Nathaniel und Victoria. Alle fünf Bände in einer E-Box!

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Nathaniel und Victoria. Alle fünf Bände in einer E-Box!
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Im.press
Ein Imprint der CARLSEN Verlag GmbH
© der Originalausgabe by CARLSEN Verlag GmbH, Hamburg 2013, 2014
Text © Natalie Luca, 2013, 2014
Lektorat: Christin Ullmann
Umschlagbild: shutterstock.com / © Oleg Gekman / © vs148 / © ESOlex
Umschlaggestaltung: formlabor
Gestaltung E-Book-Template: Gunta Lauck
Schrift: Alegreya, gestaltet von Juan Pablo del Peral
Satz und E-Book-Umsetzung: readbox publishing, Dortmund
ISBN 978-3-646-60094-0
www.carlsen.de
PROLOG
Man sagt, dass im Augenblick des Todes das eigene Leben an einem
vorbeizieht – was in diesem Augenblick an mir vorbeizog, erklärte auf jeden
Fall, warum ich an einer Friedhofsmauer sterben würde.
Als ich merkte, dass die Reifen auf dem Asphalt nicht mehr griffen,
wusste ich noch nicht, dass ich Sekunden später tot sein sollte. Ich hatte die
Kontrolle über den Wagen verloren – das kommt vor, wenn man auf einer
regennassen Straße wie eine Idiotin das Gaspedal durchtritt – und das Auto
schlitterte über die Fahrbahn. Meine Hände krampften sich wie
Eisenklammern um das Lenkrad, während ich versuchte, mich an
irgendetwas aus dem Führerscheinkurs zu erinnern, das mich davor
bewahren würde, mich bei meiner ersten Autofahrt umzubringen. Während
das Auto rutschte und das Heck ausscherte, zerrte ich das Lenkrad in die
Gegenrichtung und trat panisch aufs Bremspedal. Doch die Reifen griffen
nicht und der Wagen schlitterte ungebremst auf die Böschung zu.
Ich versuchte verzweifelt, das Auto auf der Straße zu halten, und trat das
Bremspedal durch. Hinter der Böschung ragte die Friedhofsmauer
bedrohlich auf, als würde sie nur darauf warten, dass mein Wagen daran
zerschmetterte. Und plötzlich begriff ich, dass diese Mauer das Letzte war,
was ich jemals sehen würde.
Obwohl es sinnlos war, stemmte ich meine Arme mit aller Kraft gegen das
Lenkrad, so als könnte ich die heranrasende Gefahr von mir fortdrücken. In
diesem Moment schleuderte mein Auto von der Straße und schoss über die
Böschung.
Ich schloss die Augen. Der Tod also … er konnte nicht so schlimm sein.
Nicht schlimmer als die Hölle in meinem Innern.
Ich erwartete den Aufprall – doch was ich stattdessen wahrnahm, war ein
goldener Funke. Das sanfte Schimmern war so wunderschön, dass es meine
Aufmerksamkeit im letzten Augenblick meines Lebens vollkommen fesselte.
Ein Gedanke kam mir in den Sinn, es war eigentlich nur ein Gefühl, ein
gutes Gefühl, das erste gute Gefühl seit Monaten – doch es dauerte nur den
Bruchteil eines Augenblicks. Dann zerschellte mein Wagen an der schwarzen
Mauer.
Ich dachte, das wäre das Ende.
Es war der Anfang.
D E R T A G , A N D E M IC H S T E R B E N S O L L T E
13 Stunden, 27 Minuten früher.
In dieser Nacht kehrten die Albträume zurück. Ich wachte wieder schreiend
auf, keuchend und schweißgebadet. Panisch schlug ich auf den Lichtschalter
und sah mich im Zimmer um.
Ich war allein. Ich erschrak, als ich die Schritte auf dem Flur hörte, doch
es war nur mein Vater, der im nächsten Moment seinen Kopf zur Tür
hereinstreckte. Ich war es nicht gewohnt, dass er zu Hause schlief.
»Alles in Ordnung?« Er blinzelte müde gegen das schwache Licht meiner
Nachttischlampe.
»Albtraum«, stieß ich hervor und ließ mich zurück in die Kissen sinken.
»Schon wieder? Willst du nicht endlich zum Arzt gehen?«
»Es geht schon«, murmelte ich.
»Ich habe einen 16-Stunden-Tag vor mir, Vicky, ich brauche meinen Schlaf
...«
»Tut mir leid«, sagte ich leise.
Er schüttelte den Kopf und schloss die Zimmertür. Ich schaltete das Licht
aus und starrte in der Dunkelheit an die Zimmerdecke.
Dieser Albtraum war bisher der Schlimmste gewesen. Ich wischte mir den
kalten Schweiß von der Stirn.
In dieser Nacht schlief ich nicht wieder ein.
Da es mein Geburtstag war, konnte der Tag wohl nicht noch schlimmer
werden; davon war ich fest überzeugt, als ich mich ein paar Stunden später
mit dunklen Ringen unter den Augen durch den Schultag quälte.
Ich ahnte noch nicht, wie sehr ich mich irren sollte.
»… und weil Chrissy nicht weiß, dass Mark auf sie steht, und er das allein
nie auf die Reihe kriegen wird, müssen wir eben Amor spielen.«
»Was?«, murmelte ich. »Lass mich raten: wieder ein Spruch von deiner
Oma?«
Anne zuckte mit den Schultern und grinste verlegen. Sie war bei ihrer
Großmutter aufgewachsen und gab ständig Ausdrücke von sich, die kein
Mensch mehr verwendete. Einige der anderen fanden sie deshalb uncool. Ich
fand das nicht. Sie war meine beste Freundin.
»Ich soll also so tun, als wäre ich ein kleiner fetter Engel?«, fragte ich.
Anne nickte enthusiastisch. »Wenn es hilft, die beiden
zusammenzubringen? Ich weiß genau, wie wir das anstellen werden.«
Meine Müdigkeit war schlagartig verschwunden. »Nein. Vergiss es.«
»Aber deine Geburtstagsparty ist dafür ideal!«
Ich stöhnte. »Nein. Keine Party.«
»Es ist alles schon geplant! Und ich habe das perfekte Outfit.«
Ich stopfte meine Schulbücher in die Tasche, während hinter uns die
anderen Schüler aus dem Physiksaal hinausströmten. Annes Enthusiasmus
machte mir ein schlechtes Gewissen.
»Hör mal, ich bin einfach nicht in Stimmung für eine Party. Tut mir leid.«
Anne sah mich mit einer Mischung aus Mitleid und Ungeduld an. Sie
schüttelte den Kopf und ihre kurzen blonden Locken hüpften. »Es wird Zeit,
dass du aus deinem Schneckenhaus herauskommst. Du kannst dich doch
nicht ewig verstecken.«
»Ich weiß«, sagte ich leise.
Genau genommen konnte ich mich überhaupt nicht verstecken. Das, was
mich verfolgte, fand mich überall.
Nahezu überall.
»Also abgemacht?«, drängte Anne. »Heute um sieben Uhr im Charley’s?«
»Victoria? Kannst du mir bitte helfen?«
Ich blickte auf. Herr Wagner, der Physiklehrer, sah mich auffordernd an.
»Geh schon vor«, sagte ich zu Anne und ließ meine Tasche auf den Tisch
sinken. »Ich komme gleich nach.«
»Warte, bis du die Stiefel siehst, die ich für die Party gekauft habe.« Anne
zwinkerte mir zu und verließ mit den anderen Schülern die Klasse. Das
Thema war definitiv nicht beendet. Seufzend wandte ich mich zum
Lehrertisch.
Herr Wagner, groß und schlaksig, mit runder Hornbrille und blauen
Augen, war jenseits der Vierzig, und hatte trotzdem erstaunliche Ähnlichkeit
mit einem neugierigen Kind. Seit ich ihn kannte trug er karierte Hemden,
die nie ganz in seiner Hose steckten, und eine altmodische Wuschelfrisur,
die seinen seltenen Friseurbesuchen trotzig standhielt. Er unterrichtete
Physik und Religion mit chaotischer Hingabe, und er war der einzige Lehrer,
den ich mochte.
»Ich fürchte, die räumen sich nicht von selbst weg, obwohl Schüler das
immer noch zu hoffen scheinen.« Wagner deutete auf mehrere Stapel
Experimentierkästen, die wir während der Stunde benutzt hatten, und die
sich nun auf dem Lehrertisch türmten. »Tut mir leid, dass ich dich aufhalte«,
sagte er, während er etwas unbeholfen einen Kasten nach dem anderen auf
seinen Arm stapelte.
»Nicht so schlimm.« Ich schob die Kästen rasch gegen seine Ellenbeuge,
als der Stapel zu kippen drohte. Dass ich froh war, dem
Geburtstagspartygespräch mit Anne entkommen zu sein, behielt ich für
mich – obwohl ich das Gefühl hatte, dass Wagner mich nicht zufällig genau
in diesem Moment gerufen hatte.
Gemeinsam trugen wir die Kästen zu der kleinen Kammer hinter dem
Lehrerpult. Wagner warf mir einen Blick von der Seite zu. »Schlechter Tag?«
Ich zuckte mit den Schultern. »Schlechtes Jahr.«
Wagner schwieg. Er betrat die Kammer und hielt mir umständlich die
Tür auf, als ich mich hinter ihm hineinzwängte. Der kleine Raum war mit
Kisten vollgeräumt und roch nach Staub.
»Mein Geburtstag«, sagte ich.
»Das tut mir leid«, sagte Wagner betroffen.
Ich hob überrascht den Kopf, doch Wagner bemerkte es anscheinend
nicht. Er schwieg eine Weile und stapelte seine Kästen auf ein Regal.
»Weißt du, was das Beste an dieser Kammer ist?«, fragte er plötzlich.
Ein wenig überrumpelt blickte ich mich in dem engen Raum um. Die
Regale waren bis zur Decke vollgestopft mit alten Büchern und sperrigen
Kisten. Von der Decke hing eine einzelne Glühbirne, die hin und wieder
flackerte, und es roch nach Generationen staubiger Physikstunden.
»Keine Ahnung.« Ich bemühte mich, nicht unhöflich zu klingen. Ich
konnte mir nicht vorstellen, dass irgendetwas an dieser miesen kleinen
Kammer ›gut‹ war, geschweige denn ›das Beste‹.
Wagner blickte mich über den Rand seiner runden Brille an. »Der Rest der
Welt bleibt draußen.«
»Oh.« Ich sah mich nochmals um. Irgendwie hatte er Recht, und plötzlich
erschien mir der kleine Raum viel einladender.
»Jeder von uns braucht hin und wieder so einen Ort«, sagte Wagner.
»Einen Ort, an dem alles, was wir nicht wollen, draußen bleibt.«
Ich lächelte schwach. »Wann kann ich einziehen?«
»Ich fürchte, dieser hier ist nur für Notfälle bestimmt. Keine
Dauerresidenz.« Das Lächeln auf seinem Gesicht verschwand. »Es ist gut,
dass du heute trotzdem zur Schule gekommen bist.«
»Ich hatte die Wahl zwischen schlimm und schlimmer.«
»Es gibt ein ›schlimmer‹ als die Schule?«
Ich machte eine vage Kopfbewegung.
Wagner fuhr fort, Kästen in das Regal einzuräumen. »Zu Hause?« Er
nahm mir zwei Kästen aus den Armen.
»Mein Vater hat viel zu tun im Büro. Er arbeitet bis spätnachts und ist oft
unterwegs.« Ich ärgerte mich über mich selbst, als mir auffiel, wie
entschuldigend meine Worte klangen.
Wagner neigte nachdenklich den Kopf zu Seite. »Es ist seine Art, mit
eurem Verlust umzugehen.«
»Es ist seine Art, mit allem umzugehen«, murmelte ich.
Der Lehrer blickte mich lange an. »Ich kann verstehen, wenn du dich
verletzt fühlst. Oder zornig, oder traurig, oder enttäuscht. Aber du darfst
nicht zulassen, dass diese Gefühle dich beherrschen, verstehst du?«
Sein intensiver Tonfall verwirrte mich. Ich schluckte und starrte auf die
Kästen vor mir im Regal. Meine Augen waren fest auf die Beschriftungen an
ihren Seiten geheftet. »Mein Vater ist die meiste Zeit fort, und meine
Freunde …« Ich brach ab und schüttelte den Kopf.
» … verstehen dich nicht?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Und deshalb bist du enttäuscht?«
Ich schwieg.
»Du solltest froh darüber sein. Es bedeutet, dass sie sich nicht vorstellen
können, was du durchmachst. Oder wäre es dir lieber, sie hätten ähnliche
Erfahrungen wie du?«
Ich erstarrte entsetzt. »Nein. Natürlich nicht. Es ist nur … manchmal ist es
so schlimm, dass ich nicht mehr weiß, was ich tun soll …« Ich verstummte,
als ich meine eigenen Worte hörte. Es war die Wahrheit, doch ich hatte sie
noch nie ausgesprochen, erst recht keinem Lehrer gegenüber.
Wagner nickte nachdenklich. »Ich verstehe. In solchen Fällen …« Er
streckte die Hände zu den Seiten aus. »Ich präsentiere: den ›Ort-ohne-denscheußlichen-Rest-der-Welt‹, wir haben von Montag bis Freitag geöffnet.«
Ich schmunzelte leicht. »Danke.« Nach kurzem Nachdenken fügte ich
hinzu: »Ich glaube, ich habe meinen eigenen ›Ort-ohne-den-scheußlichenRest-der-Welt‹.«
»Sehr gut! Geh dorthin, wenn es schlimm wird. Das hilft.«
Dass Wagner nicht fragte, um was für einen Ort es sich handelte, war
einer der Gründe, warum ich ihn mochte. Ich fragte mich, ob ich mit ihm
auch darüber sprechen konnte, was mich an meinen geheimen Ort trieb.
Würde er verstehen, was niemand sonst verstand?
»Danke für deine Hilfe, Victoria.« Wagner räumte den letzten Kasten in
das Regal. »Ist noch etwas?«
Ich zögerte einen Moment. »Nein. Alles okay«, murmelte ich dann und
verließ rasch den Physiksaal.
Draußen stieß ich mit Anne zusammen, die vor der Tür auf mich
gewartet hatte.
»Also nochmal zu der Party …«
»Hör mal, Amor, selbst wenn ich wollte, ich habe gar keine Zeit. Mein
Vater hat etwas geplant.«
Anne blickte mich überrascht an. »Der Workaholic ist in der Stadt?«
Ich nickte. »Schlechtes Gewissen, nehme ich an.«
»Was habt ihr vor?«
Ich zuckte mit den Schultern.
»Egal, wir schmeißen die Party auf jeden Fall.« Anne blieb hartnäckig,
während wir auf den Ausgang zusteuerten. »Das sind wir Mark und Chrissy
schuldig.«
»Ich glaube, sie würden es überleben.«
Anne warf mir einen strengen Blick zu. »Nur weil dich keiner der Jungs
interessiert, müssen wir anderen nicht auch wie im Kloster leben.« Sie
imitierte die Stimme ihrer Großmutter. »›Der Himmel weiß, du brichst
Herzen, Schneewittchen.‹«
Schneewittchen – so nannte mich Annes Oma seit meiner Kindheit.
Vermutlich lag es an meinen langen, dunklen Haaren, meinem hellen Teint
und meinen blauen Augen.
Im Gegensatz zu Anne, die ständig mit ihrer Figur auf Kriegsfuß stand,
hatte ich wenig für Styling übrig. Ich hatte mir nie viel aus Make-up
gemacht, trug am liebsten Jeans und T-Shirts, und meine Haarmähne ließ
ich meistens einfach offen. In den letzten Monaten hatte ich mir jedoch noch
weniger Gedanken um mein Äußeres gemacht, als davor.
In meinem Leben gab es nämlich ein davor und ein danach.
Davor war alles in Ordnung gewesen.
Danach …
Genau genommen gab es in meinem Leben nur ein davor.
Anne kicherte noch immer, als wir auf den Schulhof traten, doch der
stürmische Wind fegte ihr Lachen von den Lippen. Ich warf einen
unbehaglichen Blick nach oben. Schwarze Wolken jagten über den Himmel.
Während wir uns über den Schulhof Richtung Busstation kämpften,
wickelte ich mich in meine Jacke und schlug den Kragen hoch.
»Ich hasse dieses Wetter«, schimpfte Anne durch ihren Schal hindurch.
»Oh nein, auch das noch! A-Liga voraus.«
Ich folgte ihrem Blick. Auf dem Schulparkplatz standen zwei neue BMW
Sportwagen mit laufenden Motoren. Ihre Bässe vibrierten mit der Art von
Clubmusik, für die Jugendliche in unserem Alter nicht einmal einen Namen
hatten. Die Wagen waren umringt von Gruppen von Schülern, und in der
Mitte standen, sich in den Blicken der anderen sonnend, die Mädchen der ALiga.
»Wie nett von euch, uns auf die Semesterbeginn-Party eurer Fakultät
einzuladen!«, flötete Ariana gerade dem jungen Mann im vorderen Wagen
zu und warf ihre langen blonden Haare über die Schulter. Das Mädchen
neben ihr, Katharina, in einem pinkfarbenen kurzen Trenchcoat, lachte.
Sarah, die Dritte, beugte sich zum Fenster der beiden Jungs im hinteren
Wagen hinunter und unterhielt sich kichernd mit ihnen.
»Diese Art von Gewerbe ist auf dem Schulgelände verboten«, zischte Anne
giftig, als wir uns an den Schülern vorbeischoben, die immer noch die Autos
angafften.
Ariana lehnte sich gegen die Kühlerhaube des vorderen Wagens, lächelte
und spielte mit einer Haarsträhne.
»Wie affig«, zischte Anne.
»Einfach ignorieren«, flüsterte ich zurück. Doch es war zu spät. Ariana
hatte uns entdeckt.
»Seht nur, wer zum Bus geht! Sollen wir euch mitnehmen?« Arianas
Stimme klang spottend.
»Nein, danke!«, schoss Anne zurück, und murmelte leiser: »Wir stehen
nämlich nicht auf betrunkene Studenten, die uns flachlegen wollen.«
»Oh, doch nicht auf die Party!« Arianas falsches Lachen klang glockenhell
über den Parkplatz. Sarah und Katharina stimmten mit ein. »Nein,
Dummerchen. Aber wir können euch bis zur Bushaltestelle mitnehmen!«
»Einfach ignorieren«, insistierte ich und zog Anne weiter, die ›arrogantes
Aas‹ murmelte. »Einfach ignorieren …«
Als wir außer Hörweite der Drei waren, fauchte Anne ärgerlich: »Wenn
wir wenigstens auch ein Auto hätten …« Dann hellte sich ihr Blick plötzlich
auf. »Warte! Du bist achtzehn! Du darfst ab heute fahren!«
»Genau. Dürfen. Nicht können.«
Anne überhörte diesen Einwand. »Ihr habt doch noch das Auto deiner
Mutter, oder? Das ist doch jetzt deins – tut mir … leid …«
Ein Blick in mein Gesicht hatte genügt. Anne verstummte und starrte den
restlichen Weg zur Bushaltestelle betreten zu Boden.
Ich rammte meine Stiefel härter als notwendig auf den Asphalt. Meine
Finger schlossen sich in der Jackentasche um meinen Schlüsselbund und
fanden den Schlüssel mit dicker schwarzer Plastikverschalung, der seit Juni
daran hing. Ich hatte ihn dabei, um einige Dinge aus dem roten Mini Cooper
zu holen, der vor unserem Haus parkte – den Glücksbringer meiner Mutter,
und einige DVDs, von denen Anne wahrscheinlich gar nicht mehr wusste,
dass ich sie mir geliehen hatte. Seit Juni ging ich jeden Tag an dem Wagen
vorbei und brachte es nicht übers Herz, mich dem Auto zu nähern,
geschweige denn, die Sachen herauszuholen. Und Anne erwartete
tatsächlich, dass ich diesen Wagen fuhr?
»Was ist denn mit euch los?« Chrissys Stimme riss mich aus meinen
Gedanken. Sie und Mark standen an der Bushaltestelle. Chrissys Bruder
Tom, der nicht auf unsere Schule ging, war auch dabei.
»A-Liga«, murmelte ich rasch. Ich spürte Annes Blick auf mir, doch ich sah
bewusst nur Chrissy und Mark an.
»Die blöden Ziegen«, sagte Mark. »Vergesst die doch.« Auf seinem
runden, sonst meist gutmütigen Gesicht erschien ein verächtlicher
Ausdruck. Er strich sich seine dunkelblonden Haarsträhnen aus der Stirn,
die unter seiner Kappe hervorlugten.
»Warum nennt ihr sie eigentlich ›A-Liga‹?«, fragte Tom. Er war größer
und sportlicher gebaut als seine zierliche Schwester, hatte stachelige, dunkle
Haare und die gleichen Lachgrübchen wie Chrissy.
»Weil sie sich für etwas Besseres halten, so etwas wie die ›Elite der
Schule‹«, sagte Chrissy. Sie machte mit ihren Fingern Anführungszeichen in
die Luft und verzog dabei das Gesicht, so dass sich die Sommersprossen auf
ihrer Nase kräuselten. Ihre buschigen, rotbraunen Haare quollen unter ihrer
Kapuze hervor. »Und weil in ihren Namen so viele ›A‹ vorkommen.«
»Und weil noch eine Menge anderer Worte mit ›A‹ auf sie zutreffen«,
fügte Anne hinzu. »Wie affektierte Angeber.«
»Das ist ihr Hobby«, sagte ich zu Tom.
»Nicht bloß Hobby«, sagte Anne. »Ich hab’s zu einer Kunstform erhoben!«
Tom grinste und Anne strich sich verlegen ihre kurzen blonden Locken
hinters Ohr.
»Was machst du eigentlich hier?«, fragte ich Tom.
»Letzte Stunde ist ausgefallen.« Er zuckte mit den Schultern und boxte
Mark vorsorglich in die Rippen, bevor der ›Schweinerei‹, murmeln konnte.
»Ich fahre mit meinem besten Kumpel hier in die Stadt.«
»Vergesst aber nicht, heute Abend zu Vics Party zu kommen«, sagte Anne.
»Um sieben im Charley’s, alles klar?«
»Kommst du auch?«, fragte Mark Chrissy.
»Wenn ich rechtzeitig vom Training wegkomme«, seufzte sie. »Julius
Caesar ist in der letzten Zeit so eine Diva …«
»Mach Leberkäse aus ihm, Schwesterherz«, grinste Tom.
»Das ist ein hoch prämiertes Dressurpferd, du Idiot. Und ich fürchte, das
ist ihm völlig bewusst.«
Anne machte eine nicht gerade unauffällige Kopfbewegung in meine
Richtung.
» … was mich natürlich nicht davon abhalten wird, zur Party zu kommen«,
fügte Chrissy rasch hinzu.
Anne nickte zufrieden und wandte sich an mich. »Geburtstagskind?«
Ich zögerte. Dann fiel mir wieder ein, was Herr Wagner zu mir gesagt
hatte: dass ich mich von dem, was mich verfolgte, nicht beherrschen lassen
durfte.
Leicht gesagt.
Ich riss mich zusammen und setzte ein Lächeln auf. »Also gut, ich werde
da sein.«
»Versprochen?«
»Versprochen.«
Der große weiße Karton stand noch genau so auf dem Wohnzimmertisch,
wie ich ihn an diesem Morgen vorgefunden hatte. Mein Vater musste ihn
gestern spätabends mitgebracht haben, denn als ich morgens aufgestanden
war, war mein Vater bereits auf dem Weg ins Büro gewesen.
Doch wenigstens hatte er die Nacht zu Hause verbracht.
Ich hatte den Karton am Morgen ignoriert, in der Hoffnung, dass es sich
dabei nicht um die einzige Reaktion meines Vaters auf meinen Geburtstag
handelte.
Schließlich war es mein erster Geburtstag danach.
Nun stand ich allein im Wohnzimmer und starrte den Karton an. Auf der
Vorderseite prangte der Name der besten Konditorei der Stadt, und daneben
lag ein schlichter weißer Umschlag.
Ich schluckte. Enttäuschung machte sich in mir breit und mit einem Kloß
im Hals hob ich den Deckel des Kartons an. Darin war eine perfekte
Schokoladentorte mit makelloser Glasur. So anders als meine letzte
Geburtstagstorte … die Glasur war klebrig gewesen und zerlaufen, und
meine Mutter und ich hatten lachend in der Küche gestanden und uns die
Schokolade von den Fingern geleckt …
Etwas schnürte mir die Kehle zu. Ich schluckte. Tränen stiegen mir in die
Augen, und ich schloss rasch den Karton.
Zögernd griff ich nach dem weißen Umschlag. Etwas Kleines, Schweres
lag darin, und als ich ihn öffnete, glitten eine Karte und ein Schlüssel heraus.
»Liebe Viktoria, alles Gute zum Geburtstag. Papa.«
Selbst wenn ich Ritas Handschrift nicht erkannt hätte, wäre es offensichtlich
gewesen, dass mein Vater die Karte nicht selbst geschrieben hatte. Erstens
nahm ich an, dass er wenigstens meinen Namen richtig geschrieben hätte,
und zweitens nannte ich ihn seit Jahren nicht mehr Papa. Ich nannte ihn
Ludwig.
Ich drehte den Schlüssel in meinen Händen. Er war in schwarzen
Kunststoff einfasst und darauf waren zwei Buchstaben eingeprägt.
VW.
Ludwig hatte mir … ein Auto geschenkt?
Im nächsten Moment schreckte mich das Klingeln meines Telefons auf.
Ludwigs vorwurfsvolle Stimme dröhnte vom anderen Ende der Leitung.
»Ich habe mich schon gefragt, ob mein Geschenk nicht angekommen ist!«
»Ich habe es gerade erst aufgemacht«, erwiderte ich.
»Jetzt? Um halb sechs Uhr nachmittags?«
»Ich war in der Schule.«
»Richtig …« Ludwig zögerte. Seine Stimme zeigte eine Spur von
Unsicherheit und er bemühte sich um einen scherzenden Ton. »Dann sind
die Ferien wohl wieder vorbei, was?«
»Seit vier Wochen.«
»Tatsächlich?«
»Es ist Ende September. Sogar in Hong Kong.«
Ich atmete lang und lautlos aus, um meinen aufsteigenden Zorn unter
Kontrolle zu bringen. Es gibt nur noch euch beide, dachte ich. Reiß dich
zusammen.
»Vicky, du weißt, dass diese Dienstreisen für meine Arbeit wichtig sind.
Wir haben darüber gesprochen.«
Darüber gesprochen? Mir blieb fast die Luft weg. Die Hälfte der Zeit wusste
ich nicht einmal, ob Ludwig in Hong Kong war oder in Wien, und alles, was
er mir gegeben hatte, war die Telefonnummer seiner Sekretärin Rita – für
Notfälle.
Doch ich hatte keine Lust auf Streit. Nicht schon wieder. Nicht heute.
»Danke für die Torte«, sagte ich. »Und für den … äh … Schlüssel.«
»Richtig!« Ludwigs Tonfall änderte sich schlagartig. »Ich dachte mir, dass
dir mein Geschenk gefallen wird! Zu schade, dass ich nicht da bin, um dein
strahlendes Gesicht zu sehen. Damit hast du nicht gerechnet, nicht wahr?«
Ich biss die Zähne zusammen und starrte auf das Bild über dem Sofa, um
weder den Schlüssel noch die Torte ansehen zu müssen. Es war ein Druck
von Klimt, dem Lieblingsmaler meiner Mutter. Dieses Bild hatte sie
besonders geliebt. Es zeigte eine dunkelhaarige Frau, die ein prachtvolles,
goldenes Kleid trug. Das Licht brach sich in den unterschiedlichen
Goldtönen und erweckte den Eindruck, als würde das Bild strahlen.
»Du bist jetzt achtzehn, es ist Zeit, dass du ein Auto hast.«
»Ich habe ein Auto.«
»Du hast ein …? Ach, du meinst … aber du fährst den Wagen doch nicht. Es
ist besser, wenn du deinen Eigenen hast. Ich werde den Alten verkaufen …«
»Nein!« Ich brauchte einen Moment, um mich zu fassen. »Ich behalte
Mamas Auto! Ich werde es fahren, ich wollte nur noch nicht … ich meine, ich
habe es noch nicht gebraucht – jedenfalls gebe ich es nicht her …«
»Schon gut«, erwiderte Ludwig beschwichtigend. »Wir müssen das nicht
sofort entscheiden. Sieh dir doch mal dein neues Auto an. Es ist ein
hellblauer VW, steht unten auf dem Parkplatz, zwei Autos hinter dem
Wagen deiner Mu…, hinter dem Mini Cooper. Die Papiere sind im
Handschuhfach.«
»Ich … ich sehe ihn mir an.«
»Du solltest noch ein paar Fahrstunden nehmen, deine
Führerscheinprüfung ist ja schon eine Weile her. Ich werde Rita bitten, die
Fahrschule anzurufen …«
»Nicht nötig, ich kümmere mich schon darum.“«
»Aber such dir einen schöneren Tag als heute aus, bei Unwetter fahren die
Leute immer wie die Irren.« Im Hintergrund läuteten Telefone. »In der
Firma machen sich alle verrückt wegen des Vertragsabschlusses. Ich muss
morgen wieder nach Hong Kong fliegen.«
»Mh.« Was änderte es, ob er in Hong Kong schlief, oder bei einer seiner
Affären? Er war nicht da und ein Kontinent mehr oder weniger zwischen uns
machte keinen Unterschied.
»Tut mir leid, dass ich heute nicht da sein kann, Vicky. Wir holen das
nach, in Ordnung? Wir gehen essen, oder … «
Es würde wahrscheinlich nie passieren.
»In Ordnung«, sagte ich. »Kein Problem.«
»Was hast du denn heute noch Schönes vor? Feierst du mit deinen
Freunden?«
»Ja«, sagte ich leise. »Sie geben eine Party für mich.«
»Großartig! Erzähl ihnen von deinem neuen Auto, sie werden dich alle
beneiden.«
Ich schluckte und presste die Lippen zusammen. »Ich muss jetzt Schluss
machen, ich komme zu spät«, murmelte ich. »Sie warten schon auf mich.«
»Genieß die Torte, und viel Spaß bei der Party!«
»Ludwig?«
»Ja?«
Ich zwang mich zu dem nächsten Wort. »Danke.«
Im Hintergrund hörte ich Ritas Stimme, und dann Ludwigs, als er ihr
antwortete.
»Schon gut«, sagte er abgelenkt zu mir. »Bei uns ist gerade die Hölle los.
Mach’s gut, Vicky.«
»Ja …«
Klick.
Ich starrte das strahlende Gemälde der Adele an und drehte
gedankenverloren den Autoschlüssel in meinen Händen. Und plötzlich fiel
mir auf, was fehlte.
Es gab keine Blumen.
Ich ließ meinen Blick über den Wohnzimmertisch schweifen, die
Anrichte, bis hinüber ins Esszimmer – es waren überhaupt keine Blumen da.
Meine Mutter hatte Blumen geliebt. Sie hatte stets dafür gesorgt, dass auf
dem Wohnzimmertisch ein blühender Stock gestanden hatte, einer auf der
Anrichte neben dem Bücherregal, und auf dem Esszimmertisch eine Vase
mit einem liebevoll arrangierten Strauß.
Jetzt gab es nichts Lebendiges mehr in dieser Wohnung. Das einzige
Geräusch kam von der Wanduhr, und das monotone Ticken erdrückte mich.
