Frankfurter Allgemeine Zeitung - Medizinische Fakultät der Martin

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Wie Asoziale in der „Tripperburg“ diszipliniert wurden
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Wie Asoziale in der „Tripperburg“ diszipliniert wurden
Poliklinik Mitte in Halle
Disziplinierung in der „Tripperburg“
Nach außen war es eine geschlossene Station für Geschlechtskranke. Doch in
der Poliklinik Mitte in Halle wurden zu DDR-Zeiten auch gesunde junge Frauen
eingesperrt und misshandelt.
14.09.2014, von STEFAN LOCKE
© FOTO ARCHIV
Anerkennung für den Kampf gegen „Asoziale“: Der Direktor der Poliklinik Mitte in Halle, Gerd Münx,
gratuliert einer Krankenschwester. Das Bild entstand um 1955
as gedrungene zweistöckige Gebäude in der Kleinen Klausstraße 16 liegt nur
wenige Schritte vom Markt entfernt im Zentrum Halles. Es ist ein verlassener
Altbau, zu dem der heutige Eigentümer keinen Zutritt gestattet. Zu DDR-Zeiten
dagegen war hier Begängnis; Patienten, Krankenschwestern, Ärzte wuselten über die
Gänge der Poliklinik Mitte, die hier und in den angrenzenden Gebäuden untergebracht
war. Die wenigsten allerdings wussten, was hinter den verschlossenen Türen im
zweiten Stock vor sich ging. Nur ab und an waren die Frauen von dort zu sehen,
manchmal mit kurzgeschorenen Haaren, immer in grau-blauen Arbeitskitteln. Dann
wurde viel getuschelt.
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Auch Bettina Weben war ahnungslos, als sie 1968 hierherkam oder vielmehr gebracht
wurde. Sie war 17 Jahre alt und lernte in Halle Handelskauffrau. Es war Sommer, das
Leben lag vor ihr. Gemeinsam mit einer Freundin ging sie aus, beide freundeten sich
mit zwei jungen Ungarn an, die als Vertragsarbeiter in die DDR gekommen waren und
einen Hauch Exotik in das seit sieben Jahren abgeriegelte Land brachten. „Nach
einigen Treffen haben sie uns eingeladen und für uns ungarisch gekocht“, erzählt
Bettina Weben. „Und dann sind wir über Nacht bei ihnen im Wohnheim geblieben.“
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Am nächsten Morgen trauten sie sich nicht zurück, ihr Lehrlingswohnheim erlaubte
Ausgang nur bis 19 Uhr, jetzt fürchteten sie Konsequenzen - und blieben einfach bei
den Ungarn. „Sicher war das naiv“, sagt Weben. Denn nun schwänzten sie auch die
Lehre, und das fiel doppelt auf. Am dritten Tag stand die Polizei vor der Tür und nahm
sie mit. Doch statt zurück ins Wohnheim brachten die Polizisten sie in die Poliklinik
Mitte. „Da war eine Glastür, eine Schwester öffnete und schloss hinter uns wieder zu“,
sagt Bettina Weben. „Wir waren perplex, wussten nicht, wo wir sind.“
Alles sah nach Knast aus
Sie mussten sich ausziehen und alle Sachen abgeben; eine Schwester reichte ihnen
graublaue Kittel. Fragen beantwortete sie keine, auch nicht im Behandlungszimmer.
„Wir wurden rasiert mit stumpfen Klingen, es tat weh und brannte fürchterlich“,
erinnert sich Weben. Und noch immer wussten sie nicht, wo sie waren. „Wir fühlten
uns schuldig, klar, weil wir weggeblieben waren. Aber wir haben nicht verstanden, was
wir sonst noch falsch gemacht haben, dass sie uns hierherbrachten und so
behandelten.“
Beide wurden in getrennten Schlafräumen untergebracht, in denen bereits andere
Mädchen und Frauen auf ihren Betten saßen. Dreißig Plätze hatte die Station, die
Zimmer waren spartanisch eingerichtet, einfache Metallbetten, gestreifte KrankenhausBettwäsche, je ein Tisch, grünes Linoleum - und vergitterte Fenster. „Wo sind wir
hier?“, fragte Weben ihre Mitpatienten. Oder waren es Mitgefangene? „Alles sah eher
nach Knast aus als nach Krankenhaus“, erinnert sie sich. „Willkommen in der
Tripperburg“, sagten die anderen. Bettina Weben hörte das Wort zum ersten Mal.
