rebirth edition

Transcription

rebirth edition
REBIRTH EDITION
PRIMAL PUNK
ONCE,
YOU LIVE ONLY
B U T I F Y O U D O
ONCE
I T
R I G H T,
IS ENOUGH
[M A E
CHRISTIAN GÜNTHER & MARKO DJURDJEVIC
W E S T ]
EDITORIAL
HERAUSGEBER
ART DIRECTION & ARTWORK
SIXMOREVODKA
Marko Djurdjevic
K O N Z E P T I O N ERGÄNZENDES ARTWORK
Christian Günther & Marko Djurdjevic Jelena Kevic-Djurdjevic
Gerald Parel
Mads Ahm
Esben Lash Rasmussen
Michal Ivan
Markus Lenz
Andrius Matijoshius
Timo Mimus
P R O D U K T I O N Marko Djurdjevic
Jelena Kevic-Djurdjevic
Emily Hale
Dennis Nußbaum
Adrian Fekete
Murad Albakov
K AT H A R S Y S R E D E S I G N
AUTOR
Christian Günther
CO-AUTOREN
Christian Günther
Alexander Malik
Marko Djurdjevic
Vedran Pilipovic
Alexander Malik
Marko Djurdjevic
DISCLAIMER
Degenesis tritt ein für Toleranz und Verständigung der Völ-
bewusst vermieden, da wir ihn für diskriminierend halten.
ker. Die Welt des Spiels Degenesis ist aus der heutigen her-
Gewalt und Rassismus werden von uns aufs Strengste abge-
vorgegangen und verzerrt sie in eine fantastische Zukunft.
lehnt. Illustrationen mit Kampfdarstellungen sind keine Auf-
Konflikte innerhalb der Spielwelt entsprechen natürlich nicht
forderung zur Gewalt, sondern bilden eine grausame Welt
der Realität – auch sind sie von uns in der Realität nicht ge-
ab, die es zu überwinden gilt. Kultur und Zivilisation sind die
wünscht, sondern dienen allein der Spannung. In jedem Film
großen Ziele in Degenesis, begleitet von Hoffnung. Dennoch
gibt es so etwas. Dennoch ist ein verantwortungsbewusster
empfehlen wir, Degenesis für Jugendliche unter 16 Jahren
Umgang angeraten. Keine der in Degenesis eingeführten sieben
nicht zugänglich zu machen, da wir nicht sicher sein können,
Kulturen ist besser als eine der anderen. Jede der Kulturen
ob unsere Botschaft und unser Appell an die Menschlichkeit
hat ihren gleichberechtigten Platz in der Welt der Degenesis.
verstanden wird.
Den in Rollenspielen üblichen Begriff der „Rassen“ haben wir
Degenesis® ist ein eingetragenes Warenzeichen von SIXMOREVODKA STUDIO GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Die Erwähnung von oder Bezugnahme auf
Firmen und Produkte auf den folgenden Seiten stellt keine Verletzung des Copyrights dar. Alle Namen, Titel, Charaktere, Texte und Illustrationen des vorliegenden
Buches sind © SIXMOREVODKA STUDIO GmbH. Alle Rechte vorbehalten. Nachdruck außer zu Rezensionszwecken nur mit schriftlicher Genehmigung des
Verlags. Charakterblätter dürfen ausschließlich zum persönlichen Gebrauch vervielfältigt werden.
LOGOS & PIKTOGRAMME
3D ARTWORK
Dennis Nußbaum
Marko Djurdjevic
Mario Anger
Jenny Leupold
V O R S AT Z I L L U S T R AT I O N E N
COVERDESIGN
Marko Djurdjevic
Dennis Nußbaum
Marko Djurdjevic
L A Y O U T, S A T Z & G E S T A L T U N G
L E K T O R AT
Dennis Nußbaum
Adrian Fekete
Christian Günther
BESONDERER DANK AN
Adrian Djurdjevic, Maren Günther, Ilka Malik, Milijana Kevic, Volker Steinmetz, Zoran Bihac,
Matthias Schoeningh, Ames Kirshen, Barbara Schramm, Olivier Jalabert, Murad Albakov,
Magnus Lenz, Oliver Hoffmann, Marcel Mandry, Anthony Neal, Andreas Christl, Coro Kaufman,
Melissa Lee, Kemp Remillard, Wes Burt, Nox, Jason Chan, Dave Rapoza, Carl Dobsky, Karl & Stefan
Kopinski, Greg Faillace, Mike Marino, JD Morvan, Guillaume Martinez, Kiky, Schatten, Heinrich,
Deathrace King, 1. Richter, Das Grauen
I N H A LT
DEGENES I S B U CH I PRIM A L PUNK
DIE PROPHEZEIUNG DES SCHAKALS
W A S I S T D E G E N E S I S ? 04
-
13
18
-
19
47
KAPITEL 01
F O R W A R D 20
-
KAPITEL 02
K U L T U R K R E I S E 48
- 135
K A P I T E L 0 3 K U LT E
136
- 321
KAPITEL 04 HISTORIE
322
- 347
I N D E X 348
- 351
INHALT
3
DIE PROPHEZEIUNG
DES
SCHAKALS
4 IST DIE ZAHL DES LEBENS UND DES TODES,
4 RUNEN IN ENDLOSEN WINDUNGEN,
SIND ANFANG, BESTIMMUNG, SCHICKSAL UND ENDE
DES MENSCHEN LEIB UND SEELE.
4 SIND DIE RICHTUNGEN,
AUS DENEN DER WIND DEN STAUB HERBEI TRÄGT,
4 DIE ZAHL DER ELEMENTE,
AUS DENEN WIR GEZEUGT,
UND ZU DENEN WIR AM ENDE ALLER TAGE ZURÜCKKEHREN.
ES IST DIE ZAHL DES URSPRUNGS,
DIE ZAHL DER SIPPE,
VATER,
MUTTER,
SOHN
TOCHTER.
UND
ES IST DIE ZAHL DER JAHRESZEITEN,
DIE DES MENSCHEN UND DIE DER ERDE.
VIERFACH SIND DIE SCHENKEL
DES SONNENKREUZES.
ES IST DIE ZAHL DER FLÜSSE
AUS DER DAS LEBEN SCHÖPFT.
DIE ERDE; ER ERSCHUF SIE NICHT ALS ÖDLAND, ZUM WOHNSITZ HAT ES SIE GEBILDET;
SÖHNE ZOG ES HERAN UND ERHÖHTE SIE;
DOCH TAUB FÜR SEINE WEISUNGEN,
GINGEN SIE IHREN WEG.
UND DA SPRACH ES:
„MENSCH DU HAST DICH GEPLAGT MIT DEINER MENGE AN RATSCHLÄGEN;
LASS SIE DOCH ANTRETEN UND DICH RETTEN;
DIE STERNENGUCKER; DIE HIMMELSBESCHWÖRER, DIE DIR ANKÜNDEN
JEDEN NEUMOND DAS ÜBEL!“
UND ES ERWECKTE DIE
ERDE,
SONNE,
MOND UND STERNE,
DIE MENSCHEN ZU STRAFEN.
UND SEHT SIE WAREN SPREU;
UND DAS FEUER VERZEHRTE SIE.
ZUSAMMENGEBROCHEN IST EINSTEIN, GEKRÜMMT IST NEWTON;
GÖTZEN, GESCHNALLT ALS BÜRDE AUF MÜDE TIERE;
IN DEN STÄDTEN Z E R R I S S E N U N D E N T W E I H T .
DIE ZAHL DER REITER IST 4
UND SIE KÜNDEN VOM UNTERGANG,
WIE ES AUCH 4 MEISTER
DER UNSTERBLICHKEIT SIND,
DER ERDE SO NAH,
DIE IHRER ZEIT IN KLAMMEN KAMMERN HARREN.
DOCH SIE WERDEN ERWACHEN IN RECHTER ABSICHT,
UM DIE STADT ZU BAUEN, SPRACH ES,
MIT 4 SEITEN WIE DIE PYRAMIDEN.
UND IN IHREN SCHATTEN GEDEIHT
DIE WAHRHEIT.
ALPHA UND OMEGA,
ANFANG UND ENDE,
LEBEN UND TOD.
DEGENESIS
7
8 IST DIE ZAHL DES SCHÖPFERS,
DER HERABSTEIGT AUS DER HÖHE.
STAUNEN WIRD DER MENSCH,
DESSEN NAME NICHT EINGESCHRIEBEN
IN DAS BUCH DES LEBENS SEIT GRUNDLEGUNG DER WELT,
WENN ER AUFBLICKT NACH DEM EINEN
DER WAR UND NICHT IST.
DES UNENDLICHEN,
ER, DER
KOMMT UND GEHT,
ER, MIT DEM
UND MIT DEM
ALLES STEIGT
ALLES FÄLLT.
UND DIE ERDE TUE SICH AUF,
UND ES ERBLÜHE DAS HEIL.
ACHTFALTIG ENTROLLEN SICH DES LOTUS BLÄTTER,
WOHIN DER WIND AUCH WEHT,
ACHTFACH WIE DIE PFEILE DER WINDROSE,
VERBREITEN SICH SEINE POLLEN,
VOLLER LUST GESPIEEN IN DEN HIMMEL.
AUGEN, BEINE, ALLES ACHTFACH,
ERHEBT SIE SICH AUS DEM DUNKEL,
ERKLIMMT DIE GRÖSSTEN HÖHEN,
UND VERSPERRT DIE TIEFSTEN TÄLER,
MACHT JAGD AUF DIE SECHSFALTIGEN.
8 IST IHRE ZAHL.
DEGENESIS
9
12 IST DIE ZAHL DER STÄMME
ZU DENEN SICH DER SCHAKAL GESELLT
IN DEREN MITTE ER SCHLÄFT
UND AUS DEREN MITTE ER FRISST.
12 SIND AUCH DIE MONDE,
DIE DAS JAHR ZERTEILEN;
12 DIE TEMPERAMENTE,
DIE DEN GEIST BEFREIEN
AUS DER MASSE.
12 IST DIE ZAHL DES ZODIAKS,
DESSEN KINDER IN JEDEM UNRUHIG RUHEN,
DARAUF WARTEN
E N T F E S S E L T ZU WERDEN.
IN DER ZAHL BEGRABEN
DER NAME BEIDER
SCHÖPFER.
DENN ES IST DIE 12,
DIE DEN TAG ZERSPALTET;
MORGENGRAUEN UND ABENDRÖTE,
LICHT UND SCHATTEN
TA G U N D N A C H T.
HOFFNUNG UND VERZWEIFLUNG SIND DIE SUMME DER 12,
WENN JEDEM WESEN DER DREIFACHEN VIER
ZU LUFT
ZU WASSER
UND AUF DER ERDE
DIE VOLLKOMMENHEIT DER EINHEIT
I N D E N G E I S T E D R Ä N G T.
DEGENESIS
11
16 IST DIE ZAHL DES FREMDEN,
DES NEUANKÖMMLINGS;
16 SIND SEINE OFFENBARUNGEN
16 IST DIE ZAHL SEINER HEROLDE,
DIE VERHEERUNG ÜBER DAS LAND BRINGEN.
8 UND 8 IST DIE ZAHL ZWEIER SCHÖPFER
DIE UM DIE HERRSCHAFT RINGEN
8 UND 8,
ZWEI UNENDLICHKEITEN,
DIE DIE EWIGKEIT
IN IHREM WIDERSTREIT V E R S C H L I N G E N .
INSTINKT
GEGEN VERSTAND,
FLEISCH GEGEN GEIST,
C H A O S GEGEN ORDNUNG.
1 UND 6 IST DIE ZAHL DER VÖLKER,
DIE UM DIE KRONE STREITEN WERDEN.
1 UND 6 IST DIE ZAHL DER PLAGEN,
DIE SIE HEIMSUCHEN.
1 UND 6 SIND DIE PUNKTE DER ACHSE,
GEZEICHNET AUF DER HAUT DES FEINDES.
1 UND 6 DIE BRUTKAMMERN,
AUS DENEN DIE WAHRHAFTIGE HÖLLE
ENTSTEIGEN WIRD.
4 MAL 4 IST DIE ZAHL,
DIE DAS SONNENKREUZ VOLLENDET,
WENN ALLE DINGE ZUM URSPRUNG
ZURÜCKKEHREN
UND DER KREIS FÜR IMMER GESCHLOSSEN
D I E Z E I T S I C H S E L B S T
BEENDET.
DEGENESIS
13
PRIMAL PUNK
WIEDERGEBURT
Wir mussten unseren Transporter an den Aschehängen
von Severac-le-château zurücklassen. Keiner würde ihn
stehlen; Geister sind schlechte Fahrer.
Etwa sechs Stunden Marsch liegen hinter uns. Wie
Eisbrecher haben wir uns durch die Asche gekämpft. Vor
uns erstreckt sich ein geschwärztes Bergmassiv, glasiert
und zerborsten von Hitze und Druck. Der Boden ist hart
und geschwungen wie ausgegossene Lava. Geplatzte Blasen sind erstarrt und bilden scharfkantige Grate aus. Lomark hat sich bereits ein kreisrundes Loch in seinen Stiefel gestanzt. Der Boden ist noch immer warm. Aufpassen.
Wir müssten mitten im Zentralmassiv sein, nahe Verrières. Irgendwo hierher kam der Beaujolais. War nicht
mein Ding, zu wenig Schaum drauf. Aber das war früher.
Die Hügelkette vor uns kann ich nicht zuordnen, da
sollten zwei Täler aufeinander stoßen. Wir müssen näher
ran.
Eindrucksvoll. Der Boden ist … - nein, das ganze verdammte Land ist umgeformt. Wie ein Tropfen, der ins
Wasser platscht und Wellenringe bildet, hat der Einschlag
konzentrische Ringe aus Fels aufgeworfen. Wir sehen jetzt
den Kraterrand. Nicht sehr hoch, vielmehr bildet er eine
Linie mit den höchsten Bergen im Zentralmassiv. Sowohl
mit den alten, wie den neuen.
Lomark meint, er hätte eine Wespe gesehen. Unsinn.
Hier hat nicht einmal die Erinnerung an die Vergangenheit überlebt. Er beharrt darauf, und ich nenne ihn einen
Idioten.
Die Nacht kommt. Wir kriechen in unsere Plastikröhren und schlafen.
Lomark ist bereits seit Stunden wach, sagt er. Er hätte
weitere Wespen gefunden und hält mir einen staubigen
Klumpen hin. Es reicht. Ich ziehe los, den Hang hinauf.
Jeder Schritt löst Schuttlawinen aus, denen Lomark ausweichen muss. Er beeilt sich, hinter mir her zu klettern.
Ich muss übermüdet sein: Steinchen und Staub trennen sich auf ihrem Weg hangabwärts, bilden flächige
Mandalas aus, bevor sie von Lomarks Stiefeln und Händen
zerwühlt werden und wieder zerfließen. Ich nicke Lomark
zu, er winkt zurück. Alles ist gut.
Ich komme oben an, sacke immer wieder in den Asche-
wehen ein. Wind erfasst mich, und ich strauchele. Das statische Rauschen der aufgewirbelten Asche reduziert die
Sicht auf wenige Meter. Ich robbe vorwärts, spüre dass es
abwärts geht, komme ins Rutschen und stemme mich dagegen. Für einen Augenblick schlägt der Dreck über mir
zusammen. Dunkelheit umfängt mich, doch ich gleite aus
ihr heraus und schlage auf einem Vorsprung auf, kann
mich halten. Um mich herum prasselt und rauscht es. Ich
huste und rotze, reibe die Asche von der Schutzbrille und
blicke zurück. Der Kraterrand liegt gut zehn Meter über
mir am Hang. Ich bin drin. Staub- und Ascheschleppen
flattern über dem Krater, wie ein Nordlicht in hässlich.