Ich ertrug die Stille nicht, denn mit ihr kamen die Erinnerungen. Sie
überschwemmten mich, wie ein Sumpf, der immer höher und höher stieg,
bis ich das Gefühl hatte, darin zu ertrinken. Wagner hatte Recht. Die
Einsamkeit machte es noch schlimmer. Ich ertrug die Gesellschaft anderer
kaum noch, aber genauso wenig ertrug ich es, allein zu sein. Ich hatte das
Gefühl, dass ich überhaupt nichts mehr ertrug, denn egal, was ich tat, etwas
zog mich in die Tiefe, wie ein Strudel, dem ich nicht entkommen konnte.
Wie so oft, versuchte ich auch jetzt, mein Herz zu verschließen. Ich
versuchte, die schrecklichen Gedanken aus meinem Kopf zu zwingen. Ich
versuchte, mir einzureden, wie viel Glück ich doch hatte. Ich hatte ein Auto
bekommen, und Freunde, die eine Party für mich schmeißen wollten, wenn
ich es nur zuließ. Warum fühlte ich mich dann so elend?
Nüchtern griff ich nach meinem Handy und suchte Annes Nummer im
Kurzwahlspeicher. Vielleicht konnten wir uns schon eher treffen. Das war
besser als hier herumzusitzen, gefangen in Erinnerungen.
Mein Blick fiel auf die Torte, und plötzlich schossen Bilder durch meinen
Kopf. Ich war wieder siebzehn, die Glasur war eine Katastrophe, und Mama
und ich alberten mit schokoladeverschmierten Löffeln herum …
Nur ein paar Monate später hatte sie kaum noch die Kraft gehabt, sich in
die Küche zu schleppen. Was ihr der Krebs an Energie gelassen hatte, hatte
die Chemotherapie aus ihrem sterbenden Körper gesaugt.
Ich legte das Handy zur Seite. Ich fühlte Zorn in mir brodeln und kämpfte
die Tränen zurück. Warum musste mein verdammtes Leben nur so sein? Ich
hasste es. Ich hasste, dass meine Mutter nie wieder zurückkommen würde.
Ich hasste, dass es meinem Vater egal war. Ich hasste die Düsternis, die mich
einschloss wie eine zähe Masse, in die kein Tageslicht drang.
Jetzt gab es nur noch einen Ort, an den ich gehen konnte. Ich warf einen
raschen Blick auf die tickende Wanduhr. Die Tore des Friedhofs schlossen
um 18 Uhr. Mir blieben noch 25 Minuten.
Kalter Wind peitschte mir den Regen ins Gesicht, während ich zur
Bushaltestelle rannte. Der Himmel hatte sich weiter verdunkelt, schwarze
Wolkenfetzen jagten über mich hinweg, und Wind und Regen mischten sich
zu einer grauen Wand, durch die ich mich kämpfen musste.
Es waren nicht nur die Kälte und der Zeitdruck, die mich antrieben. Es
war das Gefühl, dass mir etwas im Nacken saß. Ich kannte dieses Gefühl,
doch so schlimm wie an diesem Tag war es noch nie gewesen.
Als ich bei der Haltestelle ankam, warteten dort bereits mehrere Leute
zusammengedrängt im Wartehäuschen. Ich spähte nervös die Straße
hinunter. Es war kein Bus in Sicht, und plötzlich ertönte eine Stimme aus
einem Lautsprecher, der am Wartehäuschen montiert war.
Die Frau von der Leitstelle sagte irgendetwas über schlechtes Wetter und
die Behinderung des Fahrbetriebs, doch die Durchsage war kaum zu
verstehen, so sehr rauschte die Verbindung.
Ich fluchte leise und schaute auf die Uhr. Mir blieben weniger als zwanzig
Minuten. Wenn der Bus sich verspätete, würde ich es nicht schaffen. Aber
ich musste es schaffen … ich ertrug den Gedanken nicht, in die Wohnung
zurückzukehren. Etwas trieb mich, hetzte mich, jagte mich, und es gab nur
einen Ort, an dem ich sicher war.
In dieser Sekunde traf ich meine Entscheidung. Den neuen Schlüssel in
meiner Tasche, rannte ich los.
Auf der Straße, direkt vor der Parkanlage, die mein Wohnhaus umgab,
stand ein nagelneuer, hellblau glänzender VW, zwei Plätze hinter dem roten
Mini Cooper, der seit Juni unbewegt auf dem Parkplatz stand.
Ich hatte meine Führerscheinprüfung vor Monaten bestanden und war
seither nicht mehr gefahren. Die Vorstellung, meine erste Autofahrt bei
starkem Regen zu machen, war wenig verlockend. Doch ich hatte keine
Wahl.
Ich hielt die Luft an, drückte auf den neuen Schlüssel und der hellblaue
VW entriegelte die Türen. Bevor ich einstieg, wandte ich mich noch einmal
zu dem roten Mini um, und zögerte. Etwas drängte mich gewaltsam in
meinen neuen Wagen, und ich spürte Widerstand in mir. Ich riss mich los
und zog meinen Schlüsselbund aus der Tasche. Bebend öffnete ich die
Fahrertür des Minis und lehnte mich hinein. Der vertraute Geruch des
Wagens, jetzt kalt und abgestanden, schlug mir entgegen wie eine Mauer aus
Erinnerungen. Ich zwang mich, meinen Blick starr auf die
Windschutzscheibe gerichtet zu halten, und fädelte mit tauben Fingern
einen Anhänger vom Rückspiegel. Ein kleiner goldener Flügel – der
Glücksbringer meiner Mutter.
Eine dumme Idee, jetzt Auto zu fahren, sagte eine Stimme in meinem Kopf.
Du wirst dich umbringen.
Doch als sich meine Finger um den kalten Anhänger schlossen, brachen
Erinnerungen mit neuer Kraft über mich herein. Viele Stunden hatten
meine Mutter und ich in diesem Wagen verbracht, geredet und gelacht …
einmal so sehr, dass Mama ihren Kaffee verschüttet hatte, ich erinnerte
mich an den Tag, als mein Blick auf die Flecken auf dem Sitz fiel.
Es würde nie wieder so sein. Nie wieder. Ich fühlte mich elend und mein
Magen drehte sich um. Ich kämpfte die Übelkeit nieder, stolperte aus dem
Mini heraus und stieg in meinen neuen VW ein. Meine Hände zitterten so
sehr, dass ich es kaum schaffte, den Anhänger an meinem Rückspiegel zu
befestigen.
Dann startete ich den Motor.
Der Regen wurde stärker und ich konnte nur hoffen, dass Ludwig Recht
behielt. Wenn die Leute tatsächlich wie die Irren fuhren, würde ich nicht
weiter auffallen.
Ich kannte den Weg auswendig, was sehr hilfreich war, da ich
vollkommen damit beschäftigt war, den Wagen unter Kontrolle zu bringen.
Ich musste es vor 18 Uhr schaffen, sonst würde ich vor verschlossenen Toren
stehen. Als der Motor zum dritten Mal abstarb, stiegen mir Tränen der Wut
in die Augen.
Die Sicht war schlecht, der Regen war jetzt sintflutartig und der Verkehr
stockte. Ich fluchte, während ich erfolglos versuchte, mich zwischen den
Autos nach vorne zu schlängeln. Mein Blick klebte an der Uhr auf dem
Armaturenbrett.
Noch 14 Minuten.
Wieder eine rote Ampel.
Noch 12 Minuten.
Ich würde es nicht mehr rechtzeitig schaffen. Bei diesem Gedanken
schnürte sich mir die Kehle zu und ich fühlte einen bitteren Geschmack im
Mund. Mir wurde heiß und ich lockerte hastig meinen Schal. Ich spürte, wie
Tränen über meine Wangen liefen.
Als ich endlich auf die einsame Straße neben den Gärtnereien einbog,
zeigte die Uhr sieben Minuten vor 18 Uhr. Die Straße lag schnurgerade vor
mir. Das heftige Unwetter machte es unmöglich, weiter als ein paar Meter zu
sehen, doch ich kannte diese Straße genau. In den vergangenen Monaten war
ich fast jeden Tag hier gewesen. Es war dieselbe Strecke, die der Bus nahm.
Links neben der Fahrbahn lagen die Gärtnereien mit ihren Gewächshäusern,
und rechts erstreckten sich hinter der Böschung brachliegende Felder. Mir
blieb nur noch wenig Zeit, denn ich wusste, dass der Friedhofswärter das Tor
jeden Tag pünktlich schloss.
Noch fünf Minuten. Ich starrte durch die Windschutzscheibe auf die
graue Masse vor mir und trat aufs Gas.
LIEBE UND LÜGE
In den herrlichen schneeweißen Federn, auf denen ich geschlafen hatte,
glitzerten goldene Diamanten. Eine Hand strich sanft wie ein Sonnenstrahl
über meine Wange. »Guten Morgen«, flüsterte Nathaniel.
»Mhh …« Ich kuschelte mich an seine Brust.
Er lachte leise. Seine Finger schoben eine Haarsträhne aus meinem
Gesicht. »Es tut mir jedes Mal leid, dich zu wecken«, sagte er. »Ich sehe dir
gern beim Schlafen zu.«
Engel schliefen nicht. Das war nur eines der vielen seltsamen Dinge, die
ich bisher über Nathaniels Welt erfahren hatte.
»Du siehst so friedlich aus«, flüsterte er. »Außer wenn …« Sein Blick ruhte
gequält und fragend auf meinem Gesicht.
Ich erriet, was er befürchtete.
»Keine Albträume«, versicherte ich und stützte mein Kinn auf seine Brust.
»Lazarus lässt sich nicht blicken.«
Nathaniel runzelte die Stirn. »Noch nicht«, murmelte er düster. »Es ist
bestimmt nur eine Frage der Zeit …«
Ich legte einen Finger an Nathaniels Lippen und er verstummte. Dann zog
ich meine Halskette hervor und hielt den Anhänger vor sein besorgtes
Gesicht.
»Ich habe Melindas Anker, schon vergessen?« Der kleine Kristallstift mit
dem funkelnden schwarzen Kern baumelte an meiner Hand.
Nathaniel ignorierte meinen Versuch, ihn zu beruhigen. »Es ist nur eine
Frage der Zeit, bis Lazarus angreift«, beendete er seinen Satz. »Wenn es so weit
ist, wirst du einen machtvolleren Schutz brauchen als eine Halskette. Selbst,
wenn sie das Fragment eines Erzengels enthält.«
»Diese Halskette hat es mir ermöglicht, Lazarus auszutricksen.«
Nathaniel schloss die Augen. »Erinnere mich bloß nicht daran! Wenn ich
mir vorstelle, dass du einen Dämon reingelegt hast …«
»Wenn ich es nicht getan hätte, dann wärst du jetzt nicht mehr hier. Die
Erzengel hätten dich verdammt. Mir wird noch immer ganz schlecht, wenn
ich nur daran denke.« Ein Schauer lief durch meinen Körper und Nathaniels
Arme schlossen sich enger um mich.
»Ich weiß«, flüsterte er. »Und ich werde dir für deine Hilfe ewig dankbar
sein. Aber du hättest Lazarus' Zorn nicht auf dich ziehen dürfen. Nicht
meinetwegen. Ich bin dein Schutzengel. Ich sollte derjenige sein, der dich
beschützt.«
»Hätte ich etwa dabei zusehen sollen, wie sie dich in die Hölle verbannen?
Die Vorstellung, dass du dort zwischen all den Dämonen und Inferni …« Ich
verstummte und drückte mich an ihn.
»In der Hölle zu sein, wäre nicht das Schlimmste daran gewesen«, sagte er.
»Aber ich hätte es nicht ertragen, von dir getrennt zu sein.«
»Mir geht's ebenso.« Ich murmelte die Worte gegen seine Brust, damit er
nicht bemerkte, wie rot ich dabei wurde.
»Du wirst diese Ängste nie wieder durchstehen müssen«, versprach er
leise.
Die Strahlen der Morgensonne brachen sich auf seiner golden
schimmernden Haut und in seinen glitzernden Schwingen, die uns umgaben
wie weiße Wolken voller kleiner Diamanten. Nachdenklich betrachtete ich
sein wildes, blondes Haar und seine hellbraunen, golden gesprenkelten
Augen.
Er ist wunderschön …
»Danke«, schmunzelte er.
»Manchmal wäre es mir lieber, wenn du meine Gedanken nicht hören
könntest«, brummelte ich. Mit feuerroten Wangen löste ich mich aus seiner
Umarmung. Ich setzte mich auf und drehte ihm den Rücken zu.
Eigentlich müsstest du schon unglaublich eingebildet sein, so oft wie du hörst, was
ich über dich denke, murmelte ich in meinem Kopf.
»Das bin ich doch«, grinste er. »Ein eingebildeter, selbstverliebter und
natürlich wunderschöner …«
»Spinner!« Ich warf ihm ein kleines Kissen an den Kopf.
Nathaniel fing es mühelos und lachte. Sein umwerfendes Lachen ließ mich
für einen Moment alles vergessen. Ich starrte ihn einfach an, vollkommen
eingenommen von seinem Anblick.
Wieder einmal war ich unendlich dankbar dafür, dass er nicht alle
Gedanken hören konnte, die in diesem Moment wie ein Feuerwerk in
meinem Kopf explodierten. Ich war dankbar für den geheimnisvollen Schild,
der meine verbotenen Gefühle vor ihm und allen anderen Engeln abschirmte
… obwohl ich nicht begreifen konnte, dass er diese Gefühle nicht gerade jetzt
in meinen Augen lesen konnte.
Ich war unsterblich in Nathaniel verliebt. Und wenn er das jemals erfahren
sollte, waren wir beide verloren.
»Ich sehe es in deinen Augen«, sagte Nathaniel plötzlich.
Ich erstarrte. Eiseskälte breitete sich in mir aus.
»Du siehst … was?« Meine Stimme klang auf einmal heiser.
Nathaniel setzte sich mit einer eleganten Bewegung auf. Mein Blick
flackerte unsicher über sein Gesicht. Ich befürchtete … aber es war doch
unmöglich … oder nicht?
Hatte er entdeckt, was der Schild eigentlich verborgen halten sollte?
Nervös suchte ich in seinem schönen Gesicht nach einem Hinweis darauf,
dass er meine wahren Gefühle für ihn erahnte. Ich fühlte, wie rasend schnell
mein Herz plötzlich schlug.
Ich hatte keine Ahnung, wie er reagieren würde. Er würde natürlich
wissen, wie gefährlich diese Gefühle für ihn waren. Verunsichert suchte ich in
Nathaniels Miene nach einem Anzeichen von Wut oder Ärger.
Doch in seinem Ausdruck lag etwas völlig anderes. Überrascht runzelte ich
die Stirn. Ich musste mich irren, das konnte nicht …
»Danke«, sagte er leise.
»Äh … wofür?«, murmelte ich verwirrt.
Ein fast schüchternes Lächeln erschien auf seinen Lippen. »Ich kann dir
gar nicht sagen, was es mir bedeutet, dass du mich akzeptabel findest. Dass
du mich in deiner Nähe sein lässt.«
Ich starrte ihn mit offenem Mund an. »Akzeptabel …? Dass ich dich in meiner
Nähe sein lasse …?« Verständnislos schüttelte ich den Kopf. Das war das
Absurdeste, was ich je gehört hatte.
Nathaniel erhob sich. »Ich habe dir das nie erzählt, aber als wir uns zum
ersten Mal begegnet sind, habe ich befürchtet, dass du Angst vor mir haben
könntest. Das wäre unerträglich für mich gewesen.«
»Wieso in aller Welt hätte ich mich denn vor dir fürchten sollen?«
»Als du mich erkannt hast, war ich zuerst genauso überwältigt wie du. Ich
hatte mir nie erlaubt, von dieser Möglichkeit auch nur zu träumen. Dass du
mich nicht akzeptieren würdest … dass du mich fürchten könntest … das war
meine größte Angst«, sagte Nathaniel leise. »Nicht jeder Sterbliche reagiert so
vertrauensvoll auf Geschöpfe wie uns. Deine Reaktion war ein Geschenk.«
Das strahlende Lächeln auf seinem Gesicht machte mich sprachlos.
Mein Puls beruhigte sich langsam wieder, denn der Schild schien intakt zu
sein und meine Gefühle schienen vor ihm sicher. Doch ich war unfähig, auf
seine völlig absurde Sichtweise zu antworten. Ich stotterte, weil ich
überhaupt nicht begreifen konnte, wie er zu dieser irren Vorstellung kam.
»Du bist … das Unglaublichste, das ich … du bist … einfach …« Ich fand keine
passenden Worte, die ihm auch nur annähernd gerecht würden und gab
schließlich auf.
»So siehst du mich?« Ein kleines Lächeln erschien auf seinen Lippen.
»Ich könnte mich niemals vor dir fürchten. Das ist einfach unmöglich.«
»Nicht einmal, als ich zum ersten Mal die Inferni zurück in die Hölle gejagt
habe?«, fragte er forschend.
»Das war deine Befürchtung?«, murmelte ich ungläubig. »Dass du mir
Angst machen könntest, mit diesem Engel-Explosions-Dings? Hast du
deshalb so lange damit gewartet, mir deine Kräfte zu zeigen?«
»Erstens, mit diesem Engel-Explosions-Dings habe ich Höllenwesen vor
deinen Augen zu Asche verbrannt«, erwiderte Nathaniel trocken. »Diese
Erfahrung wäre genug gewesen, um jeden Sterblichen zu verschrecken. Und
ich habe dich dabei auch noch in meinen Armen gehalten.«
»Eben. Ich wusste, dass mir nichts geschehen würde. Du würdest mir
niemals wehtun.«
Nathaniel neigte den Kopf. Nach einer kurzen Pause fügte er hinzu: »Und
zweitens habe ich dich gar nicht so lange warten lassen, bevor ich dir meine
Fähigkeiten gezeigt habe. Wenn ich mich recht erinnere, waren es gerade
einmal fünf Tage, nachdem du mich erkannt hattest. Sehr wenig Zeit für eine
Sterbliche, um sich an Engel und Dämonen zu gewöhnen … und ganz sicher
nicht genug Zeit, um mit der vollen Ladung Schutzengelkräfte konfrontiert
zu werden.«
Ich zuckte mit gespielter Lässigkeit die Schultern.
»Tut mir leid, aber so beeindruckend fand ich's gar nicht.«
Nathaniel hob überrascht die Augenbrauen. Im nächsten Augenblick
packte er mich und wir fegten mit einem kraftvollen Satz quer durchs
Zimmer. Mir blieb die Luft weg, als er mich sanft gegen die Wand drückte.
Seine Schwingen hatte er schützend um mich gebreitet, so dass ich nichts als
die weichen Federn und seine starken Arme um mich spürte.
»Nicht beeindruckend?«, knurrte er, doch in seinen Augen lag ein
amüsiertes Funkeln. Seine Haut brodelte golden.
Ich spürte die angenehme Kühle, die von ihm ausging, als kleine
Flämmchen über seinen Körper züngelten. Es war nicht annähernd
vergleichbar mit der Kraft seiner Flammen, wenn er ernsthaft zornig wurde.
»Ein bisschen beeindruckend, ich geb's zu«, witzelte ich und schaute
verschmitzt zu ihm auf. »Aber vergiss nicht, abgesehen von dir und den
Dämonen musste ich noch mit ganz anderen Begegnungen fertig werden.«
Ich dachte an Nathaniels Verhandlung, bei der die Erzengel Michael,
Gabriel und Uriel über Nathaniels Schicksal entschieden hatten.
»Du hast dich tapfer gehalten«, sagte Nathaniel. »Immerhin waren es
Erzengel.«
»Oh ja, ich war furchtlos.« Ich verdrehte die Augen. »Bitte, ich habe kaum
ein Wort herausgebracht.«
»Es war genug, um mich vor dem Fall zu retten.« Nathaniel löste meine
gespielte Gefangennahme und berührte zärtlich meine Wange. Das Strahlen
in seinen Augen ließ mich verwirrt den Blick senken.
»Das war ich nicht allein«, murmelte ich verlegen. »Ra und Sera haben den
Hauptteil geleistet.«
Nathaniel schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast mich gerettet.«
Ich lächelte und blickte verschämt nach unten. Nathaniels unmittelbare
Nähe und der Ausdruck seiner Augen ließen mein Herz schneller schlagen.
Plötzlich blickte er auf. »Wo wir gerade von den beiden sprechen. Ra, Sera,
guten Morgen.«
Ich lugte an Nathaniels mächtigen Schwingen vorbei. Hinter ihm standen,
wie aus dem Nichts aufgetaucht, meine beiden anderen Engel.
Der bronzene Ramiel, sehnig gebaut und mit stechendem Blick,
beobachtete uns mit verschränkten Armen. Er hatte ein kantiges Gesicht und
tiefdunkle Augen, auf denen jetzt ein Schatten lag, während er wortlos darauf
wartete, dass Nathaniel sich aus der vertrauten Umarmung mit mir löste. Ra
war attraktiv, ungezähmt und charismatisch, und strahlte eine
verunsichernde Lässigkeit aus. Er wachte über meinen Verstand und ließ
mich die Dinge stets mit messerscharfer Klarheit erkennen — in diesem
Moment die Tatsache, dass diese Art der Umarmung für uns gefährlich war.
Für uns alle.
Seraphela, zierlich und von nahezu absurder Schönheit, hatte lange
silberne Locken und schneeweiße Flügel, in denen winzige, silberne
Diamanten funkelten. Sie war weit weniger diplomatisch als Ramiel und
hatte sich nie die Mühe gemacht, zu verbergen, dass sie meine Gefühle für
Nathaniel missbilligte. Als mein Gefühlsengel ahnte sie, wie ich für Nathaniel
empfand, während ich Ramiel meine verbotenen Gefühle selbst gebeichtet
hatte. Ich hatte ihn davon abhalten müssen, Jagd auf den Schild zu machen,
denn der Schild schirmte zwar den Dämon Lazarus ab, aber er schützte auch
Nathaniel.
Und zwar vor mir, gestand ich mir zähneknirschend ein. Wenn die Erzengel
von meinen Gefühlen erfuhren, war es um Nathaniel geschehen. Kein
Wunder, dass Seraphela zornig auf mich war.
Ihre eisblauen Augen fixierten mich feindselig.
»Guten Morgen«, erwiderte Ramiel schließlich gedehnt. Sein Blick ruhte
immer noch bedeutungsschwer auf Nathaniel, der sich davon nicht im
Mindesten beeindrucken ließ und sich kein Stück von mir entfernte. »Wir
haben uns gefragt, ob es Neuigkeiten von Lazarus gibt.«
Ich räusperte mich und bewegte mich ein wenig von Nathaniel weg.
»Nein.« Ich zupfte meinen Pyjama zurecht und schenkte Sera ein scheues
Lächeln, das sie nicht erwiderte.
Ramiel runzelte die Stirn. »Das Tribunal ist eine Woche her. Worauf
wartet er?«
»Fünf Tage«, korrigierte ich ihn. »Es ist fünf Tage her.«
Fünf herrliche, erzengellose, bedrohungsfreie Tage. Fünf Tage, in denen
ich nicht verrückt vor Angst gewesen war, Nathaniel für immer an die Hölle
zu verlieren.
Nathaniel hörte meine Gedanken und drückte beruhigend meine Hand.
Seras eisiger Blick schoss sofort zu unseren verschlungenen Fingern.
»Lazarus ist nicht in deinen Träumen aufgetaucht?«, hakte Ramiel nach.
»Kein einziges Mal?«
Ich schüttelte den Kopf. »Kein einziger Albtraum.«
»Umso besser«, murmelte Nathaniel. »Da ich ihm nicht in Victorias
Träume folgen kann, kann ich sie dort nicht vor ihm beschützen. Dieses
verdammte Traumtabu!«
»Engelsschicksal«, erwiderte Ramiel. »Aber warum nutzt Lazarus diesen
dämonischen Vorteil nicht aus? Schließlich war das auch früher seine
bevorzugte Art, Victoria zu quälen.«
»Das, oder er hat seine Freunde geschickt.«
Ich erschauerte bei der Erinnerung an die Inferni und die von Dämonen
besessenen Menschen, die Lazarus auf mich gehetzt und vor denen Nathaniel
mich immer wieder beschützt hatte. Bei meinen angsterfüllten Gedanken
züngelten plötzlich goldene Flammen über Nathaniels Haut, bedrohlich und
völlig anders als die spielerischen Flämmchen vor wenigen Minuten.
»Was ist denn nur los mit euch?« Seras Stimme klang ärgerlich und
ungeduldig. »Ra, bist du hier der Verstandesengel oder ich? Es liegt doch auf
der Hand, was Lazarus vorhat!«
»Tatsächlich? Warum weihst du uns dann nicht in seine dämonischen
Pläne ein?«
Sera überhörte Ramiels ironischen Ton. »Was auch immer Lazarus vorhat,
es wird nicht in Victorias Träumen geschehen.«
»Was willst du damit sagen?«, fragte Nathaniel scharf.
»Ich glaube, er will Victoria direkt angreifen. Er selbst, ohne seine
Handlanger. Er wartet nur noch auf den richtigen Zeitpunkt.«
Nathaniels Flammen knisterten zornig auf seinem Körper.
»Wenn das stimmt, warum hat er sie noch nicht angegriffen?« Ramiel
wandte sich an Nathaniel. »Bist du seit dem Tribunal je von Victorias Seite
gewichen?«
»Keinen Augenblick.« Nathaniel klang entrüstet. »Auf den Moment, in
dem ich sie ungeschützt zurücklasse, wird Lazarus sehr lange warten
müssen.«
»Unterschätze ihn nicht«, warnte Sera.
»Nichts wäre mir lieber, als wenn Lazarus auftauchen würde«, knurrte
Nathaniel. »Wenn er sich nicht mehr hinter dem Schild verstecken würde,
der Feigling, dann könnte ich ihn endlich zurück in die Hölle befördern! Und
zwar …« Nathaniels Zähne knirschten vor Zorn. »Stück. Für. Stück.« In seinen
Augen spiegelte sich das wilde Flackern der Flammen.
»Tu nichts Unüberlegtes«, sagte Seraphela. »Du hast gerade erst ein
Tribunal überstanden, willst du ein Weiteres riskieren?«
»Im Gegensatz zu euch darf ich jeden Dämon angreifen, der meinen
Schützling bedroht«, stieß Nathaniel bedrohlich hervor. »Keines unserer
Gesetze verbietet mir, Victoria zu beschützen!«
»So einfach ist es nicht«, sagte Sera leise. »Das weißt du.«
Ich wusste, worauf Sera anspielte. Es gab nur zwei Gründe, die es einem
Schutzengel erlaubten, einzuschreiten, wenn sein Schützling in Not war. Das
hatte ich gelernt, weil es Nathaniel beim Tribunal beinahe zum Verhängnis
geworden war. Eine Rettung musste entweder durch die Erzengel befohlen
oder durch den Schützling erfleht werden. Es war nicht einfach gewesen, zu
beweisen, dass ich meine Rettung, derentwegen Nathaniel angeklagt worden
war, tatsächlich erfleht hatte. Um diesen Beweis zu erbringen, hatte ich
Lazarus ausgetrickst und damit seinen Racheschwur auf mich gezogen. Aber
es hatte sich gelohnt. Wir hatten die Erzengel überzeugt und Nathaniel war
ohne Verurteilung davongekommen, was nie zuvor bei einem Tribunal
geschehen war.
»Sera hat Recht«, sagte ich leise. »Bitte, kein weiteres Tribunal.«
Nathaniel, der meine Angst spürte, zog mich zu sich heran.
»Ich verspreche es«, flüsterte er in mein Haar. »Kein Tribunal. Nie
wieder.«
Nathaniels wütender Blick richtete sich auf Sera, die seinem Blick
standhielt.
»Du hast sie geängstigt!«, knurrte er.
»Es ist doch nur eine Erinnerung«, zischte Sera. »Ich will verhindern, dass
du eine weitere Dummheit machst.«
»Eine weitere Dummheit?« Nathaniels Stimme bebte. Die Luft zwischen den
beiden knisterte. »Etwa wie die, Victorias Leben zu retten?«
»Bitte, hört auf damit«, sagte ich und legte meine Hand auf Nathaniels
Arm. Ich ertrug es nicht, wenn meine Engel miteinander stritten.
Voller Zorn starrte er Sera an, dann riss er seinen Blick von ihr los und die
Spannung brach. Doch der Streit schien für sie noch nicht beendet zu sein.
»War toll, euch zu sehen«, sagte ich schnell und sah Ramiel Hilfe suchend
an. »Aber ich muss jetzt wirklich los. Ihr habt es vielleicht vergessen, aber es
gibt in meinem Leben auch noch so etwas wie Schule.«
Ramiel, der wie immer sofort begriff, half mir, die beiden Streithähne zu
trennen. »Wir gehen. Sera?«
Der silberne Engel zögerte und fixierte Nathaniel. Ramiel ergriff Seras
Arm. Sie rührte sich nicht. Einen Moment lang dachte ich, sie würde Ramiels
Hand abschütteln und weiter auf Nathaniel einreden – doch dann waren Sera
und Ra plötzlich verschwunden.
Ich atmete hörbar aus und hob meine Jeans vom Vortag vom Boden auf.
»Sera macht mich immer irgendwie nervös«, murmelte ich. »Dass ihr
beiden dauernd streiten müsst …«
Nathaniel wandte sich zum Fenster um, damit ich mich umziehen konnte.
»Sie ist sehr starrköpfig«, sagte er ärgerlich. »Sie ist kompromisslos und
rechthaberisch und …« Er warf einen Blick über die Schulter und drehte sich
dann zu mir um. Der Ausdruck auf meinem Gesicht ließ ihn verstummen.
»Du willst nicht, dass wir streiten«, murmelte er dann.
»Es tut mir weh«, sagte ich leise.
Nathaniel nahm meine Hand. »Dann werde ich versuchen, mich
zurückzuhalten. Ich verspreche es dir.«
Ich schenkte ihm ein kleines Lächeln und griff nach meiner Schultasche.
»Weißt du, Sera würde vielleicht sogar einen guten Schutzengel abgeben«,
murmelte Nathaniel nachdenklich. »Wenn sie nicht so ein verbohrter
Sturkopf wäre.«
»Ich dachte, das wäre eine Grundvoraussetzung für den Job?«, fragte ich
und grinste unschuldig.
»Sehr witzig.« Nathaniel zog eine Grimasse und schubste mich mit seinem
Flügel aus dem Zimmer.
Auf dem Wohnzimmertisch lag Ludwigs Zeitung. Ich überflog die
Schlagzeilen, während ich darauf wartete, dass das Wasser kochte.
»Dein Vater ist heute wieder sehr früh ins Büro gefahren«, bemerkte
Nathaniel.
»Wenigstens hat er hier geschlafen, das ist doch schon was«, gab ich
zurück. Die Bitterkeit in meiner Stimme ließ sich nicht verbergen.
Nathaniel sah aus, als wollte er etwas erwidern, stattdessen schwieg er.
Kluge Entscheidung, dachte ich und warf ihm einen warnenden Blick zu, den
er jedoch lächelnd wegsteckte.
Etwas in der Zeitung erregte meine Aufmerksamkeit. »Warte … ist das
nicht Melinda?« Ich deutete auf ein Bild.
Nathaniel warf einen Blick darauf und ich zog die Zeitung zu mir heran,
um das Foto näher anzusehen. Es zeigte Melinda Seemann und einen
weißhaarigen, gut aussehenden Mann, die sich vor dem Eingang der
Universitätsbibliothek die Hände schüttelten und gemeinsam in die Kamera
lächelten.