„Kurbeldora“ nahm immer das dickste Glasrohr
Offiziell firmierte die Einrichtung als „Geschlossene venerologische Station der
Poliklinik Mitte“. Hier wurden Geschlechtskrankheiten behandelt. Nichts
Ungewöhnliches für die damalige Zeit. Nicht nur die Medizin war damals aber anders.
Das Thema Geschlechtskrankheiten war gesellschaftlich tabu. Auch die Bundesrepublik
und andere Länder isolierten Geschlechtskranke, um die Ansteckungsgefahr zu
verringern. In Hamburg und Bremen etwa gab es ähnliche Stationen zur Behandlung
von erkrankten Prostituierten.
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Und doch war Halle ganz anders. „Die Verhältnisse hier waren außergewöhnlich - im
negativen Sinne“, sagt Florian Steger. Der Vierzigjährige ist Professor für Geschichte
und Ethik der Medizin an der Universität Halle-Wittenberg und hat die Ereignisse im
zweiten Stock der „Poli Mitte“ erforscht sowie mit ehemaligen Patientinnen und auch
mit ehemaligem Personal gesprochen. Sein Fazit: „Auf dieser Station mussten Frauen
bereits ab dem zwölften Lebensjahr gegen ihre Willen und teilweise ohne medizinische
Indikation Eingriffe in ihre körperliche Integrität ertragen.“
Die Eingriffe hat Bettina Weben nie vergessen. Jeden Morgen um 6 Uhr hatte sie mit
ihren Mitinsassinnen vor dem Behandlungszimmer anzutreten. Untersucht wurde im
Fünf-Minuten-Takt meist persönlich vom ärztlichen Direktor der Poliklinik, Doktor
Gerd Münx, der zugleich Leiter der geschlossenen venerologischen Station war, sowie
von Schwester Dora, die von den Patientinnen „Kurbeldora“ genannt wurde. „Sie nahm
für die Abstriche nur das dickste Glasrohr“, erzählt Bettina Weben. „Ich hatte extreme
Schmerzen, blutete, schrie, und da hat sie mir noch auf den Oberschenkel gehauen und
gesagt, ich solle mich nicht so anstellen.“
Verstoß gegen DDR-Gesetze
Weben war kerngesund - und musste dennoch bleiben. Erklärungen bekam sie keine,
stattdessen habe ihr Doktor Münx eine Spritze in den Arm gegeben. „Warum?“, fragte
sie. „Darum!“, antwortete er. Die „Fieberspritze“ sei ein gängiges Hilfsmittel gewesen,
um schlummernde Infektionen zu „triggern“, sagt Steger. „Die Nebenwirkungen waren
heftig“, erinnert sich Weben. Je nach Dosis litten die Frauen unter extremem
Schüttelfrost, Fieber, Krämpfen, Kopfschmerzen, Übelkeit. „Soweit wir wissen, war die
Mehrzahl der Frauen auf dieser Station nicht krank“, sagt Steger. Sie hatten also gar
keine Infektion. Abstriche und Spritzen seien als abschreckende und disziplinierende
Maßnahme eingesetzt worden.
Die Behandlung von Geschlechtskranken war in der DDR per Gesetz klar geregelt. Die
zwangsweise Einweisung in eine geschlossene venerologische Station sollte nur
möglich sein, wenn sich Personen ärztlichen Untersuchungen und Anweisungen,
beispielsweise zur Enthaltsamkeit, widersetzten, mehrfach geschlechtskrank waren
oder im Verdacht standen, häufig wechselnde Partner zu haben. Doch an diese
Voraussetzungen hielt sich in Halle offenbar niemand. Die Station war primär keine
Heilanstalt, sondern eine Art Auffangbecken für vermeintliche oder tatsächliche
sogenannte Problemkinder, Asoziale, Arbeitsscheue, die willkürlich eingeliefert
wurden.
