Identitätsentwicklung - Schweizerische Fachstelle für Adoption

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Identitätsentwicklung - Schweizerische Fachstelle für Adoption
Identitätsentwicklung
Themenheft Nr. 2, 2010
Impressum
Herausgeberin:
Schweizerische Fachstelle für Adoption
Hofwiesenstrasse 3
Postfach 340
8042 Zürich
t: 044 360 80 90
f: 044 360 80 99
e: [email protected]
www.adoption.ch
Gestaltungskonzept:
Urs Bachmann, bfvg.ch
Gestaltung und Layout:
Jan Poldervaart, fractal projects
Illustrationen:
Michèle Bizaj, *1999
Mai 2010
Inhalt
Einleitung
4
Identitätsentwicklung bei abgebenden Müttern
7
Bericht einer abgebenden Mutter
7
Identitätsentwicklung bei Adoptivkindern
14
Bericht eines Adoptivkindes
14
Identitätsentwicklung bei Adoptiveltern
18
Bericht von Adoptiveltern
20
Beratungsstellen und Kursangebote
22
3
Einleitung
«Drum muss ich
noch einmal zurück
an so viele Orte,
um mich wieder zu finden.»
(Pablo Neruda, Der Wind)
4
Rolf Widmer
Geschäftsleiter
In diesem Themenheft wollen wir der Frage nachgehen, wie der Adoptionsprozess
die Identitätsentwicklung der Beteiligten
beeinflussen kann. Wir sind uns bewusst,
dass die näheren Umstände und besonderen Bedingungen einer Adoption so vielfältig sind, wie jeder Mensch einzigartig ist.
Der Adoptionsprozess greift, wie kaum ein
anderer Prozess, in die elementare ElternKind-Beziehung ein und hat weitreichende
seelische und soziale Folgewirkungen.
Die persönlichen Stellungnahmen von Betroffenen und die Hintergrundberichte sollen mithelfen, Frauen, die ihr Kind zur Adoption freigeben, zu verstehen, das Zusammenleben von Adoptivkindern und Adoptiveltern positiv zu gestalten sowie alle an
diesem Prozess Beteiligten zu unterstützen.
Junge Menschen, die in Adoptivfamilien
aufwachsen, haben neben allen andern
Herausforderungen, die Kinder bewältigen
müssen, die Zusatzaufgabe, zwei Familien
konstruktiv in ihr Leben zu integrieren:
Die, in der sie leben und jene, aus der sie
stammen.
Was bewegt diese jungen Menschen? Was
sind ihre spezifischen Themen? Wie können wir ein Adoptivkind auf dem Weg seiner Identitätsfindung, der Erarbeitung seiner Biografie, die wir meist nur bruchstückhaft kennen, unterstützen? Wo sind Grenzen gesetzt? Mancher junge Mann und
manche junge Frau stellt sich die Frage, ob
ein Mensch selbstbestimmt ein Lebenskonzept entwerfen kann oder ob die biologische Herkunft ihn in eine Richtung
drängt, er also quasi fremdbestimmt einen
vorbestimmten Weg gehen muss.
Nicht nur junge Menschen haben Zukunftsängste, sondern auch viele aufnehmende Eltern. Auch sie befürchten mitunter, bestimmte Anlagen der leiblichen Eltern könnten sich «durchsetzen», wenn
ihre Kinder älter werden. Was ist in den Genen hinterlegt, was sind Sozialisationsfaktoren, was sind weitere Umwelteinflüsse?
Den meisten abgebenden Müttern fällt es
schwer, sich von ihrem Kind zu trennen. Sie
tun es meist aus Liebe zu ihm. Sie sehen
sich nicht dazu in der Lage, dem Kind das
Aufwachsen in materieller und emotionaler
Sicherheit und einem stabilen Sozialisationsrahmen zu ermöglichen. Sie glauben,
dem Kind keine Rahmenbedingungen bieten zu können, in denen es seine Persönlichkeit und seine Fähigkeiten optimal entwickeln könnte. Das Weggeben ihres Kindes ist für viele Frauen ein Traumata, das sie
durchs ganze Leben begleitet.