Das Kraterinnere erstreckt sich vor mir: Eine riesige
Schüssel, die sich in der Ferne verliert. Ich erkenne noch
einen Berg im Zentrum, und … Ich schaue genauer hin,
gebe meinen Augen Zeit. Strukturen schälen sich heraus.
Kreise mit Zacken, Dreiecke, alle ineinander verwoben
und aneinander grenzend. Ich erinnere mich an Magnetspäne auf einem Papier, mit einem Magneten darunter.
Das ist es nicht. Eher wie … Staub auf einer Trommel, die
angeschlagen wird. Aber das würde die Zacken nicht erklären.
Ich höre Lomark neben mir schnaufen. „Siehst du
das?“ Ich ignoriere ihn. „Den Qualm?“ Er deutet auf den
Hang vor uns. Tatsächlich. Schwarzer Qualm hängt dort
in der Luft. Ich lasse mich auf die Knie fallen, rutsche etwas tiefer und gehe ganz nah heran. Ein feines schwarzes
Gespinst. Ich fahre mit meiner Hand hindurch, und es verschwindet. Als ob eine chemische Reaktion mit meinem
Handschuh es neutralisiert hätte. Ich wühle im Dreck,
grabe einen faustgroßen und pechschwarzen Stein aus.
Er zerschmilzt zu eben jenem Qualm. In langen, öligen
Schlieren steigt er auf. Ich betaste den Stein, spüre wie er
nachgibt. Warm ist er nicht. Ein Käfer schießt hervor, ich
schreie auf und zucke zurück, er krabbelt in einer Zickzacklinie davon, bohrt sich mit vibrierendem Hinterleib
ins Erdreich und ist weg. Das Eintrittsloch fällt ein. Ich
spüre Lomarks Atem an meinem Ohr. Er flüstert mir „Wespen“ zu.
Ich ziehe meinen Handschuh aus, will den schwarzen
Stein spüren. Ich fahre mit der Hand wieder durch den
Qualm - und wieder verschwindet er. Ich blicke auf meine
Hand, wende sie und betrachte beide Seiten, spreize die
Finger. Ein Hauch Schwarz liegt auf ihnen, aber es scheint,
als ob es verdunsten … oder einsickern würde. Ich reibe
über meine Hand, schüttele sie und balle sie zur Faust. Adrenalin prickelt in den Adern, lässt mein Herz rasen und
mich schneller atmen. Ein Moment der Panik überkommt
mich, und ich ziehe den Handschuh schnell wieder über.
„Mach Bilder“, raunze ich Lomark an, während ich
Probenfläschchen hervorziehe und etwas von der schwarzen Substanz hineinstreiche. Sie verflüssigt sich sofort,
doch ich schnippe den Verschluss zu. Gefangen. Aus den
Augenwinkeln sehe ich schwarze Punkte über den Boden
neben meinen Füßen huschen. Einige davon erheben sich
und fliegen davon. Gegen die Windrichtung. Wo sind wir
hier nur gelandet. Irgendwie steht das alles in Verbindung
miteinander. Ich stecke das Röhrchen weg.
*
Wieder zurück, begebe ich mich in die Quarantäne. Ein
kleiner Luxus: Ein eigenes Zelt, Essen wird gebracht.
Langeweile ist mein Freund. Aber schon nach Tag 1 sieht
Dr. Rousseville keinen Grund, mich länger hier zu lassen.
Er schaut nur auf Durchfall und Auswurf, und nach HIVE-Symptomen. Wir nennen ihn den Schleimdoktor. Was
unfair ist, weil er den Laden zusammenhält. Von dem
schwarzen Qualm will er nichts wissen. Er hat kein Röntgengerät, mit dem er meine Hand durchleuchten könnte,
aber was hätte das schon gebracht?
Ich fühle mich gesund, doch Dr. Rousseville fordert,
dass ich jede Veränderung meines Befindens aufschreiben
soll. Meine Lunge rasselt, wahrscheinlich zu viel Asche.
Der Auswurf ist schaumig. Ich notiere das. Die Rötungen
auf der Brust ebenfalls.
Die Mandalas im Krater gehen mir nicht aus dem
Kopf, und als die Rötungen auf meinem Körper zu ähnlichen Mustern heranwachsen, bin ich nicht einmal überrascht. Inzwischen huste ich dicke Flocken aus. Die sind
schleimig, aber zusammengepresst auch flauschig. Notiert. Mir geht es immer noch gut.
In meinem Zelt sind Ameisen. Ich spüre sie nachts
auf mir herumklettern und sehe morgens die Spuren, die
sie in den Dreck vor meiner Pritsche getrippelt haben.
Mandalas. Mein Herz fühlt sich schwer und heiß an, jeder Atemzug ist brennende Intensität. Ich rieche, was am
anderen Ende des Lagers gekocht wird, erkenne meine
Freunde am Körpergeruch. Ich glaube sogar, dass ich den
Geruch manchmal sehe. Die Welt ist voller glühender
Spuren, voller komplexer Information. Ich deliriere.
*
Dr. Rousseville und die anderen stinkenden Affen wollten
mich festhalten, und ich habe mich furchtbar aufgeregt,
dass mir sogar die Drüsen am Hals geplatzt sind. Sie haben einfach von mir gelassen, haben kuhäugig geglotzt.
Rousseville hat gekotzt, ohne sich hinunterzubeugen, es
lief einfach aus ihm heraus. Der Geruch war intensiv für
meine alten Sinne, aber für mein neues Ich war er eine
wenig komplexe Botschaft.
Bin dann rausgelaufen, und niemand hat mich aufgehalten.
Die Wespen reden mit mir. Es ist einfache Sprache der
Bewegung und der Gerüche. Ich bewege mich entlang der
Linien, die sie in die Luft zeichnen, bewege mich aus den
Ruinen in einen sterbenden Wald. Es riecht immer noch
nach Fichtennadeln, aber darunter entdecke ich andere
Nuancen, die ich noch nicht verstehe. Es hat etwas mit
Geburt zu tun, soviel spüre ich.
Mein Herz hängt bleiern und feurig in meiner Brust,
es pumpt und stampft. Ich gehe auf die Knie, grabe meine Hände in die Erde. Ja, Geburt. Die Mandalas brennen
auf meiner Haut, sind der Nährboden weißer Flocken.
Es zieht und reißt, als ob sich entlang der Linien Haut
und Fleisch teilen. Ich sacke auf den Boden, und etwas
in mir drängt nach außen. Ich atme Flocken aus, sehe sie
aufsteigen, spüre meinen Körper aufpilzen, versinke im
Erdreich.
In einem anderen Teil meines Schädels kreischt die
Angst. Menschlich, alt.
Wiedergeburt.
KURZGESCHICHTE
17
WAS IST DEGENESIS?
Eshaton. So nannten sie den Einschnitt. Gestern Hochkultur, heute Steinzeit. Feuer regnete vom Himmel, verbrannte das Land, verbrannte die Menschen. Die Erde zitterte, bäumte sich in Qualen auf. Ganz wie ein Fiebriger
in den letzten Zügen. Doch die Erde verging nicht. Sie
veränderte sich.
Das Urvolk war untergegangen, und mit ihm das
Wissen zehntausendjähriger Kultur. Die Überlebenden
kämpften um Essen und sauberes Wasser. Mit leeren
Augen starrten sie auf die verrottenden Karossen ihrer
Vorfahren, streunten ahnungslos durch die Ruinen einer
großartigen Zivilisation. Eine Zivilisation, die sie vor langem abgestreift hatten, beiläufig und selbstverständlich,
wie eine Schlange aus ihrer alten Haut schlüpft. Frei von
Moral und Ethik und naiv wie Kinder blickten sie auf ihre
zerstörte Welt, von Naturgewalten gepeinigte Landschaften, giftige Sperrzonen – und sie wussten nur, dass sie sich
gegen diese Umwelt behaupten mussten, oder mit ihr untergehen würden.
Die Zeit verging. Der Rauch über den großen Kratern
verwehte, und die Völker hatten aufs Neue ein Gerüst Kultur um ihr Leben errichtet. Noch war es wackelig und die
Nägel spärlich gesetzt. Dann und wann brach eine Zivilisation unter Getöse zusammen – doch das Baumaterial
fand an anderer Stelle Verwendung. Flickschusterei. Aber
ein Neuanfang nach Jahren des Niedergangs.
Wir schreiben das Jahr 2595. Europa ist gespalten in
untereinander konkurrierende Kulturen: Die Völker Borcas klammern sich an die rostigen Relikte des Urvolks; die
Franker zappeln im Pheromonnetz der Absonderlichen;
Purgare ist auf der einen Seite verbranntes Land, auf der
anderen Seite fruchtbare Ebene, doch zerrüttet von Feh-
den und dem Kampf gegen die Psychokineten; die Pollner ziehen von Oase zu Fraktalwald, bevor auch der letzte Flecken Grün von der Fäulnis und der biokinetischen
Plage verschlungen wird; Hybrispania ist geschlagen mit
einem jahrzehntelangen Befreiungskampf und einer sich
blähenden Zeitverwerfung. Jenseits des Mittelmeers erstrahlt Africa in Gold und Lapislazuli, und ringt mit einer fremdartigen und aggressiven Vegetation um seine
Existenz.
Sieben Kulturen, dreizehn Kulte, zahllose Klans:
Welches Volk, welche Philosophie, welcher Glaube wird
sich durchsetzen? Werden es jene sein, die den Ruhm der
Vergangenheit heraufbeschwören? Oder jene, die sich auf
den Trümmern des menschlichen Hochmuts eine tapfere
neue Welt errichtet haben? Im Schatten der Krater regt
sich etwas - ist den Menschen überhaupt eine Zukunft
beschieden?
Degenesis handelt von Hoffnung und Verzweiflung. Es
handelt von Menschen im Kampf zwischen Zivilisiertheit
und Barbarei, stellt die Frage, wie weit sich unsere Rasse
wirklich entwickelt hat, seit wir von den Bäumen geklettert sind. Die Welt von Degenesis gleicht einem zerstörten
Garten Eden, aber wie dieser trägt sie das Geheimnis von
Gut und Böse, von Ignoranz und Erkenntnis, Barbarei und
Kultur in sich.
Das Rollenspiel Degenesis stellt die Schauplätze und
Geschehnisse dieser Welt vor. Die Spieler verkörpern darin
Charaktere, die so genannten Spielercharaktere oder auch
kurz SC. Diese werden sich in einer unwirtlichen Zukunft
behaupten müssen, werden ihr Schicksal und das anderer
Leute beeinflussen – zum Guten wie zum Schlechten. Es
liegt in ihrer Hand.
WAS IST EIN ROLLENSPIEL?
Ein Rollenspiel – manchmal auch Erzähl-
Hauptrollen. Sie bestimmen über die Akti-
und erfindet Geschehnisse, Orte und Per-
spiel genannt – ist ein Gesellschaftsspiel,
onen ihrer Spielercharaktere und sprechen
sonen.
das ohne Spielbrett und ohne Computer
für sie. Die vom Spielleiter vorgegebene
Im Gegensatz zu Brettspielen benötigt
auskommt. Die Spieler erleben aufregende
Rahmenhandlung muss sehr flexibel sein,
ein Rollenspiel keine Regeln, die festlegen,
Abenteuer unter dem Deckmantel einer an-
denn die Spieler können frei entscheiden,
wer gewinnt und wer verliert. Dennoch gibt
deren Identität. Nur dass sie sich dabei sel-
wohin ihre Spielercharaktere als nächstes
es Regeln. Sie helfen, den Handlungsrah-
ten vom Tisch erheben müssen. Das Spiel
gehen, mit wem sie reden oder wie sie
men der Charaktere abzustecken. Kann ein
gleicht einem improvisierten Hörbuch: Alle
agieren.
Spielercharakter die Schlucht überspringen?
Figuren, Szenen und Handlungen werden
Dieses Werk bietet Spielern und Spiel-
Oder ist er körperlich in der Lage seinen
beschrieben und erst durch die Vorstel-
leiter Hintergrundinformationen zu Kul-
Wächter niederzuringen? Vermag er die Ru-
lungskraft der Spieler in Bilder umgesetzt.
turen, Kulten, Gegnern, Ausrüstung und
nen auf den alten Plakaten zu entziffern? Mit
Eine wichtige Person am Spieltisch ist
vieles mehr. Wie der Spielleiter die be-
einer Faustvoll sechsseitiger Würfel, einem
der Erzähler, der auch Spielleiter genannt
schriebenen Orte, Geheimnisse und Cha-
Blick auf die Spielwerte des Charakters und
wird. Er beschreibt die Landschaft, führt
raktere in sein eigenes Spiel einbaut, bleibt
dem von Degenesis verwendeten Spielsys-
durch die Rahmenhandlung und über-
ihm freigestellt. Er erschafft aus dem Mate-
tem ‚KatharSys‘ lassen sich alle Situationen
nimmt die Sprechrollen der Nebenfiguren
rial seine eigene Welt, setzt Schwerpunkte,
schnell und unkompliziert lösen. Es wird im
und Kontrahenten. Die Spieler besetzen die
ignoriert, was ihn nur am Rande interessiert
zweiten Buch ausführlich beschrieben.
UND ICH WILL DIR
ETWAS ANDERES
ZEIGEN ALS
DEINEN SCHATTEN
DES MORGENS,
DER DIR AUF DEM FUSS FOLGT
ODER DEINEN SCHATTEN DES ABENDS,
DER HOCHTAPERT D I R E N T G E G E N
A N G S T ZEIG ICH DIR
IN EINER HANDVOLL
STAUB.
[ T. S . E L I O T ]
WAS FINDE ICH IN DEN BEIDEN BÜCHERN?
Das vorliegende Werk ist in vier große Abschnitte unterteilt:
PRIMAL PUNK
ALMANACH
Der Leser wird in die Welt der Degenesis entführt, lernt
die sieben bekannten Kulturen kennen und erhält einen
ausführlichen Einblick in die dreizehn Kulte, die das Weltgeschehen bestimmen.
Am Ende von Buch 1 werden die Historie und die wahren Begebenheiten vor und nach dem Untergang anhand
eines ausführlicher Zeitstrahls aufgeschlüsselt.
In diesem Kapitel ist das Handwerkszeug der Charaktere
gelistet und detailliert beschrieben: Ausrüstung, Waffen,
Panzerung, Fahrzeuge, Artefakte…
K AT H A R S Y S
Wir sind bereits in Buch 2 angelangt. Alle Regeln werden
in diesem Kapitel behandelt: Wie wird ein Charakter erschaffen, was sind die Charakterwerte, und was sagt ein
Würfelwurf aus? Wie setzt er seine Waffen gegen Gegner
ein, denen er zwangsläufig begegnen wird?
SPERRZONE
Dieser Abschnitt enthält Geheimnisse und Hintergrundwissen, die dem Spielleiter vorbehalten sind und von den
Spielern nicht gelesen werden sollten.
Beispielsweise findet er hier Widersacher samt Spielwerten, oder ein Kapitel über Rollenspiel, das ihm den
Einstieg in seine Rolle vereinfachen soll und Tipps zum
Abenteuer- und Kampagnenbau anbietet. Den Abschluss
bildet ein Kurzabenteuer - es ermöglicht einen Schnelleinstieg in Degenesis.