»›Großzügige Spende sichert Fortbestand der Bibliothek‹«, las ich die
Überschrift des dazugehörigen Artikels. »Medienmogul Marcellus Van den
Berg übergab gestern der Wiener Universitätsbibliothek eine Spende in
fünfstelliger Höhe. Sie wurde von Prof. Dr. Dr. Melinda Seemann (links im
Bild) im Namen der Dekane entgegengenommen. Professor Seemann, die
eine langjährige Freundschaft mit dem Milliardär verbindet, dankte ihm mit
den Worten: ›Ohne Gelder aus privaten Stiftungen wie der Van-den-BergStiftung wäre die aufwendige Restauration der antiken Schätze unserer
Bibliothek nicht möglich. Herr Van den Berg hat den kommenden
Generationen heute einen großen Dienst erwiesen.‹ Van den Berg, obwohl
selbst an der Spitze des Medienkonzerns Europa, ist für seine seltenen
Auftritte in der Öffentlichkeit bekannt. Dennoch ließ er es sich nicht nehmen,
den Scheck seiner Stiftung persönlich zu überbringen. ›Das Wissen, das in
diesen Mauern gehütet wird, ist von unschätzbarem Wert und muss bewahrt
werden. Meine Hochachtung gilt Melinda Seemann und ihrem Team, die seit
vielen Jahren unermüdlich dafür sorgen, dieses Wissen zu erhalten und
zugänglich zu machen‹, so Van den Berg. Die Stiftung unterstützt europaweit
Universitäten und Hochschulen …«
Ich ließ die Zeitung sinken und starrte Nathaniel an. »Hast du das
gewusst?«, fragte ich verblüfft.
»Was gewusst?«
»Dass Melinda diesen Milliardär kennt? Diesen Van den Berg?«
Nathaniel zuckte mit den Schultern. »Ist das wichtig?«
Ich schnappte nach Luft. »Hallo? Van den Berg? Das ist nicht irgendjemand!
Ich glaube, der hat sogar seinen eigenen Wolkenkratzer.«
Nathaniel schien nicht im Mindesten beeindruckt zu sein. »Kann sein, dass
sie ihn einmal erwähnt hat. Sollten wir nicht gehen? Du kommst zu spät.«
»Verdammt!« Ich warf einen Blick auf die Uhr und rannte ins Vorzimmer.
Ich ergatterte einen der letzten Parkplätze und zwängte meinen roten Mini
Cooper zwischen den eingedellten Peugeot von Madame Dupont und die
Reihe knorriger Bäume, die das Ende des Schulparkplatzes markierten. Als
ich aus dem Auto ausstieg, landete Nathaniel elegant neben mir.
Irgendwie ist es immer noch ein seltsames Gefühl, mit dir in der Öffentlichkeit
herumzuspazieren, dachte ich, während wir über den Parkplatz eilten.
Nathaniel schmunzelte. »Hast du dich nicht längst daran gewöhnt, dass
mich niemand sehen kann?«
Ich glaube, daran werde ich mich nie …
Ich hörte sie, bevor ich sie sah. Ihre wütenden Stimmen schallten über den
Parkplatz.
War das etwa … Anne? Beunruhigt rannte ich los. Sekunden später bogen
wir um die Ecke auf den Schulhof. Direkt vor dem Eingang der Schule stand
Anne, mit geballten Fäusten und hochrotem Kopf. Ihr gegenüber stand
Ariana, die Arme verschränkt, mit einem spöttischen Ausdruck im Gesicht.
Hinter den beiden Mädchen hatten sich jeweils ihre Freunde versammelt:
Chrissy und Mark standen hinter Anne, Chrissy mit buschigem, roten Haar,
ihren zornigen Blick auf Ariana gerichtet. Mark hatte die Kappe tief in die
Stirn gezogen und die Hände in den Hosentaschen, und sah aus, als würde er
sich fragen, wie zum Teufel er in diesen Mädchenstreit geraten war.
Hinter Ariana standen ihre blonden Freundinnen Sarah und Katharina.
Alle drei waren wie immer gestylt, als wären sie auf dem Weg zu einer Party,
und alle drei hatten denselben herablassenden Gesichtsausdruck aufgesetzt.
»… sage über euch, was immer ich will!«, schrie Anne und ihre kurzen
blonden Locken hüpften, als sie mit dem Fuß aufstampfte.
»Mitleiderregend«, erwiderte Ariana und zog eine perfekt nachgezogene
Augenbraue in die Höhe.
Ich ging zu meinen Freunden und stellte mich neben Mark.
»Was regt ihr euch überhaupt so auf?«, giftete Chrissy Ariana an. »Anne
hat bloß die Wahrheit gesagt. Ihr seid die arrogantesten Angeber auf diesem
Planeten!«
»Was ist passiert?«, raunte ich Mark zu, während Ariana und ihre
Freundinnen in spöttisches Gelächter ausbrachen.
»Anne hat wieder einmal einen ihrer A-Liga-Sprüche losgelassen«,
flüsterte Mark zurück. »Und, naja, sie haben's wohl gehört.«
»Angeber? Wir?«, sagte Ariana zu Chrissy. »Wir haben es nicht nötig,
anzugeben.«
»Unser Leben ist tatsächlich so großartig«, säuselte Katharina.
»Das ist wohl eine Frage der Definition von ›großartig‹«, sagte ich.
Ariana betrachtete mich mit einem herablassenden Lächeln. »Was können
wir dafür, wenn euer eigenes Leben so armselig ist?«, ätzte sie.
Annes Stimme wurde schrill. »Mein Leben ist nicht armselig!«
»Rede dir das nur weiterhin ein«, sagte Ariana. Dann deutete sie mit einer
Kopfbewegung auf Chrissy. »Selbst die mit dem Rattennest auf dem Kopf hat
einen Freund … Kein Wunder, Anne, dass du noch nicht einmal so einen Loser
wie den da findest, so fett wie du bist. Kaufst du deine Klamotten eigentlich
immer noch beim Discounter?«
Katharina und Sarah brachen in grausames Gelächter aus. Annes Gesicht
glühte fast, während sie mit den Tränen kämpfte.
Ich trat neben meine Freundin und legte einen Arm um ihre Schulter.
»Pech für euch, dass es kein Make-up für hässliche Persönlichkeiten gibt.
Ihr bräuchtet eine Tonne davon. Lasst uns gehen«, erwiderte ich und zog
Anne mit mir in Richtung Schulhaus. Chrissy und Mark folgten uns.
»Rattennest?«, flüsterte Chrissy gekränkt.
»Was für Ziegen«, murmelte Mark, während er nach Chrissys Hand griff.
»Du hast tolle Haare. «
Der Unterricht hatte bereits begonnen und die Gänge waren leer.
»Sagt der Dupont wir kommen gleich nach«, flüsterte ich Chrissy zu.
Anne sah aus, als würde sie gleich in Tränen ausbrechen. Chrissy nickte
und verschwand mit Mark im Treppenhaus, während ich mit Anne und
Nathaniel stehen blieb.
»Hier.« Ich reichte ihr ein Taschentuch.
»Da-danke.« Anne schniefte und riesige Tränen kullerten jetzt über ihre
Wangen,.
»Ich hätte ihnen gern so richtig die Meinung gesagt«, murmelte ich. »Aber
ich wollte dir ersparen, dass sie dich so sehen.«
»Ariana hast du jedenfalls gebremst«, flüsterte Anne mit belegter Stimme
und tupfte sich die Tränen ab.
»Dafür sind beste Freundinnen doch da. Was ist denn überhaupt
passiert?«
Anne zuckte mit den Schultern.
»Chrissy, Mark und ich waren auf dem Weg zur Schule und da standen sie,
wie immer die Besten, und ich habe wohl ein bisschen zu laut meine Meinung
gesagt …«
»Idiotische A-Liga«, sagte ich. »Du weißt doch, dass das alles Unsinn ist,
was sie über dich gesagt haben.«
Anne zuckte traurig mit den Schultern.
»Du bist nicht fett«, sagte ich entschieden. »Und du hast tolle Klamotten.
Ehrlich, ich wünschte, ich hätte einen so gut gefüllten Kleiderschrank.«
Anne lächelte schwach. »Du passt doch in meine Hosen zweimal rein.
Außerdem wären sie dir viel zu kurz. Überhaupt, du machst dir doch gar
nichts aus Mode.«
»Sag nichts gegen meine Kapuzenwesten«, grinste ich.
»Ich wünschte, ich würde so aussehen wie du«, sagte Anne leise. »Auf dir
hacken sie nie herum. Wenn ich schon nicht deine Figur haben kann, könnte
ich dann wenigstens deine langen dunklen Haare kriegen?«
»Blond steht dir super«, sagte ich. »Vertrau mir.«
»Weißt du, dass meine Oma nach dir gefragt hat? Sie wollte wissen, ob
›Schneewittchen noch immer so schön ist‹.« Sie schniefte.
Ich wusste nicht so recht, was ich darauf sagen sollte. Ich mochte Annes
Großmutter, bei der Anne aufgewachsen war und immer noch wohnte, und
die mich als Kind immer ›Schneewittchen‹ genannt hatte.
»Deine Oma ist … äh … ziemlich kurzsichtig, oder?«
Anne schüttelte den Kopf.
»Sie hat Recht, Vic. Mit deinen blauen Augen und deiner perfekten Haut
…« Sie seufzte und fuhr sich über die Stirn. »Ich glaube, ich bekomme schon
wieder einen Pickel.«
»Schluss jetzt!«, sagte ich entschieden. »Du hörst jetzt sofort auf mit
diesem Selbstmitleids-Unsinn und wirst wieder die Anne, die alle mit ihrer
frechen Klappe umhaut! Weißt du, warum die A-Liga solche Sachen zu dir
sagt? Weil sie genau wissen, dass du viel mehr auf dem Kasten hast als sie.
Ganz ehrlich, wenn du loslegst, interessiert sich doch keiner mehr für die drei
Barbie-Klone!«
Ein scheues Lächeln erschien auf Annes Gesicht. »Meinst du wirklich?«
»Tatsache«, erklärte ich.
Sie schniefte ein letztes Mal und umarmte mich. Ich warf Nathaniel über
Annes Schulter einen Blick zu.
»Weißt du, vielleicht haben sie Recht«, sagte Anne und drückte mich ein
wenig von sich weg. »Vielleicht ist mein Leben tatsächlich ein bisschen
armselig.«
»Was? Ich dachte, ich hätte dir gerade klargemacht, was das für ein
Quatsch …« Ich verstummte, als ich das Funkeln in Annes Augen sah.
»Es wird höchste Zeit, eine Sache zu ändern«, fuhr Anne fort und
schmunzelte vielsagend. »Dafür werde ich deine Hilfe brauchen. Es geht um
die Operation Tom.«
»Oh«, murmelte ich ein wenig überrumpelt. »Äh … okay. Wie lautet der
Plan?«
Anne biss sich auf die Unterlippe. »Du stehst wirklich nicht auf ihn, oder?
Ganz bestimmt nicht?«
Nathaniels Blick schoss in meine Richtung.
»Nein.« Ich schüttelte entschieden den Kopf. »Du hast absolut freie Bahn.«
Anne zögerte. »Gut. Aber wenn du doch … ich will dir nicht
dazwischenfunken, schließlich steht Tom auf dich.«
»Du funkst zwischen gar nichts. Ihr beide würdet toll zusammenpassen.«
Ein breites Lächeln erschien auf Annes Gesicht. »Könntest du ihm das
klarmachen?«
»Dass ihr beide toll zusammenpassen würdet?«
»Nein, dass du nicht auf ihn stehst. Sonst wird er nie auf mich
aufmerksam.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Klar, kein Problem.«
Anne fiel mir abermals um den Hals.
»Danke, danke, danke! Und wenn das klappt mit Tom, werden den A-LigaZicken die Augen rausfallen!«
Anne hüpfte vor Aufregung und ich löste mich lachend aus ihrer
Umarmung.
»Schon gut! Aber die Dupont lässt uns durchfallen, wenn wir jetzt nicht
endlich in die Klasse gehen!«
»Habt ihr euch eigentlich schon mit Tom versöhnt?«, fragte ich, als ich nach
der Französischstunde mit Anne, Chrissy und Mark die Treppen hinunter zu
den naturwissenschaftlichen Labors ging. Nathaniel hielt sich wie immer an
meiner Seite.
»Wie denn?« Chrissys Stimme war etwas schärfer als gewöhnlich. Die
Kritik der A-Liga hatte ihr wohl mehr zugesetzt, als sie zugeben wollte. »Mein
Idiot von Bruder redet noch immer kein Wort mit mir.«
Mark legte seinen Arm um sie. »Der beruhigt sich schon wieder.«
»Mir doch egal«, murmelte Chrissy trotzig. »Mit wem ich zusammen bin,
geht ihn überhaupt nichts an!«
»Mark ist aber Toms bester Freund«, bemerkte ich.
Chrissy stapfte grimmig die Treppen hinunter.
»Ich habe vor, heute nach der Schule mit ihm zu reden«, sagte Mark zu
mir.
»Tom kommt hierher?«, fragte Anne.
»Mein Cousin fährt Tom und mich zum Training«, sagte Mark. »Wir
trainieren alle im selben Verein und er holt uns freitags immer von der Schule
ab …«
»Weiß ich doch«, sagte Anne ungeduldig. »Ich meinte: Tom fährt mit dir
zum Training, obwohl ihr nicht mehr miteinander redet?«
Mark grinste gequält. »Es bleibt ihm wohl nichts anderes übrig. Er hat kein
Auto und wir sind mitten in der Saison, also wenn er nicht auf die Ersatzbank
will …«
»Tom kommt also nach der Schule hierher«, wiederholte Anne
nachdenklich. Ein Blick in ihr Gesicht verriet mir, dass sie dabei war, etwas
auszutüfteln. Etwas, das garantiert nichts mit dem Streit der Jungs zu tun
hatte.
»Ich werde ihm klar machen, dass Chrissy und ich zusammen sind«, sagte
Mark entschlossen. »Du hattest Recht, Vic. Tom und ich sind schon so lange
befreundet, er muss das einfach verstehen. Hoffentlich ist er diesmal besser
aufgelegt als bei meinem letzten Versuch.« Die Zweifel in Marks Stimme
waren nicht zu überhören.
»Soll ich ein Wort mit Toms Gefühlsengel sprechen?«, bot Nathaniel an.
Ich hob überrascht den Kopf. Du redest mit den Engeln anderer Leute?
Nathaniel lachte. »Klar, es gibt einen Stammtisch, was dachtest du denn?
Wir gehen regelmäßig auf ein paar Bier und spielen Poker.«
Ich runzelte die Stirn. Sehr witzig.
Nathaniel grinste. »Also … soll ich helfen?«
Ich überlegte und beobachtete dabei Mark, der Chrissy gerade etwas
zuflüsterte und sie damit zum Lachen brachte. Der Ärger über die A-Liga
schien vergessen.
Danke, aber ich glaube, er schafft es auch so, dachte ich schließlich.
Ich hatte mich auf eine ruhige Stunde im Chemielabor gefreut, als Frau
Szysdek mit einem Knall einen Stapel Mappen auf den Lehrertisch fallen ließ.
Klein und hager, mit burschikosem Kurzhaarschnitt und schmalen Lippen,
trat sie vor die Klasse und zog geschäftig einen Stift und eine Liste hervor.
»Die Gruppenarbeiten des Semesters stehen an«, sagte sie mit ihrem
polnischen Akzent.
Die Klasse stöhnte.
»Ich habe euch in Vierergruppen eingeteilt. Ihr seid selbst dafür
verantwortlich, euch mit euren Gruppenmitgliedern zu koordinieren. Der
Abgabetermin ist Mitte Januar, ihr habt also drei Monate Zeit. Organisiert
euch rechtzeitig, ich werde im Januar keine Ausreden zulassen. Wer die
Arbeit nicht rechtzeitig abgibt, fällt durch, verstanden? Wenn ich eure Namen
vorlese, kommt bitte nach vorne und holt euch eure Aufgaben.«
Sie schlug mit der flachen Hand auf den Stapel auf ihrem Tisch. Dann hob
sie den Kopf, um durch den unteren Teil ihrer Brillengläser von der Liste
abzulesen. »Victoria, Anne …«
Als Anne und ich aufstanden, erhoben sich Mark und Chrissy automatisch
auch.
»… ihr arbeitet mit Ariana und Katharina zusammen.«
Geschockt blieben wir stehen. Anne und ich tauschten fassungslose Blicke
aus, während Mark und Chrissy sich ungläubig wieder auf ihre Stühle sinken
ließen. Aus dem Augenwinkel sah ich die langen Gesichter von Ariana und
Katharina. Sie waren ebenso schockiert wie wir.
»Victoria?« Frau Szysdek hob den Kopf. »Holst du bitte die Aufgabe für
deine Gruppe? Wir haben heute noch Unterricht vor uns.«
Ich trottete zum Lehrertisch und nahm die Mappe von Frau Szysdek
entgegen. Auf dem Weg zurück an meinen Platz sah ich Ariana und
Katharina, die mich mit ihren Blicken aufspießten, so als wäre das Ganze
meine Idee gewesen.
»Wie konnte denn das passieren?«, zischte Chrissy von der Bank hinter
uns, als ich mich wieder in meinen Stuhl fallen ließ. »Macht die Szysdek das
absichtlich oder was?«
»Ganz ehrlich?«, flüsterte ich zurück und sah Anne besorgt an, die plötzlich
ziemlich blass geworden war. »Ich glaube, das war einfach ein wirklich
saublöder Zufall.«
Während Frau Szysdek weiter Namen vorlas und die Schüler sich ihre
Mappen von vorne holten, legte ich beruhigend meine Hand auf Annes Arm.
»Wir bringen das schon irgendwie hinter uns«, flüsterte ich.
Anne sah aus, als müsste sie sich jeden Moment übergeben.
»Ich soll eine Projektarbeit mit diesen Kühen machen?«, murmelte sie
tonlos. »Das gesamte Semester lang?«
»Ich bin auch dabei, vergiss das nicht«, flüsterte ich aufmunternd. »Und
ich lasse nicht zu, dass sie auch nur einen Ton gegen dich sagen.«
Anne lächelte schwach. »Versprochen?«
»Versprochen.«
Ich warf Nathaniel einen Blick zu. Na großartig. Ausgerechnet.
Er hob in gespieltem Ernst die Schultern.
»Leider kann ich diese Mädchen nicht vernichten, nur weil sie zickig sind …
was macht Anne denn da?«
Ich drehte mich um und sah, dass Anne ihren Chemiebaukasten
durchwühlte. Offenbar fand sie nicht, wonach sie suchte.
»Anne, was …?«
»Hast du noch etwas Säure, Vic? Oder irgendwas anderes Giftiges? Nur für
alle Fälle.«
Vor der letzten Stunde hatte Chrissy Anne zum Kiosk geschleppt, um Annes
Chemie-Schock in Café Lattes zu ertränken. Ich stand mit Nathaniel vor dem
Physiksaal, als Herr Wagner, der Physiklehrer, in den Gang einbog. Chaotisch
und schusselig wie immer balancierte er einen Kaffeebecher auf einem Stoß
Aufgabenhefte.
»Victoria!«, sagte er erleichtert, als er mich entdeckte. »Könntest du bitte …
?« Er drehte sich umständlich zur Seite, so dass ich den Schlüsselbund sehen
konnte, der von der Hand baumelte, in der er die Hefte hielt.
Ich fädelte den Schlüsselbund vorsichtig von seinen Fingern, ohne dabei
den Kaffeebecher umzustoßen, der recht wackelig auf einer
zusammengelegten Zeitung stand. Ein Kaffeefleck breitete sich quer über das
Bild von Melinda Seemann und Marcellus Van den Berg aus.
»Haben Sie den Artikel gelesen?«, fragte ich und deutete auf das
durchtränkte Bild.
»Über Melinda und diesen Milliardär?« Herr Wagner klang abgelenkt, als
er an Nathaniel vorbei ans Ende des Gangs blickte. »He, ihr! Kein Tischtennis
auf den Schaukästen!«
Ich schloss die Tür auf und Herr Wagner manövrierte seine Last vorsichtig
in den Physiksaal.
»Melinda hat sich in der Universitätswelt einen guten Namen gemacht«,
sagte er, während er die Hefte auf seinem Tisch ablegte. Ich bewahrte den
Kaffeebecher im letzten Moment davor, umzukippen und den Rest der
Zeitung mit Kaffee zu durchtränken.
»Danke«, murmelte Herr Wagner. »Melinda ist mit vielen bekannten
Persönlichkeiten in Kontakt. Sie und Van den Berg kennen sich, glaube ich,
schon recht lange. Soviel ich weiß, gehört ihm ein Medienkonzern.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Kann sein. Ich kenne bloß den Van-denBerg-Tower in der Innenstadt.«
Herr Wagner kramte einen Stoß Papier aus seiner Tasche hervor. Die
Glocke läutete und der Rest der Klasse strömte in den Saal.
»Könntest du das hier bitte austeilen?« Herr Wagner drückte mir den
Papierstapel in die Hand.
»Merkblätter für den Schulausflug am Dienstag. Wir wandern zu den
Kaiser-Franz-Josef-Fällen.«
»Ein Wanderausflug?«, fragte Nathaniel.
Hatte ich ganz vergessen, seufzte ich in Gedanken. Oder besser gesagt, verdrängt.
»Ich dachte, du magst den Wald?« Nathaniel schlenderte hinter mir her,
während ich die Merkblätter austeilte.
Ich mag unsere Burgruine. Aber Wandern generell … Ich schüttelte kaum
merklich den Kopf. Als ich am Tisch von Mark und Chrissy vorbeikam, steckte
Mark gerade nervös sein Telefon wieder ein.
»Was ist los?«, fragte ich leise.
»Tom hat ihm getextet«, erklärte Chrissy. »Er wartet nach der Schule auf
dem Parkplatz auf Mark und seinen Cousin.«
»Aber ich dachte, genau das wolltest du?«, fragte ich Mark.
»Ist auch so«, erwiderte er, doch sein angespannter Gesichtsausdruck ließ
mich an seinen Worten zweifeln. »Wir treffen Tom in einer Stunde. Ist doch
super.«
Als wir eine Stunde später vom Schulhof auf den Parkplatz einbogen, wartete
Tom schon auf uns. Er lehnte mit verschränkten Armen an der Mauer, seine
stacheligen schwarzen Haare gestylt, die Sporttasche neben ihm am Boden.
Der missbilligende Blick, mit dem er Mark und Chrissy fixierte, erinnerte
mich stark an Seraphela.
»Hey«, sagten Anne und ich, als wir vor ihm standen.
»Hey«, erwiderte Tom, ohne zu lächeln.
Ein Moment peinlichen Schweigens folgte, bei dem sich weder Mark noch
Tom gegenseitig ansahen.
Anne startete einen Versuch, die unangenehme Stille zu durchbrechen.
»Also … ihr fahrt jetzt zum Training?«
Keiner der beiden antwortete, doch sie sahen sich wenigstens an.
»Ihr habt Glück mit dem Wetter«, fuhr Anne mit einem gezwungenen
Lächeln fort. »Das sind die letzten warmen Tage im Oktober, es soll ja eine
Kaltfront kommen …«
Niemand erwiderte etwas. Ich warf Nathaniel einen unsicheren Blick zu
und er hob abwehrend die Hände.
»Du hast gesagt, du willst es Mark ohne meine Hilfe versuchen lassen«,
sagte er.
Vielleicht war das ein Fehler, dachte ich zögernd, während ich zwischen Mark
und Tom hin- und herblickte.
Mark hielt demonstrativ Chrissys Hand, während Chrissy ihren Bruder
mit schmalen Augen fixierte.
»Hör zu«, sagte Mark schließlich. »Ich habe sie wirklich gern. Okay?«
Tom starrte Mark an. Dann wanderte sein Blick zu seiner Schwester, die
jetzt Marks Hand mit beiden Händen umfasst hielt.
Ich hielt die Luft an und bereitete mich innerlich auf Toms Ausbruch vor.
Doch Tom machte nur eine winzige Kopfbewegung. »Okay.«
Ich war verblüfft.
»Na, bitte«, schmunzelte Nathaniel. »Alles bestens.«
Völlig sprachlos sah ich zu, wie Marks Cousin auf den Schulparkplatz
einfuhr, Mark und Tom ihre Sporttaschen in den Kofferraum warfen und
sich dabei über das bevorstehende Training unterhielten, als wäre nichts
gewesen. Ich traute meinen Augen kaum, als Mark Chrissy sogar vor Toms
Augen zum Abschied küsste.
Nachdem Marks Cousin schließlich mit den beiden losgefahren war,
blickte ich Anne und Chrissy erstaunt an.
»Und deswegen das ganze Drama?«
Chrissy zuckte mit den Schultern und schüttelte den Kopf. »Männer.«
»Chrissy, ich brauche deine Hilfe«, platzte Anne plötzlich heraus. Sie
schien nur auf diesen Moment gewartet zu haben.
»Ich … also …« Sie holte tief Luft und lief knallrot an. »Ich stehe auf Tom.
Schon länger.«
Chrissy sah Anne erstaunt an. »Du stehst auf meinen Bruder?«
Anne biss sich auf die Lippen. »Ist das ein Problem?«
Chrissy warf mir einen unsicheren Blick zu.
»Für mich nicht … aber ich dachte, Tom steht auf Vic?«
»Ist alles schon geklärt«, sagte Anne schnell. »Außerdem hat Vic doch ihren
geheimnisvollen Freund.«
»Ich habe keinen …«, begann ich, doch Anne hörte gar nicht mehr zu.
»Ich würde gern herausfinden, ob Tom mich … naja, gut findet«, sagte
Anne mit tiefrotem Gesicht. »Aber vorher muss Vic Tom verklickern, dass sie
nicht auf ihn steht.« Sie blickte mich hoffnungsvoll an.
»Ich habe doch gesagt, ich mach's«, sagte ich.
»Und zwar heute Abend im Charley's?«
»Wenn du willst.« Ich zuckte mit den Schultern.
»Und am besten bringst du deinen neuen Freund gleich mit …?«
»Vergiss es«, sagte ich.
»Du kannst ihn nicht ewig vor uns verstecken«, grinste Chrissy.
»Ich verstecke niemanden.« Ich schüttelte den Kopf. »Außerdem geht's
hier um Anne.«
»Könntest du Mark dazu bringen, heute Abend mit Tom ins Charley's zu
kommen?« Anne sah Chrissy bittend an.
»Ich werde es versuchen«, sagte Chrissy. »Seit wann stehst du eigentlich
auf Tom? Und vor allem: warum weiß ich nichts davon?«
Anne grinste verlegen. »Nicht nur Vic hat ein Geheimnis.«
Chrissy sah mich an. »Bin ich hier die Einzige mit einem öffentlichen
Liebesleben? Anne hat gerade gebeichtet, also raus damit, wer ist dein Kerl?«
»Das ist mein Stichwort«, sagte ich mit einem Seitenblick auf Nathaniel.
»Wir sehen uns heute Abend im Charley's!«
»Warte! Vic!«, rief Chrissy mir entrüstet nach, doch ich winkte ihr über die
Schulter zu und lief zu meinem Auto.
»Anne und Chrissy werden schwer enttäuscht sein, dass dein
geheimnisvoller Freund heute Abend nicht dabei ist«, schmunzelte Nathaniel,
als wir ein paar Stunden später auf dem Weg ins Charley's waren.
Er ist dabei, schoss es mir durch den Kopf, doch glücklicherweise schirmte
der Schild diesen Gedanken vor Nathaniel ab.
Vor dem irischen Pub standen einige Gäste in kleinen Gruppen auf dem
Gehsteig und genossen den milden Oktoberabend. Drinnen war wie immer
viel los und ich musste mich zum Tisch der anderen durchkämpfen. Wie
Nathaniel mit seinen riesigen Schwingen mir so mühelos durch die
Menschenmenge folgen konnte, war mir ein Rätsel.
»Hey Leute!«, schrie ich über die Musik und ließ mich auf einen Stuhl
neben Anne fallen.
Sie hatte sich strategisch clever neben Tom positioniert, daneben saßen
Mark und Chrissy. Nathaniel nahm auf dem letzten freien Stuhl Platz und
ließ seinen Blick mit mildem Interesse durch das dunkle, überfüllte Lokal
wandern.
»Wir haben für dich bestellt!«, brüllte mir Chrissy quer über den Tisch zu.
Ich grinste zurück und kurze Zeit später stellte der Kellner die Getränke
vor uns auf den Holztisch. Ich bemerkte, dass Anne sich mit ihrem Outfit
besondere Mühe gegeben hatte, außerdem trug sie glitzerndes Lipgloss und
duftete nach ihrem Lieblingsparfum.
»Vic!«, schrie Anne laut genug, damit Tom es hören konnte. »Wo bleibt
denn dein Freund?«
Tom blickte bei ihren Worten sofort zu uns herüber. Ich starrte in Annes
bittende, hoffnungsvolle Augen und seufzte innerlich.
Also gut.
»Er hatte leider keine Zeit!«, schrie ich zurück. »Aber er … äh … wäre sehr
gerne mitgekommen!«
»Du hast einen Freund?« Toms Stimme klang seltsam.
Anne stieß mich unter dem Tisch an.
»Äh … ja … sozusagen.«
»Vic ist bis über beide Ohren verknallt!«, brüllte Chrissy über den Tisch.
»Aber wir haben ihren geheimnisvollen Freund noch nicht kennen gelernt.«
Tom warf Mark einen vorwurfsvollen Blick zu. Mark hob abwehrend die
Hände.
»Ich habe es auch erst vor ein paar Tagen erfahren«, raunte er Tom zu,
allerdings laut genug, dass ich es hören konnte.
»Er geht also nicht auf eure Schule?«, fragte Tom in nüchternem Ton. Ich
schüttelte den Kopf. Wenigstens bei dieser Frage musste ich nicht lügen.
»Und was macht er so?«, bohrte Tom weiter.
»Äh …« Mein Blick streifte Nathaniel.
»Vic macht gern ein großes Geheimnis daraus«, kicherte Anne. Mir fiel
auf, dass ihr Glas schon fast leer war.
Tom lehnte sich zurück. »Willst du uns nicht wenigstens verraten, wie er
heißt?«
Ich rutschte auf meinem Stuhl hin und her und meine Finger krallten sich
um mein unberührtes Glas.
»Vielleicht ist er ja ein Prominenter?«, scherzte Chrissy und Mark lachte.
»Ich … äh … bin gleich wieder da.« Ich hielt es nicht mehr aus, stand auf
und schob mich durch die Masse in Richtung Toilette.
Ich hasse es, zu lügen!
»Ich weiß.« Nathaniels Stimme erklang ruhig neben meinem Ohr. Ich
konnte ihn trotz des hohen Geräuschpegels im Lokal problemlos verstehen.
Anne schuldet mir was! Dieser Abend kann nicht noch schlimmer werden. Ich warf
Nathaniel einen genervten Blick zu und verschwand auf der Damentoilette.
Ein Mädchen kam mir entgegen, ansonsten war der Waschraum leer. Ich
spritzte mir kaltes Wasser ins Gesicht und starrte mein Spiegelbild im
zerbrochenen Spiegel an der Wand an. Das Licht der Neonröhre über mir
flackerte.
»Was für ein Abend«, murmelte ich und hielt meine Hände unter das
fließende Wasser.
Als ich meinen Blick wieder zum Spiegel hob, erstarrte ich.
Hinter mir stand er, riesig und dunkel schimmernd, seine schwarzen
Flügel ausgebreitet und seine roten Augen auf mich gerichtet, mit einem
gehässigen Lächeln auf den Lippen - der Dämon Lazarus.