Die nachfolgenden Beiträge sind Möglichkeiten, wie Identitäten von Menschen, die
an einem Adoptionsprozess beteiligt sind
(leibliche Eltern, Kind, Adoptiveltern),
sich entwickeln und verändern können.
Doch auch nach der Lektüre werden viele
Fragen offen bleiben. Die Mitarbeiterinnen
unserer Fachstelle stehen Ihnen gerne zur
Verfügung, begleiten Sie nach Wunsch
über kurze oder längere Zeit oder vernetzen
Sie mit anderen Fachleuten.
Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und gute Gespräche mit Ihren Kindern, Ihrem Partner, Ihrer Partnerin, Freunden und Freundinnen.
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Identitätsentwicklung
bei abgebenden Müttern
6
Gitta Lehner
Sozialarbeiterin FH
Jede Frau, die schwanger ist, erfährt eine
markante physische und psychische Veränderung. Auch wenn sie den Zustand des
Schwangerseins verdrängt, der Körper und
die Seele speichern das Heranwachsen des
Kindes. Für viele Frauen ist das Schwangersein etwas Schönes, Erwünschtes. Für einige Frauen nicht. Etwa zehn Prozent aller
Frauen entwickeln in der Schwangerschaft
eine Depression. Die Symptome sind unterschiedlich. Einige Frauen berichten von
einer grundsätzlichen Verzweiflung, andere
von einer inneren Leere, wieder andere von
einer übermässigen Gleichgültigkeit. Auch
psychosomatische Beschwerden treten häufig auf. Viele Frauen entwickeln düstere Zukunftsaussichten, ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit kann sich ausbreiten.
Um einiges prägnanter ist dieser Prozess bei
Frauen, die, aus welchen Gründen auch immer, zur Zeit des Mutterwerdens absolut
keine Perspektive mit einem Kind sehen
und sich dazu entschliessen, ihr Kind zur
Adoption freizugeben.
Auch abgebende Frauen entwickeln eine
Identität als Mutter
In den letzten 400 Jahren hat sich mit dem
steten Wandel der Familien- und Gesellschaftsstrukturen auch die Rolle der Mutter extrem verändert: Früher gehörte zur
traditionellen Familie auch das Gesinde.
Die Familie war kein Ort des Privatlebens,
sondern der Produktion. Der Kampf ums
Überleben bestimmte den Alltag und die
Kinder mussten schon früh mitarbeiten.
Das Gesinde war in die Erziehung der Kinder miteinbezogen. Die Hausgemeinschaft
wurde von der Nachbarschaft, dem Dorf
und der Gemeinde sozial kontrolliert. Verhalten, das nicht den Normen entsprach,
wurde geahndet.
Ab dem 20. Jahrhundert entwickelte sich
die Familie zur Kleinfamilie. Es gab eine
strukturbedingte Trennung von Wohnung
und Arbeitsstätte. Dem Mann oblag die
ausserhäusliche Erwerbsarbeit, die Frau
kümmerte sich um Hausarbeit und Kindererziehung. Die Wahl des Ehepartners wurde zur Liebeswahl und nicht länger von
ökonomischen Rücksichten bestimmt.
Seit den 80er Jahren hat sich diese Entwicklung fortgesetzt, indem die Frauen meist
auch einer Erwebstätigkeit nachgehen. Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, ist ein Anspruch, der sich einseitig nur
an die Frau richtet. Von ihr wird erwartet,
den Beruf der Familie unterzuordnen.
Wir haben in unserer heutigen
Gesellschaft idealisierte Mutterbilder und eine relativ genaue
Vorstellung davon, wie Frauen ihre Mutterschaft leben, wie sie gegenüber ihren Kindern fühlen
und sich verhalten sollen.
Entwickelt sich das Kind oder sein zukünftiges Leben nicht wie erwünscht, so wird
die Mutter mehr als der Vater dafür verantwortlich gemacht. Bereits während der
Schwangerschaft würden sich die Gefühle
der Frau auf das Kind übertragen, steht in
manchem Ratgeber und Sachbuch. Eine
werdende Mutter habe ihrer Schwangerschaft und ihrem Ungeborenen gegenüber
positive Gefühle zu empfinden, sie solle
mit dem Kind wohlwollend kommunizieren, es willkommen heissen.