EINLEITUNG
19
A M A N FA N G S T E H T D A S E N D E
Die Fliege weckte den Mann. Er grunzte, verscheuchte
sie mit einer herrischen Bewegung und setzte sich auf. Er
starrte in das Halbdunkel des Zimmers. Durch die Ritzen
des verbarrikadierten Fensters fächerte das Abendlicht auf
und ließ Staubpartikel erstrahlen. Die Fliege surrte leise.
Der Mann tastete nach etwas auf dem Nachttisch, spürte
das Plastik und griff zu. Die Fliegenklatsche. Er grinste.
Der Mann stand auf und schlurfte zum Fenster, vorbei
an gerahmten Auszeichnungen, bescheinigten Teilnahmen an Kolloquien, einer Doktorurkunde der Philosophie.
Sein Blick strich über die Rahmen, das Glas. Nirgendwo
die Fliege. Das Unterhemd klebte ihm auf der Haut, er
reckte sich, bis es sich löste, murmelte „Scheiße“, ging weiter bis ans Fenster und brachte seine Augen auf eine Höhe
mit einem Schlitz.
Da hatte sich nichts getan.
Die Autos waren ausgebrannte Skelette, das Straßenpflaster aufgebrochen. Zeitschriften lagen auf der Straße
wie zertretene Vögel, der Wind spielte mit ihren Seiten.
Das Schaufenster gegenüber war eingeschlagen, daneben
hatte jemand „Das Ende ist nah!“ auf die Tür gesprayt.
Die Nachbarn waren auf das Land und in die Berge geflohen. Nur die ewigen Optimisten, Skeptiker oder einfach
nur Wahnsinnigen verharrten grimmig in ihrer Stadt, die
Feueraxt im Schoß. Oder die Fliegenklatsche. Der Mann
lachte und hustete. Er drückte die Stirn gegen das Brett
und drehte den Kopf zur Seite. Am Ende der Straße baumelte noch immer der Plünderer am Laternenmast. Eine
Krähe saß auf seinem Kopf und putzte ihr Gefieder. Seit
Jahrzehnten hatte er die Vögel nicht mehr in der Stadt gesehen. Sie kamen gerade rechtzeitig zum Leichenschmaus.
Die Sonne versank hinter den Häusern, Dunkelheit staute
sich in dem Zimmer. Der Mann hing noch immer mit der
Stirn an dem Brett und stierte in den Himmel. Ein neues
Sternzeichen flackerte dort oben im Nachtblau des Firmaments. Die Streamcasts waren voll mit ihm gewesen, erst
mit schematischen Zeichnungen, später mit flirrenden
Bildern von Erdbeobachtungsstationen. Später waren die
Punkte mit bloßem Auge am Nachthimmel auszumachen,
durchstachen Wochen später in ihrer Brillanz auch die
Helligkeit des Tages. Jetzt standen sie als gleißende Fackeln am Himmel.
Viele Menschen hatten sich dieser Tage von der Technik abgewandt. Sie hatte ihr Versprechen nicht eingehalten, ließ die Bedrohung zu etwas Unabwendbarem gerinnen, statt sie wegzuwischen. Die Kirchen waren jetzt
überfüllt, auf den Plätzen hielten sich Menschen die Hände und weinten.
Massenselbstmorde, Plünderungen und Selbstjustiz
auf der ganzen Welt zeigten mit dem Finger auf eine sich
wandelnde Gesellschaft. Die Auflösung hatte schon begonnen, bevor es losgegangen war.
Der Mann stieß sich von den Brettern ab und lauschte
in die Dämmerung.
Vielleicht war dies sein letzter Tag. Vielleicht sollte
er etwas tun. Etwas Besonderes. Er hatte es in den Streamcasts gesehen: Homo sapiens war auf seine stärksten
Emotionen reduziert: Liebe, Hass, Begierde, Macht – und
Angst. Ein chaotischer Mahlstrom der Gefühle, unwiderstehlich und eklig in seiner Anziehungskraft. Orgien,
grenzenlose Gewalt, gieriges Zusammenraffen, aber auch
Aufopferung und wahre Herzenswärme wechselten sich
ab von Straßenzug zu Straßenzug.
Nichts für ihn.
Draußen quäkten die Alarmanlagen, und der Mann
roch den Qualm. Die Fliege umschwirrte ihn jetzt wieder.
Er spürte den Hass in sich aufwallen und verharrte, die
Augen zu Schlitzen verengt. Stille. Ein schwarzer Punkt
huschte über ein Brett und blieb stehen. Der Mann hob
die Fliegenklatsche, leckte sich über die Lippen, spürte
Freude aus den tiefsten Tiefen aufsteigen wie eine Urgewalt - und schlug zu.
„Schluss jetzt!“
Das Ende war da.
FORWARD
25
E S H AT O N
2073. Das Jahr der Apokalypse. Das Weltgefüge erzitterte
unter den Schlägen aus dem All, Kulturen zerbarsten und
sollten sich nie wieder erholen. 10.000 Jahre Zivilisation
verglühten an nur einem Tag.
Europa war durch das Asteroidenbombardement
schwer getroffen. Gewaltige Brände und elektrostatische
Entladungen erhellten die Nacht; am Tag schluckten
Rauchwolken und aufgewirbelter Dreck jeden Sonnenstrahl. Der Regen war sauer und giftig. Die Städte stanken
nach Tod.
Nordamerika versank im Aschenregen. Brasilien funkte
noch Tsunamiwarnungen, und Sekunden später erstarben
alle Frequenzen zu statischem Rauschen. Sydney verging in
der Glut der Sterne. Die Feuerwehr Moskaus stemmte sich
noch für Tage gegen das Fegefeuer in ihrer Stadt. In Doha
erhellten Maschinengewehrsalven die Nacht, und Aschewolken verdunkelten den Tag. Indien zerbrach.
Die Erdkruste war punktiert und geschwächt. Entlang
einer geschwungenen Linie von Kratern, die in Skandinavien begann, sich durch die Alpen bis an den Ansatz des
italienischen Stiefels und weiter an die Küste Afrikas zog,
brach sie auf. Risse bahnten sich krachend den Weg durch
den Untergrund, gigantische Landschollen von der Größe
ganzer Städte wurden in die Höhe gepresst, Stein kreischte
über Stein. Magma ergoss sich an die Oberfläche und verbrannte die Region zu einer Schlackewüste. Die Reste wurden von Erdbeben und Steinhagel zerstoßen.
Roter Kraterstaub und vulkanische Asche zogen in
dichten Wolken über den Himmel, tauchten das Land in
Zwielicht. Die Sonne war kaum mehr als eine ferne, glosende Murmel.
Viele Menschen stülpten Worthülsen wie Apokalypse,
Weltenbrand und Armageddon über die Vernichtung jener Tage und akzeptierten deren Endgültigkeit. Eine letzte
Flasche Wein, kaltes Metall an der Schläfe, den Finger gekrümmt - und dann nichts mehr.
Doch sie lebten, und dies war nicht das Ende. Ja, die
alte Welt war untergegangen, und nichts und niemand
würde die gute alte Zeit zurückholen können. Die Menschen rangen um eine Erklärung und fanden sie im Spirituellen: Beschrieb die eschatologische Lehre nicht nur die
Vollendung der Schöpfung, sondern auch die Morgenröte
einer neuen Welt? Es fühlte sich gut und hoffnungsvoll an.
Diese Asteroiden hatten nicht die Apokalypse gebracht.
Sie brachten das Eshaton. Den Neuanfang.
Jetzt mussten sie nur noch die Nacht durchstehen.
EISZEIT
Nach den Flammenstürmen kamen Dunkelheit und Kälte. Schnee mischte sich unter den Aschenregen, die Wolken hingen tief und schwarz über der Landschaft, nur
von Blitzen aufleuchtend. Fallwinde wühlten sich durch
die brodelnde Melange und bluteten sie zur Erde hin in
rostroten Schleppen aus. Wenn die Wolkendecke einmal
aufriss, tasteten flirrende Lichtsäulen schräg durchs Land,
und tausende Augen in rußigen Gesichtern folgten ihrem
Weg.
Der Winter kam und entschied zu bleiben.
Die Polkappen dehnten sich aus, raubten dem Meer
das Wasser und türmten es zu Gletschern. Nordeuropa
versank im Schnee. Die Überlebenden krochen in den
Untergrund, stießen nur noch an die Oberfläche, um
Brennmaterial heranzuschaffen. An der Küste trat das
Meer seinen Rückzug an und floss über das Schelf ab. Die
Hafenanlagen der Küstenstädte fielen trocken und überragten schließlich eine Sand- und Kieselwüste.
Afrika erging es weit besser als Europa. Äquatoriale
Luftströmungen lenkten die Staubwand in mächtigen
Wirbeln nach Norden und Süden ab; der schwarze Kontinent konnte durchatmen. Die Klimazonen verschoben
sich: Während Europa in einen unruhigen Winterschlaf
fiel und Südafrika von Antarktisausläufern erobert wurde, löste ein mediterranes Klima die wabernde Hitze über
Nord- und Zentralafrika ab. Ein warmer, feuchter Wind
trieb vom Atlantik regenschwere Wolken über den Kontinent, wo sie sich in den noch jungen subtropischen Urwald ergossen. Die Sahara erblühte, während der Rest der
Welt zu erfrieren drohte.
AUFERSTEHUNG
Die Erde hatte schon Schlimmeres durchgemacht, und immer zurückgefunden zu ihrer alten Schönheit. Die Kraterasche wurde vom Regen aus der Luft gewaschen und von
den Weltmeeren geschluckt. Der rostrote Schleier fiel, und
in den Ruinenfeldern knackte und barst das Eis unter dem
grellen Licht der Mittagssonne.
Noch immer waren die Winter unerbittlich und fütterten die Gletscher auf ihrem Weg ins Land, doch die Sommer sprengten die Eispanzer auf den Seen, ließen Bäche
plätschern und Gras auf den roten Wogen wachsen. Zwischen verkohlten Baumstämmen gediehen Sprösslinge.
Sippen durchmaßen das Meer aus Kraterasche, auf der
Suche nach Nahrung, Brennholz und einer Heimat. Staub-
schleppen wogten hinter ihnen, zerrissen und drifteten
über die Ebene - und brachten jene auf ihre Spur, denen
ein Menschenleben weniger bedeutete als ein voller Magen. Die Überlebenden waren infiziert von Niedertracht
und Gier, und ein Heilmittel musste erst noch angesetzt
werden. Klans schlossen sich zusammen und lieferten sich
mit Siedlungen und Stadtstaaten blutige Schlachten um
Nahrung und Waffen. So wenige Menschen waren nach
dem Eshaton verblieben, und sie dachten noch immer nur
daran, sich den Schädel einzuschlagen.
Dennoch gediehen die Siedlungen. Sie duckten sich
hinter Festungsmauern, wuchsen, verwarfen ihre steinernen Hüllen und errichteten neue Wälle. Altes Wissen
floss zurück in den Schoß der Menschheit.
500 Jahre vergingen, in denen die Regeln der Zivilisation mit Flinten und Äxten in die Schädel jener getrieben
wurden, die dem Sturmlauf ins Licht der Erkenntnis im
Wege standen.
Neue Lebensweisen bildeten sich heraus, dreizehn Kulte erhoben sich über das Chaos, bündelten die
menschliche Tatkraft und lenkten sie in neue Bahnen.
Sieben gewachsene Kulturen von Nordeuropa bis hinab
nach Afrika verströmten ein Lebensgefühl, das weit entfernt war vom dumpfen Brüten der Vergangenheit. Städte wie das großartige Justitian oder das brodelnde Tripol
waren der Stolz der Menschheit. Schiffe kreuzten auf
dem Mittelmeer und spannten wieder ihr Netz aus Handelsbeziehungen zwischen fernen Ländern und fremden
Kulturen.
Wir schreiben das Jahr 2595. Es könnte gut stehen um
die Menschheit. Doch in den schattigen Gassen der schönen neuen Welt lauert etwas, das der Krone der Schöpfung den Platz streitig macht.
FORWARD
27
INFIZIERT
Die Asteroiden stürzten auf die Erde, zerstörten und verformten. Die eurasische Kontinentalplatte war geborsten; Flüsse versiegten oder suchten sich ein neues Bett;
das Mittelmeer trocknete aus, neue Küstenlinien hoben
sich über seine Wasser. Vulkane, Wüsten roten Asteroidenstaubs, eine neue Eiszeit, millionenfacher Tod.
Alles Belanglosigkeiten im Vergleich zu dem, was kommen sollte.
Denn die Asteroiden bestanden nicht nur aus Stein
und Eis. Eingeschlossen in Kohlenstoff-Gittern und gebunden zwischen Eisenkristalliten trugen sie die reinste
Form der Evolution in sich: Den Primer. Ein mythischer
Stoff, der nach den Einschlägen über Jahre hinweg aus den
Bruchstücken diffundierte, als schwarzer Nebel aufstieg
und in organische Materie einsank. Die Primersporen
fächerten zu molekularen fraktalen Schlingen auf, umschlangen die Doppelhelix der DNS. Sie gaben nichts hinzu. Aber sie starteten das Programm von vorne. Eröffneten
ihm neue Wege.
Schemen lösten sich aus den Schatten der Krater. Bleiche Haut, die sich straff über faustgroße Drüsen spannte;
gequälte Kreaturen mit vernähten Augenlidern, die dennoch aus tausenden Augen Zukunft und Vergangenheit
ertrugen; verformte Leiber, aus denen Stacheln brachen.
Der Primer infizierte, verwarf und optimierte.
Er gebar eine neue Spezies. Es war die Geburt des
Homo Degenesis.
Angepasster als der alte Affe Homo Sapiens und ausgestattet mit psychischen Fähigkeiten jenseits aller Vorstellung erklomm er die Nahrungskette. Er war ein Günstling
Gaias, genährt an ihrer Brust, umschmeichelt von ihren
Sporenstürmen. Als Teil des Erdbewusstseins sah er sich,
könnte der Menschheit das Kollektiv bringen, die Geister
verschmelzen. Viele in Einem. Seine Klauen griffen be-
reits nach dem Knöchel der Menschheit - ein Ruck nur,
und sie würde von ihrem Thron gerissen. Doch jetzt regte
sich Widerstand. Homo Sapiens würde seinen Platz nicht
kampflos räumen.
FÄULNIS
Wenige Dekaden nach dem Eshaton. Nichts lebte mehr
in der Nähe der Krater. Der Primer lag als Firnis auf den
glasierten Hügeln, schwappte in Vertiefungen oder war in
den Staub gesunken. Er harrte aus. Der Wind trug Asche
herbei, und Sporenpilze. Die Infektion hatte begonnen.
Jahre später wogte Pilzflaum in den Kratern. Seine Hyphenfäden hatten sich in die Erde gesenkt und waren zu
einem wattige Myzel verwachsen, das sich stoßweise kreisförmig ausbreitete. Bis die kritische Masse erreicht war,
wie vom Primer programmiert. Das Myzel pumpte Nährstoffe an die Oberfläche, der Boden hob sich knisternd,
und auf seinem Kamm bildeten sich Fruchtkörper aus.
Die Pilze erblühten.
Ihre Fruchtkörper blähten sich zu faustgroßen Knospen, die satt und weiß aus dem Meer aus Flaum ragten.
Innerhalb eines Tages härteten sie aus und verdarben zu
einem stumpfen Grau. Das Stützskelett aus feinen Adern
trat hervor. Die Knospen waren jetzt brüchig wie Herbstlaub, und sie raschelten im Wind. Wenn sie schließlich
zerrissen, stob eine Wolke aus Sporen auf, zerfloss in der
Luft zu Dunst und verwirbelte ins Nichts.
