund.
Identifikationsangebote an den Nutzer sollen, neben
der Gewissheit eine saubere Technologie zu verwenden,
durch die Möglichkeit des Selbst-Gestaltens geschaffen
werden.
Einsatzbereich
Nische:
z.B. "Reise um die Welt"
Zusatznutzen
Schutz
Brennstoffzelle, Tank &
passive Sicherheissysteme
(Lautgeber)
Verfügbarkeit von
Elektrizität
Beifahrer, Gepäck etc.
Nutzung
Anbauen &
Umbauen
Transportmöglichkeiten
Fahrer
Fahrzeug
E-MotorenDirektantrieb
für verschiede
Einsatzzwecke
Kartuschensystem
chemische Speicherung
= kein Tanken
dezentral in der
Radnabe
Kommunikation
Präsenz & Funktion
der Brennstoffzelle
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Bildverzeichnis
01, 02 Foto eines meiner Kellerprojekte
03 www.biol.rug.nl/miniatuurfietsen
04,11,21 Foto Technische Sammlungen, Dresden
05, 06 Preisliste für Fahrräder 1904
07 Canyon Bikes, www.canyon.de
08 Automobility
09 www.goldengala.it
10 www.motoforum.pl
12 www.mazda.de
13, 23, 26, 28-37, 39, 4, 50The Art of the Motorcycle
14 www.tu-clausthal.de
15 www.audi100-online
16 www.der-wankelmotor.de
17 www.fen-net.de-joachim.fritz-hercules
18 www.in.gr/auto
19 www.bimbo.fjfi.cvut.cz
20 www.theautomobile.ndirect.co.uk
24, 25, 63, 66, 67, 71 Hannover-Messe 2004
27 www.moto.it
38 www.gonemovies.com
40 www.oaklandmc.org
42-47 Standbilder aus Pete Townshends Film Quadrophenia
48 www.thechopperdome.nl
51 www.home.planet.nl/~motors-20th---century
52 www.uni-mainz.de/~lackmann
53, 56 www.motorrad.de
54 Katalog von Sachs zur Markteinführung der MadAss
55 www.ebay.de
57 www.bmw.it
58-60 Diplomarbeit Stefan Lerm
61 Heinz Hirdina, "Gestalten für die Serie" – Design in
der DDR, S. 32
62 www.wbzu.de
64 www.wti-mv.de
65, 70 www.autobild.de
68, 69 www.spiegel.de
73, 74 Diplomarbeit Tobias Nagel
Erklärung
Hiermit erkläre ich, Stefan Oßwald, dass die Arbeit von mir selbst und ohne fremde Hilfe angefertigt wurde.
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