Gekonnt stürzen, statt aufs Glück verlassen!

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Gekonnt stürzen, statt aufs Glück verlassen!
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Ausgabe August/September 2011
SPORTISSIMO
Das Übungsleiterjournal des BLSV
Gekonnt stürzen,
statt aufs Glück verlassen!
Sturzprävention aus dynamischen Bewegungen – Teil 1 / Von Jens Keidel
H
oppla, zum Glück nichts passiert!“
Ein Ausspruch, der wohl jedem, ganz
gleich welchen Alters, bekannt vorkommt.
Leider gehen Missgeschicke nicht immer
glücklich aus. Deshalb sollten wir uns zunächst einige Fragen darüber stellen, wie
wir vom unkontrollierten Stürzen zum kontrollierten Fallen kommen können.
Warum sollten wir uns Gedanken über
„Stürzen und Fallen“ machen? Nun – weil
bei Kinder unter 15 Jahren der Sturz mit
etwa 52% die häufigste Unfallursache darstellt. So fallen Kleinkinder aus dem Hochbett oder die Treppe hinunter, beim Klettern
auf dem Spielplatz, Schulkinder vorwiegend
beim Sport mit Geräten wie Fahrrad, Inlineskates oder Schlitten.
Bei Mannschaftssportarten wie Handball,
Hockey oder Fußball kommt es häufig zu
Stürzen in Zweikampfsituationen oder nach
Zusammenstößen. Ab 65 Jahren stürzt laut
statistischen Erhebungen jeder Dritte einmal
im Jahr und hier sind die Folgen meist erheblicher, weshalb in der kommenden Ausgabe
mit „gekonnt stürzen“ – Teil 2 insbesondere
auf diese Zielgruppe eingegangen wird.
Wie kommt es zu diesen Stürzen?
Im Wesentlichen lassen sich drei Gründe herausstellen, die sowohl bei Kindern als auch
älteren Erwachsenen zu Tage treten:
■■ Wahrnehmung und Motorik sind nicht
ausgereift oder eingeschränkt
■■ Verlust des Gleichgewichts
■■ Ablenkung oder zu viele Informationen
„Wir lernen jetzt das Fallen, damit sich niemand verletzt!“ – diesen Satz niemals, ich
betone niemals sagen! Die Aussage impliziert schon eine Verletzung und mit dieser
Angst verlieren die Teilnehmer die Lockerheit, mit der sie innerhalb weniger Stunden
eine sichere Falltechnik erlernen könnten.
Es ist gut, dass Sie jetzt wissen „warum“,
nun kommt das „Wie“.
Die Rolle
In Sportarten wie Judo und Aikido lernt man
zur Rolle noch das Abschlagen mit einem
Arm. Dies ist aber in Alltagssituationen
nicht immer von Vorteil. Der Grund für das
Abschlagen mit dem Arm auf dem Boden
ist das Überlernen des Reflex „sich abzustützen“ und somit dem Verhindern von Handgelenksbrüchen und Schulterverletzungen.
In der hier vorgestellten Art des Fallens und
Rollens ist das Abschlagen nicht von Bedeutung und wird durch eine „Radposition“ der
Arme überlernt.
Vorbereitende Übungen
„Maus sucht Käse“
Ein Partner nimmt eine hohe Bankposition
ein. Der andere Partner, die Maus, ist auf der
Suche nach Käse. Er kommt seitlich an die
Bank heran, greift mit einer Hand über den
Partner herüber und hält sich mit der anderen auf seiner Seite am Partner fest. Nun
macht er eine Rolle über den Partner und
langt dabei mit der freien Hand unter den
Partner durch auf der Suche nach „Käse“,
in Richtung seiner eigenen Füße.
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„Ohrenrolle“ 1
Der Teilnehmer geht in die Hocke und hält
sich mit beiden Händen die Ohren zu und
rollt derart über seine Schulter/Ohren diagonal nach vorne.
„Affenbande“ 2
Die „Affen“ (Teilnehmer) laufen auf allen
Vieren zur anderen Seite. Irgendwann auf
ihrem Weg, drehen sie eine Hand mit den
Fingern zu sich und lassen diese auf dem
Boden „kleben“. So entsteht eine Rolle über
diesen Arm.
„Wer hat die Kokosnuss geklaut“ 3
Dieselben Affen haben nun eine Kokosnuss
(kleiner Ball) in ihren Händen. Vor lauter
Freude über ihre Kokosnuss machen sie
beim Laufen immer wieder Rollen indem sie
die Kokosnuss mit beiden Händen festhalten
und dabei einen Ellenbogen nach vorne bewegen und nun eine Rolle ausführen.
Noch mehr Bewegung ins Rollen – Fallrollen!