Die Strafanzeigen blieben ohne Wirkung
Steger schildert Fälle, in denen Frauen wegen Prostitution oder „hwG“, des häufig
wechselnden Geschlechtsverkehrs, denunziert wurden, besonders nachdem 1968
Prostitution in der DDR unter Strafe gestellt worden war. Er erzählt von ausgerissenen
Mädchen, die auf der Straße oder in Bahnhöfen aufgelesen wurden; Herumtreiberei
und „Arbeitsbummelei“ seien Hauptgründe für Einweisungen gewesen. Gelegentlich
sei es vorgekommen, dass Jugendwerkhöfe und sogar Eltern pubertierende Mädchen
auf der Station ablieferten mit der Begründung, mit ihnen nicht mehr klarzukommen.
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Die Poliklinik Mitte aber verstieß nicht nur mit ihrer Aufnahmepraxis gegen
DDR-Gesetze, sondern auch mit ihrer Form der Behandlung. Bereits 1962, ein Jahr
nach Einrichtung der geschlossenen Station, wurde Strafanzeige gegen Münx gestellt.
Der Grund dafür waren brutale „Erziehungsmaßnahmen“ wie das Kahlscheren der
Köpfe von Patientinnen durch Patientinnen, die Münx nicht nur geduldet, sondern
befürwortet hatte. Das Ministerium für Gesundheit untersagte derartige Praktiken,
beließ Münx jedoch im Amt.
Aus Dokumenten und Zeitzeugen-Interviews geht hervor, was Direktor Münx sowie
einige seiner Mitarbeiter von den ihnen anvertrauten Patientinnen hielten. Sie waren
für sie „Asoziale“, „Abschaum“, „das Letzte vom Letzten“. Das Terrorregime, das auf
der Station herrschte, ist laut Steger denn auch vor allem auf Münx zurückzuführen.
Zur „Arbeitstherapie“ verpflichtet
Mit der „Ordnung“ um ihn herum hatte es allerdings auch zu tun. Unter den ihm
anvertrauten Frauen und Mädchen befanden sich nicht nur erkrankte oder
uneinsichtige Frauen, sondern auch Zwölf- und Dreizehnjährige, die zum Teil noch nie
Geschlechtsverkehr gehabt hatten. Es waren Mädchen ohne Halt, die oft aus
zerrütteten Familien kamen, in denen sie selbst Opfer von Gewalt geworden waren,
aber auch junge Mütter, die sich liebevoll um ihre Kinder kümmerten. Ihnen waren
harmlose Kontakte mit Männern oder Denunziation zum Verhängnis geworden. Daran
verzweifelten nicht wenige, sie schämten sich, auf solch einer Station gelandet zu sein.
Die Patientinnen und auch ein Teil seines einstigen Personals schildern Münx als
sadistischen und tyrannischen Arzt, der seine Verachtung und Geringschätzung auch
gegenüber Kollegen nicht verhehlte. In einer von ihm verfassten und offiziell
genehmigten „Hausordnung“ wird klar, dass der Aufenthalt auf seiner Station primär
der sozialistischen Erziehung dienen sollte. Der unmenschliche Umgang mit den
Frauen wurde so legalisiert, die Medizin instrumentalisiert. Das Papier beginnt mit den
Sätzen: „Entsprechend dem Charakter unserer Staats- und Gesellschaftsordnung sind
die in die geschlossene Station eingewiesenen Patientinnen aufgrund der Verordnung
zur Bekämpfung der Geschlechtskrankheiten vom 23.2. 1961 vorübergehend isoliert.
Durch erzieherische Einwirkung muss erreicht werden, dass diese Bürger nach ihrer
Krankenhausentlassung die Gesetze unseres Staates achten, eine gute Arbeitsdisziplin
zeigen und sich in ihrem Verhalten in unserer Gesellschaft von den Prinzipien des
sozialistischen Zusammenlebens der Bürger unseres Staates leiten lassen.“ Die
„erzieherische Einwirkung“ hat Münx in der Hausordnung ebenfalls beschrieben.
