Hausarbeit: Zur Geschichte einer aktuellen

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Hausarbeit: Zur Geschichte einer aktuellen
Zonta Club Bern. Advocacy-Day 2014.
Referat: Simona Isler (Uni Basel und Wide Switzerland)
Hausarbeit: Zur Geschichte einer aktuellen Problematik
Begrüssung
Ich erhoffe mir von der Gelegenheit, hier sprechen zu dürfen, dass Einiges hängen bleibt und
am Schluss vielleicht sogar einsichtig ist, was die Arbeit einer Historikerin mit Problemen der
Gegenwart zu tun haben könnte. Und warum mir die Arbeit der Frauen nicht nur als
Wissenschaftlerin am Herzen liegt.
Ich möchte erstens das Phänomen „Hausarbeit“ als unbezahlte Arbeit von Frauen in
Privathaushalten historisch einordnen. Zeigen, dass nicht schon Beerensammlerinnen der
Steinzeit und auch nicht Bäuerinnen des Mittelalters Hausfrauen waren. Sondern dass die
Entstehung der Hausarbeit eng mit der Geschichte der Industrialisierung und des
Kapitalismus verknüpft ist und sie insofern historisch ein relativ neues Phänomen ist.
Für den zweiten Teil des Vortrages werde ich in die Gegenwart springen und versuchen
Ihnen in wenigen Sätzen die heutige Situation (haus)arbeitender Frauen zu beleuchten
Moderne Hausarbeit – ein Gegenstand mit Geschichte
Ich möchte Ihnen also den historischen Charakter der modernen Hausarbeit deutlich
machen. Denn Hausarbeit, so wie sie heute existiert und thematisiert wird, kann nicht
gleichgesetzt werden mit Haushaltstätigkeiten in anderen historischen oder kulturellen
Kontexten. Deswegen ist es wichtig, den spezifischen und neuen Charakter der Haus- und
Familienarbeit im bürgerlichen, kapitalistischen Gesellschaftssystem zu erläutern.
Ein wichtiges Element der Verbürgerlichung westlicher Gesellschaften seit Beginn des 19.
Jahrhunderts war die Trennung von Erwerbs- und Familienleben. Mit der Auflösung der
agrarischen Feudalgesellschaften verschwand allmählich die zuvor dominierende
Lebensform des Familienhaushalts als Wirtschaftseinheit. In dieser vorindustriellen Form des
Wirtschaftens beruhte die agrarische wie auch die gewerbliche Produktion auf der
Gesamtheit eines Haushalts, in welchem Männer, Frauen und Kinder arbeiteten. Zwar
existierte eine geschlechtliche Arbeitsteilung, die Frauen andere Bereiche zuwies als
Männern. Diese Teilung war aber nicht allzu streng und relativ flexibel dem Bedarf der
gesamten Familienwirtschaft anpassbar. Zu den Hauptaufgaben der Frauen gehörte zum
Beispiel die Verwaltung des Einkommens des Betriebs. Die verschiedenen Tätigkeiten waren
nicht unterschiedlich ökonomisch bewertet, denn die Arbeiten aller Familienmitglieder, zu
denen auch das Gesinde zählte, bildeten notwendige Bestandteile zum Erwirtschaften des
Familienunterhalts.
Mit der industriellen Produktionsweise entstand eine neuartige Trennung von spezifischen
Sphären: Die Lohnarbeit auf der einen Seite und die Haus- und Familienarbeit als NichtLohnarbeit auf der anderen Seite. Der finanzielle Unterhalt der Familie wurde mit der
Industrialisierung nicht mehr zu Hause im Familienbetrieb, sondern ausserhaus,
beispielsweise in der Fabrik erwirtschaftet.1
1
Barbara Duden/Gisela Bock: Arbeit aus Liebe – Liebe als Arbeit. Zur Entstehung der Hausarbeit im Kapitalismus. In: Frauen
und Wissenschaft. Beiträge zur Berliner Sommeruniversität für Frauen. Berlin 1976. S. 118-199.