DER ANDERE CHRONIST
»Hast du dich schon entschieden?«, fragte ich, während ich von dem
Felsvorsprung aus den Fluss betrachtete, der sich Hunderte Meter unter mir
durch den Canyon schlängelte. Die andere Seite der gewaltigen Schlucht war
kilometerweit entfernt und wilde, zerklüftete Felsen ragten auf, so weit ich
sehen konnte. Auf der rotbraunen Erde wuchsen nur vereinzelte Sträucher,
die sich trotz der widrigen Bedingungen zwischen den Gesteinsschichten die
Felswände emporkämpften. Ein sanfter Wind milderte die Hitze der
strahlenden Sonne. Die Schlucht war menschenleer.
»Nathaniel?« Ich drehte mich zu meinem geflügelten Begleiter um, der
hinter mir an einem Felsen lehnte – halb Dämon, halb Schutzengel, dunkel
glitzernd und mit riesigen, schwarzen Schwingen, den Blick aus seinen
goldbraunen Augen auf mich gerichtet. »Hörst du mir überhaupt zu?«
Ein Schatten legte sich über sein Gesicht. Er war schön, trotz der
dämonischen Narben, die ihn furchterregend aussehen ließen.
»Natürlich«, murmelte er rau. »Habe ich was entschieden?«
»Wem du eine Abfuhr erteilen wirst. Den Erzengeln oder Luzifer?«
Ein freudloses Lächeln zuckte in seinen Mundwinkeln. »Sollten wir damit
nicht warten, bis sie mir ein Angebot gemacht haben?«
»Das werden sie«, sagte ich ernst. »Früher oder später wirst du diese Wahl
treffen müssen.«
»Ich will nicht, dass du dir so viele Sorgen machst«, erwiderte er. »Ramiel
hat einen schlechten Einfluss auf dich.«
»Er hilft mir nur, die Dinge klarer zu sehen. Weder die Erzengel noch
Luzifer werden sich die Chance entgehen lassen, dich für ihre Sache zu
gewinnen. Du wirst dich zwischen Himmel und Hölle entscheiden müssen.«
»Den Teufel werde ich tun«, knurrte Nathaniel.
Ich runzelte die Stirn. »Du willst dich gar nicht entscheiden?« Und dann
begriff ich. »Du willst sie hinhalten!«
»Sobald ich mich für eine Seite entscheide, wird die andere dich jagen.
Denn damit ich meinen Schutzengelstatus verliere, musst du …«
»… sterben«, vollendete ich seinen Satz.
Er knurrte und schwarze Flammen flackerten auf seinem Körper wie zur
Verdeutlichung auf.
»Ich weiß«, sagte ich. »Aber …«
»Kein Aber! Deine Sicherheit ist alles, was für mich zählt. Ich werde keine
Entscheidung treffen, die dich in Gefahr bringt. Ende der Diskussion.«
Das Knurren seiner Stimme und das Knistern der Flammen auf seiner
Haut waren bedrohlich. Ich streckte meine Hand nach seiner aus und
umfasste sie.
Okay, dachte ich. Wie du willst. Doch irgendwann wirst du die Entscheidung
treffen müssen, daran führt kein Weg vorbei. Er ignorierte meine Gedanken und
starrte düster vor sich hin.
Ich beschloss, das Thema zu wechseln, und ließ meinen Blick über die
weite Schlucht schweifen. »Es ist wunderschön hier. Aber wo sind wir
eigentlich?«
»Arizona«, erwiderte er gedankenversunken. »Grand Canyon. Ich dachte,
vielleicht gefällt’s dir.«
Ich blinzelte ihn an. »So weit weg von zu Hause? Kriege ich Bonusmeilen?«
Er schmunzelte schwach und spannte seine mächtigen, schwarzen
Schwingen auf. Tausende goldene Diamanten funkelten darin im
Sonnenlicht. »Willkommen bei Guardian Angel Air.«
Die beängstigende Schönheit seiner Flügel machte mich wieder einmal
sprachlos und ich blickte sehnsüchtig auf die glitzernden, tiefschwarzen
Federn. Plötzlich wurde ich gepackt und mit Nathaniels Armen um mich
stürzte ich in die Tiefe. Ich schrie erschrocken auf und klammerte mich an
ihm fest. Unser Fall dauerte nur wenige Augenblicke. Nathaniel schlug seine
Flügel auf und plötzlich schwebten wir gemächlich zwischen den hohen
Felswänden des Tals entlang. Er grinste.
»Du hast mich zu Tode erschreckt!«, keuchte ich und knuffte ihn in die
Schulter. Es fühlte sich an, als würde ich einen Granitfelsen knuffen. Seine
Augen funkelten neckend und mein halbherziger Ärger schmolz dahin. Wie
immer war er so unwiderstehlich, dass meine Wut keine Chance hatte.
»Du könntest mich das nächste Mal wenigstens vorwarnen, bevor du dich
mit mir den Grand Canyon hinunterstürzt!«, brummte ich.
»Und damit die Überraschung verderben?« Plötzlich beschleunigte er
wieder und wir rasten in die Tiefe. Ich hielt den Atem an, klammerte mich an
ihn und fühlte gleichzeitig den Rausch von Adrenalin. Wir rasten so dicht
über den Fluss hinweg, dass ich die Wasseroberfläche mit den Fingern
berühren konnte. Schon schoss Nathaniel wieder nach oben, zwischen den
Felswänden durch und hinauf, bis wir hoch über der Schlucht schwebten. Die
Aussicht war überwältigend.
»Victoria«, flüsterte er.
Ich blinzelte in der Dunkelheit.
»Wach auf …«
»Ich habe schon befürchtet, dass du verschläfst«, sagte Ludwig, als ich kurz
darauf in Jeans und Kapuzenweste in der Küche erschien. Es war
ungewöhnlich, dass mein Vater noch nicht im Büro war. Er schien auf dem
Sprung zu sein, denn er trug wie immer einen maßgeschneiderten Anzug,
der ihm zusammen mit seinen graumelierten Haaren und seinem
selbstbewussten Auftreten eine unbestreitbare Autorität verlieh. Vermutlich
hatte er auf mich gewartet.
»Ist alles in Ordnung mit dir?«, fragte Ludwig und betrachtete mich mit
besorgtem Blick.
Ich setzte Wasser auf. »Warum fragst du?«
»Du hast ziemlich viel durchgemacht in der letzten Zeit. Die Sache mit
Rita …«
»Du meinst deine Sekretärin - entschuldige, deine Freundin -, die mich in
die Klapsmühle stecken wollte?« Mein Tonfall war schärfer als beabsichtigt.
Bei der Erwähnung von Ritas Namen loderten Nathaniels Flammen auf. Er
hatte mich vor der skrupellosen Frau beschützt und den Dämon in ihr
ausgetrieben, was Rita allerdings ins Krankenhaus befördert hatte.
Ludwig sah gekränkt aus und ich fühlte einen Stich schlechten Gewissens.
»Wie, ähm, geht es ihr?«, fragte ich unbehaglich.
»Unverändert«, erwiderte Ludwig. »Sie ist nach wie vor in der
geschlossenen Abteilung der Psychiatrie.«
Mein Blick schoss zu Nathaniel. Er lehnte an der Küchentür, riesengroß
und düster. Mein Vater stand direkt neben ihm und ahnte nichts von dem
dämonischen Wesen in seiner Nähe. Doch Nathaniels Anwesenheit ließ ihn
unruhig von einem Fuß auf den anderen treten. Knurrend zog sich mein
Schutzengel auf die andere Seite der Küche zurück, so weit weg von Ludwig
wie möglich.
»Rita wollte dir nur helfen«, sagte Ludwig. »Dein Verhalten war sehr
beunruhigend, Vicky.«
Was hätte ich denn sagen sollen? dachte ich. ›Tut mir leid, dass ich so schlecht
drauf war, aber Luzifer hat meinen Gefühlsengel umgebracht, deswegen haben meine
Emotionen verrückt gespielt. Dann haben die Erzengel meinen Schutzengel in die Hölle
verdammt, weil er mich dem Tod entrissen hat, nachdem der Dämon Lazarus versucht
hat, mich umzubringen. Und dann hat dieser Dämon auch noch alle Inferni der Hölle
auf mich gehetzt - das sind verwesende, böse Seelen, die alles Gute vernichten und
Verzweiflung und Angst verbreiten – damit ich aufgebe und mich umbringe, während
mein Schutzengel in der Hölle von Dämonen zerfetzt wurde. Oh, und habe ich schon
erwähnt, dass ich diesen Schutzengel wie verrückt liebe?‹ Ich verdrehte die Augen.
Für diese Geschichte hätte Ludwig bestimmt Verständnis gehabt.
Bei meinen letzten Worten huschte ein Ausdruck über Nathaniels Gesicht,
der sein beängstigendes Aussehen veränderte. Mein Engel schimmerte für
einen Moment hinter den dämonischen Narben hervor.
»Du liebst mich wie verrückt?«
Ich konnte ein Lächeln nicht unterdrücken. Als ob das eine Neuigkeit für dich
wäre.
»Ich höre es trotzdem gern.« Ein umwerfendes Lächeln durchbrach seine
ernsten Züge. »Wie war das noch mal?«
»Jean-Claude hat mir einen Flug für heute Nachmittag gebucht«, sagte
Ludwig plötzlich. Ich wandte mich ihm abgelenkt zu. »Es gibt viel
nachzuholen, weil ich in der letzten Zeit nicht so häufig im Büro war.«
Er war nie der Typ Vater gewesen, der sein Leben für sein Kind in
irgendeiner Art und Weise eingeschränkt hatte, doch seit meine Mutter vor
einem halben Jahr gestorben war, gab es nur noch uns beide. Er musste sich
seinen Vaterpflichten stellen, so ungelegen sie ihm auch kamen.
»Wer ist Jean-Claude?«
»Mein neuer Assistent«, sagte Ludwig beiläufig. »Es steht ein Meeting mit
den Partnern in Hongkong an, das ich schon mehrmals verschoben habe. Aber
wenn du denkst, dass du mich noch brauchst, bleibe ich hier.«
»Kein Problem. Flieg ruhig.«
Das schien genau die Antwort gewesen zu sein, auf die Ludwig gehofft
hatte. Er entspannte sich merklich. Vielleicht auch nur, weil Nathaniel auf
Abstand gegangen war.
»Ich werde eine Woche weg sein. Wenn du irgendetwas brauchst, dann ruf
Jean-Claude an. Hier hast du seine Nummer.«
Eher würde ich mir die Hand abhacken. Ich seufzte innerlich. Jean-Claude.
»Okay.«
Ludwig zögerte. »Bist du wirklich sicher, dass du zurechtkommst?«
»Mach dir keine Sorgen.« Mein Blick streifte Nathaniel. »Alles ist wieder in
Ordnung.«
Plötzlich läutete es an der Wohnungstür.
»Das ist er«, sagte Ludwig, schon auf dem Weg zur Tür. »Er bringt die
Akten zurück in die Firma.« Er deutete mit einer knappen Kopfbewegung auf
die Ordner, die sich im Wohnzimmer türmten, seit mein Vater einen Teil
seines Büros übergangsweise nach Hause verlegt hatte. Kurz darauf kehrte
Ludwig ins Wohnzimmer zurück und erklärte seinem Assistenten, welche
Akten er am dringendsten brauchte. Ich schlenderte aus der Küche heraus,
um den beiden zuzusehen. Der junge Mann, der gerade damit beschäftigt
war, Aktenordner auf seine Arme zu stapeln, hielt überrascht inne, als er mich
sah.
»Oh … Bonjour.«
»Jean-Claude, das ist meine Tochter Victoria«, sagte Ludwig. »Vergessen
Sie nicht die Bancroft-Papiere.«
Doch Jean-Claude schien ihn gar nicht zu hören. Er schichtete die Akten in
seinen Armen um, so dass er mir die Hand reichen konnte.
»Bonjour, mademoiselle. Sehr erfreut!«
Er hatte ein strahlendes Lächeln und einen starken französischen Akzent.
Groß, schlank, im dunklen Anzug und mit zurückgekämmten, braunen
Locken wirkte er auf den ersten Blick älter, als er vermutlich war. Bei näherer
Betrachtung schätzte ich ihn auf Anfang zwanzig.
»Ihr Vater hat eine Menge Arbeit für mich in meiner ersten Woche«,
scherzte er und deutete auf die Aktenberge.
Ich stutzte, weil er mich siezte, und nickte vage.
»Und es wartet noch mehr davon im Büro auf uns«, drängte Ludwig.
»Vicky, kommst du nicht zu spät zur Schule?«
»Als Ihr Vater mir auftrug, Ihnen in seiner Abwesenheit für Notfälle zur
Verfügung zu stehen, hatte ich erwartet, ein Kind anzutreffen«, sagte JeanClaude. Er klang überhaupt nicht enttäuscht.
»Ich bin achtzehn«, sagte ich. »Abschlussklasse. Ludwig denkt, ich komme
nicht allein zurecht.«
»Ich bin sicher, das tun Sie.« Jean-Claude strahlte mich an. »Trotzdem,
falls Sie etwas brauchen, egal was, hoffe ich sehr, dass Sie mich anrufen.«
Ludwigs Tonfall war ungeduldig. »Die Bancroft-Akte …!«
Jean-Claudes Blick ruhte noch einen Augenblick auf mir, dann wandte er
sich wieder dem Aktenstapel auf dem Wohnzimmertisch zu.
Ich ging ins Vorzimmer und zog mir die Jacke und die Schuhe an. Doch
Nathaniel war mir nicht gefolgt, sondern stand noch immer im
Wohnzimmer. Breitbeinig und mit verschränkten Armen fixierte er Ludwigs
Assistenten mit einem flammenden Gesichtsausdruck.
Kurze Zeit später parkte ich den roten Mini-Cooper auf dem Schulparkplatz
und Nathaniel landete neben mir. Dabei setzte er heftiger als gewöhnlich auf
dem Boden auf.
»Ich kann ihn nicht ausstehen!«, knurrte er, während er neben mir her in
Richtung Schulhaus stapfte.
»Wen?« Ich kramte in meiner Tasche. »Ich hoffe, ich habe alles dabei. Ich
kann mich nicht mehr erinnern, welche Bücher ich übers Wochenende in
meinem Spind gelassen habe … wo ist nur das verdammte Physikbuch?«
»Diesen Franzosen!«
»Ah, hier ist es.« Ich stopfte das Physikbuch zurück in den Tasche. »Herr
Wagner sagte, wir sollten uns das achte Kapitel durchlesen, ich hoffe das
schaffe ich noch in der Pause …«
»Victoria.« Nathaniel versperrte mir mit seinem Flügel den Weg, so dass
ich vor einer schwarzen Mauer voller glitzernder, goldener Diamanten stand.
Was ist?
»Die Art, wie er dich angesehen hat.« Seine Stimme war ein Knurren.
Ich runzelte die Stirn. Hältst du ihn für gefährlich?
Nathaniel schüttelte ungeduldig den Kopf. »Er ist nicht besessen, wenn du
das meinst.«
Denkst du, Ludwig ist in Gefahr? Ist das wieder so eine Rita-Sache? Ich fühlte, wie
sich mein Magen nervös zusammenzog. Steckt etwa Lazarus dahinter?
»Victoria, es hat nichts mit Dämonen zu tun«, stieß Nathaniel zwischen
den Zähnen hervor. »Es geht allein um dich. Dieser Laufbursche hat ein Auge
auf dich geworfen.«
Im nächsten Augenblick wurde mir die Luft aus den Lungen gepresst.
»Vic!« Es war meine beste Freundin Anne, die sich begeistert auf mich
gestürzt hatte und mich fast zu Boden riss. Ihre kurzen, blonden Locken
hüpften, als wir uns gemeinsam wieder aufrappelten. »Endlich, endlich,
endlich bist du da!«
»Zum Glück«, schnaufte Mark, der hinter Anne auftauchte und seinen Arm
um Chrissys Schulter gelegt hatte.
»Was ist denn los?«, fragte ich überrumpelt.
Chrissy verdrehte die Augen. Unter ihrer Mütze quollen ihre buschigen,
roten Haare hervor. »Anne macht uns verrückt!«
»Tom und ich sind seit gestern fest zusammen!«, sprudelte Anne hervor
und strahlte mich an. »Ich wollte es dir nicht am Telefon sagen, aber ich hab’s
kaum ausgehalten, und jetzt kann ich endlich alles erzählen!«
»Bitte nicht«, stöhnte Mark. »Wir haben es schon gehört. Auf dem Weg
zum Bus, an der Bushaltestelle, während der Fahrt und auf dem Weg von der
Haltestelle hierher.«
»Anne, ich finde es klasse, dass du mit meinem Bruder zusammen bist«,
sagte Chrissy in ernsthaftem Ton. »Aber wenn ich die Geschichte noch ein
einziges Mal hören muss, dann schwöre ich, dass ich …!«
»Ja, schon gut.« Anne ließ enttäuscht den Kopf hängen. Im nächsten
Moment schoss ihr verschmitzter Blick jedoch wieder hoch und sie zwinkerte
mir zu. »Aber dir erzähle ich alle Einzelheiten!«
Nathaniel eifersüchtige Worte über Jean-Claude lenkten mich noch immer
ab. »Ähm … weiß deine Oma schon Bescheid?«, fragte ich Anne, um meinen
fehlenden Enthusiasmus zu rechtfertigen. Das Leuchten in ihren Augen
verschwand sofort.
»Nein«, murmelte sie kleinlaut. »Das ist das Problem.«
»Sie will immer noch nichts von Tom wissen?« Ich blickte fragend zu
Chrissy, die den Kopf schüttelte.
»Mein Bruder ist anscheinend nicht gut genug für das Goldkind.« Zu
meinem Erstaunen erschien ein Schmunzeln auf Chrissys Gesicht und sie
klopfte Anne auf den Rücken. »Aber Anne hat sich trotzdem über alle Regeln
hinweggesetzt. Weiter so, es lebe die Revolution!«
Anne ließ Chrissys Scherze mit einem genervten Gesichtsausdruck über
sich ergehen. »Ich weiß, ganz toll. Blöd nur, dass ich bei meiner Oma lebe und
mich dauernd heimlich mit Tom treffen muss, und lügen, und Ausreden
erfinden …« Sie schüttelte den Kopf. »Ich hasse das!«
»Sei ehrlich zu ihr«, sagte ich. »Irgendwann kriegt sie es sowieso raus. Du
wirst Tom nicht ewig geheim halten können und da ist es doch besser, deine
Oma erfährt es von dir, oder?«
»Meine Oma würde mich umbringen!« Anne hob den Zeigefinger und
zeterte los: »Dieser furchtbare, junge Mann mit der Tätowierung und dem Metallring
im Gesicht, so einer kommt mir nicht ins Haus! Das ist mein letztes Wort!« Sie
imitierte den Tonfall der alten Frau perfekt und verzog dann gequält das
Gesicht.
»Trotzdem«, sagte ich bestimmt. »Steh dazu, dass du mit Tom zusammen
bist! Sie muss es einfach akzeptieren.«
Mein Blick streifte Nathaniel. Sein Ärger schien sich gelegt zu haben, jetzt
sah er mich mit einer Mischung aus Belustigung und Tadel an.
»Ein ungewöhnlicher Ratschlag von jemandem, der, wenn ich mich recht
erinnere, Himmel und Hölle in Bewegung gesetzt hat, um seine Gefühle
geheim zu halten«, grinste er.
Er hatte nicht ganz unrecht. Ich hatte meine Gefühle für ihn auch nicht in
die Welt hinausposaunt, ganz im Gegenteil. Der Schild meines Gefühlsengels
Seraphela hatte meine verbotene Liebe vor Nathaniel und allen anderen
Engeln verborgen gehalten, und nachdem Luzifer Seraphela getötet hatte und
der Schild gefallen war, hatten die Erzengel Nathaniel in die Hölle verbannt.
Genau, weil der Zorn der Erzengel ja mit dem Ärger von Annes Oma vergleichbar
ist!, giftete ich in Gedanken.
Nathaniels Flammen knisterten amüsiert. Plötzlich fiel mir auf, wie
unbehaglich Mark auf seinem Kaugummi kaute, wie nervös sich Chrissy
immer wieder umblickte und wie sich Annes Unbeschwertheit binnen
Minuten zu Entmutigung und Unsicherheit gewandelt hatte.
Ich vergaß ständig, dass Nathaniels dämonische Ausstrahlung auf andere
Menschen eine beklemmende Wirkung hatte. Ich selbst war von der Wirkung
verschont, doch die kurze Zeit, die meine Freunde in Nathaniels Anwesenheit
verbracht hatten, hatte genügt, um ihre Fröhlichkeit im Keim zu ersticken.
Ein Schatten legte sich über Nathaniels Gesicht, als er meine Gedanken hörte.
»Vielleicht solltest du dir doch noch ein wenig Zeit damit lassen, es ihr zu
erzählen«, sagte ich zögernd zu Anne.
»Macht doch einen Deal«, schlug Chrissy vor, während sie unruhig an ihrer
Jacke nestelte. »Wenn Vic uns ihren geheimnisvollen Freund endlich vorstellt,
dann erzählt Anne ihrer Oma von Tom!«
Anne wandte sich mir zu und grinste verschmitzt. »Abgemacht?« Sie
wusste als einzige meiner Freunde von Nathaniels Existenz und dass es
niemals dazu kommen würde, dass ich ihn ihnen vorstellte.
Ich gab auf und zuckte mit den Schultern. »Abgemacht. Sehr clever«, fügte
ich leise hinzu, so dass es nur Anne hören konnte. Wie es aussah, würde
Annes Großmutter für sehr lange Zeit nichts von Tom erfahren.
In der Pause vor Physik hockte ich auf dem Gang vor den
naturwissenschaftlichen Labors, das Physikbuch aufgeschlagen auf meinen
Knien, und versuchte, mir irgendetwas aus dem Kapitel einzuprägen, das wir
bis zu dieser Stunde hätten lesen sollen.
»Wie geht es voran?«
Ich zuckte überrascht zusammen, als Ramiels tiefe Stimme plötzlich neben
mir ertönte. Mein Verstandesengel war aus dem Nichts erschienen, saß neben
mir auf dem Fliesenboden, die langen Beine ausgestreckt und lässig
übereinandergeschlagen. Er war sehniger und nicht so groß wie Nathaniel,
seine Haut schimmerte bronzen und seine weißen Flügel funkelten im
Tageslicht.
»Ra!«, keuchte ich erschrocken. »Könntest du dich das nächste Mal
bemerkbar machen, bevor ich wegen dir einen Herzinfarkt bekomme?«
»Tut mir leid«, schmunzelte er. »So schreckhaft? Was ist aus der
furchtlosen Dämonen-Bändigerin geworden?«
»Sie wird diesen Dämon hier nicht aufhalten können, der dir gleich deine
Federn ausreißen wird«, knurrte Nathaniel.
Ramiel zog die Brauen hoch. »Er scheint etwas gereizt zu sein«, raunte er
mir zu. »Gibt es einen besonderen Grund, oder ist das nur sein übliches
höllisches Temperament?«
»Es gibt einen Grund«, murmelte ich und vertiefte mich wieder ins
Physikbuch. »Der Franzose ist schuld.«
Nathaniels Flammen knisterten.
Ra stutzte. »Was soll das heißen, ›der Franzose ist schuld‹?«
»Können wir das später besprechen?«, bat ich genervt. »Wenn Wagner
mich gleich aufruft, habe ich nämlich keinen blassen Schimmer, was ich ihm
antworten soll.« Ich klopfte demonstrativ auf mein Buch. Ramiel schlug es
kurzerhand zu.
»Vergiss das, ich kümmere mich schon darum. Erzähl mir lieber, was es
mit diesem Franzosen auf sich hat.«
Nathaniel und ich starrten Ra überrascht an.
»Was?«, fragte Ra. »Soll ich sie etwa durchfallen lassen?«
»Seit wann bist du so kooperativ, wenn es um Hilfe bei Prüfungen geht?«,
fragte ich.
Ra zuckte mit den Schultern. »Was das Brechen von Regeln betrifft, sind
wir schon längst über das Niveau von Schulnoten hinaus. Also, was ist jetzt
mit diesem Typ?«
In diesem Moment kehrten Anne und Chrissy mit riesigen Kaffeebechern
vom Kiosk zurück. Sie machten einen verärgerten Eindruck, und neben ihnen
schritt Ariana mit Katharina und Sarah durch den Gang wie eine Königin mit
ihrem Hofstaat. Ich erhob mich und ließ das Physikbuch in meiner Tasche
verschwinden.
»Hey, Winter, ist es wahr, dass das hässliche Schweinchen eine Freund
hat?« Arianas gelangweilte Stimme hallte über den gesamten Gang. Annes
Finger verkrampften sich um ihren Kaffeebecher.
»Sie haben uns in der Aula belauscht«, flüsterte Chrissy mir zu.
Ariana lächelte kalt und warf ihre blonden Haare über die Schulter. »Bitte!
Es war ein bedauerlicher Zufall, ich habe keinerlei Interesse an Miss Piggys
halluziniertem Liebesleben.«
»Es ist nicht halluziniert«, erklärte Chrissy zornig. »Sie ist mit Tom
zusammen, okay?«
Ariana hob eine perfekt nachgezogene Augenbraue. »Tom? Deinem Bruder
Tom?«
»Und ich dachte, der hätte wenigstens einen Funken Geschmack«, sagte
Katharina.
»Er wird das kleine Schweinchen abservieren«, erwiderte Ariana.
»Habt ihr kein eigenes Leben?«, fragte ich kalt. Ariana wandte sich mir zu
und ich erwartete, dass der Dämon in ihr sich jeden Augenblick zeigen würde.
Nathaniels Flammen verstärkten sich, doch Ramiel ging unerwartet
dazwischen.
»Warte!« Er deutete mit dem Kopf auf Anne – oder besser gesagt, auf
jemanden neben Anne, den ich nicht sehen konnte.
»Palomela?«, flüsterte ich.
»Was?«, fragte Ariana irritiert, doch Anne drängte sie auf die Seite.
»Du blöde, aufgeblasene Kuh! Mit wem ich zusammen bin, geht euch
überhaupt nichts an! Nur damit ihr’s wisst, Tom und ich sind glücklich,
bestimmt viel glücklicher als du und dein Wie-hieß-er-noch-gleich
Studentenfreund!« Annes Wangen glühten, als sie Ariana herausfordernd ins
Gesicht sah.
»Sieh an, Schweinchen wird wütend« Arianas Stimme klang gehässig.
Ȇbrigens, sein Name ist Lukas und er holt mich heute von der Schule ab. Ihr
könnt ihn nachher sehen, auf eurem Weg zum Bus.« Damit stolzierte sie mit
erhobenem Kopf an uns vorbei, gefolgt von ihrer Entourage.
»Nicht schlecht«, murmelte Chrissy Anne anerkennend zu und nippte an
ihrem Kaffee.
Ra hatte ein schiefes Grinsen im Gesicht, das den gut aussehenden Engel
noch attraktiver machte. »Ist sie nicht großartig?«
Er sprach von Palomela, Annes resolutem Schutzengel. Ich unterdrückte
ein Schmunzeln.
Ramiel hielt Wort und sagte mir tatsächlich die Antworten vor, als Herr
Wagner mich in der Physikstunde aufforderte, das Kapitel
zusammenzufassen. Dabei lehnte der bronzene Engel lässig am Fenster und
nahm gleich danach das angeregte Gespräch mit Palomela wieder auf. Nach
der Stunde winkte Herr Wagner mich zum Lehrertisch.
»Deine Zusammenfassung war sehr gut, Victoria.«
»Ähm …« Ich senkte verlegen den Kopf. Ich mochte Herrn Wagner und
mich plagte das schlechte Gewissen, weil ich gemogelt hatte. Herr Wagner
wartete, bis die anderen Schüler den Physiksaal verlassen hatten und sprach
dann mit gesenkter Stimme weiter.
»Ich habe mich gefragt, ob du mir bei einem kleinen Experiment helfen
würdest?«
»Was denn für ein Experiment?«
Wagner vergewisserte sich, dass wir allein waren, und zog eine
Holzschatulle aus seiner Tasche hervor.
»Sieht alt aus«, sagte ich.
»Eine Antiquität«, erwiderte Wagner. »Doch viel interessanter ist, was sich
darin befindet.« Er blickte sich verstohlen um. »Sind deine Engel hier?«
Ich sah mich um. Ramiel war mit Palomela hinausgeschlendert, doch
Nathaniel lehnte am äußersten Tisch der ersten Reihe. »Nathaniel ist hier.
Warum?«
Herr Wagner öffnete die Holzschatulle und ließ mich einen Blick
hineinwerfen.
»Ein Kompass?«
»Nein. Ein Engelsdetektor«, erwiderte Wagner. Seine gedämpfte Stimme
klang aufgeregt.
»Um Himmels Willen.« Nathaniel verdrehte die Augen.
»Seit Melinda mir von der Existenz der Engel erzählt hat, suche ich nach
einer Möglichkeit, sie wahrzunehmen«, fuhr Wagner aufgeregt fort. »Ich
habe in meinen alten Unterlagen nachgeforscht und bin auf Hinweise
gestoßen, nach denen es ein Gerät geben soll, mit dem man Engel entdecken
kann.«
Ich betrachtete das runde, silberne Ding in der Schatulle misstrauisch. In
der Mitte drehte sich eine Nadel im Kreis. »Wo in aller Welt haben Sie dieses
Detektor-Dings her?«
»Aus der Asservatenkammer der Erzdiözese«, antwortete Wagner ein
wenig unbehaglich.
»Sie haben es geklaut?«
»Ausgeliehen«, sagte er schnell. »Außerdem fällt es bestimmt niemandem
auf, dass die kleine Schatulle verschwunden ist.«
»Ich wusste gar nicht, dass die Erzdiözese eine Asservatenkammer hat.«
»Tut sie auch nicht.« Wagner hob verschwörerisch die Brauen. »Genauso
wenig wie sie Artefakte besitzen, die mit Engeln oder Dämonen in
Verbindung gebracht werden. Jeder Kleriker vom Kardinal abwärts wird ihre
Existenz leugnen.«
»Okay … und wobei genau brauchen Sie jetzt meine Hilfe?«
»Ich möchte dich um deine Erlaubnis bitten, diesen Engelsdetektor an
deinem Schutzengel auszuprobieren.«
Ich starrte Herrn Wagner an.
»Natürlich nur, falls Nathaniel nichts dagegen hat«, fügte Wagner hinzu
und sprach dabei in den leeren Raum. Nathaniel, der weit links von ihm am
Tisch lehnte, schüttelte mit einem mitleidigen Gesichtsausdruck den Kopf.
»Ich habe nichts dagegen«, sagte er gedehnt. »Aber es wird nicht
funktionieren.«
»Er, äh, ist einverstanden«, sagte ich zu Herrn Wagner. Das Gesicht
meines Lehrers erhellte sich.
»Wie schön! Dann lass es uns versuchen. Nathaniel soll sich bitte frei im
Raum bewegen und sich dann einen Platz suchen, an dem ich ihn nicht
erwarten würde.«
Nathaniel verdrehte abermals die Augen und rührte sich nicht vom Fleck.
Herr Wagner nahm vorsichtig die silberne Kugel aus der Schatulle und hielt
sie in seiner Handfläche. Dann begann er, sich langsam durch den Raum zu
bewegen, und hielt dabei seine Hand wie eine Wünschelrute vor sich
ausgestreckt.
Nathaniel beobachtete ihn mit einer Mischung aus Mitleid und
Belustigung, während der Lehrer sich um die eigene Achse drehte.
