WEIN,WeinUND NOCHMALS WEIN!
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WEIN,WeinUND NOCHMALS WEIN!
EUROPAS KULTLOKALE Eine Spelunke mit Geschichte und strengen Vorschriften: In der „Antica Bottega del Vino“ blüht die Veroneser Gastlichkeit. Nur Abstinenzler sitzen hier auf dem Trockenen TEXT: CHRISTIAN SEILER, FOTOS: STEFANO SCATÀ enn man Verona auf die beiden Koordinaten reduziert, denen das konzentrierte Interesse der Mehrzahl seiner Gäste gilt, dann besteht die Provinzhauptstadt aus genau zwei Punkten: der Arena, wo im Sommer im ehemals römischen Amphitheater berückend gesungen wird, und dem angeblichen Wohnhaus Julias (der von „Romeo und Julia“, dem Weltdrama, das Meister Shakespeare bekanntlich in Verona verortete). Zur Arena reisen Opernfans aus aller Welt mit Flugzeugen und Bussen an; im Torbogen zu Julias Haus haben zahllose Romantiker ihre Liebesschwüre mit Filzstift hinterlassen, und die Brust der Bronzestatue, welche die „Giulietta“ verkörpert, ist blank gescheuert, weil ihre Berührung für lebenslanges Liebesglück bürgen soll. Verbindet man Arena und Casa di Giulietta mit einer Geraden, kommt dabei etwa der Verlauf der Via Giuseppe Mazzini heraus, der wichtigsten Einkaufsstraße Veronas. Wenn man dieser jedoch zu zielstrebig folgt, vergisst man vielleicht, an der Via Scudo di Francia abzubiegen – und das wäre ein Fehler. In besagter Seitengasse befindet sich nämlich die „Antica Bottega del Vino“, und diese dunkle, von schwerem Holz, warmem Licht und unzähligen Weinflaschen geprägte Spelunke kann man ohne Übertreibung als Königreich der Veroneser Gastlichkeit bezeichnen. Die „Bottega“ hat alles, was ein famoser Ort seinen privilegierten Gästen bieten kann: augenblicklichen Familienanschluss, für jede Gelegenheit den richtigen Happen zu essen und natürlich, als Pforte ins Glück, strenge Vorschriften. Wasser gibt’s nur als Begleitung zum Wein, kein Bier, Kaffee nur als Abschluss zum Essen. „Heißen wir ‚Bottega del Caffè‘?“, fragt der freundliche Oberkellner Romario Paulet rhetorisch. Dann verweist er auf die monumentale Schreibtafel, eingefasst von einem goldenen Barockrahmen, die das Tagesangebot an offenen Weinen präsentiert: weiß, rot, süß, sprudelig. Dazu gibt es, gleich neben dem Eingang appetitlich in eine Vitrine geschichtet, cicchetti wie in Venedig: winzige Brötchen mit Culatello-Schinken, Weichkäse mit mostarda, den köstlichen mit Senfkörnern eingelegten Früchten, Polenta mit der W Wein WEIN, UND NOCHMALS WEIN! herrlichen dicken Kochwurst Cotechino, frittierte Sardellen und Semmeln mit Mortadella. Kann gut sein, dass man in der „Bottega“ nicht weiter kommt als bis hierher, dass man im Stehen isst und dazu viele Gläser Franciacorta trinkt, bis man bemerkt, dass man jetzt auch den Mantel ausziehen und sich setzen könnte. Wahrscheinlich sind eh alle Plätze an den dunklen, schweren Biedermeiertischen besetzt, die vorne im Eingangsraum gegenüber der Bar stehen: von älteren Herren mit norditalienischem Akzent, denen die „Bottega“ längst ein zweites Wohnzimmer geworden ist. Manche von ihnen kommen zweimal täglich, manche dreimal, manche nur einmal; die bleiben dann allerdings von halb elf bis kurz vor dem Abendessen, wandern von Tisch zu Tisch und erörtern in wechselnder Zusammensetzung, was sich seit gestern in der Welt verändert hat. Auch für sie gilt übrigens das Kaffee- und Wasserverbot ohne