9.4.2014
Zonta Club Bern. Advocacy-Day 2014.
Referat: Simona Isler (Uni Basel und Wide Switzerland)
Die Mehrheit der Frauen arbeitete als Heim- und als Fabrikarbeiterinnen gegen Lohn.
Einerseits arbeiteten diese Frauen aus ökonomischen Gründen für Lohn, weil das
Männereinkommen nicht für den Lebensunterhalt der Familie reichte. Gleichzeitig entsprach
ihr Mitverdienen auch der vorindustriellen Praxis: Frauen hatten immer schon gearbeitet
und zur Familienökonomie beigetragen.2
Der räumlichen Aufteilung der Erwerbsarbeit in der Fabrik oder im Betrieb und der Hausund Familienarbeit am Wohnort entsprachen bürgerliche Geschlechternormen. Nach diesen
waren es die Männer, welche mit Erwerbsarbeit für den Familienunterhalt zu sorgen hatten,
während sich die Frauen um den Haushalt und die Familie kümmerten. Begründet wurde
diese geschlechterspezifische Arbeitsteilung mit der Biologie. Es entspreche den natürlichen
Bedürfnissen und Fähigkeiten der Frauen, aus Liebe ihre Kinder und Ehemänner zu
umsorgen.3
Allerdings war es einer Mehrheit der Frauen keineswegs möglich, sich ausschliesslich auf die
unbezahlte Arbeit im Haushalt und in der Familie zu beschränken, wie es der Norm
entsprochen hätte. In der sozialen Wirklichkeit hatten die meisten Frauen einen Haushalt
nach modernen bürgerlichen Kriterien zu führen und waren gleichzeitig nach wie vor auf
eine ausserhäusliche Erwerbsarbeitsstelle angewiesen.
Für Frauen der Oberschicht wurde das Hausfrauendasein ebenfalls zur Norm. Ehemaligen
Haushaltsvorsteherinnen, die die Hausarbeit der Bediensteten beaufsichtigten und
organisierten, wurden zu Hausfrauen erklärt: die ehemalige Hausherrin führte nicht mehr
Aufsicht über Dienstbotinnen, sondern verrichtete nun eigens unbezahlte Hausarbeit. Die
gesellschaftlichen Ansprüche an Frauen ehemals ganz unterschiedlicher sozialer Positionen
war in Bezug auf die Hausarbeit schichtübergreifend vereinheitlicht worden.
Dieses historisch gewachsene Arrangement war eine Grundvoraussetzung für das
Wirtschaftswachstum nach 1945. Frauen trugen als unbezahlte Hausarbeiterinnen und als
billige Erwerbsarbeitskräfte einen grundlegenden Teil zum Wohlstand westlicher
Industriegesellschaften bei.4
Die moderne Hausarbeit ist also ein Produkt gesellschaftlicher Umwälzungen des 18. und
des 19. Jahrhunderts. Wirklich durchsetzen konnte sich diese Arbeitsform aber erst im 20.
Jahrhundert. Und auch dann veränderten sich die Inhalte von Hausarbeit ständig. So
bedeutete zum Beispiel das Waschen seit der Waschmaschine im Vergleich nicht mehr einen
allzu grossen Arbeitsaufwand. Dafür sind gesellschaftliche Ansprüche an Kindererziehung
und Beziehungspflege im Allgemeinen ständig gestiegen. Der Hausarbeitsaufwand hat sich
durch neue technischen Möglichkeiten und Industrieprodukten (Nahrungsmittel) zwar
verändert, aber nicht vermindert, weil mit den neuen Möglichkeiten auch laufend neue
Ansprüche an Hausfrauen formuliert wurden.