»Er zeigt nichts an«, murmelte er stirnrunzelnd. »Die Nadel dreht sich
noch immer im Kreis. Bist du sicher, dass Nathaniel hier ist?«
»Ganz sicher.«
Nathaniel blies die Backen auf und ließ die Luft langsam entweichen. »Ich
habe doch gesagt, es wird nicht funktionieren. Können wir jetzt gehen?«
»Hören Sie, ich komme zu spät zur nächsten Stunde«, sagte ich und
steuerte auf die Tür zu. »Tut mir leid, dass es nicht geklappt hat.«
»Was? Oh ja, natürlich … trotzdem danke«, sagte Herr Wagner abgelenkt
und untersuchte das silberne Gerät. »Zu dumm, irgendwie muss das Ding
doch zu reparieren sein …«
Ich schlüpfte aus dem Physiksaal, Nathaniel direkt hinter mir.
»Engelsdetektor!«, schnaufte ich draußen auf dem Gang. »Unglaublich,
dass Wagner tatsächlich an so einen Quatsch glaubt! Als ob man so etwas
erfinden könnte. Jetzt wird er bestimmt eine Ewigkeit damit verbringen, zu
versuchen, das Ding zu reparieren.«
»Zeitverschwendung«, stimmte Nathaniel zu. »Der Detektor ist völlig in
Ordnung.«
Ich blieb stehen. »Was? Aber du hast doch gesagt, dass er nicht
funktionieren würde, und das hat er auch nicht.«
Nathaniel spreizte seinen Flügel und zeigte auf die schwarzen Federn.
»Natürlich nicht. Weil es ein Engelsdetektor ist. Ich bin zur Hälfte ein Dämon.«
»Oh«, murmelte ich. »Verstehe.«
»Herr Wagner könnte mich nur dann aufspüren, wenn er einen Detektor
für dämonische Schutzengel erfinden sollte.«
Ich grinste. »Diese Wahrscheinlichkeit ist sehr gering. Der Arme wird sich
umsonst die Mühe machen, das Teil zu reparieren.«
»Du sagst ihm nicht, dass es in Ordnung ist«, sagte Nathaniel streng,
während wir auf das Treppenhaus zusteuerten.
»Ist das nicht gemein?«
Nathaniel hielt mich am Arm fest und drehte mich zu sich um. »Wenn es
sich in der Hölle herumspricht, dass Wagner einen intakten Engelsdetektor
besitzt, dann könnte er in ernste Schwierigkeiten geraten. Die
Asservatenkammer der Erzdiözese ist eine Festung, weiß der Teufel wie er es
geschafft hat, den Detektor zu entwenden. Jetzt ist er in seinem Besitz und
Wagner verfügt über keinerlei Schutz! Er ist nur so lange sicher, solange er
den Detektor für eine Fälschung hält.«
»Schon gut, ich verstehe«, murmelte ich. Bevor wir die Treppen
hinaufstiegen, bemerkte ich eine Bewegung hinter der Glastür, die hinter
dem Treppenaufgang lag. Es war ein Notausgang, der auf einen kaum
benutzten Teil des Schulgeländes führte und der von außen nicht einsehbar
war. Kurzerhand ging ich auf die Glastür zu und spähte hinaus. Ich musste
mich geirrt haben, das konnte nicht … doch ich hatte mich nicht geirrt. Der
weiße Mantel, den ich gesehen hatte, gehörte tatsächlich Ariana. Sie stand
draußen mit Katharina und Sarah, zusammengedrängt an der Mauer.
Und rauchte einen Joint.
Unschlüssig, was ich tun sollte, stand ich an der Tür, lange genug, dass
Katharina mich entdeckte. Ariana stieß einen unterdrückten Fluch aus,
machte hastig den Joint aus und die drei stürzten durch die Tür herein.
»Was hast du hier verloren, Winter?«, zischte Ariana wütend. »Du hast
nichts gesehen, kapiert? Gar nichts!«
Nathaniel knurrte und trat auf Ariana zu. Der aggressive Dämon, der jetzt
aus ihrer Brust hing, schlug wild mit den stumpfen Flügeln.
»Wollt ihr unbedingt von der Schule fliegen?«, fragte ich. »Hier einen Joint
zu rauchen, also ehrlich! Selbst dir hätte ich mehr Hirn zugetraut, Ariana.«
Über das Kreischen des nervösen Dämons konnte ich meine eigenen Worte
kaum verstehen. Ariana hörte ihn zwar nicht, kämpfte aber sichtlich darum,
nicht vor Nathaniels Ausstrahlung zurückzuweichen. »Ich sag’s nur noch ein
Mal, Winter, du hast nichts gesehen!«, fauchte sie. »Sonst mache ich dir das
Leben zur Hölle, kapiert?«
»Ihr seid echt armselig, wisst ihr das?« Ich schüttelte den Kopf, drehte
mich um und ließ die A-Liga stehen.
Die letzte Unterrichtsstunde verging wie im Flug, weil mir Anne während
Frau Gehners Geschichtsvortrag im Flüsterton alle Einzelheiten von Tom
erzählte. Ich hatte vorgehabt, ihr von Arianas Joint zu erzählen, aber Annes
glückseliger Redeschwall war endlos. Um meine unbefriedigende Reaktion
vom Morgen wettzumachen, lächelte und nickte ich an den richtigen Stellen
bestätigend, während Anne jedes Gespräch mit Tom Wort für Wort
nacherzählte. Sie plapperte noch immer begeistert vor sich hin, als wir nach
Schulschluss die Treppen hinunterstiegen und den Schulhof überquerten.
Chrissy und Mark folgten uns und schwiegen genervt.
Auf dem Parkplatz stand die A-Liga um den BMW von Arianas Freund
herum. Er selbst war ausgestiegen und lehnte mit einem selbstgefälligen
Grinsen an der Seite des Wagens. Als Ariana uns kommen sah, schmiegte sie
sich an den Typ und deutete auf mich.
»Angeblich auf der Uni, was? Ob sein Vater weiß, dass er Papas Kohle dafür
ausgibt, Schülerinnen aufzureißen?«, fragte Chrissy laut genug, dass alle auf
dem Parkplatz sie hören konnten.
Das Grinsen auf Lukas‘ Gesicht gefror zu einer Grimasse. Chrissy
schnaufte abfällig, doch ich begriff sofort, dass Lukas‘ Reaktion nichts mit
Chrissys Bemerkung zu tun hatte. Er starrte mich an.
Ariana musste ihm erzählt haben, dass ich sie mit dem Joint erwischt
hatte. Beunruhigt griff ich nach Nathaniels Hand. Die Flammen auf seiner
Haut kräuselten sich bedrohlich.
Dann begriff ich etwas, das mich noch mehr beunruhigte. Lukas starrte
nicht mich an; er starrte Nathaniel an. Er drehte den Kopf und blickte ihm
direkt in die Augen, als wir an der Gruppe vorbeigingen.
»Was für Idioten!«, sagte Chrissy, als wir uns an der Ausfahrt des
Parkplatzes verabschiedeten.
»Riesenidioten«, stimmte Mark zu.
»Er kann ihn sehen«, raunte ich Anne zu.
Sie blickte mich erst verständnislos an, dann weiteten sich ihre Augen, als
ihr klar wurde, was ich meinte.
»Komm schon, der Bus fährt sonst ohne uns.« Chrissy griff nach Annes
Arm und zog sie in Richtung Busstation. »Bis morgen!«
Anne ließ sich widerstrebend von Chrissy fortziehen. Ich wusste, dass sie
lieber auf der Stelle erfahren hätte, was hier los war.
Raus damit, dachte ich, während Nathaniel und ich zu meinem Wagen
gingen. Warum konnte er dich sehen?
»Er ist ein Erdengänger«, erwiderte Nathaniel. Die Flammen auf seinem
Körper knisterten unruhig.
Ich stutzte. »Was? Er war einmal ein Engel?«
»Nein.« Nathaniel öffnete die Wagentür für mich und wartete, bis ich
eingestiegen war. Dabei warf er einen prüfenden Blick zurück auf die A-Liga.
Lukas Kopf war uns noch immer zugewandt, sein Ausdruck beängstigend
berechnend. »Er war einmal ein Dämon.«
»Oh, verdammt«, murmelte ich. »Ariana ist mit ihm zusammen.«
Nathaniel sah nicht so aus, als würde ihn das sonderlich beunruhigen.
Ich biss mir auf die Lippen. »Ich weiß, sie ist nicht gerade meine beste
Freundin, aber ehrlich, verknallt in einen Dämon?«
Ein schiefes Grinsen huschte über Nathaniels Gesicht. »Kommt mir
bekannt vor.«
»Das ist doch etwas ganz anderes!« Ich beobachtete, wie Ariana und ihre
Freundinnen in Lukas‘ Wagen einstiegen und der BMW langsam vom
Parkplatz rollte. »Vielleicht steckt er auch hinter dieser Joint-Sache. Sollten
wir nicht irgendetwas unternehmen?«
»Er weiß, wer ich bin«, erwiderte Nathaniel grimmig. »Er wird nicht so
dumm sein, dir zu nahe zu kommen.«
»Davor fürchte ich mich ja auch nicht, ich mache mir Sorgen um Ariana.
Moment mal, was soll das heißen, ›er weiß, wer du bist‹?«
»Ich habe Pläne für heute Nachmittag. Wir sollten gleich losfahren, ich will
die Sache durchziehen, solange es noch hell ist.« Ohne meine Frage zu
beantworten, schloss er die Wagentür. Ich ließ das Fenster hinunter.
»Worum geht es? Was hast du vor?«
»Du wolltest mehr über Lazarus‘ Zeit als Dämon erfahren«, sagte
Nathaniel. »Nachdem Melinda nur über die Schriften der Engelschronisten
verfügt …«
»Hast du etwas herausgefunden?«, fragte ich überrascht.
»In der Hölle weiß niemand etwas über Lazarus. Oder, was viel
wahrscheinlicher ist, sie fürchten ihn alle zu sehr, um zu reden. Außerdem
sind Höllenwesen nicht bekannt dafür, zuverlässige Informationsquellen zu
sein.«
»Also?«
»Also müssen wir uns die Informationen bei jemand anderem besorgen.
Einem dämonischen Chronisten.«
Ich schnappte nach Luft. »Kennst du so jemanden?«
»Ich habe einen ausfindig gemacht. Es hat seine Vorteile, wenn man
plötzlich unter Luzifers Schutz steht.«
»Du stehst nicht unter Luzifers Schutz«, widersprach ich stirnrunzelnd.
»Ich weiß, dass es dir nicht gefällt«, sagte Nathaniel. »Aber bis ich mich für
eine Seite entscheide, ist es so. Luzifer will mich für seine Sache haben, also
ja, ich schätze, ich stehe unter seinem Schutz.«
»Du stehst unter dem Schutz der Erzengel«, sagte ich bestimmt.
Nathaniel nickte. »Das auch. Und zwar aus genau demselben Grund.«
Es war sinnlos, weiter mit ihm darüber zu diskutieren. »Und wo finden
wir diesen dämonischen Chronisten?«
Ein träges Schmunzeln erschien auf Nathaniels Lippen. »Raimundplatz 14.
Was hältst du eigentlich von Sportwetten, Victoria?«
»Jetzt ist mir klar, warum wir bei Tageslicht hierherfahren«, murmelte ich,
als wir unser Ziel am anderen Ende der Stadt erreicht hatten. Der
Raimundplatz war so ziemlich die mieseste, gefährlichste Gegend der Stadt
und ich fand die Vorstellung, hier einen dämonischen Chronisten zu treffen,
nicht gerade beruhigend. Ich verriegelte den Wagen und prüfte zweimal, ob
die Türen wirklich verschlossen waren. »Meinst du, mein Auto ist noch da,
wenn wir zurückkommen?«
Nathaniel, der neben mir gelandet war, warf einen prüfenden Blick die
Straße hinunter. Ich hatte zwei Querstraßen von der Adresse, die Nathaniel
mir genannt hatte, einen Parkplatz gefunden. Mein Mini-Cooper stand
zwischen einer Rostschüssel und einem schicken Sportwagen mit
Plüschinnenauskleidung, der vor einem Nachtclub parkte.
Die Gegend war sehr heruntergekommen. Die Hauswände waren mit
Graffitis beschmiert und Müll lag auf dem Gehsteig, rund um zerstörte
Abfalleimer. Viele Lokale standen leer und in den zerbrochenen
Fensterscheiben hingen Schilder mit der Aufschrift: ›Zu vermieten‹. In den
Hauseingängen standen Typen in Lederjacken und stark geschminkte Frauen,
die in Kunstpelze gewickelt an ihren Zigaretten zogen. Junge Männer
lungerten an den Straßenecken herum und starrten zu uns herüber, während
wir die Straße entlanggingen. Ich fragte mich, was sie in der Kälte auf der
Straße zu suchen hatten, doch dann sah ich die grässlichen Kreaturen, die aus
ihren Oberkörpern hingen. Ganz wie bei Ariana.
Ich beschleunigte meine Schritte. Eine zerlumpte Gestalt humpelte mir
entgegen. Der Mann stank nach Alkohol und Urin, und Nathaniel schob mich
an den Rand des Gehsteigs, so weit wie möglich von dem Penner fort. Ich
erhaschte einen Blick in eine Seitenstraße, wo ein paar Jugendliche mit
blassen, eingefallenen Gesichtern gerade etwas austauschten.
»Da vorn ist es«, sagte Nathaniel und zeigte auf ein Lokal mit blauer
Leuchtreklame. ›Kardinal Sportwetten‹ stand in großen Buchstaben über der
Straßenfront des Lokals. Die Fensterscheiben waren verdunkelt.
»Wie einladend«, murmelte ich leise. Trotzdem war ich froh, die Straße
und ihre unheimlichen Gestalten zu verlassen. »Wie lautet der Plan?«
»Du fragst nach Laszlo«, erwiderte Nathaniel und behielt die Männer im
Auge, die uns von der anderen Straßenseite her beobachteten. »Keine Angst,
ich bin bei dir.«
»Laszlo«, wiederholte ich leise und holte tief Luft. Dann drückte ich die Tür
des Lokals auf.
Zuerst traf mich eine Dunstwolke aus Alkohol und Zigarettenqualm. Ich
hustete und die Männer, die an der Bar saßen, drehten sich zu mir um. Die
niederen Dämonen in ihren Körpern streckten gierig ihre Arme nach mir aus.
Das Lokal war schmal und schlecht beleuchtet. Große Fernseher
übertrugen Pferderennen und Tabellen von Fußballspielen. Außer mir war
nur noch eine weitere Frau anwesend. Sie stand hinter dem Tresen, war um
die Fünfzig, trug ein zu enges Top, viel goldenen Schmuck und hatte fahle
Haut.
In den Nischen mit runden Tischen und Bänken saßen Männer, die in
gedämpften Stimmen miteinander sprachen. Ich wollte mir nicht einmal
vorstellen, um was für Geschäfte es dabei gehen mochte.
Was das Lokal jedoch am Abstoßendsten machte, waren die Inferni.
Verwesende, hagere Kreaturen mit hohlen, schwarzen Augen, die flüsternd in
den Ecken kauerten. Ihr süßlicher Gestank mischte sich mit dem
Zigarettenrauch und dem Geruch von Alkohol. Ich umklammerte Nathaniels
Arm.
Schwarze Flammen begannen auf seiner Haut zu züngeln, eine
unmissverständliche Warnung. Die Inferni in meiner Nähe zischten und
wichen zurück. Selbst die niederen Dämonen, die von den meisten Gästen
Besitz ergriffen hatten, wanden sich unbehaglich in ihren Wirten. Sie
drängten nicht mehr gierig in meine Richtung, sondern brachten die Männer
dazu, mir Platz zu machen.
»Frag sie nach Laszlo«, forderte mich Nathaniel mit ruhiger Stimme auf
und deutete auf die Kellnerin. Ich trat zögernd an die Theke. Die Kellnerin
warf mir einen gelangweilten Blick zu.
»Ich suche Laszlo«, sagte ich und schluckte.
Sie betrachtete mich abschätzig. »Hier gibt’s keinen Job für dich.«
»Deswegen bin ich nicht hier.«
Die Kellnerin stellte das Glas, das sie gerade gereinigt hatte, langsam zur
Seite. Mir fiel auf, dass sie eine der wenigen im Lokal war, der kein Dämon
aus dem Körper hing. »Du siehst nicht aus wie eins von Laszlos Mädchen. Wie
heißt du?«
»Er kennt mich nicht«, erwiderte ich unruhig. »Ist er da oder nicht?«
Sie wartete einen Moment und schien zu überlegen. Dann griff sie nach
dem Telefon und drehte sich von mir weg. »Da ist jemand für dich«, raunte
sie in den Hörer. »Keine Ahnung. Irgend so eine Kleine.« Er schien etwas zu
erwidern und sie legte auf. Dann winkte sie mich in den hinteren Teil des
Lokals.
»Danke«, murmelte ich und schob mich mit Nathaniel an den anderen
Gästen vorbei. Die Männer wichen zur Seite, doch ihre Blicke folgten mir. Es
kam mir so vor, als wären alle Augen plötzlich auf mich geheftet. Die Inferni
hatten sich in die hintersten Winkel zurückgezogen und die niederen
Dämonen zuckten unruhig in den Brustkörben der Männer. Sie glichen
einem Rudel nervöser Hyänen.
In der dunkelsten Ecke des Lokals stand ein Mann von einem Tisch auf, als
wir uns ihm näherten. Ich nahm an, dass er Laszlo sein musste; nicht nur,
weil er frei von Dämonen war, sondern weil sein Blick mit einer Mischung aus
Berechnung und Neugier zuerst auf mir lag, um dann unmissverständlich zu
Nathaniel rüberzuwandern.
»Ich hörte, ihr wollt zu mir«, sagte er und betrachtete Nathaniel mit
unverhohlener Neugier. »Mit wem habe ich das Vergnügen?«
»Victoria«, murmelte ich unbehaglich.
Laszlo war hager und schmal. Seine langen Haare, die er in einem
Pferdeschwanz zurückgebunden hatte, waren dunkelblond, und ein
ungepflegter Dreitagebart verbarg die Aknenarben auf seinen Wangen. Er bot
mir die Bank in der Nische an, von der er gerade aufgestanden war. »Wollt
ihr, du und dein dämonischer Begleiter, nicht Platz nehmen?«
Ich warf Nathaniel einen unsicheren Blick zu. Als er nickte, rutschte ich in
die Mitte der Nische. Nathaniel setzte sich neben mich und Laszlo nahm uns
gegenüber Platz. Er verschränkte die Hände auf dem Tisch und sah uns mit
schmalen Augen an.
»Wir brauchen Informationen«, sagte ich. »Wir haben gehört, Sie können
sie vielleicht beschaffen.«
»Was für Informationen?« Laszlos Ton war unverfänglich.
»Es geht um … einen Dämon«, sagte ich. »Wir wollen erfahren, was nach
seinem Fall geschehen ist. Können Sie uns seine Chronik beschaffen?«
»Ein gewöhnlicher Auftrag von einem ungewöhnlichen Kunden.« sagte
Laszlo mit einem Blick auf Nathaniel. »Dein Begleiter ist selbst ein Dämon.
Normalerweise nehmen nur Erdengänger meine Dienste in Anspruch.«
»Kannst du diese Informationen für uns beschaffen oder nicht?«, knurrte
Nathaniel.
Das ganze Lokal wurde still. Obwohl die Menschen Nathaniels Knurren
nicht hören konnten, schienen sie von der angsterfüllten Reaktion der
niederen Dämonen und Inferni beeinflusst zu werden.
»Natürlich«, erwiderte Laszlo hastig, dem die plötzliche, bedrohliche
Atmosphäre im Lokal offensichtlich nicht entgangen war. »Ich kann alles
beschaffen. Ich darf hinzufügen, dass es mir eine Ehre ist, für euch zu
arbeiten.«
Ich runzelte die Stirn. »Warum?«
Laszlo lachte. Ein kurzes, hohles Lachen, das seine kalten Augen nicht
erreichte. »Ihr seid berühmt. Jeder kennt euch. Seht euch nur um!«
Die Männer an den Tischen und an der Bar starrten uns unaufhörlich an,
ebenso wie die unruhigen Dämonen in ihren Körpern und die flüsternden
Inferni in den dunklen Winkeln. Nathaniel spürte meine Unsicherheit. Das
spielerische Züngeln der Flammen auf seiner Haut, das er wie eine
Drohgebärde einsetzte, verstärkte sich. Einige der Männer senkten ihre
Blicke und murmelten einander etwas zu.
»Immer mit der Ruhe!« Laszlo hob beschwichtigend die Hände. »Wir alle
hier sind eure Freunde. Kein Grund zur Aufregung«, sagte er mit einer
ausladenden Geste. »Meine Gäste haben selten die Ehre, einem Dämon zu
begegnen, der unserem Meister so nahesteht.«
Ich spürte einen Stich im Innern. War das die Wahrheit? War Luzifer der
Meinung, dass Nathaniel ihm nahestand? Die ehrfürchtige Reaktion der
niederen Dämonen und Inferni deutete jedenfalls unmissverständlich darauf
hin, dass alle hier das dachten.
»Sie alle wissen von deiner besonderen Stellung«, fuhr Laszlo fort und
seine Augen begannen zu glänzen. »Ein Dämon mit Zugang zur Welt der
Engel. Du bist bereits jetzt eine Legende, Nathaniel.«
Ein Schauer lief mir über den Rücken bei der Art, wie er seinen Namen
aussprach. Ich musste mich zusammenreißen, damit Laszlo nichts davon
bemerkte.
»Wie gesagt, es ist mir eine Ehre, euch meine Dienste anzubieten. Um
welchen Dämon geht es?«
»Sein Name ist Lazarus«, sagte ich.
Laszlo erstarrte. Dann erschien ein schmieriges Lächeln auf seinem
Gesicht und er lehnte sich abwehrend zurück. »Moment, Moment. Ihr habt
mir nicht gesagt, dass ihr die Chronik eines Dämons des Zirkels wollt.«
»Ich dachte, Sie können jede Chronik beschaffen«, erwiderte ich kalt.
»Die Chronik jedes gewöhnlichen Dämons«, korrigierte mich Laszlo. »Aber
eines Mitglieds von Luzifers Zirkel …« Sein Blick flackerte zu Nathaniel. »Du
wirst sicher verstehen, dass das weit über meine Befugnisse geht.« Er
schüttelte den Kopf. »Es geht mich ja nichts an, aber wenn es stimmt, was
sich erzählt wird, dann gehörst du bald selbst zum innersten Kreis. Es wäre
ein Leichtes für dich, dir die Informationen dann selbst zu beschaffen.«
»Es klingt fast so, als ob du mir zu sagen versuchst, was ich zu tun habe«,
knurrte Nathaniel. Mit seinen goldbraunen Augen fixierte er Laszlo, mit
einem so stechenden Blick, dass Laszlo die Augen niederschlug.
»Versteh doch«, murmelte der unbehaglich. »Ich komme in furchtbare
Schwierigkeiten, wenn ich die Chronik eines Zirkelmitglieds weitergebe.
Allein sie anzufordern, könnte mich den Kopf kosten!«
Da er über Dämonen sprach, zweifelte ich keinen Augenblick daran, dass er
es wörtlich meinte.
»Mir ist gleich, welchen Einschränkungen du normalerweise unterliegst«,
knurrte Nathaniel. »Ich will diese Chronik!«
Laszlo wand sich in seinem Sitz. »Du bringst mich in eine schreckliche
Lage.«
»Nein.« Nathaniels Stimme wurde gefährlich. »Das ist gar nichts. Du willst
nicht, dass ich dich in eine wirklich schreckliche Lage bringe.« Die Flammen
auf seinem Körper züngelten bei seinen Worten bedrohlich höher. Laszlo
zuckte zurück. Nathaniel erhob sich, streckte seine Hand nach mir aus und
zog mich an seine Seite.
»Ich erwarte die Unterlagen. Sonst wird mein nächster Besuch nicht so
freundschaftlich sein.«
Wir ließen Laszlo zurück und Nathaniel führte mich aus dem Lokal. Es war
ein sehr merkwürdiges Gefühl, dass die Männer alle vor uns zurückwichen,
als wir sie passierten. Die meisten von ihnen waren Typen, bei denen ich
normalerweise ohne zu zögern die Straßenseite gewechselt hätte.
Zurück auf der Straße atmete ich durch. Auch hier stoben die Inferni von
uns fort und verzogen sich flüsternd und zischend in dunkle Seitengassen.
Die Männer, die an der Straßenecke gelungert hatten, waren verschwunden.
Die Straße war plötzlich wie leer gefegt.
VERFLUCHT
Alexandra hastete den Korridor entlang. Sie hielt die Wäsche ihrer Herrin verkrampft
an ihre Brust gedrückt, und die Schritte ihrer bloßen Füße auf dem Steinboden
erklangen verräterisch laut. Ihr Blick flackerte über den verlassenen Innenhof auf ihrer
linken Seite und schoss dann wieder zurück zu den offenen Türen entlang des Korridors.
Ihr Magen krampfte sich zusammen. Hinter jeder dieser Türen konnte er stehen.
Sie hasste diesen Teil des Hauses, in dem sich die Schlafzimmer der Familie
befanden. Wenn die Familienmitglieder untertags ihren Geschäften nachgingen, hielt
sich hier niemand auf, nicht einmal andere Sklaven.
Hier war niemand, der ihre Schreie hören würde.
Ihr Herz hämmerte, während sie sich beeilte, den belebten Bereich des Hauses zu
erreichen. Dort fühlte sie sich sicher, obwohl ein Teil von ihr wusste, dass sie sich damit
nur etwas vormachte. Sie gab sich der Illusion hin, sich zwischen den anderen Sklaven
verstecken zu können, zwischen den Wachleuten, den Hauslehrern der Kinder und all
den Geschäftsleuten und Besuchern, die die Familie empfing. Alexandra wollte einfach
im Hintergrund verschwinden wie ein Geist, nur damit sie seiner Aufmerksamkeit
entging.
Eigentlich sollte Alexandra die privaten Gemächer der Familie gar nicht betreten.
Die Hausherrin hatte nämlich befohlen, dass Alexandra ihr nicht unter die Augen
treten sollte, und normalerweise wagte es niemand, der Ehefrau des Hausherrn zu
widersprechen. Nur aufgrund der Erkrankung der Haushälterin war Alexandra an
diesem Tag in den Schlafbereich der Familie geschickt worden.
Doch es war nicht die Hausherrin, die Alexandra fürchtete, während sie den
Korridor entlangeilte. Im Gegenteil, wenn sie ihre Arbeiten in den anderen Teilen des
Gebäudes verrichtete, war es ihr recht, wenn die Ehefrau des Hausherrn zugegen war.
Denn sie war die Einzige, in deren Gegenwart Alexandra in Sicherheit war.
Beinahe die Einzige, rief sich Alexandra mit einem leisen Hoffnungsschimmer in
Erinnerung. Der Hausherr würde es nicht wagen, im Beisein seiner eifersüchtigen
Gemahlin Hand an eine Sklavin zu legen.
Gleich hatte sie den öffentlichen Teil des Hauses erreicht. Sie musste nur noch an
einem Raum vorbei, seinem Schlafzimmer. Alexandra beschleunigte ihre Schritte.
»Bleib stehen.«
Sie erkannte die kalte, überlegene Stimme. Sie schloss die Augen und ihre Finger
krampften sich um die Stoffballen in ihren Armen.
»Dreh dich um.«
Ganz langsam, ohne ihn anzusehen, gehorchte Alexandra. Ihr Herz hämmerte
gegen ihre Brust und ihr Blick schoss Hilfe suchend über den Korridor.
Da war niemand. Niemand würde ihr zu Hilfe kommen.
»Komm herein.« Largius Macedos Ton duldete keinen Widerspruch. Alexandra
zwang sich, einen Fuß vor den anderen zu setzen, und betrat das Schlafzimmer.
Largius Macedo war doppelt so alt wie sie. Seine Toga spannte sich über seinen fetten
Bauch, während er sie zu sich heranwinkte. Sein Gesicht war gerötet und glänzte,
ebenso wie seine Halbglatze. In seinen winzigen Augen lag unverhohlene Begierde.
Alexandra kannte diesen Blick. Seit sie vor drei Wochen in Macedos Haus
gekommen war, hatte er sie mit diesem hungrigen Ausdruck in den Augen angesehen.
In der Zwischenzeit waren noch zwei weitere Sklaven zur Dienerschaft hinzugefügt
worden und Alexandra hatte von der Haushälterin erfahren, dass Claudia, Macedos
Ehefrau, dafür sorgte, dass die Dienerschaft regelmäßig aufgestockt werden musste.
Claudia Macedo war dafür gefürchtet, dass sie ihre Sklaven oft aus einer Laune heraus
verkaufte – oder auf andere Art verschwinden ließ.
Die Herrin entstammte einer sehr reichen und einflussreichen Familie und Largius
Macedo war durch die Heirat mit ihr gesellschaftlich aufgestiegen. Er selbst war ein
erfolgreicher Geschäftsmann, doch es waren vor allem Claudias Geld und ihre soziale
Stellung, die ihnen das luxuriöse Leben ermöglichten, das sie führten. Aus diesem
Grund hütete Macedo sich davor, seine Frau zu verärgern, denn er wusste, dass sie ihn
genauso schnell zu Fall bringen konnte, wie sie ihn durch ihre Eheschließung
emporgehoben hatte. Außerdem war Claudia rachsüchtig und setzte ihren Willen oft
auf gnadenlose Art durch, wie die Haushälterin Alexandra hinter vorgehaltener Hand
anvertraut hatte, als sie zum ersten Mal voller Entsetzen den Pranger im Hinterhof
gesehen hatte. Claudias Grausamkeit wurde nur noch von dem sadistischen Aufseher
Barates übertroffen, der bereitwillig jede Strafe ausführte, die sich die Hausherrin für
ihre Sklaven ausdachte.
Es war ein offenes Geheimnis, dass Largius Macedo seine jungen Sklavinnen in sein
Bett holte. Alexandra hatte das nicht erst von der Haushälterin erfahren müssen, sie
hatte Macedos Absichten in seinen Augen erkannt, als er sie das erste Mal angeblickt
hatte. Es war dasselbe lüsterne Verlangen gewesen, das auch jetzt aus seiner Miene
sprach. Sein Blick auf ihrem Körper verursachte Alexandra Übelkeit. Sie trug ein
schlichtes Kleid aus grobem Stoff und hielt die Wäsche wie einen Schild vor ihre Brust
gedrückt, während Macedo sich ihr näherte.
»Warum so schüchtern?« Seinem Mund entwich ein Schmatzen, als er den Speichel
zurückzog. Er streckte seinen Arm nach ihr aus.
Alexandra wich aus seiner Reichweite zurück. »Eure Gemahlin wird böse werden,
Herr, wenn ich ihre Wäsche nicht rechtzeitig fertig habe«, sagte sie, ohne das Zittern in
ihrer Stimme verbergen zu können. Alles an Macedos aufgedunsenem Körper gab ihr
deutlich zu verstehen, dass sie diesen Raum nicht verlassen würde, ehe Macedo
bekommen hatte, was er wollte. Alexandra presste die Lippen aufeinander, um ein
Würgen zu unterdrücken.
»Meine Gemahlin kehrt nicht vor dem Abend zurück«, erwiderte Macedo mit
schmeichelnder Stimme. »Wir haben endlich Zeit für uns allein.«
Alexandra begriff, dass Macedo auf seine eigene, widerliche Art um sie zu werben
schien. Nur, dass er ihre Reaktion auf seine Annäherung schon für sie entschieden
hatte. Dachte er wirklich, dass sie ihn begehrenswert fand? Mit aller Kraft kämpfte
Alexandra ihre Übelkeit nieder.