Das Myzel hatte das Erdreich über die Monate ausgelaugt. Jetzt zerfiel es vom Zentrum her. Es hinterließ
einen trockenen und porösen Boden, der schließlich zu
einer kreisrunden Mulde einsackte. In den Randbereichen
wucherte das Myzel weiter und arbeitete sich nach außen,
wieder bis zu einer kritischen Ausdehnung, um erneut
eine Pilzblüte anzustoßen. Ring um Ring gedieh das Feld.
Nach Jahren des Wuchses und Erosion waren konzentrische Täler und Wälle zu erkennen: Wie ein Tropfen, der in
eine stille Wasseroberfläche einschlägt und eine oszillierende Kreiswelle aussendet.
Der Pilz breitete sich aus. Er kroch über die Kraterwände und ergoss sich in die Welt. Neue Sporenfelder sprossen
und prägten der Landschaft Wall um Wall auf, hunderte
Meter durchmessend. Als die ersten Menschen den Befall
sahen, glaubten sie, die Erde selbst sei am Verfaulen; den
Pilz tauften sie „Fäulnis“.
MUTTERSPORENFELDER
Die größten Sporenfelder messen Kilometer. Die Fäulnis
steht in Schleiern über ihnen, die vom Wind angestoßen
wie Banner in Zeitlupe flattern. Sehr wahrscheinlich haben sie mehr als einen Zyklus durchlaufen: In der Mitte
beginnt eine neue Blüte, das Myzel frisst sich weiter in
die Krume, bis hinab in nährstoffreiche Schichten. Neue
Ringe auf alten, diesmal tiefer; die Wälle umso höher.
Die Konturen des Felds treten stärker hervor. Zyklus um
Zyklus dehnt sich das Feld. Gleichzeitig treten die ersten
magnetischen Anomalitäten auf: Kompassnadeln richten
sich zitternd auf das Feld aus - die Transformation in ein
Muttersporenfeld ist abgeschlossen.
BURN
Die Blüte eines Muttersporenfelds gebiert Knospen in einem staubigen Lila. Die Außenhaut ist fester, so dass die
Knospen gepflückt werden können, ohne in der Hand zu
bersten. In ihrem Inneren tragen sie die Saat, die Menschheit in den Bann des Primers zu schlagen: Wer die Muttersporen einatmet, wird auf eine Reise in Sphären jenseits
menschlicher Wahrnehmung geschleudert, er durchmisst
Farbkaskaden und schwenkt ein auf eine Kreisbahn um
ein gleißendes Zentralgestirn reinster Emotion. Kälte ist
plötzlich erträglich, Hunger nur ein verglühender Stern in
der Neuronen-Galaxie des Gehirns.
Die Muttersporen werden Burn genannt. Sie sind eine
Droge, aber sie sind vor allem eine Gefahr.
PHÄNOTYP
Burn brennt. Die Sporen entfalten sich zu Myzelen, die ihre
Fäden in die Lungenbläschen und den Blutstrom senken.
Wie die Druckwelle einer Explosion sich kreisförmig vom
Zentrum ausbreitet, frisst sich Burn vom Infektionsherd aus
kreisförmig in den Leib. An der Haut tritt es an die Oberfläche: rote Kreise verraten den Burner. Myzelgespinst mischt
sich unter die Körperhaare und zeichnet die Kreise nach.
Doch die Ausblühungen verändern sich. Weitere Linien
brechen durch die Haut, verbinden sich zu Symbolen, bevor
sie in der Interferenz mit anderen Symbolen zusammenfallen oder die Bugwelle des äußeren Kreises an Kraft verliert.
Sieben Symbole sind bekannt: Eines erblüht auf den
Körpern jener, die aus der Region Borca stammen. Ein anderes kennzeichnet alle, die im Schatten der Pheromonschlote
in Franka aufgewachsen sind. Gleiches gilt für Pollen, den
Balkhan, Purgare und Africa. Sie alle variieren in Details,
doch letztlich ist jedes Zeichen ein Mal der Herkunft.
Der Ärztekult der Spitalier ist ratlos. Selbst auf epigenetischer Basis vermochten seine Forscher keinen Marker
zu identifizieren, der die jeweilige Ausprägung begünstigt.
Wenn sich die Symbole nicht aus dem Genotyp speisen,
muss es der Phänotyp sein: Die Merkmale eines Organismus, mitsamt seiner erworbenen Eigenschaften und Umweltanpassungen. Aber erscheinen die sieben Kulturkreise
dem Primer so einheitlich?
FORWARD
29
HOMO DEGENESIS
D I E S A AT
Burn verseucht. Einmal eingeatmet, gedeihen die Sporen
noch, wenn die Wirkung der Droge längst verklungen ist.
Für einige Menschen gibt es kein Zurück mehr: Auf
den Schleimhäuten kitzeln die Fäulnis-Hyphen; um den
Mund eines Infizierten erblüht Pilzgespinst, er hustet
Flocken und schaumigen Schleim. Auf Schritt und Tritt
verbreitet er die Saat. Wo er sich schlafen legt, durchwirkt
bald Fäulnis den Untergrund, greift nach den Mauern, tastet sich zitternd nach außen, lässt sich vom Luftzug tragen
und springt schließlich auf andere Menschen über. Er ist
ein Leperos, eine Gefahr. Nur Feuer kann seine Seele noch
retten.
EPIGENESE
Die Zellen eines ausgewachsenen Menschen sind vollständig ausgebildet. Die Fäulnis frisst sich durch ihn hindurch,
als sei er nichts weiter als Humus für ein neues Sporenfeld.
Die Zellen eines ungeborenen Kindes hingegen sind voller
Potenzial.
Tatsächlich erblicken in der Nähe von Muttersporenfeldern Säuglinge das Licht der Welt, die anders sind. Ihre
Augen sind kalt wie der Sternenhimmel. Sie erkennen die
Mutter nicht, aber sie riechen die Milch, folgen dem Geruch
wie eine Biene dem Nektarduft, krabbeln an Beinen empor, krallen sich in die Brüste und saugen, bis nichts mehr
kommt als Blut und sie gewaltsam ihrem Trog entrissen
werden. Mit Ärmchen und Beinchen schlagen sie um sich,
und ein Schrei entringt sich ihrer Kehle, der jeden gottesfürchtigen Sippling ein Stoßgebet sprechen lässt.
Diese Kinder gelten als Entseelte, Absonderliche oder
Psychonauten, und sie wecken eine urtümliche Angst in
den Menschen. Manch Vater erträgt es nicht, nimmt den
kleinen Körper und schlägt ihn gegen einen Stein, bis das
Leben aus ihm weicht. Andere Sippen sehen die Entseelten als Fluch oder Prüfung ihrer Ahnen, eines Geistes oder
zornigen Gottes - sich ihrer zu entledigen hieße, den Lauf
des Lebens zu betrügen. Sie schleppen die Kinder durch die
Jahre, und sie sehen die Veränderungen. Insekten winden
sich die Beinchen hoch, verstecken sich in Hautfalten oder
den Haaren. Sie ziehen Spuren um das Kind und zeichnen
Mandalas in den Staub.
Aus Säuglingen werden Kleinkinder. Sie lachen nie, und
sie sprechen nicht. Sie fordern mit Blicken und nehmen
sich, was sie kriegen können. Kälte macht ihnen nichts aus,
aus Kleidung wühlen sie sich heraus, als sei sie ein Gefängnis. Sie gedeihen prächtig, während ihre Sippe dahinsiecht.
Bei Kindern aus der Tundra Pollens bilden sich Knoten unter der Haut, die verhärten und zu Knochenschilden
verwachsen. Sporne sprießen. Die Absonderlichen Frankas
bilden Drüsen aus, die süßliche Pheromone ausstoßen und
die Familie in den Bann schlägt. Im Balkhan brechen Laute
aus den Kindern, die nicht von dieser Welt sind - sie brennen sich in den Geist bis hinab in tiefste Ebenen des Unterbewusstseins und greifen dort mit schattigen Tentakeln
um sich. In Hybrispania sprechen die Kinder plötzlich mit
der Stimme ihres Gegenübers. Aus ihren Mündern purzeln
zeitgleich die gleichen Worte, die an sie gerichtet waren. Als
wären sie einen Augenaufschlag weit in die Zukunft geglitten. In Purgare erhebt sich Staub und Stein und umkreist
in elliptischer Bahn das Kind. Die Umgebung wird gebeugt
und auf einen Punkt hin gezogen, das Sonnenlicht verdichtet sich zu gleißender Hitze.
ZEICHEN UND WUNDER
Diese Phänomene enden so plötzlich, wie sie begonnen haben. Der Boden um die Kinder herum ist aufgewühlt, doch
inmitten der gelockerten Erde zeichnet sich ein Symbol ab.
Es fällt bereits in sich zusammen, wie sich auch Bilder aus
magnetisierten Metallspänen zerstreuen, wenn die Feldlinien brechen.
Die Spitalier kennen es nur zu gut. Diese Symbole sind
anders als jene, die auf den Körpern von Burnern erblühen,
sie sind uralt, wurden von Menschen schon vor tausenden
Jahren identifiziert und aufgezeichnet, tradiert, gelehrt und
in der Neuzeit von Wissenschaftlern belächelt und als Unfug
abgetan. Könnten die Spitalier
den Leib eines dieser Kinder
jetzt abtasten, würden sie spüren,
dass von genau einer Stelle auf der Körperachse fiebrige Hitze in den Organismus
pulst. Diese Position und das Symbol entsprechen genau einem jener Energieknoten,
den schon das Urvolk beschrieben hatte - einem Chakra.
Sieben dieser Energieknoten reihen sich in einem Menschen entlang der Körpermitte, vom Steiß
bis hinauf an die Schädeldecke. Jedem werden besondere
Eigenschaften zugeschrieben, und in ihrer Gesamtheit formen sie den Charakter. Den alten Schriften zufolge müssen
sie ausgeglichen sein, damit ein Mensch glücklich und gesund ist. Aber bei den Absonderlichen glimmt nur ein einzelnes, singuläres Chakra. Die anderen sind kalte schwarze
Löcher.
Dieses singuläre Chakra überstrahlt jeden Aspekt eines
Psychonautenlebens, leuchtet genau einen schmalen Weg
in ihre Zukunft aus. Für sie ist es ein endloser Sturz ins Extrem der Chakreneigenschaften.
ENDKAMPF
Überall brechen Muttersporenfelder an die Oberfläche.
Sie transformieren das Land, wie es ihnen gefällt. In ihren Wellentälern nisten die Psychonauten, eine brodelnde
Masse urtümlicher und angepasster Kreaturen. Ihre Zahl
wächst, und wo sich ihre Domäne mit der der Menschen
schneidet, kriechen weitere Absonderliche aus den Bäuchen der Schwangeren. Sie übernehmen die Herrschaft,
greifen nach der Krone der Schöpfung.
Die Menschheit steht am Scheidepunkt. Nicht weniger als ihre Seele steht auf dem Spiel. Das Eshaton war erst
der Auftakt. Der Endkampf beginnt jetzt.
FORWARD
31
FÜNF RAPTIEN
Die Spitalier identifizierten fünf Arten von Psychonauten. Fünf Arten, die es zu studieren und zu
vernichten gilt. Jede Art vermag es, ihrem Chakra gemäß Phänomene auszulösen und seine Umwelt
zu manipulieren. Während die eine Spinnen, Gürtelskolopender und Skorpione entsendet, entlässt
die andere einen Schwarm an Ameisen, Wespen und Termiten; wieder eine andere stößt Wellen von
Egeln und Flöhen aus. Diese fünf Plagen umschwirren die Psychonauten, beschützen sie und tragen
die Saat ins Land. Eine versporte Mücke kann dein Schicksal besiegeln.
Die fünf Ausprägungen werden von den Spitaliern als Raptien bezeichnet. Jeder Raptus lässt sich
genau einem Gebiet auf der Landkarte zuordnen:
POLLEN: BIOKINESE
Psychonauten mit dem Raptus Biokinese ist der Leib ein
Werkzeug, das sie nach Belieben formen können. Aus ihren Armen wachsen Knochensporne, ihre Schädel sind
verwuchert und ohne Schwachstelle. Sie bewachen ihre
Sporenfelder, verschmelzen mit ihnen, geben oder entnehmen Energie. Wunden heilen rasend schnell, verletzte
Organe werden innerhalb von Tagen durch eine bessere
Kopie ersetzt. In Hautfalten und -taschen tragen sie ihre
Plage: Spinnen, Skorpione, Hundertfüßler – all das giftige
Geschmeiß des Ödlands.
FRANKA: PHEROMANTIK
Die Haut spannt über den Pheromondrüsen; am Hals treten sie groß wie Nüsse oder Kinderfäuste hervor, Sekret
ergießt sich aus ihnen, wird von Insekten aufgenommen
und hinausgetragen. Die Pheromanten spinnen ein Netz
aus Pheromonstraßen, fangen Mensch und Tier darin und
zwingen sie in den Scheinfrieden eines Kollektivs. Wie Insektenköniginnen werden sie von Ameisen, Wespen und
Termiten umschwärmt.
BALKHAN: DUSHAN
Der Gesang der Dushani verfängt in den schroffen Graten der balkanischen Gebirge, versetzt sie in Schwingung,
bis hinab in die Wälder und tiefsten Kavernen des Landes.
Stehende Wellen erheben sich auf Gewässern; die Erde vibriert und formiert sich zu Riffeln. Die Harmonien schleichen sich in die Gedanken der Menschen, und sie manipu-
lieren auf einer Ebene, die Jahrmillionen an evolutionärer
Entwicklung unter dem liegt, was Menschen unter freiem
Willen verstehen.Die Dushani gleiten durch die Bergbäche, und sie umgeben sich mit Kraken, Quallen und Krebsen.
H Y B R I S PA N I A : P R Ä G N O K T I K
Die Prägnoktiker existieren gleichzeitig in Vergangenheit
und Zukunft. Sie weichen einem Schlag aus, bevor er geführt wurde; sie sind eine Seele in tausenden Körpern. Die
Hybrispanier fürchten sie, aber sie verehren sie auch und
suchen sie auf, um ihren Rat zu erbitten. Ohne die allwissenden Prägnoktiker wäre Hybrispania längst von africanischen Invasoren überrannt worden.
Die Psychonauten leben an den Bergseen und an der
Atlantikküste. Hier sind sie ihrer Plage nahe: den Muscheln, Seesternen, Seeigeln, Ammoniten und Trilobiten.
PURGARE: PSYCHOKINESE
Energien stauen sich im Solarplexus, lassen ihn glühen
vor Hitze. Wenn der Psychokinet sie schließlich freigibt,
entladen sie sich in die Umgebung und verbrennen ihn
innerlich und äußerlich. Das Licht beugt sich um den Absonderlichen, verfängt sich in Kraftfeldern. Steine erheben
sich in die Luft, beschleunigen in immer enger werdenden
Kreisbahnen, zersplittern schließlich und rasen als funkelnde Wolke auf den Feind zu.
Psychokineten sind Parasiten. Sie hängen an Dörfern,
zehren von den Einwohnern durch ihre Plage: Von Egelschwärmen, Mosquitos, Zecken, Flöhen und Bandwürmern.
DIE ERDENCHAKREN
Im Zentrum dieser Entwicklung stehen die fünf großen Krater. Jeder evolutionäre Schub ist von ihnen
ausgegangen und wurde über die Muttersporenfelder nach außen getragen. Als seien sie alle über einen
mythischen Äther miteinander verbunden, und die Felder nur Relaisstationen in einem gewaltigen
Kommunikationsnetz. Neue Jagd- oder Fluchtverhalten breiten sich innerhalb von Tagen aus, ebenso
die Erinnerung an das Gesicht eines verhassten Feindes. Alles geht vom Zentrum aus. Wer die Psychonauten bekämpfen will, wird letztlich die Kraterwälle erklimmen müssen.