Ausgabe September 2011
weiter entfernten Arm führt er ca. 10-20
cm über die Weichbodenmatte, so dass beim
Sportler eine Rolle eingeleitet wird.
„Peter Pan“ 5
Die Teilnehmer stehen in Reihen versetzt vor
dem Übungsleiter. Dieser leitet mit folgender
Geschichte von Peter Pan die Übung an. Er
selbst steht breitbeinig und mit den Fäusten
in der Hüfte vor den Teilnehmern.
„Liebe verlorene Jungs – und Mädchen,
wir befinden uns an Deck eines großen
Schiffs und müssen zu unserer Verteidigung
gegen Kapitän Hook eine neue Technik lernen: die Donnerrolle!
Darum stellt Euch breitbeinig auf, denn
wir befinden uns auf einem schwankendem
Schiff! Nehmt die Fäuste in die Hüften.
■■ Freiwillige
heben den rechten/linken
Arm!
■■ Freiwillige machen einen halben Schritt
mit dem rechten/linken Fuß nach vorne!
Breitbeinig bleiben, Ihr seid an Deck. Kei-
ner soll über Bord gehen!
„Auf die Plätze!“ – auf dieses Kommando
nimmt der Arm von der Hüfte die Startposition ein
■■ „Fertig!“ - der Arm, der in die Luft gereckt
wird mit den Fingern zum eigenen Körper
zwischen der anderen Hand und dem Fuß
auf den Boden gesetzt)
■■ Donnerrolle! (den Kopf zwischen die Beine
stecken und eine Rolle ausführen)“
■■
Übung macht den Meister – Rollen trainieren
„Torwartrolle“ 6
Ein Ball wird zwischen den Beinen langsam
von hinten nach vorne durchgerollt. Der
Rollende muss mit einigen Schritten dem
Ball hinterherlaufen und ihn mit beiden
Händen greifen und dabei eine Rolle machen, ähnlich wie mit der „Kokosnuss“.
Die Bewegung zum Ball hin erzeugt eine kinetische Energie, die durch das Bücken nach
dem Ball in eine Rollbewegung umgesetzt
wird.
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„Speedrolle“ 4
Der Trainer greift den Teilnehmer an den Unterarmen. Dieser läuft zügig auf eine Weichbodenmatte zu. Den von ihm (dem Trainer)
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„Stolpertrick“
Der Sportler läuft auf eine Weichbodenmatte zu und „stolpert“ über diese und führt
eine Rolle aus, vergleichbar der „Speedrolle“
aus.
„Clowns“ 7
Die Teilnehmer sind lustige, flinke Clowns,
die neue Gags üben. Jeder geht mit seinem
Partner auf Matten. Irgendwann überrascht oder erschreckt der eine den anderen
mit einer Grimasse, einem „Buh“… Als Reaktion „kugelt sich der andere vor Lachen“
und macht eine Rolle.
„special rolls“ – Rollen in besonderen
Situationen!
„Fahrradstürze“ 8
Am besten übt man diese besondere Situation mit einem Roll- oder Mattenwagen. Der
Teilnehmer steht zunächst auf diesem Wagen und wird auf eine Weichbodenmatte
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zu geschoben. Den Aufprall muss er mit einer Rolle ausgleichen. Um beispielsweise ein
Auto zu simulieren, kann der Weichbodenmattenberg auf etwa 80-100cm aufgebaut
werden, so muss sich der Übende beim Fallen stärker abdrücken.
Mit Hilfe eines großen Sitzballs, kann die
Fahrradsituation besonders situations- und
realitätsnah, dabei jedoch ganz ungefährlich simuliert werden.
„Parkour-Rolle“
Hierbei handelt es sich um einen beidbeinigen Niedersprung mit anschließender
Rollbewegung. Diese Landungstechnik
verfolgt das Ziel die Bewegungsenergie bei
einem Niedersprung nicht vollständig mit
den Beinen zu absorbieren, sondern einen
Teil dieser Bewegungsenergie durch die Abrollbewegung sinnvoll umzuleiten und in
eine Vorwärtsbewegung mitzunehmen.
Die Landung erfolgt mit nahezu gestreckten
Beinen und schulterbreit offener, paralleler
Fußstellung. Die Landung und die Rollbewegung sind quasi eine Bewegung.
Die Beine geben dem Druck nach und der
Oberkörper wird eingedreht bis die Hände
den Boden berühren. Nun wird die Energie mit einer Rolle über den Arm –Schulter – schräg über den Rücken abgebaut und
umgewandelt bis man mit leicht versetzten
Füßen den Impuls nach vorn über die Füße
mitnimmt, wieder aufsteht und weiterläuft.
Um die Energieumwandlung richtig durchzuführen, ist es unbedingt nötig beim Niedersprung schon den Gedanken an das Weiterlaufen zu haben.