»Bitte, Herr«, flehte sie. »Eure Gemahlin …«
»Ist nicht hier«, unterbrach er sie, jetzt mit mehr Ungeduld in der Stimme. »Nun
zier dich nicht! Ich weiß, dass du schon seit Wochen darauf wartest, dass ich dir ein
wenig Aufmerksamkeit schenke.« Er griff nach ihr und Alexandra wich verzweifelt
zurück. Bevor sie wusste, was sie tat, schlug sie seine Hand von ihrem Körper fort,
stolperte ein paar Schritte rückwärts und stieß mit dem Rücken gegen die Wand.
Macedo erstarrte, überrumpelt von der unerwarteten Zurückweisung. Seine Augen
verengten sich und er bewegte sich schwerfällig auf Alexandra zu. »Du wagst es, mir zu
widersprechen?«, fuhr er sie an. »Du wirst tun, was ich sage, du undankbare …« Er
erhob die Hand gegen sie und Alexandra zuckte in Erwartung seines Schlages
zusammen, als sie plötzlich aus dem Augenwinkel ein goldenes Schimmern wahrnahm.
Ohne erkennbare Ursache begann die steinerne Säule neben ihr zu schwanken. Macedo
drehte den Kopf und beobachtete ungläubig, wie die schwere Säule immer stärker
schwankte und schließlich kippte, gemeinsam mit der riesigen Vase, die darauf stand.
Im letzten Moment konnte der Hausherr sich zur Seite werfen, bevor die Säule auf ihn
niederstürzte. Unter ohrenbetäubendem Lärm brach der Stein in zwei Teile und die
Vase zerbarst auf dem Fliesenboden. Macedo fluchte.
Alexandra wusste, dass sie keine zweite Chance bekommen würde. Sie schlüpfte aus
dem Raum und rannte den Korridor entlang in Richtung des Wohnbereichs. Sie hielt
die Wäsche noch immer umklammert, zitterte am ganzen Körper und ihr Herz schlug
bis zum Hals.
»Danke«, hauchte sie kaum hörbar. In ihrem Innern hielt sie das Bild des goldenen
Schimmers fest, weil sie ahnte, dass sie ihm ihre wundersame Rettung zu verdanken
hatte.
Nathaniel griff nach den Schriften und zog sie von meinem Schoß.
»Vorsicht«, murmelte ich und stand hastig vom Sofa auf, um das brüchige
Papier von Lazarus' Chronik zu stützen. Dabei flatterte ein anderer Stoß
Blätter zu Boden und die computergetippten Seiten verteilten sich über den
Teppich meines Schlafzimmers. »Melinda bringt mich um, wenn auch nur
eine einzige Seite reißt!«
»Beruhige dich.« Nathaniel schmunzelte und hielt die Chronik sicher in
seiner Hand. »Schließlich habe ich das hier schon einmal durchgearbeitet,
erinnerst du dich? Und du hast es tatsächlich in einem Stück
zurückbekommen, ohne Kaffeeflecken oder Eselsohren.« Er grinste.
Ich grummelte und kniete mich auf den Teppich, um die getippten Seiten
einzusammeln.
»Nicht, dass ich mir nicht liebend gern die Nächte für dich um die Ohren
schlage, mein Herz«, sagte Nathaniel und schnappte sich ebenfalls ein paar
Blätter, die zu seinen Füßen lagen, »aber möchtest du mir verraten, warum
ich Wochen damit verbracht habe, diese uralte Chronik für dich zu
übersetzen, wenn du offensichtlich doch lieber das Original liest?«
Ich erhob mich seufzend, griff nach den Seiten, die Nathaniel mir reichte,
und fügte zu sie meinem Stapel hinzu. »Ich lese das Original nicht. Das ist
alles auf Latein und ich verstehe kein Wort davon. Was ich lese, ist das hier.«
Ich wedelte mit den Seiten in meiner Hand, Nathaniels Übersetzung. »Es ist
nur so, dass diese alte Schrift … ich weiß auch nicht, sie fasziniert mich
einfach.«
»Kaum zu übersehen.« Nathaniel runzelte die Stirn. »Ich kann noch immer
nicht glauben, dass Melinda Lazarus' Chronik tatsächlich rausgerückt hat. Du
hast ihr zwar deswegen ein Loch in den Bauch geredet, trotzdem hätte ich
nicht damit gerechnet, dass sie es wirklich tun würde.«
Ich zuckte mit den Schultern. »Lazarus ist tot, also was soll's? Wer
interessiert sich noch für die Chronik eines gefallenen Schutzengels, der als
Dämon vernichtet worden ist?«
»Du, offenbar.« Nathaniel tippte mir auf die Nase und gab mir die
brüchige Chronik zurück.
»Danke für die Übersetzung.« Ich biss mir auf die Lippe. »Und dafür, dass
du dich wochenlang durch zweitausend Jahre altes Latein gewühlt hast.«
»Du kannst mich um alles bitten, das weißt du«, flüsterte er und drückte
einen Kuss auf meine Stirn. Obwohl er es zu verbergen versuchte, spürte ich
die Anspannung in seinem Körper.
»Geht's dir besser?«, fragte ich leise.
»Es geht mir gut.«
»Das ist nicht wahr. Meinst du, mir fällt nicht auf, dass etwas nicht
stimmt?«
Er strich sanft über meinen Arm. »Kein Grund, dir Sorgen zu machen. Ich
bin in Ordnung.«
»Ich mache mir aber Sorgen. Du bist schon seit Tagen so unruhig, das
spüre ich doch ganz deutlich. Und glaub nicht, dass du mich täuschen kannst,
indem du dein Feuer unter Kontrolle hältst. Ich brauche keine Flammen auf
deinem Körper zu sehen, um zu merken, dass dir etwas zu schaffen macht.«
Es hatte vor ein paar Tagen angefangen. Zuerst hatte ich gedacht, dass
Dämonen oder Inferni in unserer Nähe gewesen waren, denn Nathaniels
Schutzengelfeuer war immer wieder aufgelodert. Doch es hatte keine
unmittelbare Bedrohung gegeben und trotzdem war Nathaniel ständig
angespannt und nervös gewesen.
Er lächelte gequält. »Manchmal denke ich, du kennst mich zu gut, mein
Herz. Aber ich bin derjenige, der dich beschützen sollte. Mach dir keine
Gedanken um mich.«
»Du wirst doch nicht krank?« Ich legte meine Hand auf seine Stirn. »Du
bist noch nicht lange ein Erdengänger, wahrscheinlich weißt du gar nicht, wie
sich Kranksein anfühlt. Engel und Dämonen werden nie krank, oder?« Er
schüttelte den Kopf. Ich schürzte die Lippen. »Fieber hast du jedenfalls
nicht.«
»Vielleicht bin ich einfach nur ein wenig müde. Ich habe in den letzten
paar Wochen wenig geschlafen.«
Ich bekam ein schlechtes Gewissen. »Die Übersetzung der Chronik hätte
doch noch etwas warten können.«
»Das habe ich gern für dich getan.« Dann lachte er leise. »Obwohl ich die
Nächte lieber mit dir verbracht hätte.«
Ich stellte mich auf die Zehenspitzen und küsste ihn.
»Mhh … verlockend«, murmelte er, doch dann schob er mich seufzend ein
Stückchen von sich fort. »Aber ich fürchte, wir müssen los. Der Unterricht
beginnt in einer halben Stunde.«
Ich schmiegte mich an ihn. Er protestierte halbherzig, doch gleichzeitig
schlang er seine Arme um mich und zog mich zärtlich an seinen Körper. Ich
fühlte, wie mein Atem an seinem Hals ihm einen Schauer über die Haut jagte.
Seine schwarzen Flammen begannen zu knistern.
»Hör auf«, murmelte er, doch seine Fingerspitzen strichen dabei über
meinen Rücken. »Sonst vergesse ich, dass ich so etwas wie
Selbstbeherrschung besitzen sollte.«
Die Papiere mit Nathaniels Übersetzung flatterten wieder zu Boden, als
seine Flammen höher schlugen und das goldene Feuer in seinen Augen keinen
Zweifel daran ließ, dass er schon nicht mehr beabsichtigte, mich irgendwohin
gehen zu lassen.
»Lass uns den Ferienbeginn vorziehen«, flüsterte ich atemlos. »Es ist
ohnehin der letzte Schultag.«
Anstelle einer Antwort beugte sich Nathaniel zu mir, um mich zu küssen.
Doch in diesem Augenblick ertönte aus dem Nichts eine barsche Stimme
direkt neben uns.
»Das könnt ihr vergessen, klar? Los, ab in die Schule, macht schon!«
Wir fuhren auseinander. Ramiel war neben uns aufgetaucht, stand
breitbeinig und mit verschränkten Armen da und starrte uns verärgert an.
Sein bronzener Schimmer flackerte ungeduldig und ließ meinen
Verstandesengel noch attraktiver aussehen. Ganz objektiv betrachtet war
Ramiel ein äußerst gut aussehender Kerl, aber ich hatte nur Augen für
Nathaniel.
»Verdammt, Ra!«, fauchte Nathaniel. »Schon mal was von Privatsphäre
gehört? Was ist dein Problem?«
»Mein Problem? Schon mal was von Schulpflicht gehört? Der berühmte
Erdengänger Nathaniel Van den Berg hat das vielleicht nicht nötig, aber
Victoria schon, kapiert?«
Nathaniel schnaufte abfällig. »Und was bitte habe ich während der letzten
Monate gemacht? Mit Victoria die Schulbank gedrückt, falls es dir entgangen
sein sollte!«
Ich schnappte meine Schultasche, grinste Ramiel wissend an und zog
meinen aufgebrachten Schutzengel hinter mir her aus dem Zimmer. »Komm
schon, Nathaniel. Er will doch nur Palomela vor den Ferien noch mal sehen.«
Ramiel hielt verdutzt inne, während Nathaniel sich von mir fortziehen
ließ.
»Übrigens«, sagte ich über die Schulter zu Ramiel, »ich bin achtzehn und
Nathaniel ist neunzehn, also zieht das Schulpflicht-Argument nicht, tut mir
leid. Was ist jetzt, kommst du mit oder nicht?«
Kurze Zeit später fuhren wir mit Nathaniels Jeep auf den Schulparkplatz.
Kaum waren wir ausgestiegen, sprang mir meine beste Freundin Anne
freudestrahlend entgegen. Ramiels Ärger war wie weggeblasen, er lächelte
charmant und begann ein wenig abseits eine Unterhaltung mit seiner
unsichtbaren Gesprächspartnerin – Palomela, Annes Schutzengel.
»Warum bist du denn so gut drauf?«, fragte ich Anne, die von einem Ohr
zum anderen grinste.
»Oh, das Wetter ist herrlich und es ist der letzte Schultag vor den
Osterferien«, sagte sie im Plauderton, um mich auf die Folter zu spannen.
Ihre Augen funkelten und ich hatte das Gefühl, dass sie fast platzte, weil sie es
nicht erwarten konnte, mir ihre Neuigkeiten mitzuteilen. »Und außerdem
fahre ich morgen mit Toms Familie auf Skiurlaub!«
»Wir fahren alle gemeinsam«, sagte Chrissy, Toms Schwester, die hinter
Anne zu uns herübergeschlendert kam. Sie war mit Mark zusammen, Toms
bestem Freund, der seinen Arm um ihre Schultern legte.
»Klingt gut«, sagte ich und grinste Anne an. »Wann habt ihr das denn
entschieden?«
»Ich habe erst heute Morgen erfahren, dass ich mitfahren kann«, sprudelte
Anne hervor. »Meine Oma war sich erst nicht sicher, weil es doch so teuer ist,
sie wusste nicht, ob wir es uns leisten …« Sie verstummte und wurde rot.
»Meine Eltern mieten eine große Ferienwohnung in Salzburg«, lenkte
Chrissy ab. »Wir fahren jedes Jahr dorthin, und wenn Mark und Anne
mitkommen, wird's bestimmt viel lustiger als sonst.«
»Bestimmt.« Mark verdrehte die Augen. »Vor allem, wenn ich auf dem
Hintern den Hang runterrutsche, während du und Tom die Piste
hinunterwedelt!«
Chrissy winkte ab, doch Annes Gesicht wurde lang. »Kann Tom so gut Ski
fahren? Ich kann's nämlich nicht. Bis auf den Schulskikurs vor vier Jahren
habe ich nie Skiurlaub gemacht«, erklärte sie missmutig.
»Keine Sorge«, sagte Chrissy aufmunternd. »Tom, äh, fährt gar nicht so
gut Ski, weißt du.«
»Weil er nämlich Snowboard fährt«, warf Mark ein. »Er ist ein Ass.«
Chrissy trat ihm auf den Fuß und Anne wurde blass. Mark lachte und
klopfte Anne auf die Schulter. »Mach dir nichts draus, du und ich, wir werden
dafür beim Après-Ski unschlagbar sein!«
Wir alle lachten – außer Chrissy, die die Lippen aufeinanderpresste und
ihren Freund böse anstarrte.
»Was ist mit euch? Pläne für die Osterferien?«, fragte Anne und hängte
sich bei mir ein, während wir den Parkplatz überquerten und auf das
Schulhaus zugingen. Die anderen fielen hinter uns ein paar Schritte zurück,
während Chrissy Nathaniel über St. Moritz ausfragte, wo die Van den Bergs
ein Ferienhaus besaßen. Amüsiert hörte ich, wie Nathaniel, der in seinem
gerade mal viermonatigen Erdengängerdasein niemals auf Skiern gestanden
hatte, freimütig von dem Schweizer Nobel-Skiort, den Pistenverhältnissen
und von Familienurlauben erzählte, die er dort als Kind angeblich verbracht
hatte. An mir nagte das schlechte Gewissen, meine Freunde anzulügen, doch
es war schlicht und einfach notwendig, um Nathaniels Identität zu schützen.
Alle hielten ihn für den Sohn von Sophie und Marcellus Van den Berg, einem
milliardenschweren Medientycoon. Nur ein paar Eingeweihte wussten, dass
er mein gefallener Schutzengel war, der aus der Hölle zurückgekehrt war und
jetzt an meiner Seite als Erdengänger lebte. Auf unserer Verlobungsparty im
vergangenen November hatten meine Freunde die Van den Bergs
kennengelernt und keiner hatte mitbekommen, dass ich von dem Dämon
Lazarus entführt und beinahe umgebracht worden wäre, wenn Nathaniel
mich nicht gerettet und Lazarus vernichtet hätte. Anne war die Einzige unter
meinen Freunden, die von Nathaniels wahrer Identität wusste, und ihr hatte
ich auch von der Entführung und Lazarus' Vernichtung erzählt. Ich vertraute
ihr, dass sie dieses gefährliche Wissen für sich behalten und unter keinen
Umständen ausplaudern würde.
»Vic?« Anne stieß mich sanft in die Seite. »Was habt ihr in den Osterferien
vor?«
»Ähm … nichts Besonderes.« Ich riss meine Aufmerksamkeit von dem
Gespräch zwischen Chrissy und Nathaniel los. »Eigentlich gar nichts.
Marcellus und Sophie fahren nach Italien, um dort irgendeinen Freund von
Marcellus zu treffen, also wird es wohl eine ruhige Woche für uns werden.«
Ich senkte die Stimme. »Nathaniel hat Lazarus' Chronik endlich fertig
übersetzt. Ich habe heute Morgen begonnen, sie zu lesen und konnte sie kaum
aus der Hand legen.«
»Und? Was steht drin?«, flüsterte Anne gespannt.
»Es ist die Geschichte von Alexandra und Lazarus«, erwiderte ich leise,
»bevor Lazarus gefallen ist, als er noch Alexandras Schutzengel gewesen ist.«
Anne machte große Augen. »Lazarus ist sehr alt gewesen, als Nathaniel ihn
vernichtet hat, oder nicht?«
»Über zweitausend Jahre«, bestätigte ich. »Die meiste Zeit davon hat er als
Dämon für Luzifer gearbeitet, aber ursprünglich ist er einmal ein
Schutzengel gewesen.«
»Hier in Wien?«
»Nein, in Brescia, in Norditalien. Das ist damals eine römische Kolonie
gewesen.«
»Lazarus war Italiener?«
Ich schmunzelte. »Na, zumindest war Alexandra eine römische Sklavin.
Und die ganze Chronik ist auf Latein, ich wäre aufgeschmissen gewesen,
wenn Nathaniel sie nicht für mich übersetzt hätte.«
»Hat Alexandra Lazarus erkannt?«
»So weit bin ich noch nicht. Sie hat wohl geahnt, dass da etwas war, aber
ich glaube, sie hat zu diesem Zeitpunkt noch nicht gewusst, dass sie die Nähe
ihres Schutzengels gespürt hat.«
Anne schüttelte den Kopf. »Wie kann jemand nur so böse werden wie
Lazarus? All die schrecklichen Dinge, die er euch angetan hat …«
»Eben darum fasziniert mich die Chronik ja so. Ich will wissen, wie
Lazarus war, bevor er zu diesem Monster wurde. In der Nacht, als Lazarus
mich entführt hat … du warst nicht dabei, Anne, du hast nicht gesehen, wie er
sich verändert hat, als Nathaniel Alexandra aus der Hölle geholt hat. Es war
einfach so … so traurig, dass ich ihn nicht mehr hassen konnte, nicht einmal
nach all dem, was er uns angetan hat. Ich glaube, Nathaniel versteht nicht,
warum mir so viel daran liegt, Lazarus' Engelschronik zu lesen.«
Anne lächelte. »Trotzdem hat er sie für dich übersetzt.« Sie schwieg einige
Augenblicke. »Ich glaube, ich weiß, warum dich diese Geschichte nicht
loslässt. Und ich kann auch Nathaniels Reaktion verstehen.« Ihr
Gesichtsausdruck wurde sehr ernst. »Nach allem, was du mir erzählt hast,
sind eure Schicksale einander ähnlicher, als Nathaniel es wohl wahrhaben
möchte. Ich glaube, er will nicht darüber nachdenken, wie knapp ihr zwei am
gleichen Schicksal vorbeigeschrammt seid. Und zwar mehrfach«, fügte sie
hinzu. »Du fühlst dich Lazarus und Alexandra dadurch verbunden. Das nennt
man Mitgefühl.«
»Danke, Dr. Anne Freud«, murmelte ich. »Vielleicht solltest du nach dem
Schulabschluss Psychologie studieren.«
Anne legte den Kopf schief und überlegte. Ich hielt den anderen die Tür
zum Schulgebäude auf.
»Was habt ihr denn zu flüstern?«, wollte Chrissy wissen. »Worum geht's?«
»Annes Berufswahl.« Ich grinste und wir gingen gemeinsam die Treppen
hinauf.
»Profi-Skiläuferin werde ich schon mal nicht.« Anne stapfte ein wenig
missmutig vor mir her. »Davon könnt ihr euch ab morgen selbst
überzeugen.«
Während Mark und Chrissy Anne mit ein paar Scherzen aufmunterten,
warf ich einen Blick in Nathaniels Gesicht. Er hatte mein Gespräch mit Anne
in meinen Gedanken verfolgt und eine undurchschaubare Miene aufgesetzt.
Ist es wahr?, dachte ich. Ziehst du dich deshalb zurück, weil dir Lazarus' und
Alexandras Geschichte zu nahegeht?
Nathaniels Finger schlossen sich um meine Hand. Er zog sie an seine
Lippen und hauchte einen Kuss auf meine Fingerknöchel.
»Ich ziehe mich nicht zurück«, sagte er leise. »Ich kenne Lazarus'
Geschichte.« Ein Schatten legte sich über seine goldbraunen Augen. »Ich habe
dich so viele Male beinahe verloren … seinetwegen.« Der Schmerz in seiner
Stimme schnürte mir die Kehle zu.
Ich verstehe. Du kannst ihm nicht vergeben.
Nathaniel schüttelte den Kopf. »Niemals. Er hat so viele schreckliche Dinge
getan, die unentschuldbar sind.« Ein bitteres Lächeln huschte über seine
Lippen. »Doch andererseits weiß ich nicht, wozu ich fähig gewesen wäre,
wenn ich an Lazarus' Stelle gewesen wäre und Luzifer dich in seiner Gewalt
gehabt hätte.«
Als wir nach der letzten Stunde gemeinsam auf dem Parkplatz standen,
diskutierten Chrissy und Mark heftig über Marks Vorstellung einer AprèsSki-Party.
»Mann, das wird super«, sagte Mark. »Wir starten nach der letzten Abfahrt
gleich mit der ersten Runde. Ach was, den ersten Jägermeister gibt's schon
oben auf der Skihütte! Dann laden wir die Skier daheim ab und ab geht's auf
die Party-Piste. Wie ist denn die Hausbar deiner Eltern bestückt? Sollen wir
ein paar Flaschen Wodka mitnehmen? Dann können wir schon vorglühen.«
Chrissy wurde wütend. »Wir werden uns nicht im Skiurlaub mit meinen
Eltern betrinken! Ich dachte, wir wollten alle gemeinsam Spaß haben, aber
wenn es dir nur darum geht, dich volllaufen zu lassen, dann bleib doch
daheim.«
»Du klingst wie meine Mutter! Wozu fährt man denn sonst auf Skiurlaub?
Doch bestimmt nicht nur zum Skifahren.«
Anne und ich blickten betreten zu Boden, während Chrissy Mark ärgerlich
klarmachte, wohin er sich seine Saufpläne stecken konnte. Nathaniel
versteifte sich neben mir, seine Hände zu Fäusten geballt.
Alles in Ordnung?
Er reagierte nicht, doch seine Kiefermuskeln arbeiteten. Ich ergriff seine
Hand und öffnete seine Faust. Er atmete heftig.
Chrissy und Mark waren in ihren Streit vertieft. Nur Anne bemerkte, dass
etwas nicht stimmte. Ein besorgter Ausdruck erschien auf ihrem Gesicht und
ich schüttelte kaum merklich den Kopf.
Und dann sah ich es.
Es war ein durchscheinendes Schimmern direkt neben Nathaniel, als
würde sich etwas in einer Fensterscheibe spiegeln. Ich nahm es nur aus dem
Augenwinkel wahr und als ich den Kopf wandte, war der dunkle Schimmer
verschwunden. Langsam beruhigte sich Nathaniel wieder. Irritiert blickte ich
mich um, doch ich konnte nichts Ungewöhnliches mehr entdecken.
»Wir, äh, sehen uns dann morgen«, sagte Anne zu Chrissy, die Mark mit
verschränkten Armen anstarrte, während er sie ignorierte. »Bist du sicher,
dass Mark und du mit dem Zug fahren wollt? Wir können auch tauschen,
dann nehmen eben Tom und ich eure Tickets und ihr fahrt mit euren Eltern.«
»Nein«, fauchte Chrissy. »Wenn ich mit dem da stundenlang in einem
Auto eingesperrt bin, könnte es sein, dass ich ihn erwürge.«
»Äh, okay, dann komme ich morgen so gegen acht Uhr zu euch.« Anne
bemühte sich um ein Lächeln.
Ohne einander anzusehen, machten sich Mark und Chrissy auf den Weg
zur Busstation, während Anne mit uns zum Wagen ging.
»Seit wann ist Mark so versessen auf Alkohol?«, fragte ich.
Anne verzog vielsagend das Gesicht. »Schon immer.«
»Echt? Habe ich gar nicht gewusst.«
»Ich auch nicht. Tom hat's mir erzählt. Mark hat es ganz gut im Griff
gehabt im letzten Jahr, aber vor ein paar Wochen ist es wieder schlimmer
geworden. Er hängt jetzt wieder mit seiner alten Clique rum, sagt Tom, und
die Typen sind bloß ein Haufen von Alkoholikern.«
»Was will Mark mit diesen Losern?«
Anne zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Vielleicht ist ihm
langweilig, weil Chrissy so viel Zeit beim Training verbringt.«
»Deswegen trinkt er?«
»Tom versucht, ihn davon wegzubringen, bevor er wieder abrutscht. Als
Mark noch bei Tom auf der Schule gewesen ist, war's ganz schlimm.«
Langsam kam mir ein Verdacht. »Sag mal, warum genau hat Mark damals
eigentlich die Schule gewechselt?«
Anne presste die Lippen zusammen. »Ich hab Tom versprochen, es nicht zu
verraten. Er ist Marks bester Freund und wenn er rauskriegt, dass ich was
ausgeplaudert habe, bringt er mich um.«
»Ich kann es mir jetzt ohnehin denken«, murmelte ich.
»Diese ganze Skiurlaub-Aktion haben wir nur deshalb aufgezogen, um
Mark für eine Woche von seinen sogenannten Freunden wegzulocken. Darum
ist Chrissy auch so böse geworden, als er eben vom Après-Ski geschwärmt
hat.«
»Verstehe.« Ich kaute auf meiner Unterlippe herum. Diese Neuigkeiten
über Mark musste ich erst mal verdauen. »Was können wir tun?«
»Du hast ja seine Reaktion gesehen, als Chrissy versucht hat, es ihm
auszureden. Dasselbe passiert, wenn Tom mit ihm redet. Mark tut immer so,
als würden wir ihm den Spaß verderben wollen.« Anne zuckte mit den
Schultern. »Wir feiern alle gern, aber bei Mark ist das was anderes. Wenn er
noch ein einziges Mal betrunken zum Unterricht kommt, dann fliegt er auch
von unserer Schule, und Tom macht sich Sorgen, dass er dann komplett
abrutscht.«
Ich blieb abrupt stehen. »Wann ist Mark denn betrunken zum Unterricht
gekommen?«
»Das ist nicht an unserer Schule passiert«, sagte Anne. »Noch nicht.«
»Wir dürfen nicht zulassen, dass er so kurz vor dem Abi von der Schule
fliegt.«
»Soll ich mal mit ihm reden?«, bot Nathaniel an.
Annes Gesicht hellte sich auf. »Das würde vielleicht helfen.«
Wir stiegen in Nathaniels Jeep und fuhren los.
»Meine Oma freut sich schon die ganze Woche darauf, dass ihr zum Kaffee
kommt«, sagte Anne von der Rückbank. »Seit sie Nathaniel auf eurer
Verlobungsfeier zum ersten Mal getroffen hat, ist sie ganz neugierig darauf,
ihn kennenzulernen. Und weil Adalbert ständig von euch beiden erzählt.«
»Was erzählt Adalbert denn über uns?«, fragte Nathaniel in beiläufigem
Ton.
»Nichts Besonderes«, winkte Anne ab. »Außerdem weiß meine Oma
sowieso nichts von Adalberts und Nathaniels Geheimnis.«
Adalbert war früher ebenfalls ein Engel gewesen und lebte jetzt ein Leben
als Erdengänger. Auf unserer Verbindungsfeier hatte er Annes Oma
kennengelernt, worauf sich eine Romanze zwischen den beiden entwickelt
hatte. Seither war der mürrische alte Mann wie ausgewechselt.
Anne wohnte im Haus ihrer Großmutter in einer Kleingartensiedlung am
Stadtrand. Wir parkten direkt vor der Tür und durchquerten den Vorgarten,
in dem ein Dutzend Gartenzwerge in wilden Erdbeersträuchern saßen. Das
Haus war klein und verwinkelt, mit einer bunt gestrichenen Front und
Geranien in den Blumenkästen vor den Fenstern. Annes Oma hatte das
Küchenfenster offen gelassen und daraus strömte der Duft von frischem
Apfelstrudel.
Als wir eintraten, kam die alte Dame uns entgegen. Klein, mit weißen
Locken und denselben Lachgrübchen wie Anne, sah sie aus wie eine viel ältere
Version meiner besten Freundin.
»Kommt herein! Ich freue mich so, dass ihr da seid.« Die alte Dame winkte
uns in ihr kleines Wohnzimmer, wo sie den Tisch mit dem alten
Blümchenmuster-Geschirr gedeckt hatte, das ich noch von den
Spielnachmittagen bei Anne aus unserer Grundschulzeit kannte.
»Immer wenn ich hier bin, fühle ich mich, als wäre ich wieder sechs«,
murmelte ich Anne leise zu.
»Für Oma sind wir das auch noch«, kicherte sie.
Die alte Frau umarmte mich und begrüßte Nathaniel herzlich. »Nenn mich
Oma Runi, Schneewittchen macht das auch – oh, entschuldige, ich meine
natürlich, Victoria«, fügte sie hinzu und schüttelte lächelnd den Kopf.
»Oma Runi?« Adalbert erschien aus der Küche, in einer rosa RüschenKüchenschürze und mit einem Backblech mit heißem Apfelstrudel in den
Händen.
»Ich habe damals gedacht, sie hieße so. Ich konnte mir ›Bruni‹ nicht
merken.« Ich verdrehte die Augen. »Ich war sechs.«
»Sahne, Brunhilde?«, fragte Adalbert und stellte den Apfelstrudel auf den
Tisch.
»Im Kühlschrank«, erwiderte Annes Oma, als wir uns setzten.
»Ich helfe Adalbert.« Ich verschwand in der Küche, ehe jemand auf die Idee
kommen konnte, mir zu folgen.
»Wo ist denn das Sahnekännchen? Ach, du bist's.« Adalbert schloss die
Kühlschranktür und nahm die lächerliche Schürze ab.
»Im Schrank über der Spüle«, antwortete ich automatisch. Ich hatte als
Kind so viele Nachmittage in diesem Haus verbracht, dass ich mich immer
noch blind zurechtfand. »Ich muss mit Ihnen reden.«
Adalbert runzelte die Stirn. »Was gibt's?«
Aus dem Wohnzimmer drangen die Stimmen der anderen zu uns herein,
doch ich sprach trotzdem in gedämpftem Ton weiter, damit sie uns nicht
hörten. »Ich glaube, mit Nathaniel stimmt etwas nicht. Er streitet es zwar ab,
aber ich bin mir sicher, dass etwas nicht in Ordnung ist.«
»Inwiefern?«
»Er ist irgendwie, ich weiß nicht, aggressiver als sonst. Nicht mir
gegenüber«, fügte ich rasch hinzu, »Aber er scheint ständig unter Strom zu
stehen, irgendetwas regt ihn furchtbar auf und dann ist es plötzlich wieder
vorbei. Ich kapiere nicht, was los ist.«
Adalbert zog die Brauen hoch. »Und der Unterschied zu seinem normalen
Verhalten ist …?«
Ich verzog das Gesicht. »Das ist nicht komisch.«
»Er ist zur Hälfte ein Dämon, Victoria. Auch wenn er noch immer dein
Schutzengel und für die Erzengel zum Erdengänger geworden ist, ein Teil
von ihm ist dämonisch. Und Dämonen sind leicht reizbar, das weiß doch
jeder.«
»Aber das ist etwas anderes«, beharrte ich. »Es ist fast so, als würde ihn
irgendetwas belasten. Aber es kommt und geht, ohne erkennbare Ursache.
Und heute war da dieses Schimmern.«
Adalbert horchte auf. »Was für ein Schimmern?«
»Nach der Schule, auf dem Parkplatz, da hat es wieder angefangen. Er hat
sich aufgeregt und ich habe so eine seltsame Spiegelung bei ihm gesehen.«
Ich wappnete mich innerlich dafür, dass Adalbert mich für verrückt erklären
würde. »Ich weiß, es klingt merkwürdig, und vielleicht ist es auch nur eine
Lichtreflexion gewesen, ich habe es auch nicht richtig sehen können.«
»Was genau hast du denn gesehen?« Adalberts Gesichtsausdruck war ernst
und zeigte keine Spur von Spott. Das ließ mich erst recht nervös werden.
»Nicht viel.« Ich versuchte, mich zu erinnern. »Da war eben so ein dunkles
Schimmern, aber als ich richtig hingesehen habe, war es verschwunden.