2
Joan Scott/Louise Tilly: Familienökonomie und Industrialisierung in Europa. In: Claudia Honegger/Bettina Heintz (Hg.):
Listen der Ohnmacht. Zur Sozialgeschichte weiblicher Widerstandsformen. Frankfurt 1984. S. 99-137.
3
Karin Hausen: Die Polarisierung der "Geschlechtscharaktere". Eine Spiegelung der Dissoziation von Erwerbs- und
Familienleben. In: Conze, Werner (Hg.): Sozialgeschichte der Familie in der Neuzeit Europas. Neue Forschungen. Stuttgart
1976. S. 363-393.
4
Vgl. Bock/Duden.
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Wandel und Konstanz
An dieser Stelle muss ich aus Zeitgründen leider einen Sprung machen. Es wäre zwar
durchaus interessant die Geschichte der Hausarbeit im Detail durch das 20. Jahrhundert
hindurch zu verfolgen. So könnte ich zum Beispiel über den von bürgerlichen Frauen
beklagten „Dienstbotinnenmangel“ um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert sprechen.
Oder ich könnte Ihnen von der Rationalisierungseuphorie in der Zwischenkrigszeit erzählen,
die auch im Haushalt ihre Spuren hinterliess. Oder von der Forderung „Lohn für Hausarbeit“,
die in den 1970er Jahren eine weltweite Bewegung begründete. Das würde aber den
Rahmen der Veranstaltung sprengen. Wichtig ist festzuhalten, dass sich der Gegenstand
Hausarbeit weiter wandelt – und sich nicht etwa gleich bleibt. Es ist also unabdingbar, immer
wieder von Neuem zu fragen, was „Hausarbeit“ ist, was sie bedeutet, in welchen
gesellschaftlichen und ökonomischen Zusammenhängen sie betrachtet werden muss?
Zugleich können aber auch gewisse Konstanten festgestellt werden in der Geschichte der
modernen Hausarbeit. Dabei handelt es sich nicht um ahistorische Konstanten, sondern um
solche, die mit der kapitalistischen Produktionsweise und der entsprechenden
Gesellschaftsordnung zu begründen sind: Hausarbeit ist in diesen historischen
Zusammenhängen grundsätzlich Frauenarbeit, gar nicht oder nur sehr schlecht entlöhnt,
tendenziell unsichtbar und eine private Angelegenheit.
Ich möchte also, gewissermassen beispielhaft an der gerade aktuellen, gegenwärtigen
Situation zeigen, was die Realität unbezahlter Hausarbeit – und das muss ich für die
Gegenwart hinzufügen – schlecht bezahlter Sorgearbeit ausserhalb der Haushalte – im
Konkreten bedeuten kann. Ich werde also in der Folge als Historikerin über die Gegenwart
sprechen. Dabei erlaubt mir der Blick in die historischen Quellen Distanz aufzubauen zu
meiner eigenen Zeit, zum Hier und Jetzt und den mich umgebenden und bewegenden
gesellschaftlichen und politischen Problemen. Die Distanz zu meiner eigenen Zeit wiederum
gestattet es mir Selbstverständliches zu hinterfragen. Denn: Nichts ist selbstverständlich – es
könnte grundsätzlich immer auch anders gekommen sein.
Frauenarbeit im 21. Jahrhundert: Viel Arbeit und wenig Geld
Wenn wir der Geschichte von Frauen und ihrer Arbeit auf den Grund gehen wollen, können
wir uns weder auf die Geschichte der Hausarbeit, noch auf die Geschichte der weiblichen
Erwerbsarbeit beschränken. Dass es stattdessen einen erweiterten Blick braucht, der die
gesamte Arbeitsrealität von Frauen in den Fokus nimmt, scheint mir richtig und wichtig für
das Verständnis sowohl vergangener wie auch aktueller Problemlagen. Dies gilt in
besonderer Weise seit der Auslagerung ehemals familiärer Arbeiten in einen neuen Markt
personenbezogener Dienstleistungen, die in den 1970er Jahren ihren Anfang nahm.