P O L L E N : PA N D O R A
Der größte aller Einschlagskrater ist das Tor in die Abgründe des genetischen Wildwuchses. Ihm entsteigen
Kreaturen, deren Fleisch keine Kälte und keinen Stahl
fürchtet, denen Knochenplatten und zusätzliche Organe
wachsen, wie Menschen Haare sprießen. Urtümliche Wesen schwimmen im Kratersee, kämpfen gegeneinander,
sinken tot auf den Grund oder paaren sich und mutieren.
Metergroße Ammoniten wurden gesichtet. Einige der
Wesen werden über die zahllosen Bäche und Abflüsse ins
Land geschwemmt. Viele verrecken in einer Atmosphäre,
die nicht mehr die ihre ist, aber andere graben sich ein und
gedeihen.
Das biokinetische Erdenchakra ist fruchtbar; der
Westwind reißt kilometerlange Sporenschleppen mit sich
und wirft sie im Osten ab. Der ist nicht mehr zu retten: Bis
zum Horizont knospen die Sporenfelder - und weiter hat
es niemand geschafft.
Ein unbeschriebenes Blatt Seele, das bald schon vom Gesang der Dushani mit neuem Willen und Gedanken gefüllt
wird. Usud verändert deine Bestimmung, und er schleicht
sich in das Schicksal eines ganzes Landes.
H Y B R I S PA N I A : M I R A R
Umschlossen und verborgen in einer Zeitverwerfung liegt
Mirar, das Erdenchakra der Prägnoktiker. Die Blicke tausender Augen streifen über das Land, mal aus der Höhe,
kreisend und wartend, mal vom kalten Granit oder aus
den Tiefen der Bergseen heraus, ein körniger Blick auf das,
was war und sein wird. Tausende Seelen, verschränkt zu
einem Geist und unendlicher Weisheit. Wer es wagt, Zukunft und Vergangenheit zu durchstoßen und den Kraterwall zu überwinden, wird in Mirar inmitten eines Meers
aus Muscheln das Geheimnis des Anfangs und des Endes
gewahr werden.
FRANKA: SOUFFRANCE
PURGARE: NOX
Im Zentralmassiv Frankas klafft eine Wunde. Pheromone
süß wie Nektar ergießen sich aus Lehmschloten und wallen den Kraterhang hinab, umspülen Mensch und Insekt
und gliedern sie ein in das Kollektiv des frankischen Erdenchakras. Nirgendwo sonst leben Homo Degenesis und
Homo Sapiens enger beieinander. Nirgendwo sonst steht
der Mensch mit den Insektenschwärmen auf einer Stufe.
In Souffrance ist er zur Drohne verkommen.
Kraftfelder zerschmettern den Raum wie einen Spiegel
und halten die Splitter in feinstem Gravitationsgespinst
gefangen. Über Nox sind die Felder verriegelt, fangen das
Licht und geben es nicht mehr her. Ewige Nacht wächst in
kristallinen Stacheln aus dem Erdenchakra der Psychokineten, infiziert das Umland, kriecht vorwärts.
Nur ein Mensch - Nuntius der Täufer - ist bislang in
die Finsternis vorgestoßen und zurückgekehrt. Gleißendes Licht umfing ihn, das in den Farben des Regenbogens
entlang der Kraftfelder zerschnitten wurde. Säulen aus
reinem Licht durchstießen einander in unmöglicher Geometrie. Pechschwarze Kreaturen hingen in Gravitationsklüften, ihre geblähten Leiber tausendfach gespiegelt und
wie von Vexierspiegeln gestaucht oder verbogen. Perfekte
Schönheit und Dunkelheit, die schwärzer als der Tod ist.
Nuntius verlor sein Augenlicht, und Zeit seines Lebens
forderte er, die Kluft um Nox zu brechen, um das göttliche
Pneuma zu befreien.
BALKHAN: USUD
Das Erdenchakra der Dushani bebt und vibriert, koppelt
sich in die Resonanzfrequenzen des Landes und der Menschen ein, schwingt und singt. Nähere dich Usud, und
deine Zähne schmerzen, die Gedanken rasen, bis sie hinfortgefegt werden und ein Vakuum hinterlassen, in das rudimentäre Emotionen sickern wie Wundwasser.
FORWARD
33
PSYCHOVOREN
Während die Asteroidenbruchstücke in der nördlichen
Hemisphäre Krater um Krater in das Land stanzten,
durchpflügte ein Irrläufer den Himmel über Afrika. Über
dem Sudan trat der Asteroid grell gleißend in die Atmosphäre ein und stieß über dem Atlantik wieder durch sie
hindurch, um weiter taumelnd durchs Weltall zu rasen.
Doch Afrika wurde nicht verschont. Das Geschoss hatte
die umgebende Luft auf über 30.000 Grad Celsius erhitzt
und einen brennenden Schweif ins Firmament gemalt.
Mit mehreren tausend Atmosphären Druck prallte die
Welle auf den Kontinent, fraß sich mit gnadenlosen 30km
die Sekunde durch das Land, riss Mensch, Tier, Vegetation, Städte und ganze Berge mit sich. Sie schlug eine Narbe
von über 2.000 Kilometern Länge und einer Breite von gut
300 Kilometern: Das Dhoruba.
Stundenlang regnete es Dreck, pulverisierte Bäume
und Gestein. Aber auch Samenkörner, Moossporen und
Pflanzenreste fielen auf die Erde zurück. Jahre später raschelte zwischen den hausgroßen Felsbrocken ein Wald
aus Farn. Erste Bäume gediehen wieder. Die Vegetation
hatte das Dhoruba zurückerobert.
Doch diese Bäume, die kniehohen Sträucher und der
Farn waren bereits infiziert. Das Dhoruba war gesprenkelt von zerschmolzenen Asteroidensplittern. Schwarzer
Dampf quoll aus ihnen und sank in den Humus.
Die Vegetation veränderte sich. Die Blätter wuchsen
streng geometrisch zu Sechs- oder Achtecken heran, jeder
Ast war dornenbewehrt. Die Bäume waren schwer behangen mit glasigen Früchten, die zersplitterten, wenn sie
schließlich herabfielen. Die fremdartigen Pflanzen nahmen den Grat des Dhorubas und wuchsen ins Land. Heute
sind sie den Africanern als Psychovoren bekannt - und als
größte Herausforderung des africanischen Volks.
DISKORDANZ
Fäulnis und Psychovoren sind beides Spielarten des Primers, doch wo sie aufeinandertreffen, verrotten die Pflanzen und die Fäulnis vergeht. Ihrem Erdenchakra entrissen,
wuchern in den Sporenfeldern unterirdische Fressknospen. Wer auf ihre Nervenpunkte tritt, stürzt in die Fresssäcke, verfängt sich in den Dornenlamellen und ertrinkt im
einströmenden Enzymsekret. Innerhalb von Tagen wird
das zersetzte Opfer in den Gebärmuttersack gepumpt.
Bizarre Kreaturen wachsen dort in gallertartigen Blasen
heran. Membranwesen heben sich schließlich in die Lüfte, verfaulen aber innerhalb von Stunden und stürzen als
stinkende Masse ab. Die Evolution wirft Altes und Verworfenes zurück ins Leben. Sie ist außer Kontrolle.
Dies ist die Diskordanz, ein hunderte Kilometer messender Gürtel entbrannter Evolution zwischen der von
Norden her anrückenden Fäulnis und der im Süden wuchernden Psychovoren.
FORWARD
35
KRÄHE UND LÖWE
Aus der Asche einer vergangenen Zivilisation erhoben sich
sieben Kulturen, vom kalten Norden Europas über das
Mittelmeer bis hinab nach Africa.
Die Europäer sind wie Krähen, kreisen über den verwesenden Kadavern ihrer Nationen und picken die letzten
Reste auf. Hier ein paar Artefakte, dort eine Gewohnheit,
und zum Nachtisch einen saftigen Streifen Vorurteile.
Aasfresser. Fragt sie jemand, halten sie Krähen für schlaue
und gerissene Vögel.
Die Africaner haben all das hinter sich gelassen. Das
Früher lebt in ihren Ahnen und in ihren Herzen fort, nicht
in Ruinen und Gesetzen und Ansichten, denen schon vor
Jahrhunderten niemand gefolgt ist. Sie sehen ihr Volk vom
Löwen verkörpert. Edel und stark streift er durch die Savanne, steht an der Spitze der Nahrungskette. Was ihm an
Beweglichkeit fehlt, macht er durch seine Klauen und seine Wildheit wett; sein Brüllen erschüttert die Welt. Er hat
bereits zum Sprung über das große Wasser angesetzt und
viel Staub in der Domäne der Krähe aufgewirbelt. Doch
dieser Kampf muss geführt werden. Zu oft hat er den
Schnabel der Krähe spüren müssen.
BORCA
DAS AUFBEGEHREN DER KLANS
Wogen roten Staubs brechen an monolithischen Klippen,
türmen sich auf und verlieren sich in Steinlabyrinthen:
vom Sog der Zeit erodierte Bauwerke, Dreck und Kälte
atmend. Büsche sprießen in den Etagen, Wurzelgespinst
sucht sich blass und nass einen Weg.
Die Menschen ziehen durch eine Wildnis aus Stahl
und Beton, vorbei an überwucherten Kratern, schreiten
durch Felder wilden Weizens und folgen den trocken gefallenen Flussbetten von Siedlung zu Siedlung. Im Sediment der Jahrhunderte graben sie nach den Wunderwerken des Urvolks, hoffen auf den einen großen Fund. Doch
ihre Zukunft liegt nicht im Steinbruch der Geschichte,
sondern in ihrer unbeirrten Tatkraft. Stein um Stein erbauen sie eine neue Welt, ringen den Ruinen Metropolen
wie Justitian, Domstadt und Osman ab, erobern das Land,
befestigen und herrschen.
Kulte gedeihen, verordnen sich Zivilisation und Ordnung - und tragen beides mit Feuer und Stahl ins Ödland.
Doch nicht alle unterwerfen sich, wollen weiter als freie
Menschen in den Ruinen ihrer Vorfahren leben. Ihnen
wird keine Wahl gelassen. Wer die Hand ausschlägt, vergeht im Bleigewitter und muss in den Untergrund fliehen.
Über Jahrzehnte hinweg schöpfen die Überlebenden
Wasser aus Pfützen, kratzen Flechten von Wänden, knacken Kakerlaken. Sie winden sich aus den letzten Fetzen
Kultiviertheit, Herz und Geist sind vergiftet vom Hass.
Jetzt treten sie aus den Schatten, die Zähne gespitzt, in den
Fäusten Stachelkeulen und Steinmesser. Sie werden sich
zurückholen, was einst ihnen gehörte.
FRANKA
DER SCHWARM
Drüsen auf den Leibern der Psychonauten blähen sich und
sacken flatternd zusammen, ein süßlicher Geruch steigt
auf, wallt die Stufen der Ziggurats hinab ins Menschenland, verfängt sich zwischen Lehmschloten und Ruinen.
Die Pheromanten spinnen ihr Netz.
Sie betören, vernebeln den Geist, gliedern ein. Die Insekten sind ihnen schon lange zu Diensten, doch auch der
Wille der Menschen versumpft im öligen Dunst und zwingt
ihnen ein Leben als Drohne im Stock der Königinnen auf.
Wo Homo Degenesis gedeiht, verkümmert Homo Sapiens.
Die Sippen fliehen vor den Wespenstürmen und Termitenattacken auf die Flüsse, sehen die Schlote auf ihren
Feldern wachsen, die Ähren schwer von Ameisen. Bald
schon wird auch ihr Land den Schwarm ausbrüten und
ausspeien. Ein Dorf nach dem anderen wird zersetzt und
ersetzt.
Doch jetzt kämpfen die Franker. Über die Flüsse gelangen sie tief ins Feindesland, zünden Pestizidbomben,
räuchern Brutkolonien aus und verüben Schleichmorde.
Ein ganzes Volk erhebt sich.
POLLEN
EWIGE WANDERUNG
Muttersporenfelder zerreißen Städte und werfen das Land
zu einem unruhigen Meer aus Fäulnis und Stein auf. Spinnennetze überspannen die Klüfte und verbergen die Ruinen. Tausende schwarze Augen verfolgen jeden Schritt.
Wo sich Grünes regt, brechen Gürtelskolopender aus der
Erde und zerren den Schössling in die Tiefen ihrer Brutkolonien.
Die Erde knistert, sie hebt und senkt sich im Monatstakt. Wie Wellen auf fernen Ozeanen. An manchen Orten
stoßen vergessene Städte durch das äonenalte Gespinst
und atmen Sonnenlicht. Sie krachen und bersten, verharren für Tage oder Wochen, bevor sie wieder in die Tiefe sacken und die Spinnen die Wunde in ihrem Netz schließen.
ERWARTET EUCH N I C H T
ZU
V I E L VOM
WE LT U N TE RGANG.
[ S TA N I S L AW
J ER Z Y
L E C ]
FORWARD
37
Der Permafrost taut in kreisrunden Flächen auf, gebärt ein dampfendes Paradies aus durchscheinenden
Pflanzen. Die umgebenden Sporenfelder verrotten, ihre
Ringe sacken ein. Doch sie wehren sich: Wellen an Spinnen ersticken die fremdartige Vegetation unter ihren Netzen; Ströme an Skolopendern tauchen ab in fiebriges Erdreich, werden umschlossen von Wurzelmembranen und
aufgespießt von schnell wachsenden Dornen. Sie fressen
sich frei, reißen sich los, vergiften. Im Untergrund tobt ein
Kampf. Bis die Skolopender schließlich durchstoßen in die
bebenden Stränge, und die Oase über ihnen zerfällt.
Sporenfelder und ihre Plagen gegen bizarren Wildwuchs. Die Pollner leben irgendwo dazwischen. Sie beschützen die Oasen mit Steinäxten und Herzblut. Und
doch kennen sie keine Heimat außer der Gemeinschaft.
Denn es ist nur eine Frage der Zeit, bis die Ödnis über ihnen zusammenschlägt und sie ihr Hab und Gut auf Schlitten durch die Tundra stemmen müssen, geleitet von verwehenden Sporenfeldern, hin zu einer neuen Oase.
BALKHAN
DIE HERRSCHAFT DER KLANS
Stürme erschüttern die Ebenen, lassen die Wipfel der endlosen Wälder erzittern. Der Winter schlägt die Menschen
mit klirrender Kälte und Bergen aus Schnee; der Sommer
versengt die Grassteppen zu Stoppelfeldern; wenn es regnet, furchen Sturzbäche die Täler und vermählen sich zu
reißenden Strömen. Der Balkhan ist ein Land der Extreme, durchdrungen von Stärke und Stolz, und täglich bedroht von Urgewalten zerrissen zu werden.
Die Menschen sind ein Spiegel ihres Landes: Wild und
ungezähmt, keines Herren Sklave, leidenschaftlich und
explosiv. Blutige Dispute zerrütten die Voivodate, machen
einen Bauern über Nacht zum Krieger und seine Frau in
der nächsten zur Witwe.
Nur in Zeiten der Bedrängnis legen die Kriegsfürsten
ihre Arglist am Eingang zum Versammlungsplatz ab und
schütteln Hände, die sie tags zuvor noch abgeschlagen hätten. Aber jetzt rennen sie gemeinsam gegen den Feind an,
von Leidenschaft getrieben und ohne Kompromisse, loyal
wie ein Vater zu seinem Sohn. Doch ist die Bedrohung erst
einmal niedergerungen, dreht auch der Wind, und alte Allianzen vergehen wie Träume in der Morgensonne.