Verzehr, was sich zuweilen in einer eruptiven Heiterkeit oder einem versunkenen gemeinsamen Schweigen äußert. Manchmal klingelt auch ein auf sehr laut gestelltes Telefon, aus dem die Anweisung schallt, jetzt aber tatsächlich zum Essen nach Hause zu kommen, und zwar subito. Ciao, Bruno, arrivederci, Franco! Die „Antica Bottega del Vino“ trägt diesen Namen seit 1890, aber ihre Geschichte reicht viel weiter zurück. Im 16. Jahrhundert befand sich hier eine Osteria namens „Scudo di Francia“, Schild Frankreichs, direkt darüber residierte die Vertretung der französischen Diplomatie. Die museumsreife Einrichtung des Raums stammt aus der Epoche österreichisch-ungarischer Herrschaft (1797 bis 1866), die ein bisschen Biedermeier in Gestalt achteckiger Tische und geometrischer Stühle hinterlassen hat. In der Mitte des 19. Jahrhunderts machte die Cantina Sociale di Soave Gebrauch von den Räumlichkeiten an der Via Scudo di Linke Seite: Luca Nicolis holt Großes aus dem Keller. Die Armagnac-Sammlung ist anbetungswürdig, so wie das Filet vom Fassone-Rind, das man an weiß gedeckten Tischen verspeist. Rechts: Alessandro Corradini und Luca Dalla Via sorgen dafür, dass die Vitrine immer ansehnlich gefüllt ist 2/2015 D ER F EINSCHMECKER 43 In den historischen Räumen der „Bottega“ ist vieles alt und manches kurios: das Geweih als Huthalter, die Sammlung gereifter Raritäten, der bockshornbeinige Kellermeister. Frisch sind dagegen die polpette, die Fleischklößchen, auf den Tellern (linke Seite). Die dunklen Tische gegenüber der Bar dienen den Stammgästen als zweites Wohnzimmer An den Etiketten der leeren Flaschen kann man ablesen, was für Kostbarkeiten sich die Gäste hier schon hinter die Binde gekippt haben Francia, bis 1890 die Brüder Carlo und Giovanni Sarzi den Laden übernahmen. Welchem von beiden der neue Name „Bottega del Vino“ einfiel, ist nicht endgültig geklärt. Seither hatte die „Bottega“ nur drei weitere Besitzer. Es war der vorletzte namens Severino Barzan, der sie nach dem Vorbild römischer und florentinischer Weinlokale neu erfand. Dieser Pionier der italienischen Weinkultur beschränkte sich dabei nicht auf die besten Flaschen aus der Nachbarschaft, der Valpolicella und dem restlichen Veneto, sondern begann, eine außerordentliche internationale Sammlung anzulegen, Schwerpunkte Burgund und Bordeaux. Außerdem feuerte er seine Landsleute lautstark an, selbst bessere Weine zu machen, die er in der „Bottega“ sodann stolz und überzeugt verkaufte. er Keller der „Bottega“ verkörpert Barzans Qualitätswut. Heute liegen über 20 000 Flaschen von 4000 Herstellern im idyllischen Gewölbe, Weinbrände aus dem 19. Jahrhundert, und in der Schublade der Geheimkommode schlummert neben etlichen Flaschen, die Barzan persönlich aus Burgund mitgebracht hat – RomanéeConti-Jahrgänge aus den 70er-Jahren –, auch das älteste Sammelstück aus heimischer Produktion, eine Flasche Acinatico von Bertani aus dem Jahr 1928. Anders als die Burgunder, die auf der Weinkarte stehen, kann man Letztere auch dann nicht kaufen, wenn man die Wünsch-dir-was-Kreditkarte eingesteckt hat. 2010 verkaufte Barzan die „Bottega“ nach zwischenzeitlichen Querelen an „Le Famiglie dell’Amarone d’Arte“, ein Konsortium der zwölf ältesten Weinproduzenten der Valpolicella: Allegrini, Begali, Brigaldara, Masi, Musella, Nicolis, Speri, Tedeschi, Tenuta Sant’Antonio, Tommasi, Venturini und Zenato. Sie