Gleiten
In einigen Sportarten und Momenten ist
trotz hoher Bewegungsenergie ein Rollen
nicht möglich. So z.B. beim Sprungwurf im
Handball, der Torwart im Fußball oder beim
Sturz mit dem Snowboard. Hier kann das
Gleiten die passende Lösung sein.
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Beim Gleiten ist es vor allem wichtig, dass
die Körperspannung beibehalten wird und
die Gliedmassen sowie der Kopf geschützt
werden.
Beim klassischen Gleiten landet man
nach einem Sprung zunächst auf dem
Sprungbein in einem weiten Ausfallschritt.
Danach wird der Körper weiter abgesenkt
und der Bodenkontakt zunächst mit den
Handflächen soweit vorne wie möglich aufgenommen. Mit einem kleinen Sprung erfolgt die Landung in Bauchlage. das Gewicht
sollte auf Hüfte und Bauch verteilt sein. Die
Hände werden am Boden aktiv durchgezogen, um Energie zu absorbieren.
Die Knie werden dabei gehoben und der
gesamte Körper gestreckt – „gleiten wie eine
Robbe!“ 9
„Auch Robben lernen rutschen!“ – Vorübungen für gekonntes Gleiten
„Weichbodenrutschen“ 10
Mit Anlauf und Schwung springen die Teilnehmer eines Teams immer wieder bäuch-
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Tipps und Tricks für Übungsleiter
und Trainer
Senkrechtes „nach unten fallen“ vermeiden!
Die Bewegung muss nach vorn, in freie Bewegungsrichtungen geleitet sein.
■■ Beim Gleiten die Arme nach hinten durchziehen.
■■ Die Handinnenflächen zeigen am Ende nach
oben.
■■ Die Beine sind nahezu gestreckt.
■■ Die Knie sollten den Boden durch Einnehmen
einer „Bogenspannung“ nicht berühren
■■ Den Kopf nicht hochreißen, sondern unter
Vorspannung der Nackenmuskulatur in Verlängerung der Körperlängsachse halten.
■■
die andere Hallenseite zu erreichen. Wer gewinnt?
„Durchziehen mit Teppichfliesen“
Der Sportler legt sich auf eine, evtl. auch
auf zwei umgedrehte Teppichfliesen, greift
mit beiden Händen nach vorne und bewegt
sich durch Zug und Druck der Hände auf
dem Boden vorwärts. Die Hände sollten dabei seitlich bis zum Gesäß durchziehen.
„Aus dem Vierfüßlergang gleiten“
Der Sportler krabbelt auf die ca. 2-3m vor
ihm liegende Teppichfliese zu, drückt sich
dann nach vorne ab, fängt die Bewegung
mit den Händen auf und leitet sofort das
„Durchziehen mit der Teppichfliese“ ein.
„Und action!“ – Gleiten aus dem Laufen
lings auf eine Weichbodenmatte. Um das
Verletzungsrisiko zu minimieren, läuft im
Staffelprinzip immer ein Teilnehmer im
Sprint auf die Matte zu, rutscht bis zum Stillstand und bringt den nächsten Läufer ins
Rennen. Ziel ist es, so schnell wie möglich
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Aus dem Anlauf einen weiten Ausfallschritt
nach vorn machen. Ziel ist es, den Körperschwerpunkt zu senken und die „Angleithöhe“ zu reduzieren. Mit dem Ausfallschritt
werden bereits die Hände und der Oberkörper nach vorn unten gebracht.
Die Hände wieder weit nach vorn vor den
Körper führen. Leicht vom vorderen Bein abdrücken, so flach wie möglich auf der Teppichfliese landen und sofort mit den Händen
aktiv durchziehen.
So viel zum Schwerpunkt der Sturzprävention aus dynamischen Situationen, die
nicht nur zur Verbesserung der Geschicklichkeit beim Stürzen und Fallen im Judotraining durchgeführt werden können. Die
vorgestellten Beispiele können sportartübergreifend zum Einsatz kommen, denn Glück
allein, reicht nicht immer aus, um kritische
Situationen gekonnt zu meistern.
Mehr zum Fallen aus statischen Situationen und zur Vermeidung von Stürzen erfahren Sie im sportissimo vom Oktober.
Autor: Jens Keidel, Lehrreferent und Jugendbildungsreferent des Bayerischen Judoverbandes .
Literatur-Tipps
Späte, Dietrich; Torres Tobio Gabriel: „Das
Fallen und Gleiten von der Pike auf gelernt“ Handballtraining 2 /2001, Philippka
Sportverlag
Witfeld, Jan et al.: „Parkour & Freerunning“, Meyer & Meyer Verlag
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Nr. 39 · bayernsport · 27. September 2011
Lippmann, Ralf: „Judo spielend lernen“,
Deutscher Judo-Bund e.V.