Und was, wenn eine Frau keine solchen Gefühle und Gedanken hegt?
In unseren Köpfen hängt das Wohl eines
noch Ungeborenen und eines Säuglings
hauptsächlich vom Verhalten der Mutter
ab. Deren Rolle wird als extrem wichtig
und prägend eingeschätzt.
Das erwartete Verhalten und Fühlen und
das tatsächliche Empfinden einer werdenden Mutter, die ungewollt schwanger wurde, führen zu inneren Konflikten. Ein Anspruch ist die Präsenzfrage: Eine Mutter
hat sich nach der Geburt ihres Kindes um
dieses zu kümmern. Eine Mutter, die sich
von ihrem Kind abwendet, es in grosser
Not – jede abgebende Mutter befindet sich
in einer Notsituation – in fremde Hände
gibt, wird vom Umfeld, von der Gesellschaft in der Regel abgewertet, stigmatisiert. Kaum beachtet wird, wieviel Liebe
nötig ist, um ein Kind in fremde Hände zu
geben, ihm durch die Adoptionsfreigabe
ein perspektivenreicheres Leben zu ermöglichen. Es fällt abgebenden Frauen deshalb
oft schwer, offen über die Adoptionsfreigabe zu sprechen. Dieses Schweigen erschwert die Verarbeitung des Ereignisses.
Wie lebt eine Frau mit der Adoptionsfreigabe? Hier der Bericht einer Frau, die vor
44 Jahren Mutter wurde und dieses Muttersein nicht ausleben konnte:
«Ich war noch nicht 20 Jahre alt, kurz nach
der Berufslehre, als Sekretärin in einer
Handelsfirma in Zürich angestellt und bei
meinen Eltern wohnhaft, als ich die
Schwangerschaft feststellte. Dieser Umstand erschreckte mich sehr. Einerseits freute ich mich auf mein/unser Kind. Es wurden in mir zärtliche, mütterliche Gefühle
wach, der Wunsch, m e i n e m Kind alles
zu geben, was es zu einem guten Leben
braucht, es zu schützen gegen mögliche Angriffe von aussen. Andererseits fürchtete ich
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mich vor meinen Eltern, denn diese duldeten meine bereits 1 1/2-jährige Freundschaft mit P. in keiner Weise, da sie P. als arbeitsfaul und als Nichtsnutz einstuften. Sie
waren angesehene Geschäftsleute in einem
grösseren Dorf, und es wurde von den Kunden auf die heranwachsenden Kinder genau
geschaut. Eine Tochter, die sich nicht nach
den damals gängigen Normen verhielt,
konnte den Geschäftsumsatz nach unten
beeinflussen. Die logische Konsequenz am
Festhalten meiner Freundschaft mit P. war
der Rausschmiss von zu Hause an meinem
20. Geburtstag, der auch gleich ein Rausschmiss aus der Gesellschaft, d.h. der Gemeinschaft im Dorf und von meinen Schulkameraden, war. Ob die Eltern damals wussten, dass ich schwanger war, weiss ich bis
heute nicht, da mit mir nie über diese Zeit
gesprochen wurde.
Die Schwangerschaft, die ich so lange wie
möglich geheim zu halten versuchte, brachte für mich eine grosse körperliche, aber
auch seelische Veränderung mit sich. Zu
dieser Zeit, 1966, wurde man als unverheiratetes schwangeres Mädchen als Hure abgestempelt. Das schmerzte mich zutiefst,
hatte ich doch nur den einen Freund, den
ich liebte und dem ich vertraute. Nebst ihm
hatte ich niemanden, mit dem ich über meine Situation hätte sprechen können. Ich
traute mich nicht mehr unter die Leute, ich
schämte mich vor mir selbst und konnte
mich im Spiegel nicht mehr betrachten. Ich
scheute mich, meinen veränderten, zusehends runder werdenden Körper anzunehmen. Die Beine schmerzten, waren geschwollen und an zwei Stellen offen. Im Geschäft, in dem ich in Zürich arbeitete,
sprach man nicht mit mir. Man ging mir aus
dem Weg. Ich fühlte mich abgewiesen, see-
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lisch verwundet, ausserhalb aller sozialen
Beziehungen. Jeweils nach der Arbeit, wenn
ich mich hinsetzte und ruhiger wurde, meldete sich mein Kind mit fast schmerzhaften
Bewegungen. Ich wusste, dass mein Kind
die Schwere der Situation spürte. Ich wollte
mit ihm sprechen, ihm sagen, dass alles gut
würde, aber oft erstickten Tränen die Worte. Trotz aller Belastungen war meinem
Freund und mir klar, wir wollten unser Kind
behalten und nach der Geburt heiraten. Dazu kam es aber nicht, weil P. kurz vor der Geburt des Kindes nicht mehr erschien; sogar
seine Eltern wussten nicht, wo er war. Allein
gelassen, einsam und verzweifelt rief ich meine Eltern an und bekannte ihnen, dass ich
den Freund nicht mehr hatte und fragte, ob
ich wieder nach Hause kommen dürfte.