Besuch oder Geschenke für Patientinnen waren streng verboten. In jedem Schlafraum
wurde eine „Stubenälteste“ bestimmt, die auf Disziplin und Ordnung zu achten hatte.
Alle Patientinnen waren zur „Arbeitstherapie“ verpflichtet und mussten auf der
geschlossenen Station sowie bei guter Führung auch auf anderen Stationen der
Poliklinik „ohne Anspruch auf Entlohnung“ putzen.
Halle war ein Sonderfall
Wer sich gut führte, bekam zusätzliche Zigaretten oder eine Stationsstrafe erlassen.
Wer gegen Regeln verstieß, musste nachts im Sitzen auf einem Holzhocker wachen und
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wurde vom täglichen Abstrich ausgeschlossen, was eine Verlängerung des Aufenthalts
bedeutete. Informell war zudem geregelt, was Patientinnen drohte, die Widerstand
leisteten oder sich gegen Behandlungen wehrten: Sie wurden vom Personal und von
Mitpatientinnen bestraft oder misshandelt, was, nachdem das Kopfscheren verboten
worden war, häufig zwangsweises Tätowieren bedeutete.
Vor allem diese auf das Staatswohl und weniger auf individuelle Genesung
ausgerichtete Hausordnung ist eine Besonderheit der geschlossenen Station der
Poliklinik Mitte. In ähnlichen Einrichtungen, von denen es nach bisherigem
Forschungsstand acht in der DDR gab, sei es vermutlich anders zugegangen, sagt
Steger. In Leipzig etwa seien zwar auch die Fenster vergittert gewesen, die Patientinnen
aber nicht zur Arbeit verpflichtet worden, sagt Elke Heinrich*, die sowohl die Station in
Halle als auch in die Leipzig erlebt hat.
Heinrich sagt, sie sei damals von zu Hause vor der Gewalt ihres Vaters geflohen, später
von der Gärtnerlehre ausgebüxt, habe häufig Halt bei Männern gesucht, die ihr den
Himmel auf Erden versprachen und doch immer nur das eine wollten. Eines Tages, sie
war gerade 18 Jahre alt, las die Transportpolizei sie am Bahnhof Halle auf und brachte
sie in die Poliklinik Mitte. Heinrich durchlief dort ähnliche Prozeduren wie Bettina
Weben, die täglichen quälenden Untersuchungen, die Spritzen, das Eingeschlossensein
auf den Zimmern, die fehlenden Antworten auf Fragen nach dem Warum und „Wie
lange noch?“.
Schweigeverpflichtung, Scham und Angst
„Wir waren für die nichts als Dreck“, sagt Heinrich. „Diese Station war die Vorstufe
zum Gefängnis.“ Als psychisch belastend empfand sie auch die Arbeit, zu der sie
eingeteilt worden war. In einer Kellerstation musste sie neben todkranken Patienten
Wache halten. „Dort habe ich zum ersten Mal Menschen sterben sehen“, erzählt
Heinrich, die drei Wochen in der Poliklinik Mitte bleiben musste. Ein Jahr später las
die Polizei sie abermals an einem Bahnhof auf, diesmal kam sie für drei Wochen in die
geschlossene Station nach Leipzig.
Wer auffiel, um den wurde sich ,gekümmert‘“, sagt sie. „Ich bin nicht stolz auf das, was
ich damals getan habe. Aber ich schäme mich auch nicht mehr.“ Elke Heinrich ist heute
eine lebensfrohe, äußerlich selbstbewusste Frau. Das hat sie in jahrelanger Therapie
erst lernen müssen. Dazu zählte, über das Erlebte sprechen zu können. Jahrzehnte
konnte sie, durfte sie das nicht. Bei der Entlassung musste sie wie alle Patientinnen
eine Schweigeverpflichtung unterschreiben. Daran habe sie sich aus Scham und Angst
lange gehalten.