Über all dem erhebt sich der tiefe, vibrierende Gesang
der Dushani. Die Natur ist ihr Resonanzkörper. Der Dushani muss sie stimmen und umformen für die perfekte
Harmonie. Jede Dissonanz tilgt er, als hänge sein Leben
daran. Sein Gesang umschließt das Herz, pflanzt Schmerz
oder Trost. Verändert etwas in den Köpfen der Menschen.
Nimmt und gibt.
H Y B R I S PA N I A
BLUTGETRÄNKTE FELDER
Africaner streifen durch die Gärten der Alhambra, sitzen
im Schatten der Sonnensegel und trinken mit einheimi-
schen Hybrispaniern Tee. In der Mittagshitze ziehen sie
sich in die Bibliotheken oder die schattigen Hallen des
Urvolks zurück. Das Land ist ihnen ans Herz gewachsen;
Sevilla empfinden sie als zweites Tripol.
Es scheint, als hätten die neolibyschen Consuln das
alte Al-Andalus im Süden Hybrispanias fest in ihrer Hand.
Doch die Grenzen wurden mit dem Blut hybrispanischer
Widerstandskämpfer und Geißler gezogen. Die Nadelstiche der Guerrero zehren Cordoba aus; die Geißler setzen
nach und treiben die Hybrispanier in die Urwälder, feuern von ihren Buggies aus, schlachten sich durch Männer, Frauen und Kinder. Die Geduld ist wie weggeweht,
die Nerven zerrüttet. Angst und Hass übernehmen. Die
Hybrispanier stehen ihnen in nichts nach, legen Stachelund Sprengfallen, schleichen sich nachts in die Wohnhäuser der Africaner. Akte der Gnade werden bestraft. Wenn
nicht vom Feind, dann von anderen Guerrero.
Jeder Hybrispanier wird mit dem Gedanken an Freiheit und Rückeroberung geboren. Um ihn herum steigen
Freunde, Brüder, Schwestern und Weggefährten im Kampf
zu Helden auf, um im nächsten Moment im Kugelhagel zu
Boden zu gehen. Die Märtyrer bilden das Fundament der
hybrispanischen Kultur: Schlachtengemälde zieren Häuser, Gesänge stimmen ein auf Tod, Schriften lehren den
Gebrauch von Waffen und das Überleben im Urwald. Das
Leben bleibt auf der Strecke.
Die Geißler sind überlegen, in Zahl und Bewaffnung.
Der Widerstand wäre längst gebrochen, würden die Guerrero nicht Hilfe erfahren von den enigmatischen Prägnoktikern. Diese Fremden tauchen ab in Vergangenheit und
Zukunft, eröffnen den Wagemutigen Erinnerungen an die
Zukunft. Den Ausgang von Scharmützeln, Angriffsrouten.
Für einen Preis, der die Seele kosten kann.
PURGARE
DAS LETZTE GEFECHT
Das Verlangen nach Stärke, Erkenntnis und einer höheren Macht lodert seit jeher in den purgischen Herzen. Die
Wiedertäufer öffneten nur ihre Arme, nahmen die verlorenen Brüder und Schwestern in Wärme und Liebe auf, salbten sie mit elysischen Ölen - und stießen sie ins Fegefeuer.
Das Land ist entlang einer Gebirgskette geteilt. Im Osten
gedeihen Olivenhaine, Wein und Getreide. Die Stammsitze der Familien sind aufgereiht wie an einer Kette, ein
jeder zeugt von Tradition und Ehre. Der Westen hingegen
ist verbrannt und vergiftet von den Ausdünstungen des Sichelschlags. Die Erde bebt, Lavaflüsse wälzen sich ins Mittelmeer. Inmitten all der Vernichtung verdichtet sich die
Luft zu Kraftfeldern, die das Licht der Sonne tausendfach
brechen. Wolkige Gespinste quellen aus Schluchten und
Spalten - jedes dieser Filamente ist hart und scharf wie
Glas. Reine elementare Finsternis kondensiert in Klüften,
sie greift in kristallinen Strukturen um sich. Flöhe und
Stechmücken umschwirren diese Phänomene und ihre
Verursacher: Die Psychokineten.
Die Wiedertäufer haben viele Namen für sie: Geschmeiß des Demiurgen, das Urböse, Verzehrer des Para-
dieses. Sie sagen, genau hier und jetzt müsse die Menschheit ihren Wert beweisen und sich in die letzte aller
Schlachten stürzen. Ein ganzes Volk sieht sich als auserwählt und folgt Domstadt in einen heiligen Krieg.
AFRICA
DER LÖWE IM SPRUNG
Die Ketten von damals klirren wie ein dissonantes Windspiel aus dem Gestern bis ins Heute. Africa hat sich zwar
befreit, hat den Weißen Mann ins Meer getrieben, doch
der Schmerz sitzt zu tief. Und jedes von Piraten im Mittelmeer versenkte Schiff, jedes Gefecht in Hybrispania und
im Balkhan ist ein weiterer Finger in der Wunde.
Aber auch nicht mehr. Denn Africa ist stark, und es
gedeiht. Der Händlerkult der Neolibyer füttert die Küstenstädte seit Jahrhunderten mit europäischem Beutegut, lässt Brunnen graben, Manufakturen errichten und
Trampelpfade von weißen Sklaven zu prunkvollen Promenaden ausbauen. Legendäre Kunsthandwerker schnitzen
Ahnenstelen, schmieden und ziselieren Jagdflinten. Wasserträger verteilen Getränke auf Kosten der Neolibyer. Auf
den Märkten duftet es nach Gewürzen, Früchten und Tee.
Scharen von Kindern hocken um alte Männer, die auf ihre
Narben deuten und zu jeder eine Geschichte kennen - sie
erzählen von Expeditionen ins Land der Krähe, von den
bleichen Schatten, die ihre Sturmgewehre mehr lieben, als
ihre Mütter und Frauen. Sie erzählen vom Heldenmut der
Geißler, von den Kämpfen um Cordoba gegen die Wilden.
Eine laue Brise weht vom Mittelmeer herbei. Die blauen
und roten Sonnensegel flattern, die Kohlen auf den Wasserpfeifen glühen auf und aschen in den Wind. Regenwolken wälzen über den Himmel. Es liegt in der Luft - bald
schon wird der Regen auf die Markisen trommeln.
Er wird sich auch in den Dschungel ergießen. Wo früher eine Sandwüste in der Sonne glühte, schlängeln sich
heute Flüsse durch das Land. Mangroven senken ihre
Wurzeln in das Wasser, tropischer Regenwald dampft in
der Hitze.
Doch in diesem Dschungel gedeiht etwas fremdartiges: Pflanzen mit fünf- bis achteckigen Blättern breiten
sich aus, bewehrt mit Stacheln, verschlungen wie ein Albtraum. Die Psychovoren. Ein Kratzer nur, und die Haut
eines Menschen wirft Geschwüre auf, die sich innerhalb
von Sekunden blähen und schwarz verfärben.
Die Psychovoren verdrängen die alte Vegetation,
transformieren das Land, und sie transformieren die Menschen: Jedermann in ihrer Nähe verliert seine Sprache und
redet in Zungen, fällt zurück auf eine Ursprache, ohne
dass seine Worte Verständlichkeit einbüßen. Alle Sprachbarrieren fallen. Africa wächst zwar zusammen, aber die
Vielfalt der Kulturen und Stämme verwässert unter dem
Einfluss der Psychovoren.
Nun herrscht nur noch der Löwe, das einigende
Symbol Africas. Die Neolibyer sind sein Herz, das ihm
Kraft verleiht, die Geißler seine Klauen, die die Beute reißen, und die Anubier seine Seele, die über das Schicksal
gebietet.
FORWARD
39
D R E I Z E H N K U LT E
S P I TA L I E R
H E L LV E T I K E R
DIE LETZTE BASTION
DIE BRUDERSCHAFT DER WAFFEN
Sie sind die letzte Verteidigungslinie der Menschheit gegen den Primer und die Kreaturen, die er hervorbringt. Sie
erforschen die Sporenfelder, sezieren zur Strecke gebrachte Psychonauten, entwickeln Gifte und Waffen. Mit Fungiziden brennen sie Schneisen in die Fäulnis, lassen sich
von versporten Muskelsträngen in Glaszylindern in die
Brutstätten der Absonderlichen führen.
Jeder muss sich von ihnen die Frage gefallen lassen, ob
er auf der Seite der Menschheit, und damit auf der Seite
der Spitalier steht, oder ob er sich dem Gezücht des Primers andienen will.
Die Spitalier sind Ärzte. Sich selbst unterwerfen sie
strengen Regeln, rasieren ihre Schädel und reiben sich mit
Kalk ab. Den Städten verordnen sie Hygienik. Heilung ist
ein Privileg, das es zu verdienen gilt. Jedes Anzeichen von
der Sporendroge Burn wird verfolgt und die Burner den
Flammen überantwortet. Gnade können sich die Spitalier
nicht erlauben. Was Nachsicht zur Folge hat, bekämpfen
ihre Famulanten-Hundertschaften jeden Tag in Franka.
Sie erwarteten das Eshaton umgeben von kaltem Granit
hinter meterdicken Schotten, tief in der Bergwelt der
Alpen. Das Inferno sparte sie nicht aus. Der Sichelschlag
schnitt durch ihre Festung, riss Schluchten und trieb Magmablasen in die Höhe. Höllenfeuer fegten durch die Tunnel und Kasernen. Sie schützten sich mit ihren feuerfesten
Harnischen und traten gegen die Naturgewalt an: Tunnel
wurden gesprengt und Lavaströme umgelenkt. Sie spannten Brücken in verloren geglaubte Sektionen.
Die Alpen waren zerbrochen, aber nicht die Hellvetiker.
Jahrzehnte später traten sie aus dem Berg und folgten
ihrem Befehl: Als Nachfahren des Schweizer Militärs oblag
ihnen die Sicherheit der alten Kantone. Sie bauten die Alpenfestung aus und öffneten Passagetunnel für jene, die die
Alpen queren mussten - und halten seitdem die Hand auf.
Hellvetiker sind Soldaten durch und durch. Ihre Doktrin bindet sie an Waffe, Kamerad und Land; jeder überflüssige oder verfehlte Schuss schwächt die Festung und
wird abgestraft. Niemand da draußen ist ihnen in ihren
Harnischen gewappnet, und niemand hat ihren Sturmgewehren, den Wegbereitern, etwas entgegenzusetzen. In
der Alpenfestung mit ihren Geschützen und Wehrgängen
wähnen sie sich unangreifbar.
Doch die Welt um sie herum verändert sich: Psychonautische Phänomene kristallisieren in den Tunneln zu
rasiermesserscharfen Filamenten. Grotesk verzerrte Kreaturen eilen durch die balkhanische Sektion und öffnen mit
einem Fingerwink hochgesicherte Portale. Die Kantone
verwehren sich der Militärregierung und begehren auf.
Die Hellvetiker schreiten hinaus in die Welt. Sie beobachten, lernen, und sie kämpfen.
CHRONISTEN
D I E A L LW I S S E N D E N
Der Stream umspannte einst die Welt, war in jedermanns
Kopf. Reines digitales Wissen, jede Sekunde erfasst und
katalogisiert, die Schaffenskraft der Menschheit gebündelt
in evolutionären Algorithmen. Doch tief auf dem Grund
dieses Datenmeeres regte sich etwas, und die Menschen
stießen hinab. Sie suchten, fanden, verstanden nicht, aber
sie glaubten.
Die Chronisten sind die Nachfahren dieser Streamer.
Das Eshaton ließ die Quelle versiegen und das Meer an
Wissen versteinern. Die Chronisten arbeiten sich vor, kaufen Schrottern Artefakte ab, befeuern einen ganzen Markt,
spüren den Überresten des Damals nach und suchen die
letzten Server.
Eines Tages werden sie den Stream reaktivieren und
die Menschheit zurück ans Licht führen.
Bis dahin müssen sie stark sein, um Klans und widerborstigen Kulten zu trotzen. Sie sind keine Kämpfer, doch
mit stimmverstärkenden Vocodern, Lichtkaskaden und
Schockhandschuhen gelten sie im Ödland als grausame
Götter. Die Menschen in den Städten halten sie für sonderbar. Ihre Sprache ist durchsetzt mit Technikbegriffen
einer vergangenen Zeit, und sie ziehen die Gesellschaft
einer Maschine der eines Menschen vor. Doch niemand
sollte sich davon täuschen lassen. Denn sie beobachten,
sammeln Daten über alles und jeden, beraten und manipulieren. Die Welt tanzt an ihren Fäden.
RICHTER
HAMMER DER GERECHTIGKEIT
Die Richter brachten das Gesetz ins Ödland. Mit Hammer
und Muskete stellten sie sich den Wilden, den Schlapphut tief ins Gesicht gezogen. Sie beschworen Bleigewitter,
schlachteten sich durch den Kakerlaken-Klan und richteten Gesetzlose mit einem Hammerschlag. Sie setzten nach
wie eine Rotte Bluthunde, folgten den Überlebenden noch
bis in die Tiefen des urvölkischen Untergrunds.
Und sie sahen, dass es gut war.
In der Stadt Justitian vollendeten sie ihre Vision von
einer gerechten und sicheren Welt. Die Mauern waren
unüberwindbar, das Gesetz stark, die Menschen nicht frei,
aber frei von Angst.
Eine Siedlung nach der anderen begab sich in die Obhut
Justitians. Das Protektorat war geboren.
Doch die ruhigen Zeiten sind vorbei: Die Ruinen wimmeln wieder vor Leben. Die Klans sind erstarkt, und sie
haben aus der Vergangenheit gelernt. Ein Richter kann
sich nicht länger nur auf seinen Kodex - das Gesetz Justitians - berufen: will er im Protektorat überleben, muss er
das Gesetz des Stärkeren meistern.
SIPPLINGE
HERRSCHER DES ÖDLANDES
Der Einzelne war nichts. Wer nach dem Weltenbrand
überleben wollte, schloss sich anderen an, lebte nach ihren Regeln, sorgte und kämpfte für sie. Aus Fremden wurden Freunde, aus Freunden wurden Geliebte: Die Überlebenden verschmolzen zu Sippen. Einige stürzten in die
zivilisatorische Finsternis einer neuen Steinzeit. Sie beten
zu Gottheiten wie Donner und Sonne, sie verzehren das
Fleisch ihrer Ahnen, um deren Stärke in sich aufzunehmen. Andere Sippen klammerten sich auf ihrem Weg an
tradiertes Wissen, gönnen sich Moral und Anstand und
Schnellfeuergewehre.
Die wenigsten werden sesshaft. Der Großteil sieht seine Heimat unter einem grenzenlosen Himmel.
NEOLIBYER
DIE ZAHLMEISTER
Ihre Schiffe laden Schätze aus aller Welt. Prunk und der
Geruch kostbarer Öle begleitet sie auf Schritt und Tritt. In
der tripolitanischen Handelsbank feilschen sie um Konzessionen, reißen Routen, Plantagen oder Ölfelder an sich. Sie
leisten sich röhrende Festungen aus Stahl auf Panzerketten,
um tief im Feindesland Waffen und Gewürze an Wilde zu
verschachern oder Truppen von Schrottern oder Geißlern
abzuladen. Sie reiben sich die Hände, wenn sie auf Widerstand stoßen: Hinter ihm vermuten sie schon jetzt größtmöglichen Profit.