Vielleicht habe ich es mir auch nur eingebildet.«
Er neigte nachdenklich den Kopf. »Du sagst, dass Nathaniel unruhig
gewesen ist, als du dieses Schimmern gesehen hast?«
»Er hat sich total verkrampft, so als würde er gleich in die Luft gehen. Aber
da ist kein Dämon in der Nähe gewesen, nichts, was normalerweise so eine
Reaktion bei ihm auslöst.«
Adalbert grübelte. »Er wird sich doch nichts eingefangen haben.«
»Eingefangen? Sie meinen, er ist krank?«
»Nein, Mädchen. Ich glaube, er könnte heimgesucht werden.«
Ich starrte ihn an. »Was?«
»Deiner Beschreibung nach könnte es sich um Höllengeister handeln, die
deinen Engel heimsuchen. Sie sind unsichtbar für Menschen und für
übernatürliche Wesen, aber sie bewirken bei Engeln und Dämonen dieselben
Angstzustände und Panikattacken, die Inferni bei Menschen auslösen. Es
wäre allerdings ungewöhnlich, wenn du sie tatsächlich wahrnehmen
könntest, aber bei euch beiden überrascht mich langsam gar nichts mehr.«
»Wieso wären diese Höllengeister hinter Nathaniel her?«
Adalberts Gesichtsausdruck wurde sehr düster. »Wahrscheinlich ist er
verflucht worden. Höllengeister sind die Manifestation eines übernatürlichen
Fluches.«
»Klingt ja furchtbar«, stöhnte ich. »Was können wir dagegen tun?«
»Gar nichts.«
Ich blinzelte Adalbert an. »Was soll das heißen, gar nichts? Das ist doch
nicht Ihr Ernst.«
Er lehnte sich an die Spüle. »Ich selbst habe noch nie erlebt, dass ein Engel
oder ein Dämon verflucht worden ist. Alles, was ich dir gerade erzählt habe,
ist bloß Hörensagen. Ihr braucht jemanden, der sich in diesen Dingen besser
auskennt als ich.«
»Wer sollte das sein?«, fragte ich unbehaglich. Bei dem Gedanken daran,
was für eine Art Wesen sich mit dämonischen Flüchen auskennen würde,
dehnte sich ein unangenehmes Gefühl in meiner Magengegend aus.
»Wendet euch fürs Erste an Melinda«, schlug Adalbert vor. »Vielleicht
kann sie euch weiterhelfen.«
»Bertl?« Annes Oma steckte den Kopf zur Küchentür herein. »Machst du
die Sahne selbst oder warum dauert das so lange?«
»Nein, Brunhilde, wir kommen schon.« Adalbert warf mir einen langen,
vielsagenden Blick zu und folgte Annes Oma ins Wohnzimmer.
Als ich mich neben Nathaniel an den Tisch setzte, runzelte er die Stirn.
Was er von meiner Unterhaltung mit Adalbert in meinen Gedanken
mitverfolgt hatte, schien ihm ebenso wenig zu gefallen wie mir.
Obwohl wir einen netten Nachmittag mit Anne und ihrer Oma
verbrachten, schweiften meine Gedanken immer wieder zu Adalberts Worten
ab. Konnte Nathaniel tatsächlich verflucht worden sein? Ich bekam den
leckeren Apfelstrudel kaum herunter, weil sich mein Magen wie ein
Steinklumpen anfühlte.
»Ich hoffe, es war nicht zu langweilig für euch«, murmelte Anne
entschuldigend, als wir uns an der Tür von ihr verabschiedeten.
»Quatsch. Deine Oma ist toll.« Ich umarmte Anne und winkte ihrer Oma
und Adalbert zum Abschied. »Viel Spaß im Skiurlaub. Passt auf Mark auf,
okay?«
»Wir tun unser Bestes.« Anne sah nicht sehr zuversichtlich aus.
Kaum waren Nathaniel und ich in den Wagen gestiegen, drehte er sich mit
einem ärgerlichen Gesichtsausdruck zu mir um. »Was sollte das?«
»Was meinst du?«
»Warum sprichst du hinter meinem Rücken mit Adalbert über mich?«
Sein Ton gefiel mir nicht. »Weil ich mir Sorgen um dich mache und du
dich weigerst, mit mir zu reden. Irgendetwas muss ich doch tun.«
»Ich habe dir gesagt, dass es mir gut geht.«
»Nach der Schule vorhin habe ich gesehen, wie gut es dir geht«, fauchte ich
zurück. »Warum gibst du nicht einfach zu, dass etwas nicht in Ordnung ist?
Dann können wir gemeinsam versuchen, eine Lösung zu finden.«
»Ich löse dieses Problem allein, hast du verstanden?«
Ich schrak zusammen. Nathaniel war selten so wütend auf mich.
Plötzlich fiel mir auf, dass er seine Hände um das Lenkrad krampfte.
»Es ist wieder so weit, oder?«, fragte ich. »Es passiert wieder, genau jetzt,
nicht wahr?«
»Es ist gleich wieder vorbei«, sagte er zähneknirschend.
Ich legte meine Hand auf seine. »Was kann ich tun?«, flüsterte ich.
Er atmete heftig. Dann flammte plötzlich sein Feuer auf und die Flammen
schlugen um seinen Körper.
»Es ist … gleich wieder vorbei«, stieß er hervor.
»Nathaniel!« Alarmiert umklammerte ich seine Hand. Dann sah ich wieder
diesen düsteren Schimmer, der um ihn herumflackerte und im nächsten
Augenblick wieder verschwunden war.
Nathaniels Atem beruhigte sich.
»Besser«, keuchte er. »Gib mir noch eine Minute.« Er starrte vor sich auf
das Lenkrad und zwang seine Flammen zurück.
Ich beobachtete ihn besorgt.
»Alles in Ordnung«, knurrte er, ohne mich anzusehen.
»Gar nichts ist in Ordnung«, sagte ich entschieden und zog mein Telefon
hervor. »Wir fahren jetzt auf der Stelle zur Uni. Ich rufe Melinda an und sage
ihr Bescheid, damit sie im Büro auf uns wartet.«
»Ich brauche wirklich nicht …«
»Das war keine Bitte, Nathaniel. Wenn an dieser Fluch-Sache was dran ist,
dann müssen wir etwas dagegen unternehmen. Melinda? Hier ist Victoria.
Sind Sie noch im Büro? Nathaniel und ich sind auf dem Weg zu Ihnen.« Ich
warf Nathaniel einen dunklen Blick zu. »Ich fürchte, wir haben ein höllisches
Problem.«
MARCELLUS' VERSPRECHEN
Nathaniel sprach kein Wort mehr mit mir, bis wir in Melinda Seemanns Büro
angekommen waren. Die Engelschronistin, die in der Universitätsbibliothek
arbeitete, war selbst eine Erdengängerin und kannte sich mit überirdischen
Dingen sehr gut aus. Jetzt saß sie zurückgelehnt in ihrem Schreibtischstuhl
und hörte mir schweigend zu, während ich Adalberts Vermutung
wiederholte. Sie unterbrach mich nicht und der Ausdruck auf ihrem Gesicht
wurde immer ernster. Nathaniel stand mit verschränkten Armen neben mir
und ärgerliche Flammen kräuselten sich auf seiner Haut. Als ich mit meinem
Bericht fertig war, schwieg Melinda noch eine Weile. Ihre klugen Augen
ruhten auf Nathaniel.
»Das ist eine ernste Sache«, sagte sie schließlich. »Wer könnte ein
Interesse daran haben, dich zu verfluchen?«
»Wer sagt, dass es überhaupt ein Fluch ist?«
Ich hatte noch nie gehört, dass Nathaniel Melinda derart angeblafft hatte.
Doch sie zuckte nicht mit der Wimper.
»Hast du eine andere Erklärung, Nathaniel?«
»Ich kapiere nicht, warum ihr euch alle einmischt! Ich kann diese Sache
allein regeln, ich habe das im Griff.«
»Ich behaupte doch gar nicht das Gegenteil.« Ich griff nach seiner Hand,
doch er entzog sich mir. Es war wie ein Stich mit einem Messer. »Du passt
ständig auf mich auf, warum lässt du mich dir jetzt nicht helfen?« Ich fühlte
mich verletzt und ich tat nichts, um das zu verbergen.
»Genau das ist der Punkt«, stöhnte er. »Ich passe auf dich auf. Nicht
umgekehrt. Ich will nicht, dass du dich in Gefahr bringst, um mir zu helfen.
Mit einem Höllenfluch ist nicht zu spaßen, Victoria.«
»Dann hast du es gewusst?« Ich starrte ihn ungläubig an. »Du hast die
ganze Zeit gewusst, was los ist, und hast es mir nicht gesagt?«
»Warum hätte ich es dir sagen sollen? Damit du wieder losrennst und
irgendetwas Waghalsiges tust, um mich zu beschützen?«
Ich schnappte nach Luft. »Damit ich dir helfen kann, diesen Fluch
loszuwerden, du Idiot!«
Mir war klar, dass Nathaniel und ich uns in diesem Moment in Melinda
Seemanns Büro befanden und uns direkt vor der Nase der aristokratischen
Chronistin anschrien, doch Nathaniels Sturheit regte mich so auf, dass ich
nicht anders konnte, als diese Tatsache zu ignorieren.
»Es ist meine Entscheidung, ob und von wem ich mir helfen lasse!«,
fauchte Nathaniel und die schwarzen Flammen auf seinem Körper loderten
immer höher. »Und wenn es um etwas so Gefährliches wie einen Höllenfluch
geht, dann stehst du bestimmt nicht ganz oben auf meiner Liste!«
»Tut mir leid, aber du wirst dich damit abfinden müssen, dass ich dir
trotzdem helfe!« Ich starrte ihn zornig an. »Ich frage dich nicht um
Erlaubnis.«
Er fuhr mit den Händen fassungslos durch die Luft. »Weißt du überhaupt,
wie gefährlich diese Sache werden kann?«
»Nein, aber du scheinst es ja genau zu wissen. Du hast mich angelogen,
Nathaniel, seit Tagen lügst du mich an! Ich frage dich, was los ist, und du
sagst mir immer wieder, dass alles in Ordnung ist. Gar nichts ist in
Ordnung!«
»Ich habe dir nur deshalb nicht die Wahrheit gesagt, weil ich gewusst habe,
dass du dann sofort irgendeine Dummheit machen würdest, um mir zu
helfen.«
»Eine Dummheit, so nennst du das? Ich versuche, eine Lösung zu finden,
verdammt noch mal!«
»Und ich will nicht, dass du dich einmischst und damit in Gefahr begibst!«
Die Chronistin räusperte sich. »Wenn ich kurz etwas einwerfen darf?«
Ich hatte schon fast vergessen, dass Melinda anwesend war.
»Wenn es wirklich ein Höllenfluch ist, Nathaniel, dann wird er früher oder
später Auswirkungen auf Victoria haben …«, begann Melinda, doch Nathaniel
ließ sie nicht aussprechen.
»Ich weiß, genau aus dem Grund will ich sie ja aus der Sache raushalten.«
»Da du ihr Schutzengel bist, kannst du dich nicht von ihr fernhalten«, fuhr
Melinda ungerührt fort. »Sie wird irgendwann von den Auswirkungen des
Fluchs betroffen sein. Also bleibt dir nur, den Fluch so schnell wie möglich
unschädlich zu machen. Um Victorias Sicherheit Willen.«
Nathaniel schnaufte frustriert, schwieg aber.
»Was schlägst du vor?«, fragte er schließlich, nicht ohne einen finsteren
Seitenblick in meine Richtung zu werfen.
Melinda wandte ihre Aufmerksamkeit ihrem Computer zu. »In Europa
stammen die meisten Höllenflüche von den Zaubersprüchen keltischer
Druiden.« Sie tippte etwas in ihren Computer und machte dann ein paar
Notizen auf einem Stück Papier, das sie uns reichte. »Ich habe eine Bekannte
in Venedig, die eine Spezialistin auf dem Gebiet der keltischen Geschichte ist.
Ihr Name ist Isabella Biasini. Wenn euch jemand weiterhelfen kann, dann
sie.«
PROLOG
Ich war umgeben von hohen Hecken. Rechts, links und geradeaus führte je ein
schmaler Weg zwischen den Hecken durch, die wie Hausmauern aufragten.
Ich zögerte, dann wandte ich mich nach links. Der Weg war kaum einen
Meter breit, ich folgte ihm, bog um eine Ecke – und fand mich vor einer
Mauer aus dichtem Grün.
Ich ging zurück zu der Kreuzung und wählte den Weg, der geradeaus
weiterführte. Ich folgte ihm, bog nach rechts, dann wieder nach links ab, stieß
auf eine Sackgasse und kehrte um, bis ich wieder an der Kreuzung stand, von
der aus ich gestartet war. Jetzt blieb mir nur noch eine Möglichkeit. Wenn
dieser Weg ebenfalls eine Sackgasse ist, dachte ich, während ich dem letzten der
drei Wege folgte, dann muss ich mir etwas einfallen la…
Ich blieb abrupt stehen. Am Ende des Wegs war kein Grün. Zwischen den
Hecken sah ich ein Haus. Es kam mir bekannt vor.
Ich ging auf das Gebäude zu, begann zu laufen, bis ich die grünen Mauern
hinter mir ließ und mich plötzlich im Stadtzentrum fand, mitten auf dem
Stephansplatz.
Das Merkwürdigste daran war, dass der Stephansplatz menschenleer war.
Es war heller Tag, aber kein Mensch war zu sehen. Ich blickte mich in alle
Richtungen um. Die Fußgängerzonen, die sternförmig auf den Platz zuliefen,
waren normalerweise zu jeder Tages- und Nachtzeit voller Menschen. Jetzt
war es vollkommen still. Ich drehte mich um die eigene Achse. Das HeckenLabyrinth hinter mir war verschwunden. Unsicher marschierte ich die
Fußgängerzone entlang, meine Schritte waren das einzige Geräusch in der
Stille.
Das Ganze musste ein Scherz meines Verlobten sein.
Seit er aus der Hölle zurückgekehrt war, besaß er die dämonische
Fähigkeit, meine Träume zu manipulieren. Und ein Traum musste das hier ja
wohl sein, eine andere Erklärung fiel mir nicht ein.
»Nathaniel!«, rief ich laut. Meine Stimme hallte von den Gebäuden um
mich herum wider. »Nathaniel! Hör auf damit, das ist nicht komisch!«
Ich ging weiter die Fußgängerzone entlang, ohne ein bestimmtes Ziel,
einfach nur, weil ich nicht tatenlos herumstehen wollte. Ich fühlte mich
unbehaglich und immer weiterzugehen gab mir das Gefühl, wenigstens
irgendeine Art von Kontrolle über die Situation zu behalten.
»Nathaniel!« Ich drehte mich im Kreis und streckte die Arme zu beiden
Seiten aus. »Komm schon, was soll das?«
Es sah meinem Schutzengel überhaupt nicht ähnlich, mich in eine
unangenehme Lage zu bringen. Die Träume, die er mir bisher geschenkt
hatte, waren ohne Ausnahme wundervoll gewesen, er war darin stets an
meiner Seite gewesen und hatte mich nie allein gelassen.
Das mulmige Gefühl in meinem Bauch verstärkte sich. Irgendetwas
stimmte hier nicht. Wo blieb er nur? Sonst tauchte Nathaniel immer sofort
auf, wenn ich nach ihm rief. Er konnte meine Gedanken hören und spürte,
wenn ich in Gefahr war, selbst nachdem er von den Erzengeln in einen
Erdengänger verwandelt worden war und seitdem ein menschliches Leben an
meiner Seite führte.
»Warum hast du mich hergebracht?«, rief ich und sah mich suchend um.
»Ist das irgendein Spiel?«
Doch ich ahnte schon, dass es kein Spiel war. Nathaniels dämonische Seite
mochte bedrohlich und gefährlich sein, aber er hatte diese Macht niemals
eingesetzt, um mir Angst zu machen – und es war Angst, die jetzt in mir
aufkeimte, je länger ich in dieser seltsamen Einsamkeit umherirrte.
Plötzlich sah ich am Ende der Fußgängerzone das vertraute, schwarze
Schimmern von Nathaniels Flügeln. Erleichterung durchflutete mich und
verdrängte das Gefühl der Furcht. Ich beschleunigte meine Schritte und
wurde ein wenig ärgerlich, während ich auf ihn zulief.
»Nathaniel! Was zum …?« Ich verlangsamte meine Schritte.
In den schwarzen Flügeln des Dämons, der am Ende der Straße stand, lag
kein goldenes Funkeln.
Das war nicht Nathaniel.
Ich machte auf der Stelle kehrt, geriet ins Stolpern, fing mich wieder und
hastete weiter. Ein Blick über die Schulter verriet mir, dass der Dämon mich
verfolgte, tiefschwarz schimmernd wie die Hölle.
Jetzt rannte ich so schnell ich konnte.
»Es ist ein Traum«, keuchte ich, um mich selbst zu beruhigen. »Es ist nur
ein Traum.« Mein Herz hämmerte wild. Immer wieder warf ich einen Blick
zurück. Der Dämon hatte seine Schwingen ausgebreitet und jagte durch die
Luft hinter mir her. Der Abstand zwischen uns verringerte sich mit jedem
Augenblick.
»Geweihter Boden.« Meine Schritte hallten von den Gebäuden wider und
ich blickte mich verzweifelt suchend um. »Geweihter … Boden …« Der Turm
der Stephanskirche ragte zwischen den Häusern auf. Die Kirche war noch
zwei Häuserblocks von mir entfernt, aber sie war der einzige Zufluchtsort.
Der Dämon würde mir nicht einmal in einem Traum auf geweihten Boden
folgen können. Ich würde in Sicherheit sein – falls mein Verfolger mich nicht
vorher einholte.
Das schwarze Geschöpf glitt lautlos hinter mir her. Ich rannte noch
schneller, meine Lungen brannten und ich fragte mich, warum der Dämon
mich noch nicht eingeholt hatte. Dann begriff ich, dass diese Jagd für ihn Teil
des Spiels war.
Jetzt tauchte die Stephanskirche vor mir auf. Ich erwartete, die Krallen des
Dämons jeden Moment in meinem Rücken zu spüren und wappnete mich für
die Schmerzen, die eine dämonische Berührung für einen Menschen
bedeutete. Doch ich kam der Kirche näher und näher, ohne dass der Dämon
mich aufhielt.
Wahrscheinlich ist es seine Art, mich zu quälen. Wahrscheinlich will er mich hoffen
lassen und wird zuschlagen, wenn ich mich schon in Sicherheit glaube …
Wo war Nathaniel? Was war geschehen, dass es diesem Dämon gelungen
war, mich im Traum in diese Falle zu locken?
Ich hatte die Kirchentore beinahe erreicht. Als ich mich dagegenwerfen
und sie aufstoßen wollte, spürte ich die Energie eines kraftvollen
Flügelschlags hinter mir. Es war wie eine Sturmbö, die mich von den Füßen
fegte und gegen die Kirchenmauer schleuderte.
Benommen suchte ich Halt an dem kalten Stein. Der Dämon war mit
einem Satz über mir, schlug seine Schwingen wie einen Käfig um mich auf,
ließ mir keine Möglichkeit, zu fliehen und stützte seine Arme rechts und
links von meinem Körper gegen die Wand. Ich keuchte erschrocken auf. Er
musste sehr mächtig sein, wenn er es ertrug, ein Gebäude auf geweihtem
Boden zu berühren, selbst wenn es nur in einem Traum geschah.
Er war mir so nah, dass ich mich nicht bewegen konnte, ohne mich seiner
schmerzhaften Berührung auszusetzen.
Ich atmete heftig und mein Herz schlug mir bis zum Hals. Jetzt sah ich den
Dämon zum ersten Mal richtig an. Wie alle Dämonen war er körperlich
furchteinflößend, mit breiten Schultern und schwarzen Flammen, die auf
seiner Haut knisterten. Er hatte weniger dämonische Narben im Gesicht als
Nathaniel, doch die meisten waren frisch, was mich vermuten ließ, dass er
noch nicht lange ein Dämon war.
Das Verwirrende an ihm waren seine Augen – nicht rot wie die Augen der
anderen Dämonen oder schwarz wie die Augen Luzifers oder die Augen der
Inferni.
Sie waren violett.
Er blickte mich aus diesen merkwürdigen, violetten Augen an und beugte
sich näher heran. Ich drängte mich weiter gegen die Wand, in dem sinnlosen
Versuch, ihm auszuweichen. Ich wusste, dass er mich in seiner Gewalt hatte
und mir wehtun konnte, wenn er es wollte. Jede seiner Berührungen würde
meine Haut verätzen.
»Nathaniel wird dich umbringen«, stieß ich hervor. Ihm zu drohen war
meine einzige Hoffnung. Nathaniels Macht war unter den Höllenwesen
bekannt und gefürchtet. Ich wollte dem Dämon nicht zeigen, dass ich Angst
hatte, also hob ich trotzig das Kinn und starrte herausfordernd in seine
violetten Augen.
»Ich weiß«, erwiderte er heiser. Dann wurde sein Ton eindringlich. »Hilf
mir.«
DER BANNFLUCH
»›Hilf mir?‹ Er hat wirklich gesagt ›Hilf mir‹?« Marcellus konnte es nicht
glauben. Er stand stirnrunzelnd an den Kamin gelehnt, während Nathaniel
und ich auf seiner Couch saßen. Sophie saß uns im Morgenmantel
gegenüber, ihre Hände nervös auf dem Schoß verschlungen.
Marcellus rieb sich über die Stirn. Dunkle Ringe lagen unter seinen Augen,
er sah aus, als hätte er seit Tagen kaum geschlafen.
»Ist alles in Ordnung, Marcellus?« Ich hatte ihn in der letzten Woche kaum
gesehen, weil ich so sehr mit den Vorbereitungen für meine
Abschlussprüfungen beschäftigt gewesen war, doch jetzt machte ich mir
Sorgen um ihn.
Er schirmte seine Augen gegen die Sonnenstrahlen ab, die das
Wohnzimmer fluteten. Es war kurz nach sechs Uhr morgens, die Sonne stand
bereits strahlend am Himmel und kündigte einen herrlichen Maitag an.
»Kannst du ihn beschreiben?«, fragte er statt auf meine Frage zu
antworten. Was auch immer es war, das ihn beschäftigte, er schien es
beiseitezuschieben und konzentrierte sich voll und ganz auf uns.
Ich zuckte entschuldigend mit den Schultern. »Er hat ausgesehen … na ja,
eben wie ein Dämon. Schwarz, schimmernd, dunkle Flügel … Ich habe ihn nie
zuvor gesehen, tut mir leid.«
Nathaniel hielt meine Hand fest in seiner. »Kannst du dich an irgendetwas
erinnern, das uns helfen könnte, ihn zu identifizieren?«
»Die meisten seiner Narben waren frisch«, sagte ich.
»Ein junger Dämon?« Nathaniels Blick schoss zu seinem Mentor.
»Ich könnte herausfinden, welche Engel erst vor kurzem gefallen sind«,
überlegte Marcellus.
»Erzähl ihm von seinen Augen«, sagte Nathaniel mit hartem Ton in der
Stimme. In ihm musste der Zorn nur so brodeln, weil es einem Dämon
gelungen war, sich an ihm vorbei in meine Träume zu schleichen.
Als ich aus dem Traum aufgeschreckt war, hatte Nathaniel tief und fest an
meiner Seite geschlafen. Erst meine verwirrten Gedanken hatten ihn geweckt
und als er begriffen hatte, was geschehen war, war sein schwarzes Feuer mit
einem Schlag explodiert. Er hatte darauf bestanden, die Sache sofort mit
Marcellus zu besprechen.
Ich konnte ihn nicht davon abbringen, obwohl es fast noch mitten in der
Nacht war. Beim Morgengrauen hatten wir Marcellus‘ Ehefrau Sophie aus
dem Bett geholt, die uns sagte, dass Marcellus noch nicht von einem Treffen
mit den Erzengeln zurückgekehrt war und uns angeboten, gemeinsam auf
ihn zu warten. Sophie war äußerst verständnisvoll gewesen und hatte mit
Nathaniel übereingestimmt, dass Marcellus sofort von dem Dämon in
meinem Traum erfahren sollte. Obwohl sie ein Mensch war, kannte Sophie
die Welt der Engel und Dämonen durch ihren Ehemann, der gleichzeitig ihr
Verstandesengel war. Marcellus, halb Engel, halb Erdengänger, war
Nathaniels Mentor und ein wichtiger Vertrauter der Erzengel. Er leitete in
ihrem Auftrag einen Medienkonzern und wurde von den Erzengeln mit
heiklen Missionen betraut, die er mit kompromissloser Durchsetzungskraft
erfüllte.
Eine dieser Aufgaben lautete, Nathaniel als seinen Sohn in seiner Familie
aufzunehmen, als Nathaniel vor einem halben Jahr zum Erdengänger
geworden war. Die Erzengel hatten ihn verwandelt, um seine
außergewöhnlichen Fähigkeiten zu nutzen. Solange ich am Leben war, blieb
Nathaniel mein Schutzengel und konnte sich aufgrund seiner dämonischen
Hälfte sowohl in der Hölle als auch im Reich der Engel bewegen. Als
Erdengänger jedoch war er ebenso wie Marcellus an einen sterblichen Körper
gebunden, was seine Schutzengelfähigkeiten auf der Erde einschränkte und
ihn körperlich verletzlich machte.
Doch nur so war es möglich, dass wir ein gemeinsames Leben führen
konnten. Ebenso wie bei Marcellus und Sophie hatten die Erzengel ihre
Zustimmung zu unserer Verbindung gegeben und sie war im vergangen
November von dem Nexus Moana, einer himmlischen Standesbeamtin,
geschlossen worden.
Seither war Nathaniel nicht nur als mein Schutzengel sondern auch
körperlich stets an meiner Seite, um mich zu beschützen, auch wenn es in den
letzten Monaten kaum Angriffe auf mich gegeben hatte. Nicht, seitdem
Nathaniel unseren Erzfeind Lazarus vernichtet hatte. Bei diesem Kampf hatte
der Erzengel Michael Nathaniel und mich vor Luzifer beschützt, der versucht
hatte, selbst ins Geschehen einzugreifen, was sowohl ihm als auch den
Erzengeln verboten ist. Seither trugen Nathaniel und ich Michaels Siegel im
Nacken, einen machtvollen Schutz gegen höllische Angriffe.
»Seine Augen waren merkwürdig«, sagte ich schließlich. »Sie waren nicht
rot, sondern violett.«
Marcellus stutzte. »Violett?«
»Nathaniels Augen sind auch nicht rot«, bemerkte ich und blickte in die
schönen, goldbraunen Augen meines Schutzengels.
»Das liegt daran, dass ein Teil von ihm selbst in der Hölle noch dein Engel
gewesen ist«, erklärte Marcellus. Er schüttelte den Kopf. »Aber violette
Augen … davon habe ich noch nie gehört.«
»Vielleicht ist sein Schützling auch noch am Leben?«
Marcellus dachte nach. »Ich werde versuchen, etwas darüber in Erfahrung
zu bringen.«
»Ich werde die ganze Hölle nach ihm durchkämmen, wenn es sein muss«,
knurrte Nathaniel. Dunkle Flammen kräuselten sich auf seinem Körper, in
einer Mischung aus Wut über den Angriff des fremden Dämons und aus
verletztem Schutzengelstolz, weil der Dämon es tatsächlich geschafft hatte,
an ihm vorbeizukommen.
»Tolle Idee.« Die Stimme meines Verstandesengels erklang ironisch von
der anderen Seite des Wohnzimmers. Mein Kopf schoss herum und ich sah
den bronzenen Ramiel lässig an der Tür lehnen. Seine weißen Schwingen
reichten bis zum Boden und waren mit bronzenen Diamanten gesprenkelt,
die in der Sonne funkelten. »Jag ruhig den ganzen Laden dort unten in die
Luft, ich passe so lange hier auf Victoria auf, soll ich?«
Nathaniel knurrte Ramiel an.
»Er hat Recht«, sagte Marcellus. »Es wäre nicht klug, Victoria jetzt allein zu
lassen, Nathaniel. Nicht, solange wir nicht wissen, mit wem wir es zu tun
haben. Lass mir etwas Zeit, um in Erfahrung zu bringen, wer dieser
violettäugige Dämon ist. Dann kannst du ihn dir vorknöpfen.«
»Worauf du dich verlassen kannst«, knurrte Nathaniel.
Sophie erhob sich. »Ich werde euch etwas zu essen machen«, sagte sie. »Ihr
habt einen wichtigen Tag vor euch, ihr solltet nicht mit leerem Magen gehen.«
Sie warf ihrem Mann einen besorgten, liebevollen Blick zu. »Wann hast du
das letzte Mal etwas gegessen?«
Marcellus schenkte ihr ein kleines Lächeln. Ich erschrak darüber, wie
eingefallen seine Wangen waren.
»Ich werde mich nicht einmischen, nur damit das klar ist.« Ramiel
schlenderte an meiner Seite hinter Sophie her in Richtung Esszimmer. »Es
gab keine dämonischen Angriffe auf dich, keine Gefahren … bis auf den
Traum letzte Nacht, ich weiß, Nathaniel … also jedenfalls gibt es keinen Grund,
warum du die heutigen Abschlussklausuren nicht ohne meine Hilfe
hinkriegen solltest.«
Ich verzog zweifelnd den Mund. »Ein bisschen Hilfe von meinem
Verstandesengel könnte nicht schaden.«
»Kommt nicht in Frage.« Ramiels Ton wurde streng. »Du hast wochenlang
dafür gebüffelt, also bestehst du heute die Klausuren mit links, verstanden?«
»Mh«, brummte ich. Ich hatte die vergangenen Wochen nichts anderes
getan, als mich auf die Prüfungen vorzubereiten, doch schließlich handelte es
sich auch um die Abschlussklausuren. Bei dem Gedanken daran, dass ich in
weniger als zwei Stunden zum letzten Mal in der Klasse sitzen und die letzten
Prüfungen meiner Schullaufbahn schreiben würde, bekam ich ein mulmiges
Gefühl im Bauch.
Nathaniel drückte sanft meine Hand. »Du wirst das schon schaffen.«
Es machte den Eindruck, als würde er überhaupt keinen Gedanken an die
Abschlussarbeiten verschwenden, obwohl er mit mir gemeinsam die
Klausuren schreiben musste. Als Engel schien er ohnehin alles zu wissen und
jetzt galt seine Sorge eindeutig dem violettäugigen Dämon.
»Ich weiß nicht alles«, widersprach er, als wir uns an den Tisch setzten und
der Duft von frischem Kaffee und Toast aus der Küche drang.
»Jedenfalls weißt du genug, um die Prüfungen mit Bestnoten zu bestehen,
obwohl du erst seit einem halben Jahr überhaupt zur Schule gehst«, erwiderte
ich.
Nathaniel wischte meinen Einwand vom Tisch, als wäre der Stoff der
Oberstufe eine Kleinigkeit, die nicht der Rede wert war.
Sophie zauberte im Handumdrehen Spiegeleier auf Toast auf den Tisch
und mit gefülltem Magen und einer Tasse Kaffee in der Hand fühlte ich mich
zuversichtlicher, was die bevorstehenden Prüfungen anging.
Marcellus hatte seinen Teller kaum angerührt.
»Was ist mit dir, Liebling?« Sophie legte ihre Hand auf seinen Arm. »Ich
weiß, dass du nicht über die Aufträge der Erzengel sprechen kannst, aber ich
sehe doch, dass dir etwas große Sorgen bereitet. Wenn ich irgendetwas für
dich tun kann …«
Marcellus ergriff ihre Hand und drückte einen Kuss auf ihren
Handrücken. Sein Schweigen erfüllte auf beklemmende Art den Raum.
Nathaniel ließ das Besteck sinken.