schienen ihm die richtigen zu sein, die „Antica Bottega del Vino“ in seinem Sinne weiterzuführen. Das heißt: Es gibt keine Regeln dafür, was, wo und wann gegessen wird. Mittags und abends verwandeln sich die hinteren Räume der „Bottega“ – alle geschmückt mit stolz ausgestellten leeren Weinflaschen, an deren Etiketten man ablesen kann, was die Gäste sich hier schon für Kostbarkeiten hinter die Binde gekippt haben – in ein Restaurant. Die Tische sind dann weiß gedeckt, auf der Karte stehen unkomplizierte Klassiker wie Amarone-Risotto, Spaghetti mit Sardellen, Knoblauch und Brotkrümeln – oder das filetto di Fassone piemontese della bottega: Das Filet vom Fassone-Rind ist ein Vorbild an Eleganz und Geschmack, perfekt gebraten und minimalistisch mit Meersalz und Olivenöl serviert. Aber man muss nicht essen, man darf nur. Man kann sich auch den Risotto vorn an der Bar servieren lassen oder sein Brötchen D hinten in der Stube verzehren. Man kann sich in den Keller führen lassen und eine Flasche nach oben holen, um sie gleich zu leeren, oder man nimmt sie kurz entschlossen mit nach Hause – natürlich nur, wenn man auf dem Weg zur Tür nicht von den Kumpels an der Bar aufgehalten wird. Barzan selbst kommt täglich vorbei, probiert neue Weine und tauscht sich mit Bruno, Franco und den anderen darüber aus. Jetzt, mit fast 90 Jahren, hat der einstige Hausherrr endlich ein bisschen Zeit zum Schwätzen. Ideal, wenn jemand vorbeikommt, der die alten Geschichten noch nicht kennt. Ihm kann Luca Nicolis, der das Amt des Gastgebers großartig und mit viel Körpereinsatz ausübt, zum Beispiel das Schwarz-Weiß-Bild der heiligen Madonna zeigen, die über der Bar hinter einer Batterie von Grappaflaschen versteckt ist. Vor ihr brennt seit über 60 Jahren ununterbrochen ein Lichtlein. Sie ist ein Geschenk jener Partisanen, die das Bombardement Veronas in den Kellern der „Bottega“ überlebt hatten und sich auf diese Weise ganz oben bedanken wollten. Oder der Faun mit den Ziegenhorn-Beinen, der am Balken zwischen Bar und Gaststube hängt. Er hält – möge er niemals abhanden kommen – den Schlüssel zum Keller in der einen Hand und ein grünes Laternchen, um sich dort zurechtzufinden, in der anderen. Gleich daneben ist das dürre Bäumchen ausgestellt, das vor gar nicht so langer Zeit direkt in der Via Scudo di Francia als zartes Pflänzlein zwischen den Pflastersteinen hervorspross. Es erwies sich – Prost, Freunde! – als Weinrebe, und vielleicht macht ihr unerklärliches Erscheinen die „Antica Bottega del Vino“ eines Tages zum Wallfahrtsort, falls sie das nicht ohnehin schon ist. Während der Opernsaison in der Arena wird hier um halb acht, neun und halb elf Abendessen serviert, und während der jährlichen Weinmesse Vinitaly geben sich die besten Winzer der Welt die Klinke beziehungsweise den Korkenzieher in die Hand. Dann fließen die teuren Champagner mit derselben Selbstverständlichkeit wie die Lugana-Weine an der Theke. Am achteckigen Künstlerstammtisch wurden übrigens die Sinnsprüche ausgedacht, die ein Graveur sodann in schönen Lettern in die Holzbalken schnitzen durfte. Jeder einzelne lobt den Weingenuss, aber einer bringt die Essenz der „Bottega“ auf den Punkt: „Dio mi guardi da chi non beve vino“ – Gott behüte mich vor der nen, die keinen Wein trinken. A-Z Adressen, Karten und FEINSCHMECKER-Bewertungen fff ab Seite 120 InfoGuide 2/2015 D ER F EINSCHMECKER 45