Aus ihren Reihen erwachsen große Seefahrer und Entdecker, die tief in die Psychovoren oder den kalten Norden
vorstoßen, alte Festungen und Quellen verzeichnen und
neue Handelsrouten erschließen. Andere Neolibyer betrachten die Welt durch das Zielfernrohr ihrer Flinten: Um
sich den Ruf eines Großen Jägers zu erarbeiten, reisen sie bis
nach Pollen und eröffnen die Hatz auf einen Biokineten.
Neolibyer nehmen ein Nein für ein Ja. Für sie existieren
keine Hindernisse, nur Möglichkeiten - und im besten Fall
ein Abenteuer.
GEISSLER
SCHROTTER
DIE PRANKE DES LÖWEN
DIE DRECKWÜHLER
Sie zieht es hinaus in die Ruinen, weg von den brummenden und lärmenden Städten. Sie wühlen sich in den Staub:
jeder Spatenstich bringt sie um weitere Jahre an das Zeitalter des Urvolks heran, bis sie ganz unten sind und in Ruß
eingebackene Wunderwerke der Technik ans Tageslicht
zerren können.
Ihre Gesichter und Körper erzählen eine Geschichte
über Staub, Kälte, Steinsplitter und Hunger. Doch wenn
sie den Wind durch die leeren Fensteröffnungen pfeifen
und die alten Bauten in der Mittagssonne knacken hören,
dann wissen sie, dass dies ihre Heimat ist. Sie kennen jeden Schlupfwinkel, können hier in Tunnel eintauchen
und anderer Stelle wieder an die Oberfläche brechen. Sie
wissen, welche Flechten essbar sind und wo sich Wasser
sammelt. Niemand macht ihnen hier draußen etwas vor.
Wenn sie doch einmal wieder in die Stadt müssen,
schlagen sie direkt den Weg zu den Alkoven der Chronisten ein, laden dort ihre Funde ab und lassen sich auszahlen. Für Tage ergeben sie sich dem Sog der Stadt, klopfen
den Dreck von der Haut, essen sich an fettigem Eintopf
satt und treiben durch die Etablissements der Apokalyptiker.
Bald schon hören sie wieder den Ruf der Wildnis, und
den Frieden, den sie verspricht.
Sie verabscheuen die Neolibyer für ihre dicken Wänste, ihre
Gier und die Prunksucht. Sie selbst beschreiten den Weg
des Kriegers in den Fußstapfen der Ahnen, fügen sich in die
enge Hierarchie ihrer Kaste. Sie nehmen sich von den Neolibyern, was sie brauchen, um ihre Leiber geschmeidig und
ihren Geist wach zu halten. Sie kämpfen für nicht weniger
als das africanische Volk.
Im Land der Krähe gelten sie als Todesboten. Ihre Gesichter verbergen sie hinter Ahnenmasken, sind bewaffnet
mit Schild, Speer und Gewehr. Der Damu kundschaftet den
Feind aus, sieht die Bewegungen voraus und erkennt jede
Schwäche; der Chaga übernimmt schließlich und führt das
Rudel in den Kampf. Der stärkste aller Gegner steht dem
Simba zu: Er darf die größte aller Heldentaten an diesem
Tag des Bluts vollbringen. Der besiegte Feind wird versklavt
und den Neolibyern übergeben. Auf den Plantagen wird er
die kollektive Schuld des weißen Mannes abtragen.
ANUBIER
WAHRER DER PROPHEZEIUNG
Die Anubier sind auserwählt. Sieben auf ihren Leib tätowierte Kreise stehen für die sieben Transformationen, die sie
durchlaufen müssen, um ihren Körper in ein perfektes Ge-
FORWARD
41
W I R
W I S S E N
NICHT, OB WIR NOCH
LEBEN.
[ ERI C H
MA RI A
REMA RQ UE]
fäß des Kas zu verwandeln. Sie leiten ihr Volk vom Leben bis
in den Tod, vollziehen die Zeremonien und besänftigen die
Geister der Ahnen in ihrem Groll auf alles Lebendige. Mit jeder Anubis-Kanope, die sie leeren, schwindet ein Kreis. Und
sie beginnen zu verstehen, dass es mit dem Geisterglauben,
den Riten und den überlieferten Traditionen eine Bewandtnis hat. Sie entwickeln sich weiter, gehen mit offenen Augen
und geschärftem Geist durch die Welt. Einige erkennen in
sich den Heiler, lernen die hochgiftigen Psychovorensamen
in ihren Körpern zu potenten Arzneien zu katalysieren.
Andere ergreifen die Sichel und schreiten aus im Land der
Krähe: Sie suchen die Psychonauten, zerschneiden deren
Lebensstrang und tilgen so eine Störung der Welle.
Am Ende ihres Weges liegt immer Kairo. Verschwindet der dritte Kreis, bereiten sich die Anubier auf den
Übergang in die von Psychovoren überwucherte Stadt vor,
spüren bereits den Sog der Pyramiden. Die letzten Geheimnisse werden ihnen bald offenbart.
JEHAMMEDANER
TRÄGER VON GOTTES ANTLITZ
Sie ehren die Familie, wie es ihnen der letzte Prophet Jehammed beschieden hat. Vom Tage der Geburt ist der Lebensweg eines Jehammedaner vorgezeichnet - er wird seine
Pflichten in der Familie übernehmen, wie schon sein Vater
und dessen Vater. Als junger Ismaeli hütet er die Ziegen der
Sippe und malt sich aus, wie es ihm als Isaaki, als gesegnetes Kind, ergangen wäre. Welche Heldentaten hätte er
vollbracht! Doch er kennt seinen Platz, schnürt die Gebetsriemen fester und schalt sich einen Narren. Später gestatten ihm die Lehren Jehammeds eine Bewährungsprobe: als
Schwert Jehammeds kämpft er gegen Wiedertäufer und
anderes Gesindel, kann seinen Wert für die Sippe beweisen. Er wird eine Frau finden, eine Hagari, und mit ihr eine
eigene Familie gründen. Der Kreislauf beginnt von vorn.
Aber vielleicht erhört er auch den Ruf des Aries, des
Widderköpfigen, und kommt der Wahrheit um die Jehammedaner näher, als ihm lieb ist.
A P O K A LY P T I K E R
DIE HERREN DES BEGEHRENS
Apokalyptiker sind reines, ungebändigtes Leben. Sie tauchen in Scharen auf, übernehmen Glückspielgeschäfte und
Bordelle im Handstreich. Ihr Destillat ist hochprozentiger,
ihr Burn potenter, ihre Huren schöner. Jedes Laster ist bei
ihnen zu Hause und erfährt eine neue Steigerung. Sie leben
im Jetzt. Jede Emotion ist ihnen heilig und wird zelebriert,
als sei es die letzte.
Ihre Scharen benennen sie nach Herkunft oder Lebensart. Sie selbst verdienen sich den Namen eines Vogels, der
ihrer Natur entspricht: Messerkämpfer gelten als Raubkrähen, Huren und Diebe als Elstern. Ein Specht baut das Nest
aus, betreibt Kaschemmen und etabliert Schmuggelrouten.
Angeführt wird die Schar von einem Raben: Er versteht
es, die Karten des apokalyptischen Tarots zu deuten, mit
viel Trara und Dramatik seine Wunschzukunft auszubrei-
ten. Die Karten sind ihm ein Werkzeug der Willkür, das er
gegen jeden richten kann, der sich ihm widersetzt.
In den Richtern haben die Apokalyptiker ihre Nemesis gefunden. Recht und Ordnung treffen auf Verbrechen und
Exzess. Das wird interessant.
WIEDERTÄUFER
F A C K E LT R Ä G E R I M PA R A D I E S
Man muss doch nur einmal offenen Auges durch die Welt
gehen, um die Wahrheit in der neognostischen Lehre zu
erkennen! Das Land war einst wunderschön und baumbestanden; die Sonne blickte wohlwollend auf Felder und
glückliche Menschen: aber heute ist das Paradies verrottet.
Die Psychonauten in all ihrer Fleischlichkeit tragen kein
göttliches Pneuma in sich, sind also Ausgeburten des Demiurgen. Die Wurzel allen Übels liegt frei, und sie muss
zerhackt und herausgetrennt werden.
Die Wiedertäufer haben sich dies zur Lebensaufgabe
erkoren. Ihre Asketen heilen und bestellen den geschundenen Boden, säen Weizen und taufen ihn mit dem reinsten
aller Wasser. Sie pressen und mischen Öle zu Essenzen, die
Stärke schenken und Schmerz lindern. Die Orgiasten sind
die Kämpfer unter den Wiedertäufern; durchdrungen von
elysischen Ölen werfen sie sich mit Schwertern und Brennern gegen die Psychonauten. Das letzte Gefecht um die
Menschheit wird im Hier und Jetzt geführt, und die Wiedertäufer tragen die Fackel voran.
BLEICHER
DIE HÖHLENGÄNGER
Seit Jahrhunderten wachen sie in den Grüften der Gottgleichen auf deren Erwachen. Tief unter der Erde in ewig
währender Finsternis. Gestalten sprechen von den Wänden zu ihnen, blau flackernd und die Stimmen tief und
knisternd, und sie bestärken das Volk der Wächter darin,
dass es auserwählt wurde. Auserwählt, eines Tages die
Tore zur Oberfläche aufzustoßen und an der Seite der
Gottgleichen über die Völker dieser Erde zu herrschen.
Dieser Tag ist nah. Doch nicht nah genug. Die Nahrung
wird knapp, und immer öfter müssen Bleicher ausziehen und
nächtens Dörfer plündern. Die Jahrhunderte in der Dunkelheit verwandelten sie in fahle und gedrungene Gestalten mit
geschärften Sinnen, aber ohne jede Moral den Oberirdischen
gegenüber. Wohlklingenden Stimmen messen sie große Bedeutung bei: Ihre Demagogen sind Meister der Beeinflussung.
Ein Wort von ihnen, korrekt intoniert und mit der richtigen
Körperhaltung verbunden, pflanzt Emotionen wie Furcht
oder Begierde, oder verursacht reinen strahlenden Schmerz.
Die Bunker öffnen sich, einer nach dem anderen. Die
Erwecker unter den Bleichern machen sich auf die Suche
nach ihresgleichen, suchen die 44 Bunker. Fest an den Leib
gepresst tragen sie die heiligen Sonnenscheiben, die sie
schon bald vor verschlossenen Portale schwenken werden.
Einige dieser Portale werden aufschwingen und einen
Plan in Gang setzen, der größer ist als alles, was sich die
Bleicher vorzustellen vermögen.
FORWARD
43
MARODEURE
Argyre der Aasgeier, die einbeinige Aspera, der Eisbrecher, Aries der Widder, Chernobog und ein gutes Dutzend
weiterer - sie begleiten die Menschen seit Jahrhunderten,
verschwinden für Jahrzehnte, ziehen Kreise wie Asteroiden im Bann der Erde. Eines Tages schlagen sie wieder
ein und hinterlassen Krater voller Legenden und bizarrer
Schilderungen von gleißenden Lichtstrahlen und verfaultem Fleisch. Den Wilden gelten sie neben Mutter Sonne
und Bruder Mond als Götter, die mit Tieropfern besänftigt werden müssen. Angeblich erwachen in ihren Händen
urvölkische Artefakte zum Leben, Maschinen sprechen zu
ihnen, unüberwindbare Portale in die vergessenen Tiefen
der Berge schwingen auf. Die einen beschreiben sie als tote
Hüllen, von Bandagen in Form und von Boshaftigkeit in
Bewegung gehalten. Andere sehen in ihnen eine Fügung
des Schicksals: So vernichtete Aries in der Schicksalsstunde der Jehammedaner das Angriffsheer der Wiedertäufer.
Sie sind unberechenbar. Dem einen offenbaren sie uraltes Wissen, andere erfahren ihren unendlichen Zorn. Sie
sind noch immer da draußen. In den Ruinen finden sich
Kohlezeichnungen vom Widderköpfigen, im hohen Norden Altarberge des Chernobog.
Jeder kennt sie als Marodeure.
SICHTUNGEN
Der Kult der Chronisten verfolgt die Spuren der Marodeure seit Anbeginn der Zeit. Ihre Streamer durchmessen das
Land, befragen die Eingeborenen und lauschen am Lagerfeuer alten Geschichten über Götter aus den Schatten
der Zeit. Jede Sichtung und jedes Detail sind ein weiteres
Puzzlestück im digitalen Nexus ihres Hauptquartiers, des
Clusters. Eines Tages werden die Informationen eine kritische Schwelle überschreiten, alles an seinen Platz fallen
und sich ihnen der Plan der Marodeure erschließen.
C O R E D ATA : A S P E R A
Borca, 2359. Unsere Lauscher registrierten wieder das Signal. Ultrakurzwelle, gepulste Sinuswelle, alle 500 Millisekunden. Bei mir waren Streamer Monitor und Mittler
Delete, beide mit ausreichendem Score, um zu wissen, was
das Signal bedeutete und worauf wir uns einließen. Keiner
von uns hatte bislang eine Begegnung. Wir waren aufgeregt und guter Dinge.
Monitor übernahm die Peilung. Er deutete nur stumm
auf die zerklüftete Silhouette der Alpen. Sein Atem drang
aus zahlreichen Löchern seiner Maske und kondensierte
zu Wölkchen. Daran erinnere ich mich noch.
Am Morgen brachen wir auf.
Einsetzender Schneefall zwang uns zu einer Pause.
Wir richteten uns im Kellergewölbe einer Ruine ein. Monitor hörte auf das Signal und regte sich nur, um die Batte-
rien aufzukurbeln. Ich kommunizierte mit Delete. Es wurde persönlich. Er erzählte von einer Schwester, Fregga. Mit
ihr hätte er in der Staublunge Käfer gesammelt. Er sagte,
der Schnee wecke einige Erinnerungen in ihm. Wie er sich
dabei gefühlt hätte, fragte ich. Er verstand nicht, zumindest anfangs, wurde sogar böse. Meinte, dass es doch wohl
möglich sein sollte, ein verdammt normales Gespräch zu
führen, ohne auf die antrainierten Kommunikationscodes
zur Kontaktvertiefung mit Wilden zurückzufallen. Ich
sagte, es täte mir leid.
In der Nacht weinte er im Schlaf und kratzte sich an
der Strichcodetätowierung auf seiner Stirn. Ich hätte fragen können, ob er den Entschluss seiner Eltern bereute,
ihn an die Chronisten gegeben zu haben. Ich wartete darauf, dass er aufwachte, aber er schlief durch.
Am Morgen klarte der Himmel auf, und wir zogen
weiter.
Die Sonne stand im Zenith, als Delete an meine Seite
kam und seine Hand auf meinen Arm legte. Er war töricht,
aber er hatte Glück: Ich hatte die Leitungen in meinem
Anzug entladen, damit es im Schnee nicht zu Funkenschlag kam. Er sagte, wir würden beobachtet, von der Hügelkette. Er deutete auf schwarze Konturen vor weißem
Hintergrund, und sie liefen durch den kniehohen Schnee
auf uns zu. Monitor sah sie ebenfalls. Wir blickten uns an
und tippten zeitgleich auf unsere Vocoder. Wir drehten
die Verstärker auf Übersteuerung, richteten uns auf die
Wilden aus. Ich brüllte, Delete kreischte, Monitor dröhnte. Die Dämpfung in meiner Maske regelte auf Maximal.
Pulverschnee stieg um uns herum auf. Ich spürte die Frequenzen in den Knochen, spürte sie in meinem Unterleib.
Interessanterweise schmerzte mir genau eine Rippe: Wir
mussten ihre Resonanzfrequenz getroffen haben. Gut.