Aber von vorne und zurück zur Hausarbeit: Diese wird heute weiterhin von Frauen gemacht.
Die Statistik spricht hier Klartext und belegt unter anderem das Hausmänner vor allem ein
Mythos sind. Ausserdem gilt es festzuhalten, dass es sich bei der unbezahlten Hausarbeit um
ein unglaublich grosses Arbeitsvolumen handelt. Die möchte ich an den folgenden Grafiken
veranschaulichen:
9.4.2014
Zonta Club Bern. Advocacy-Day 2014.
Referat: Simona Isler (Uni Basel und Wide Switzerland)
9.4.2014
Erweitertes BIP: Bruttowertschöpfung (BWS) in %, 2004
47%
53%
BWS Haushalte
Übrige Wirtschaft
Quelle: Bundesamt für Statistik, (Schweizerische Arbeitskräfteerhebung) SAKE, Modul unbezahlte Arbeit,
Satellitenkonto T20.4.3.4, online März 2010, zitiert nach: Madörin, WIDE-Kurs, S. 7.
Aus der Grafik wird klar, dass die im unbezahlten (Haushalts-)Sektor jährlich erwirtschaftete
Wertschöpfung in etwa derjenigen des bezahlten Arbeitssektor entspricht. Ein weiteres
beeindruckendes
Beispiel:
Der
monetarisierte
Wert
der
(unbezahlten)
Mahlzeitenzubereitung entspricht 63 Milliarden Franken. Zum Vergleich: Im Banken- und
Versicherungswesen werden jährlich 60 Milliarden Franken umgesetzt.
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Volumen der bezahlten und unbezahlten Arbeit in der Schweiz, in Millionen Stunden, 2004
Quelle: Bundesamt für Statistik, SAKE, Modul unbezahlte Arbeit, AVOL (Arbeitsvolumenstatistik), online September
2010, zitiert nach: Madörin, verschiedene Arten, S. 10.
In der zweiten Grafik kommt das Arbeitsvolumen in Stunden gerechnet zum Ausdruck.
Insgesamt werden jährlich 8,7 Milliarden Stunden unbezahlt gearbeitet und 7,3 Milliarden
Stunden gegen Bezahlung. Allein das Zubereiten von Mahlzeiten zu Hause ist, was das
Arbeitsvolumen anbelangt, die grösste Wirtschaftsbranche überhaupt.
Neben den vielen Stunden, die Frauen unbezahlt arbeiten sind sie auch selbstverständlich
erwerbstätig. Das waren sie zwar schon früher. Aber auch hier gilt es wiederum zu fragen,
was Erwerbstätigkeit in einem spezifischen historischen Setting jeweils für die Einzelnen
bedeutet. Seit den 1970er Jahren entwickelte sich in der Schweiz und in anderen sogenannt
reifen kapitalistischen Ländern ein neuer spezifisch weiblicher Arbeitssektor: Der Sektor der
personenbezogenen
Dienstleistungen.
Darin
werden
zum
Teil
ehemalige
Hausarbeitstätigkeiten neuerdings marktvermittelt geleistet. In der zweiten Grafik wird
sichtbar, wie gross dieser Sektor ist: Alle Arbeitsstunden rechts der gestrichelten Linie
wurden personenbezogen geleistet (bezahlt und unbezahlt zusammen). Die grosse Mehrheit
der Frauen verdient ihr Geld im Bereich der bezahlten personenbezogenen Dienstleistungen
(Gesundheit, Bildung, Betreuung, Gastgewerbe, Verkauf, Reinigung…). Dieser Arbeitsmarkt
ist spezifisch strukturiert: Hier arbeiten vorwiegend Frauen in Teilzeit, unsicher, flexibilisiert,
auf Abruf, zu tiefen Löhne, und schlecht sozialversichert.