Bettina Weben und ihre Freundin wurden nach vier Wochen auf der Station zurück in
ihr Wohnheim gebracht. Auch bei dessen Leiter suchten sie nach Erklärungen. Seine
Antwort lautete: „Zur Abschreckung der anderen.“ Weben sagt heute: „Es war eine
reine Strafaktion. Für uns war das hochgradig peinlich, denn es sprach sich natürlich
schnell herum, dass wir in der Tripperburg gewesen waren.“
Lebenslanges Leiden
„Die Erlebnisse in Halle hatten oft desaströse Folgen für die Biographien vieler dieser
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Frauen“, sagt Medizinhistoriker Steger. Dazu zählen Angst vor gynäkologischen
Untersuchungen, Schlafstörungen, sexuelle Unlust, Inkontinenz. Viele seien unfähig,
stabile Partnerschaften einzugehen oder fürsorgliche Mütter zu werden. Elke Heinrich
etwa erlitt drei Fehlgeburten, sie hat nie Kinder bekommen, was sie auf die Zeit in
Halle zurückführt. Für Bettina Weben ist bis heute jeder Besuch beim Frauenarzt eine
Qual. Eine Therapie hat sie nie gemacht. „Ich bin an sich eine starke Persönlichkeit“,
sagt sie. „Aber die Erlebnisse verfolgen einen, umso mehr, je älter man wird.“
Auch deshalb war sie eine der Ersten, die sich gemeldet haben, als Zeitzeugen für
Stegers Forschungsprojekt gesucht wurden. „Ich will endlich darüber reden, und ich
will, dass das alle wissen“, sagt Weben. „Die haben mir in Halle meine Würde, die
Freiheit und meinen ersten Freund genommen.“ Vielen Hallensern sei der Name
„Tripperburg“ noch ein Begriff, sagt Heidi Bohley vom Verein „Zeit-Geschichte(n)“ in
Halle. Was auf der Station wirklich vorging, wüssten allerdings die wenigsten. Gerüchte
darüber hielten sich bis heute. Viele dachten und denken auch jetzt noch: Wer in die
Geschlossene kam, wird schon einen Grund dafür gehabt haben. „Dabei war das ein
rechtsfreier Raum“, sagt Bohley. „Eine Kontrolle von außen war praktisch unmöglich.“
Keine Hoffnung auf Entschädigung
Wie viele Mädchen und Frauen die Station in den zwanzig Jahren ihres Bestehens
durchliefen, ließ sich nicht genau rekonstruieren. Ein Großteil der Patientenakten der
Klinik ist bis heute verschwunden. Die Station selbst wurde 1982 geschlossen, als ein
Teil des Personals den Mut aufbrachte, gegen die Zustände zu protestieren. Zuvor war
Direktor Münx abgelöst worden, nachdem bei einer Patientin, die zur Strafe zwei Tage
lang nackt auf einem Holzschemel im Bad zubringen musste, eine offene Tuberkulose
diagnostiziert worden war. Münx wurde versetzt und durfte angeblich nicht mehr als
Arzt für Haut- und Geschlechtskrankheiten praktizieren. Er starb im November 2000.
Mit dem Forschungsbericht über die Station in Halle befasst sich inzwischen auch der
sachsen-anhaltinische Landtag. „Es geht vor allem um die Anerkennung von Unrecht“,
sagt Birgt Neumann-Becker, Landesbeauftragte für die Stasi-Unterlagen. Der Bericht
ist vergangene Woche als Buch erschienen. Hoffnungen auf Entschädigung dürfen sich
die ehemaligen Insassen bislang nicht machen. Die Begründung der
Landesbeauftragten: Es sei nur schwer nachzuweisen, dass die Leiden der Frauen
ursächlich von ihren Erlebnissen in Halle herrührten.
Elke Heinrich sieht das anders. Sie will um eine Entschädigung kämpfen. Sie lebt heute
von 475 Euro Rente sowie 250 Euro Opferrente für ihre Haft im Frauengefängnis
Hoheneck, wo sie zwei Jahre wegen „versuchter Republikflucht“ einsaß. Bettina
Weben, die heute nicht mehr in Halle lebt, glaubt nicht an eine Entschädigung, auch
wenn sie findet, dass sie ihr zustünde. „Schließlich sind wir schuldlos eingesperrt und
misshandelt worden.“
* Name geändert
Zur Homepage
Quelle: F.A.Z.
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