Eine eingespielte Gruppe. Wir liefen synchron.
Die Wilden flohen. An diesem Tag waren wir die Götter. Am nächsten Morgen trafen wir auf einen wahrhaftigen Gott.
Der Amplitudenausschlag des Signals war schon Stunden vorher im roten Bereich. Monitor setzte seinen Rucksack ab und entnahm ein Bündel. Er schlug das Wachstuch beiseite. Darin lag ein Artefakt unbekannter Bauart.
Ergonomischer Griff, Abzug, wulstiger Aufbau, eine handspannenbreite Nadel ragte daraus hervor, viel schwarzes
Klebeband. Er ignorierte meine Anfrage und ging los. Delete eilte hinterher. Ich war unschlüssig. Durften wir den
Rucksack zurücklassen? Schließlich folgte ich mit einigem
Abstand.
Dann sah ich sie. Sie stand einfach da. Wie in den Beschreibungen: Zwei Zöpfe standen zu beiden Seiten ihres
Kopfes ab, die meterlangen Haare vereinigt auf ihrem
Rücken. Ihr Gesicht war fein geschnitten. Jugendlich. Ihr
Blick undeutbar. Sie bewegte sich auf Monitor zu. Ihr mechanisches Bein hatte aber auch gar nichts mit der Anatomie eines menschlichen Beines gemein, und dennoch war
es ein Meisterwerk der Hydraulik: Das Metall glitt sanft
über Führungsschienen, Knickgelenke schwangen herum
und Zahnstangen griffen in Zahnräder. Geschmeidig wie
ein Raubtier.
Monitor rührte sich nicht. Ich eilte nach vorne an seine Seite und fiel im Schnee auf die Knie, den Kopf gesenkt.
Ich hörte das Sirren und Scharren ihres Beines, aber auch
ein Knarzen wie von altem Leder. Mir wurde übel. Monitor kniete noch immer nicht. Ich blickte zur Seite und zu
ihm hoch. Er hatte den Kopf in den Nacken gelegt, machte glucksende Geräusche. Ich sprang auf und wollte ihn
halten, da sah ich sein Gesicht. Er hatte die Maske heruntergeschlagen, sein Mund stand weit auf, und aus seinen
Augen lief milchiges Sekret. Er rührte sich nicht, machte
nur sein Gluckgluckgluck, und ich packte ihn, spürte die
Verkrampfung in seinem Körper, zog selbst meine Maske
herunter, atmete die kalte Luft und schrie ihn an.
Im nächsten Moment lag ich im Schnee.
Aspera, die Einbeinige, die Göttin, sie hatte Monitor
am Nacken gepackt. Ihre Finger knarzten, und auch ihr
Kiefer. Sie redete mit Monitor, in einer Sprache, die ich
nicht verstand. Sie wurde lauter, schüttelte ihn, gluckgluckgluck, ihr Gesicht war keine Handbreit von seinem
entfernt. Ein Schwall undefinierten Geruchs ließ mich
würgen. Eiter, Staub und Moder. Alter jenseits aller Vorstellung. Sie griff nach Monitors Griff-und-Klebeband-Artefakt, und ich hörte seine Finger knickknackknack brechen. Er röhrte. Hustete Worte in derselben Sprache aus,
in der auch Aspera ihn angesprochen hatte. Sie nahm das
Artefakt am Griff, zog einen Schlauch aus ihrem Anzug
und verband beides.
Aus den Augenwinkeln sah ich Delete. Er war aufgestanden, die Maske verriet keine Regung. Über seine
Schulterplättchen tanzte Elmsfeuer. Er lud die Kondensatoren in seinem Anzug auf, würde angreifen. Ich schrie ihn
an, sich nicht zu rühren. Immer wieder. Kreischte mir die
Seele aus dem Leib. Aspera blickte zu mir herüber, und ich
verstummte. Unter ihrer Haut verschob sich etwas. Ihre
Augen waren nicht kalt oder unmenschlich, sie waren einfach nur teilnahmslos. Nichts hätte mich mehr erschüttern können.
Delete fiel auf die Knie und grub seine Hände in den
Schnee. Ich wusste, dass er Fragen vorbereitet hatte. Wir
waren so gut vorbereitet gewesen.
Aspera wandte sich wieder Monitor zu, riss seinen
Kopf zur Seite und rammte ihm die Nadel in den Hals. Ein
grünes Licht an dem Artefakt erstrahlte und ein Kolben
begann, auf und ab zu fahren. Es war eine Pumpe.
Wir sahen, wie Monitors Haut fahl wurde und sich
über den Muskeln spannte. Er verging. Ein Zittern durchlief ihn. Ich dachte, er hätte es hinter sich, da fing er an zu
sprechen. Sehr ruhig, sehr leise. Aspera antwortete im gleichen Ton, strich ihm über das Haar. Sie lächelte. Er zitterte
ein weiteres Mal und verstummte. Alle Kraft fuhr aus ihm.
Aspera ließ ihn zu Boden gleiten und löste den Schlauch
von der Pumpe. Weißes Sekret quoll hervor, härtete sofort
zu einer Keramik aus. Sie brach den Zapfen ab und blickte
wieder zu mir. Starrte mich an. Minutenlang. Ich war mir
nicht sicher, ob sie nicht vielleicht eingeschlafen oder in
einem Zustand gefangen war, der uns gewöhnlichen Menschen unbekannt ist. Wieder sah ich die Bewegung unter
ihrer Haut und wusste, dass sie jetzt sprechen würde.
„Dieser Mann war falsch.“ Ihre Augen blickten hin und
her, als überlegte sie. Sie nickte. „Kein Chronist.“
Sie wandte sich den Bergen zu und ging.
L I N K E D C O R E D ATA :
AMBROSIA
Die Keramikkartuschen sind nicht sicher. Wir wissen
nicht, wie sie aktiviert werden, oder was sie enthalten,
nur wer hinter ihnen her ist. Die vorliegenden Exemplare
sind alle zylindrisch, 35 Zentimeter hoch mit einem Radius von 16 Zentimetern. Die Kanten wurden abgerundet.
Ein handtellergroßes eingeprägtes RG-Logo verrät die Recombination Group als Hersteller. Die Härte des Materials deutet auf eine Keramik hin. Die Kartusche ist weiß,
Lackspuren oder Beschriftungen sind nicht vorhanden.
Auch kein Öffnungsmechanismus oder eine Kante, die auf
einen Verschluss hindeuten könnte.
Ein gewaltsames Öffnen ist nicht angeraten. Ältere
Coredatas beschreiben die Prozedur: Unter großer Hitzeeinwirkung treiben Kristalle aus der Keramik, bevor
die Kartusche schlagartig zerfließt. Kommt die Masse
mit organischem Material in Kontakt, verklebt sie damit
und kriecht in jede Pore. Pflanzen und Tiere versteinern
zu schwarzem Kohlenstoff, aus dem noch Minuten später
fraktale Korallen sprießen. Die Masse kann ihren Aggregatzustand ändern: Mal ist sie flüssig wie Blut, verhärtet
plötzlich zu einer glatten Woge oder verwandelt sich in
flirrenden Dunst.
Es deutet vieles darauf hin, dass dies nicht das Standardverhalten der Kartuschen ist. Die Recombination
Group beherrschte im ausklingenden Zeitalter des Urvolks den Medizinmarkt. Angeblich ließ sich die weiße
Masse mittels Transponder auf Krankheiten prägen und
konnte diese bekämpfen. Root-Zugriff auf jeden Organismus. Wir können das nicht überprüfen, die Technik ist für
uns verloren.
Vorerst. Die letzten Kontaktaufnahmen mit Aspera
verliefen unergiebig bis unerfreulich. Sie nennt die Kartuschen „Ambrosia“. Mehr war nicht zu erfahren. Unsere
Shutter melden sich nicht aus Chernobogs Domäne, der
Eisbrecher kehrt nur einmal im Jahr im Danziger Spital
ein. Bislang haben wir ihn verpasst. Wir verfolgen weitere
Spuren, unter anderem zu einem Uralten namens Gusev.
Die Marodeure wissen jetzt, dass wir die Kartuschen haben, und wir wissen, dass sie sie haben wollen. Vielleicht
kommen wir zueinander, aber vielleicht … haben wir damit auch unseren Untergang besiegelt.
FORWARD
45
CHERNOBOG
Die riesigen Kiefern im Nordosten Borcas sind über die
Ruinen hinausgewachsen, Pulverschnee rieselt durch die
Äste, der Boden ist frostig. Ewige Dämmerung herrscht
hier unten. Die aufgespannten Klauen der Bärenfallen
sind nicht zu sehen. Wölfe streifen über sie hinweg, aber
sie lösen die Fallen nicht aus. Sie warten auf größere Beute.
Die Wälder sind uralt und kalt, doch in ihnen haust etwas, das weit älter und kälter ist. Seit Jahrhunderten erzählen die ostborcischen Völker von einem Koloss, dessen
Seele von der Zeit erodiert und letztlich vom Tod selbst
eingefordert wurde. Der Leib verblieb, in ewigem Verfall
gefangen. Er stieg hinab in die Ruinenschluchten, wurde
ihr Schatten und Fluch, verharrte dort für viele Winter.
Erhob er sich eines Tages, vermerkten die Schamanen dies
als Beginn eines neuen Zeitalters. Die Sippen zitterten vor
Furcht. Der Leib des Kolosses dröhnte wie umstürzende
Bäume, jeder Schritt wurde gefolgt von einem Krachen
und Splittern, jede Bewegung knisterte, als sei er mit Reisig ausgestopft. Wer sich ihm zu nähern wagte, sah den
gewaltigen kegelförmigen Körper, sah die leeren Augenhöhlen, die abgefressene Nase, und er erblickte die ausgeblichenen Kabel aus seinem Schädel ragen, die sich wie
ein Wasserfall über den schwarzen Überwurf ergossen,
mal hineinstießen, mal angenietete Rattenschädel umflossen und in glitzernden Artefakten endeten. Der Koloss
ruckte seinen Schädel hin und her, als schnüffelte er. Er
war blind, doch er sah alles.
Die Waldvölker nannten ihn bald Chernobog, den
schwarzen Gott. Sie warfen gehäutete Gendos, geschnitzte Kegelstatuetten und in Tuch eingeschlagenen wilden
Honig in seine Schlucht und hofften, so seinen Schlaf in
der Tiefe auszudehnen. Es nützte nichts. Er entstieg der
Spalte und zog durch die Wälder. Stampfend, dröhnend.
Die Sippen wichen ihm aus. Sie gaben ihre Dörfer auf und
wagten nicht einmal, ihr Essen und ihre wenigen Besitztümer mitzunehmen. Was der Gott einforderte, sollte ihm
gehören.
DER KORRESPONDER
Die Phasen der Ruhe wurden kürzer. Immer öfter hallte
Chernobogs Dröhnen durch die Wälder. In den frühen
Jahren verschonte er die Dörfer, doch jetzt zerschlug er die
Hütten, zertrat Altäre und stürzte Bäume um. Wer sich
ihm auf weniger als hundert Schritt näherte, den verfolgte
er, den kegelförmigen Leib immer schneller beschleunigend, den Kopf im Nacken, die toten Augen auf das Firmament der Äste gerichtet, das Maul weit aufgerissen. Hatte
er sein Opfer erreicht, hämmerte er auf es ein, bis es in
einer Wolke aus Blut zu Boden ging. Immer weiter drang
er darauf ein, bis nichts blieb als Knochensplitter und Futter für die Krähen.
Eines Tages lag inmitten eines zerstörten Dorfs ein
faustgroßes Artefakt. Stacheln ragten aus dem Korpus.
Schwarz und unförmig war er. Der Schamane des Dorfs
beschwor die guten Geister des Waldes, streute Ahnenasche über das Artefakt und griff danach. Es erwachte sofort. Eine Stimme kletterte durch die Oktaven zu einem
vibrierenden Bass - benannte sich selbst als „der Korresponder“ und weihte den Schamanen in die Geheimnisse
des schwarzen Gottes ein.
Von da an sprach Chernobog über den Korresponder
mit den Schamanen. Weitere wurden verliehen, Tempel
um sie herum errichtet, Riten ersonnen, Erwählte bestimmt.
Die Schamanen wussten jetzt, wie sie ihren Gott besänftigen konnten. Sie brachten ihm Weidenrinden-Sud dar,
ließen Körbe voller Stechapfel, Tollkirsche und schwarzen
Bilsenkrauts in sein Domizil hinab. Sie platzierten Fallen.
Nichts durfte seine Ruhe stören.
DAS SIGNAL
In der Nacht zum zweiten Februar des Jahres 2593 registrierten die Chronisten in ihrem Cluster ein Signal auf der
Mittelwelle. Eine Abfolge von kurzen und langen Pulsen,
die vollständig erfasst, aber nicht verstanden wurden. Den
Tag über ging das Signal im atmosphärischen Rauschen
unter, erst in den späten Abendstunden war es wieder klar
zu empfangen. Der Sender musste tausende Kilometer
entfernt sein. Eine grobe Peilung deutete in Richtung Purgare oder den Balkhan.
Gleichzeitig erwachten in den ostborcischen Wäldern
die Korresponder.
Nach über einer Dekade in der Finsternis erhob sich
Chernobog. Er scharte die Klans der Wälder um sich, forderte ihre Anführer an seine Seite. Wie sie um ihn standen
und bei jedem Knacken und Krachen erzitterten, sprach er
zu ihnen durch die Korresponder. Und obwohl die Worte
schmeichelnd und klar aus den Artefakten drangen, formte sein Mund keinen Laut.
REISE
Chernobog glitt voran, vorbei an Altarbergen, an ihm zu
Ehren aufgehäuften Knochen und lodernden Scheiterhaufen, an Schlachtgruben voller Gendokadaver - und
hunderte Klans schlossen sich ihm an. Sie krochen aus
Bunkern und verließen ihre Hütten; Nomadenvölker wichen von ihren Routen ab, die sie seit Anbeginn der Zeiten
nicht verlassen hatten. Sie spürten, dass etwas Großes bevorstand. Wenn Chernobog verharrte, sich die zehn Anführer um ihn gruppierten und die Korresponder über ihre
Köpfe hoben, lauschten sie der fremdartigen Stimme, die
von ewigem Lohn kündete.
Chernobogs wich nicht um eine Winkelsekunde vom
Weg ab. Er akzeptierte keine Umwege, selbst wenn Berge
erklommen werden mussten. Vor ihm lag die Praha Republika, die letzte Bastion einer vergehenden Zivilisation.
Niemand hatte sich jemals gegen sie gestellt, niemand jemals die Minenfelder oder Feuerradien der Maschinengewehrnester gequert. Die Praha Republika fiel Tage später.
Klans plünderten die Städte, uralte Bibliotheken gingen in
Flammen auf.
Chernobogs Weg endete hier nicht.
WIEDERGEBURT
Die Nachricht vom Fall Prahas verbreitete sich. Sie befeuerte eine Idee: Dass es möglich ist, das Joch der Starken abzustreifen. Die Klans in Borca regten sich. Vor langer Zeit
hatten sie ihre Begräbnisstätten und Dörfer an Richter
und Spitalier verloren; die Voivoden des Balkhans sahen
sich nicht länger den Jehammedanern verpflichtet. Die
Idee infizierte einen Klan nach dem anderen. Längst als
vernichtet abgeschriebene Sippen erklimmen die Ruinen
und riefen ihre Herrschaft aus.
Die Zeit ist reif. Die Kulte müssen um ihre Macht
fürchten.
Die Klans sind zurück.
FORWARD
47