9.4.2014
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Soweit die Diagnose der Jetztzeit in der Kurzzusammenfassung: Frauen versorgen und
umsorgen die Menschen, im Haus und neuerdings vermehrt auch ausserhalb der Familien.
Sie arbeiten viel und bekommen dafür wenig Geld und soziale Sicherung. Diese Situation ist
Ausdruck des wirtschaftlichen Kostendrucks auf die Sorgearbeit. So kennen wir alle die
Spardebatte im Gesundheitswesen. Und aus persönlicher Erfahrung wissen wir, dass es das
Haushaltsbudget entlastet, wenn die Grossmutter einen Tag Kinderbetreuung übernimmt,
an Stelle der Kindertagesstädte.
Notwendige Sorgearbeit: Wie organisieren?
Aber warum ist der Druck auf die Sorgearbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, dermassen gross
und wächst weiter? Sorgearbeit (oft auch Care-Arbeit genannt) bedeutet:
Diese Arbeit, ob bezahlt oder unbezahlt, ist notwendig für unser Überleben und grundlegend
für unser Wohlergehen. Für alle! Alle waren mal Kinder und werden mal krank oder alt. Und:
Es werden hier keine Güter produziert. Sondern es geht um Beziehungen, Körperlichkeit,
Intimität, ...etc. Die Tatsache, dass es sich um sorgende Arbeit handelt, ist eine spezifische
Besonderheit, die diese grundsätzlich von Arbeit mit Gütern oder von nicht persönlichen
Dienstleistungen unterscheidet. Das bedeutet unter anderem, dass sich diese Arbeit nicht
rationalisieren lässt. Man kann Autos schneller zusammenbauen, indem man die Arbeit teilt,
fragmentiert und standardisiert, einzelne Arbeitsschritte an Maschinen delegiert und
Produktionsschritte ins billige Ausland verlagert. Diese Methoden funktionieren aber weder
in der Altenpflege noch in der Kinderbetreuung. Ein Säugling lässt sich nicht immer schneller
wickeln, ein kranker Mensch kann nicht immer schneller gesund werden und die Betreuung
und die Pflege muss vor Ort passieren.
Es gibt also eine meines Erachtens ungelöste Frage nach der Arbeitsorganisation, die es zu
klären gilt: Wie Sorgearbeit gut organisiert werden kann, wurde bisher kaum gefragt.
Stattdessen übertragen etwa im Gesundheitswesen Experten und Manager ökonomische
Rezepte d.h. Rationalisierungsprogramme aus dem Bereich der Güterproduktion auf die
sorgende Arbeit mit Menschen. Beispielsweise die Standardisierung der Arbeitsprozesse und
deren Aufteilung in einzelne kleine Arbeitsschritte. So berichten zum Beispiel
Spitexangestellte, wie ihre Arbeit behindert wird, weil qualifizierte Pflegefachfrauen zwar
Medikamente verabreichen dürfen aber nicht beim Strümpfe anziehen helfen sollen. Ein
geduldiges Gespräch mit den Bedürftigen liegt auch nicht drin.
Diese Anstrengungen die personenbezogene Arbeit zu rationalisieren kann nicht
funktionieren bzw. sie wirken sich verheerend auf die Qualität der Sorge aber auch auf die
Arbeitsbedingungen der Sorgearbeitenden aus. Welche Bedingungen und Räume braucht es,
damit beide Seiten (Sorgende und SorgeempfängerInnen) ihre Bedürfnisse formulieren und
zur Geltung bringen können? Was brauchen Menschen um sich als in einer bestimmten
Lebenssituation als Abhängige wohl und geachtet zu fühlen? Meines Erachtens ist es für die
Beantwortung dieser Fragen zentral die praktischen Erfahrungen der direkt Involvierten ins
Zentrum zu rücken, statt den abstrakten Konzepte des New Managements zu folgen. Fragen
wir also die Mütter und ihre Kinder, die Pflegefachfrauen und ihre Patienten, die Hebammen
und die Schwangeren, was sie brauchen, um ihre Arbeit gut machen zu können. Hören wir
die Frauen an, die Sorgerinnen und auch die Sorgeempfänger und -empfängerinnen. Dann
erfahren wir auch, dass Sorgearbeit beispielsweise Zeit erfordert. Zeit für Beziehung, Zeit
zum Zuhören und für Aufmerksamkeit, individuelle Begleitung statt standardisierte Abläufe.