»Was ist los, Marcellus?«
Doch sein Mentor schüttelte den Kopf. »Nicht jetzt. Victoria hat einen
wichtigen Tag vor sich, sie braucht ihre volle Konzentration. Wir reden
darüber, wenn ihr zurück seid.«
Ich wechselte einen unruhigen Blick mit Nathaniel. Marcellus lag
offensichtlich etwas sehr Ernstes auf der Seele. Mein Schutzengel nickte
schweigend und aus seinem Gesicht sprach die Entschlossenheit, seinen
Mentor zu unterstützen, egal wie gravierend die Schwierigkeiten auch waren,
die Marcellus belasteten.
Als Nathaniel und ich uns auf den Weg machten, begleitete Marcellus uns
hinaus. »Ich werde so viel wie möglich über den violettäugigen Dämon
herausfinden«, versprach er und drückte meine Hand. »Viel Glück für die
Abschlussprüfungen, Victoria.«
Vor der Tür von Marcellus‘ und Sophies Apartment standen zwei Männer
in dunkler Kleidung. Sie überragten mich um einen Kopf und waren beinahe
so groß wie Nathaniel, ebenso breit gebaut und bis an die Zähne bewaffnet.
Nathaniel legte beschützend seine Hand an meinen Rücken und seine
Flammen flackerten in einer stummen Warnung über seine Haut. Die beiden
Männer traten schweigend zur Seite und ließen uns passieren.
»Wer war denn das?«, platzte ich heraus, als sich die Fahrstuhltüren hinter
uns geschlossen hatten.
»Wächter«, erwiderte Nathaniel.
»Wächter? Du meinst, Bodyguards?«
Nathaniel nickte.
»Seit wann hat Marcellus denn Bodyguards?«
»Seit er sie braucht«, erwiderte Nathaniel dunkel. »Seit letzter Woche«,
fügte er hinzu, als er meinen verwirrten Blick sah.
»Aber wieso …? Sind das Menschen?«
»Es sind Erdengänger«, erklärte er. »Allerdings mit einer besonderen
Ausbildung. Sie sind mit speziellen Waffen ausgestattet, die Dämonen
verletzen können. Die beiden gehören zur Eliteeinheit des Colonels.«
Ich erinnerte mich an den Waffen- und Nahkampfspezialisten, den
Marcellus im vergangenen November für mich angeheuert hatte.
»Warum braucht Marcellus Bodyguards, die Dämonen verletzen können?«,
fragte ich unbehaglich.
Wir hatten die Garage erreicht und stiegen in Nathaniels Hummer.
»Weil Erdengänger keine Schutzengel haben«, erklärte er, während er den
Wagen aus der Garage lenkte und sich in den Verkehr einreihte.
»Das habe ich nicht gemeint«, sagte ich. »Warum braucht Marcellus jetzt
plötzlich Bodyguards? Er hatte doch früher auch keine.«
Nathaniel schwieg und starrte auf den Verkehr. »Ich denke, das wird er
uns heute Nachmittag verraten.« Sein Ton schürte das dumpfe Unbehagen in
meinem Bauch.
Auf dem Schulparkplatz warteten meine Freunde schon auf uns. Chrissy und
Mark standen betont auf Abstand zueinander, Chrissy mit verschränkten
Armen. Meine beste Freundin Anne, die mit Chrissys Bruder Tom zusammen
war, tänzelte nervös auf der Stelle.
Nathaniel und ich stiegen aus dem Wagen aus und gesellten uns zu ihnen.
»Seid ihr bereit?«, fragte ich und spürte, wie die Nervosität langsam in mir
aufstieg.
»Egal, wie es ausgeht, wenigstens ist die Streberei jetzt endlich vorbei.«
Mark warf mir ein aufmunterndes Lächeln zu.
»Wie schön«, giftete Chrissy. »Dann hält dich endlich nichts mehr von
deinem PC fern und du kannst noch mehr Zeit damit diesen dämlichen
Spielen verbringen.«
Mark verdrehte genervt die Augen.
Nachdem Mark sein Alkoholproblem überwunden und sich die beiden
gerade erst wieder versöhnt hatten, gab es anscheinend schon neuen Ärger.
»Kommt schon«, murmelte Anne. »Lasst es uns endlich hinter uns
bringen.«
Sie stapfte missmutig auf die Schule zu. Ich holte sie mit ein paar
schnellen Schritten ein, während die anderen zurückfielen und Chrissy und
Mark hinter uns weiterstritten.
»Alles okay mit dir?«, fragte ich leise.
Anne zuckte mit den Schultern. Sie war blass und ich hatte das Gefühl,
dass es nicht nur an den bevorstehenden Prüfungen lag.
»Rück schon raus damit.«
Sie schüttelte den Kopf, den Tränen nahe.
»Was ist denn los?«, fragte ich erschrocken.
Anne presste die Lippen aufeinander und wich meinem Blick aus.
»Es ist doch nicht wegen der Prüfungen, oder?«
Sie schwieg.
Ich zog sie ein wenig auf die Seite. Chrissy und Mark stritten jetzt so
heftig miteinander, dass sie uns gar nicht bemerkten, als sie an uns
vorbeistapften und in der Schule verschwanden. Ich gab Nathaniel mit einem
Nicken zu verstehen, dass ich gleich nachkommen würde.
»Anne, schau mich mal an.«
Sie hob den Kopf. In ihrem Gesicht lag ein so unglücklicher Ausdruck, wie
ich ihn noch nie an meiner sonst so fröhlichen Freundin gesehen hatte. Ihre
Augen füllten sich mit Tränen.
»Was ist denn passiert?«, fragte ich alarmiert. »Ist etwas mit deiner Oma?«
Sie schüttelte den Kopf. Tränen kullerten jetzt über ihre Wangen.
»Nein«, schniefte sie. »Aber meine Oma wird … sie wird mich umbringen.«
»Was? Warum denn?«
Anne starrte zu Boden und wischte sich mit der Hand die Tränen von den
Wangen.
»Wenn du glaubst, dass ich dich in diesem Zustand deine
Abschlussklausuren schreiben lasse, dann hast du dich geirrt«, sagte ich
entschieden. »Du sagst mir jetzt sofort, was los ist, okay?«
»Nein«, murmelte Anne mit belegter Stimme. »Wir kommen zu spät, wir
sollten reingehen.« Sie zog mich in Richtung Schulhaus, doch ich hielt sie
zurück.
»Wir haben noch sieben Minuten. Also?«
Anne sah mich an und ein neuer Schwall Tränen schoss aus ihren Augen.
»Oh Vic, ich … ich …«, schniefte sie. »Ich glaube, ich … ich bin vielleicht …«
»Was denn?«, fragte ich verwirrt.
Sie warf mir einen vielsagenden Blick zu.
Endlich begriff ich und packte sie an den Armen. »Willst du etwa sagen, du
bist vielleicht … schwanger?«
Anne nickte stumm und heulte richtig los. Ich stand einige Augenblicke
wie erstarrt da, dann nahm ich sie mechanisch in den Arm und streichelte ihr
über den Rücken, während ich versuchte, den Schock zu verdauen.
Das war genau die Art von Nachricht, die ich fünf Minuten vorm Abitur
brauchte.
»Bist du sicher?«, stieß ich leise hervor. »Ich meine, äh, könnte es
überhaupt sein?«
Anne vergrub ihr Gesicht an meiner Schulter. »Tom und ich haben … wir
haben, na ja, aufgepasst, aber trotzdem …«
»Wie lange bist du überfällig?«
»Zwei Wochen«, murmelte sie in meine Kapuzenweste. Dann hob sie den
Kopf. »Warst du schon mal zwei Wochen drüber?«
»Zwei Wochen sind nicht so viel«, versuchte ich sie zu beruhigen. »Sind es
wirklich volle zwei Wochen oder weniger?«
»Ehrlich gesagt sind es achtzehn Tage.«
»Oh.« Oh Gott. »Hast du … du weißt schon, einen Test gemacht?«
Anne schüttelte den Kopf. »Ich hab mich noch nicht getraut. Vic, meine
Oma wird mich umbringen!« Sie blickte scheu zu Nathaniel rüber, der beim
Schuleingang auf mich wartete. Er hielt sich aus Höflichkeit außerhalb
unserer Hörweite auf, obwohl er meine Gedanken deutlich hören konnte, und
nach der Sache mit dem Traum würde er mich ohnehin keine Sekunde aus
den Augen lassen. »Hast du schon mal … ich meine, seit du mit Nathaniel
zusammen bist, hast du da schon mal gedacht, du wärst vielleicht …?«
Anne war die einzige meiner Freunde, die die Wahrheit über Nathaniel
wusste. Alle anderen hielten ihn für den Sohn des Milliardärs Marcellus Van
den Berg, sie hatten keine Ahnung, dass er in Wirklichkeit mein gefallener
Schutzengel war.
Ich schüttelte den Kopf. »Nein. Engel können keine Kinder bekommen,
weißt du«, fügte ich leise hinzu.
»Oh.« Anne schniefte. »Was soll ich jetzt bloß machen, Vic?« Sie sah mich
aus großen, verzweifelten Augen an.
»Pass auf«, sagte ich entschieden. »Du gehst da jetzt rein und schreibst die
verdammten Klausuren. Vergiss diese … andere Sache für den Moment,
schieb es einfach zur Seite. Konzentrier dich auf den Schulabschluss, wir
haben so hart dafür gearbeitet und ich lasse nicht zu, dass du dir das jetzt
versaust.« Ich fischte wild nach irgendetwas, das sie beruhigen würde. »Hör
zu, bestimmt ist es nur der Prüfungsstress. Vielleicht machst du dich wegen
nichts verrückt.«
»Meinst du?«, fragte sie leise und blickte mich hoffnungsvoll an.
Achtzehn Tage? Oh, verdammt.
»Ganz sicher«, sagte ich mit so viel Überzeugung in der Stimme, wie ich
aufbringen konnte. Dann reichte ich ihr ein Taschentuch, mit dem sie ihre
Tränen trocknete.
»Victoria!« Nathaniels Stimme erklang vom Schuleingang. Er deutete auf
die Uhr.
Ich drückte aufmunternd Annes Hände. »So. Jetzt gehen wir da rein und
machen sie fertig, klar?«
»Klar«, murmelte Anne. Ihre Stimme klang kratzig, aber ein winziges
Lächeln huschte über ihre Lippen. »Vic?«
»Mh?«
»Verrate es nicht Mark und Chrissy.«
»Würde ich nie tun. Außerdem glaube ich, die beiden haben im Moment
genug mit sich selbst zu tun. Was war denn das für ein Streit gerade eben?«
»Tom sagt, das geht schon seit einer Weile so. Mark zieht sich ständig
dieses neue Computerspiel rein, Gunmen 5 oder wie das heißt, jedenfalls
hockt er in jeder freien Minute vor dem PC.«
Nathaniel hielt uns die Tür auf und folgte uns die Treppen hinauf, ohne
sich etwas anmerken zu lassen.
»Aber Chrissy verbringt doch auch viel Zeit beim Reittraining mit Julius
Caesar«, murmelte ich.
»Ja, und Mark und Tom haben ihr Hockeytraining. Aber diese
Computerspiel-Sache scheint wirklich außer Kontrolle geraten zu sein, wenn
sogar Tom sagt, dass Mark süchtig danach ist. In den letzten Wochen hat er
sogar das Training ausfallen lassen, angeblich um zu lernen, aber Tom glaubt,
dass er in Wahrheit gespielt hat.«
Ich runzelte die Stirn. Anscheinend war ich der letzten Zeit so auf die
Prüfungsvorbereitung konzentriert gewesen, dass ich gar nicht bemerkt
hatte, in welchen Problemen meine Freunde steckten.
Wir betraten mit dem Läuten der Schulglocke die Klasse. Madame Dupont,
die die erste Klausur an diesem Tag beaufsichtigte, winkte uns eilig zu
unseren Plätzen. Chrissy und Mark saßen in der Reihe vor uns und zeigten
einander die kalte Schulter. Anne sank wie ein Häufchen Elend neben mir auf
den Stuhl und Nathaniel hatte einen ernsten, grüblerischen
Gesichtsausdruck, der ganz bestimmt nichts mit der bevorstehenden Prüfung
zu tun hatte.
Na großartig, dachte ich und kramte einen Kugelschreiber aus meiner
Tasche hervor. Wenn eine Abiturklausur in Französisch noch das Beste am
ganzen Tag war, dann war das wirklich kein gutes Zeichen.
Nachdem wir die Französischarbeit hinter uns gebracht hatten und eine
sehr schweigsame Mittagspause, in der Chrissy und Mark sich ignorierten,
während Anne nervös in ihrem Essen herumstocherte, erwartete uns am
Nachmittag die zweite Klausur.
Ich kämpfte mich durch den Deutschaufsatz, während meine Gedanken
immer wieder abwechselnd zu Mark und Chrissy, Anne, Marcellus und dann
zu dem fremden, violettäugigen Dämon aus meinem Traum wanderten. Ich
bemerkte, dass Nathaniel jedes Mal zu mir herüberblickte, wenn ich an den
Dämon dachte, und dabei kräuselten sich schwarze Flammen auf seiner Haut.
Bitte halt dich mit deinen dämonischen Kräften heute zurück, dachte ich, als wir
schließlich nach Abschluss der Klausur gemeinsam die Treppen
hinunterstiegen und das Schulhaus verließen. Mark und Chrissy sind auch so
schon geladen genug, die müssen nicht noch durch deine dämonische Nähe angefeuert
werden.
Nathaniels dämonische Energie hatte auf andere Menschen eine
beängstigende, zornschürende Wirkung, von der nur ich verschont blieb. Wie
auf Kommando brach Chrissy wieder einen Streit von Zaun, kaum dass wir
das Schulhaus verlassen hatten.
»Weißt du was, wenn dir das blöde Spiel so wichtig ist, dass du jeden
Abend damit verbringen musst, dann solltest du vielleicht auch mit dem Spiel
auf Urlaub fahren, anstatt mit mir!«
»Was regst du dich so auf, ich hätte mit dem Spielen doch gar nicht
angefangen, wenn du nicht mehr Zeit mit deinem Gaul verbringen würdest
als mit mir!«
»Das nennt man Training, du Idiot! Das Sommerturnier steht an, das
weißt du ganz genau!«
»Irgendein Turnier steht immer an! Und nenn mich nicht Idiot!«
Ich blieb seufzend auf dem Parkplatz zurück, während Chrissy und Mark
streitend in Richtung Bus weiterliefen. Anne blieb zögernd bei mir stehen.
»Bis morgen, dann«, sagte ich und lächelte sie aufmunternd an. »Noch
zwei Klausuren, dann ist es geschafft. Dann haben wir eine Weile Ruhe.«
Genau genommen waren die nächsten zweieinhalb Wochen als
Vorbereitungszeit auf die mündlichen Prüfungen gedacht, die im Juni
stattfinden würden, aber wenigstens hatten wir in dieser Zeit keinen
Unterricht mehr.
Anne nickte und biss auf ihrer Unterlippe herum.
»Es wird schon alles gut werden«, flüsterte ich und drückte sie. »Lass uns
das morgen noch über die Bühne bringen, okay?«
Anne zuckte halbherzig mit den Schultern. Dann lächelte sie Nathaniel
traurig an und trottete mit gesenktem Kopf hinter Mark und Chrissy her.
»Wow«, murmelte ich, als ich neben Nathaniel in den Hummer einstieg.
»Was für ein Tag.«
»Ich hoffe sehr, dass Marcellus etwas über diesen verdammten Dämon
herausgefunden hat«, knurrte Nathaniel, ohne im Geringsten auf Annes
Situation einzugehen, und lenkte den Wagen auf die Straße. »Ich kann es gar
nicht abwarten, ihm meine Klauen in die Flügel zu schlagen.«
Nathaniels Flammen züngelten unaufhörlich vor Ärger. Es war kein
Wunder, dass Mark und Chrissy so aufeinander losgegangen waren.
»Er hat sich an mir vorbeigeschlichen, dieser Mistkerl«, zischte Nathaniel
aufgebracht. »Er hätte dich angreifen können, er hätte dir sonstwas antun
können!«
»Ich weiß.« Ich berührte beruhigend seine Hand. Die schwarzen Flammen
kitzelten kühl meine Haut. »Hat er aber nicht. Ist es nicht merkwürdig, dass
er mich um Hilfe gebeten hat?«
»Das Einzige, was mich interessiert, ist, wie ich diesen Kerl am schnellsten
aus dem Weg räumen kann«, erwiderte Nathaniel hitzig.
»Wie ist er überhaupt an dir vorbeigekommen? Ich meine, ist das nicht
unmöglich?«
Seine Augen blitzten bei meiner Frage bedrohlich auf. »Ich werde dafür
sorgen, dass es in Zukunft unmöglich sein wird!« Zornig jagte er den
Hummer über eine Kreuzung. »In Wirklichkeit habe ich keine Ahnung, wie es
ihm gelungen ist.« Er ließ ein frustriertes Schnauben hören. »Das werde ich
aus ihm herausprügeln, bevor ich ihn in Fetzen reiße.«
Kaum hatten wir Marcellus‘ Penthouse erreicht, eilte Sophie uns entgegen.
»Victoria! Wie sind die Klausuren gelaufen? Ist alles gut gegangen?«
»Wo ist er?«, fragte Nathaniel barsch und stürmte an Sophie vorbei, die
missbilligend die Stirn runzelte. Dann umarmte sie mich und führte mich
hinter Nathaniel ins Wohnzimmer.
»Ich habe einen Kuchen gebacken, um die überstandenen Prüfungen zu
feiern.«
Ihr Fürsorge brachte mich zum Lächeln. Marcellus erwartete uns im
Wohnzimmer, doch anders als seine Frau hatte er eine sehr ernste Miene
aufgesetzt. Er sah noch erschöpfter und sorgenerfüllter aus als am Morgen.
Zu meiner Überraschung waren auch Moana und der Colonel anwesend.
Die kleine, rundliche Hawaiianerin, die Nathaniel und mich verbunden hatte,
trug ein bodenlanges, geblümtes Kleid und sah ebenso erschöpft aus wie
Marcellus. Der Colonel, der sie um mehr als zwei Köpfe überragte, hatte einen
ernsten Gesichtsausdruck und trug wie immer einen Kampfanzug in
Tarnfarben. Ich fragte mich unwillkürlich, ob er so etwas wie zivile Kleidung
überhaupt besaß.
»Moana! Ich wusste gar nicht, dass Sie in Wien sind«, begrüßte ich den
Nexus.
Sie nickte mir freundlich zu. »Nur auf der Durchreise, meine Kleine.
Geschäftlich.« Ihr Blick flackerte zu Marcellus.
Sophie ließ sich nicht beirren und drängte mich, Platz zu nehmen. Mit
Bestimmtheit drückte sie ebenfalls Nathaniel auf einen Sessel, der sich ihr
nur widerstrebend fügte.
»Was hast du herausgefunden, Marcellus?«, fragte er ohne Umschweife.
Sophies Schokoladenkuchen sah köstlich aus und ich merkte, wie
ausgehungert ich nach dem anstrengenden Tag war.
»Ich habe meine Kontakte genutzt, um herauszufinden, wer dieser
violettäugige Dämon ist«, begann Marcellus, während er sich von Sophie eine
Tasse reichen ließ. »Die schlechte Nachricht ist: Niemand scheint es zu
wissen.«
»Gibt es auch eine gute Nachricht?«, knurrte Nathaniel.
Marcellus nickte. »Ich habe mir von Melinda eine Liste der Engel schicken
lassen, die in den letzten fünfzig Jahren gefallen sind. Wenn er, wie Victoria
gesagt hat, nur über wenige, frische Narben verfügt, dann war sein Fall
wahrscheinlich erst vor kurzem. Das bedeutet, dass er einer dieser Engel sein
muss.« Marcellus legte eine Liste auf den Kaffeetisch.
»So viele Engel sind in den letzten fünfzig Jahren gefallen?«, flüsterte ich
und griff entsetzt nach den zusammengehefteten Seiten. Die Liste war
übelkeiterregend lang.
Melinda Seemann, eine alte Freundin der Van den Bergs, hatte die Liste
zur Verfügung stellen können, da es als Chronistin ihre Aufgabe war, das
Schicksal jedes Engels festzuhalten. So wusste sie auch über jeden einzelnen
Engel Bescheid, der gefallen war. Ich blätterte auf die letzte Seite und spürte
einen Stich, als ich Nathaniels Namen las.
»Das ist eine Liste der weltweit gefallenen Engel der letzten fünfzig Jahre«,
sagte Marcellus. »Melinda hat für mich mit ihren Kollegen telefoniert und
diese Liste zusammengestellt.«
»So effizient wie immer«, fügte Sophie mit freundlicher Anerkennung
hinzu.
»Warum hast du einen Zeitraum von fünfzig Jahren gewählt?«, fragte ich
Marcellus. »Ist das nicht viel zu lang?«
»Fünfzig Jahre bedeuten für Engel nicht dasselbe wie für Menschen«, sagte
Marcellus. »Es könnte durchaus sein, dass sein Fall noch länger her ist, aber
ich dachte, wir fangen mit den letzten fünfzig Jahren an.«
»Das sind zu viele Namen«, seufzte Nathaniel, nahm mir die Liste aus der
Hand und blätterte sie durch. »So werden wir ihn niemals rechtzeitig finden.
Er könnte jederzeit wieder zuschlagen. Verdammt, Marcellus, wie hat er es
geschafft, sich an mir vorbeizuschleichen?«
»Mit Hilfe eines Bannfluchs«, schaltete sich Moana ein.
Nathaniel verzog ärgerlich die Lippen, als würde er die Zähne blecken.
»Was ist denn ein Bannfluch?«, fragte ich.
»Das ist ein Zauber, um einen Dämon an einem Ort festzuhalten oder von
einem Ort fernzuhalten. Ich kenne einen Dämonenstamm im
Amazonasgebiet, der sich auf diese Art von Zauberkunst spezialisiert hat.
Richtig angewendet sind Bannflüche sehr effektiv, auch wenn ihre Macht
nicht lange anhält.«
»Dann gehört der violettäugige Dämon zu einem Stamm im Amazonas?«,
fragte ich erstaunt.
»Nicht unbedingt«, sagte der Colonel. »Die Amazonasdämonen sind
Söldner, sie bieten ihre Zauberkunst jedem an, der dafür bezahlt.«
Vielleicht hatte er selbst bereits die Dienste dieses Dämonenstammes in
Anspruch genommen. Ein Bannfluch schien mir genau die Art von Waffe zu
sein, die dem Colonel gefallen würde.
»Dann hat der violettäugige Dämon meinen Traum mit einem Bannfluch
belegt, damit Nathaniel mir nicht folgen konnte?«
»Ich glaube, dass es das Labyrinth war«, sagte Moana nachdenklich. »Das
klingt wie ein typischer Zauber der Amazonasdämonen. Er hat dich durch das
Labyrinth geschleust, das gleichzeitig Nathaniel ferngehalten hat.«
»Das bedeutet also, wir wissen, wo er sich Hilfe geholt hat, aber nicht, wer
er ist«, knurrte Nathaniel, seine Stimmer voller Ungeduld und Frustration.
»Wir wissen einiges über ihn«, sagte der Colonel. »Er ist clever genug, um
diese Sache mit dem Bannfluch auf die Beine zu stellen. Die meisten
Dämonen lassen sich von ihren Instinkten leiten, sie sind impulsiv und
verfügen weder über die Geduld, noch über die geistigen Fähigkeiten, um so
etwas zu planen.«
»Ein Haufen Wilder«, ertönte plötzlich Ramiels Stimme neben mir. Ich
warf ihm einen verärgerten Blick zu.
»Jetzt tauchst du auf? Ich hätte dich heute während der Klausuren
gebraucht, nach allem, was passiert ist.«
Ramiel lehnte sich entspannt zurück. »Du hast es hervorragend ohne
meine Hilfe geschafft.«
»Was ist denn sonst noch passiert?«, fragte Sophie besorgt, aber Nathaniel
winkte ab.
»Jedenfalls nichts, was mit dem Violettäugigen zu tun hat. Sie sagten,
Colonel?«
»Na, hör mal!«, protestierte ich. »Mark und Chrissy trennen sich vielleicht,
und Anne … Anne …« Mir wurde bewusst, dass die Aufmerksamkeit der
ganzen Runde auf mir lag. »Anne hat persönliche Probleme«, schloss ich.
»Vic, es geht hier um deine Sicherheit«, sagte Nathaniel eindringlich.
Gleichzeitig drückte er sanft meine Hand, eine Bitte um Verzeihung für sein
schroffes Verhalten.
»Ich glaube, dass dieser Dämon nicht zwangsläufig jung sein muss«, fuhr
der Colonel fort. »Die Tatsache, dass er mit den Amazonasdämonen im Bunde
war, deutet darauf hin, dass er sich gut in der Dämonenwelt auskennt. Doch
weder Marcellus‘ Kontakte, noch ich und meine Männer haben jemals von
ihm gehört, und das will etwas heißen. Er scheint wie ein Geist zu sein.
Vielleich hat er deshalb so wenig Narben, weil er Kämpfen aus dem Weg geht
und sein Gesicht versteckt.«
Nathaniel ließ die Luft zwischen seinen Zähnen entweichen. »Dann haben
wir es also mit einem intelligenten Dämon zu tun, der Spezialtricks auf Lager
hat und gern aus dem Hintergrund arbeitet. Was sagt uns das?«
»Dass er gefährlicher ist als ein Durchschnittsdämon«, sagte Ramiel
trocken. »Er rennt nicht einfach wie eine wildgewordene Bestie auf sein
Opfer zu, um es aufzuspießen. Nichts für ungut, Nathaniel.«
Mein Schutzengel warf ihm einen flammenden Blick zu, den Ra lächelnd
wegsteckte.
»Aber warum?«, fragte ich. Alle sahen mich an. »Warum hält er sich im
Hintergrund, statt wie ein normaler Dämon seiner Aggressivität
nachzugeben? Könnte es etwas mit dieser merkwürdigen Augenfarbe zu tun
haben?«
Der Colonel und Moana wechselten einen wissenden Blick.
»Es ist nur so, dass diese violetten Augen … mich irgendwie an Nathaniels
Augen erinnert haben«, fuhr ich fort und blickte Nathaniel entschuldigend
an. »Ich bin außer dir noch keinem Dämon begegnet, dessen Augen nicht rot
waren.«
»Halten Sie das für möglich?«, fragte Marcellus den Colonel.
»Die rote Farbe der Augen kommt vom Grad des Bösen, dem der Dämon
verfallen ist«, erklärte der Colonel. »Je mehr böse Taten er verübt, desto
intensiver und dunkler wird der Rotton.«
»Was sagt uns das jetzt über den Violettäugigen?«, fragte Nathaniel barsch.
Er schien mit seiner Geduld am Ende zu sein.
Der Colonel seufzte. »Nur, dass er kein gewöhnlicher Dämon ist.«
»Ist mir egal, was er ist«, knurrte Nathaniel. »Ich will ihn zu fassen kriegen
und unschädlich machen, bevor er Victoria noch ein Mal zu nahe kommt.«
»Dabei kann ich dir vielleicht helfen.« Der Colonel öffnete den
Reißverschluss der Tasche, die neben ihm auf dem Boden stand. Er zog etwas
Schweres heraus und legte es klirrend auf den Tisch. Sophie wich erschrocken
zurück.
Es waren Fesseln aus schmiedeeisernen Ketten.
»Was ist das?« Nathaniel griff danach. Doch kaum berührten seine Finger
das Metall, sog er scharf die Luft ein und zuckte zurück.
»Das Eisenerz dieser Ketten stammt von geweihtem Boden«, erklärte der
Colonel. »Ebenso wie die Kugeln und Klingen, die meine Männer und ich
verwenden. Aber diese Ketten haben noch eine weitere besondere
Eigenschaft: Ich habe sie von dem Amazonasstamm erworben.«
»Sie sind mit einem Bannfluch belegt?«, fragte Moana leise.
Der Colonel nickte. »Der Fluch ist stark genug, um einen Dämon für eine
Weile festzuhalten. Doch irgendwann werden die Ketten brechen, je
nachdem, wie stark der Dämon ist.«
»Vorher werde ich diesen Mistkerl stückchenweise zurück in die Hölle
befördern«, fauchte Nathaniel.
»Ihr wollt den Dämon fangen?«, fragte ich. »Wie sollen wir das anstellen?«
»Wir müssen ihn in eine Falle locken«, sagte Nathaniel.
»Bringt ihn dazu, sich mit euch auf verfluchtem Boden zu treffen«, riet der
Colonel. »Dort fühlen Dämonen sich stark, er wird sich im Vorteil wähnen.«
Ich wandte mich dem Colonel zu. »Verfluchter Boden?«
»Hinrichtungsschauplätze oder Schlachtfelder, zum Beispiel.«
»Wo gibt es denn in Wien ein Schlachtfeld?«
»Auf dem Leopoldsberg«, sagte Marcellus nachdenklich. »1683 schlugen
dort die Armeen des Heiligen Römischen Reichs und Polens das osmanische
Heer in die Flucht, das Wien belagert hatte. Es gab 20.000 Tote.«
»Außerdem gibt es dort die Leopoldskirche, also geweihten Boden, falls ihr
Zuflucht suchen müsst«, sagte Sophie.
»Bleibt die Frage: Wie locken wir den Violettäugigen dorthin?«, fragte
Ramiel.
Ich hatte schon eine Idee und blickte Nathaniel in die Augen.
»Kommt nicht in Frage«, knurrte er. »Schlag dir das aus dem Kopf!«
»Was denn?«, wollte Marcellus wissen.
»Sie will es ihm persönlich vorschlagen.«
»Hör mal, wir wissen nicht, wer er ist, oder wie wir an ihn rankommen
können. Und offenbar kann er mich träumen lassen, was immer er will, ohne
dass wir ihn aufhalten können«, sagte ich. Nathaniels Feuer loderte bei
meinen Worten auf. »Also haben wir gar keine andere Möglichkeit, als
abzuwarten, bis er wieder in meinen Träumen auftaucht und ich mit ihm
sprechen kann.«
»Gefällt mir nicht«, stieß Nathaniel zwischen den Zähnen hervor.
»Ich weiß.« Ich drückte seine Hand. Seine schwarzen Flammen züngelten
zwischen meinen Fingern hoch. »Aber er hat mir gestern Nacht nichts getan.
Er hat mich … nicht einmal berührt.« Mir wurde diese Tatsache erst bewusst,
als ich sie aussprach. »Er hätte mich mit seiner Berührung verletzen können,
aber er hat es nicht getan. Er hat nur um Hilfe gebeten.«
»Das ist ein Trick«, protestierte Nathaniel.
»Wenn er wieder auftaucht, dann werde ich ihm sagen, dass wir ihm
helfen werden, wenn er sich mit uns auf diesem Schlachtfeld am
Leopoldsberg trifft. Dort kannst du ihm dann die Ketten anlegen und ihn
fragen, was er will.«
»Ich werde ihn nicht fragen, was er will, Vic!«, stieß Nathaniel fassungslos
hervor. »Ich werde ihm eine Lektion erteilen, die er nie wieder vergisst, und
die allen anderen Dämonen eine Warnung sein wird, nicht auf die Idee zu
kommen, mich mit einem Bannfluch aus deinen Träumen fernzuhalten!«
»Er hat Recht, Vic«, sagte Ramiel ruhig. »Das Letzte, was wir brauchen, ist,
dass dieses Beispiel Schule macht.«
Ich atmete tief durch. »Pass auf, Nathaniel. Ich werde ihm sagen, dass er
uns auf dem Berg treffen soll, und dann … sehen wir weiter, in Ordnung?«
Nathaniel sah mich entgeistert an. »Du vertraust ihm doch nicht etwa,
oder?«