9.4.2014
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Und wir erfahren auch, dass Sorgearbeit äusserst intensive und anstrengende Arbeit ist, von
welcher regelmässige Entlastung nötig ist.
Wer bezahlt die gute Sorge für alle?
Wenn wir einmal akzeptiert haben, dass sich Sorge nicht rationalisieren lässt (oder nur zu
einem sehr hohen Preis), folgt daraus unmittelbar, dass gute Gesundheit, Bildung, Pflege
und Betreuung kostet. Kosten darf und kosten soll! Hier möchte ich ein zweites konkretes
und zentrales Anliegen formulieren: Der Markt kann zu der Finanzierungsfrage nichts
beitragen – er verschärft das Problem. Einerseits weil der Markt unweigerlich Kosten
minimieren will und so den Druck auf die Arbeit erhöht. Andererseits weil auf dem Markt
nur einkaufen kann, wer es sich leisten kann. Alle anderen bleiben angewiesen auf die
Gratisarbeit von Müttern, Schwestern, Grossmüttern und Töchtern. Ungleichheit und
Ungerechtigkeit verfestigen sich in der Folge. Die Arbeit und die Kosten werden auf die
Schwächsten abgeschoben: Frauen und insbesondere auch Migrantinnen, indem das Gefälle
zwischen Staaten und Regionen zur Kostenminimierung gnadenlos ausgenutzt wird. Wollen
wir die Qualität der Sorge nicht gefährden, sondern sowohl anständige Bedingungen für
Arbeitende wie auch für alle Sorgeempfängerinnen (nicht nur für die reichen), dürfen wir
weder die Bildung, noch die Gesundheit, noch die Kinder, noch die Alten den
Marktmechanismen Wertschöpfung und Produktivität überlassen. Weil sich die Sorge nur
mit äusserst schmerzlichen Folgen gewinnbringend organisieren lässt, muss sie also der
Marktlogik entzogen werden. Das heisst, es muss Aufgabe der Gesellschaft als Ganzes sein,
gute Arbeitsbedingungen für die Sorgearbeit von Frauen (im Haushalt und ausserhalb) zu
ermöglichen, und also das nötige Geld dafür zur Verfügung zu stellen.
Das ist eine Frage der Umverteilung von Ressourcen und somit eine Frage des politischen
Willens – und nicht, wie häufig suggeriert, ökonomischer Zwänge. Alleine für die Pflege von
kranken über 65-jährigen Menschen gibt beispielsweise der schwedische Staat im Jahr rund
10 Milliarden Franken mehr aus als die Schweiz, ohne dabei wirtschaftlich zu Grunde zu
gehen. 5 Es geht also um zig Milliarden Franken, die in der Schweiz für Care-Arbeit
bereitgestellt werden müssen. Sorge-Arbeit braucht eine politische Lobby! Das es bisher
keine gibt, ist angesichts des riesigen Arbeitsvolumens des Care-Sektors, und vor allem der
Bedeutung dieser Arbeit für unseren Lebensstandard ein Armutszeugnis. Aber vielleicht
konnte ich ja die Eine oder Andere unter Ihnen, werte Zuhörerinnen, für dieses zentrale
gesellschaftspolitische Anliegen gewinnen. Denn es könnte auch anders sein.
5 Berechnung von Mascha Madörin (Faktenblatt Pflegeversicherung, unpubliziert) anhand von Daten des Eurostat online (Mai 2012, Tabellencode tsdde530).
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