Ich kam, begleitet von meiner Mutter, als
Notfall ins Spital, da ich vorher nirgendwo
angemeldet gewesen war. Die Geburt verlief
schnell, ohne Komplikationen und ohne
dass man mit mir gesprochen oder mich gefragt hätte, wie ich fühlte.
Meine Tochter wurde nach der
Geburt nicht zuerst mir, sondern
meiner Mutter gezeigt, die dann
entsetzt sagte: «Dieses Kind
kannst du nicht haben.» Nie vorher war die Rede von Adoption
gewesen. P. und ich hatten nie davon gehört, und so waren mir solche Gedanken nicht präsent.
Nach diesem Ausruf meiner Mutter lief die Maschinerie Adoption
auf Hochtouren.
Ein Behalten meines Kindes war eigentlich
nicht mehr möglich, da der Vormund so viele Hindernisse aufzählte, wenn ich es behalten würde, dass es mir selbst unmöglich
schien, da mich P. verlassen und ich von ihm
keine Unterstützung mehr hatte. Etwas
wollte ich meinem Kind aber unbedingt auf
seinen Lebensweg mitgeben: Seinen Vornamen – seine erste Identität. Es war ein schöner, bedeutungsvoller Name, und ich war
überzeugt, dass dieser Name meinem Kind
gefallen würde.
Damals, 1966, gab es keine sozialen Angebote, kein Frauenhaus, keine materielle Unterstützung für alleinerziehende Mütter,
bzw. waren mir keine solchen Institutionen
bekannt, und es wurden mir auch keine solchen Stellen angegeben. Nach dem nagenden Gefühl des Erst-benutzt-und-danachfallen-gelassen-worden-seins verspürte ich
eine grosse Müdigkeit und Resignation. Die
zermürbenden Besprechungen mit dem
Vormund meines Kindes machten mich des
Kämpfens müde. So wurde ich von den
Umständen gezwungen, in die Freigabe des
Kindes zur Adoption einzuwilligen. In jenem Moment war es der einzig gangbare
Weg – für das Wohl meines Kindes und für
mich –, so jedenfalls versicherte mir der
Vormund meines Kindes immer wieder. Eine andere Ansprechperson hatte ich nie,
nicht seitens des Spitals, noch von einer Adoptionsstelle.
Ein schreckliches Beispiel der Erniedrigung
war die Aussage der mich behandelnden
Hebamme, die kurz nach der Geburt mit
meinem Kind auf ihren Armen zu mir kam,
mein Töchterchen anschaute und sagte:
«Ach du armes Kind, sieh nur, welch grausame Mutter du hast. Zuerst hat sie ein Lot-
terleben geführt, weiss sicher nicht einmal,
wer dein Vater ist und jetzt will sie auch
noch nichts von dir wissen.» Das war wie
ein Todesstoss. Meine Tochter wurde nicht
aus einer flüchtigen Bekanntschaft heraus
gezeugt; ich liebte meinen Freund und hätte mir eine Ehe mit ihm vorstellen können.
Was mich sehr verärgerte, war, dass meine
Eltern mit ihrem Urteil über P. wahrscheinlich Recht hatten. Das konnte ich mir fast
nicht eingestehen. Man hat mich dann gedrängt, den Namen und Wohnort des
Kindsvaters bekanntzugeben, dem Kind zuliebe, was ich tat.
Die Behandlung der Ärzte und
des übrigen Pflegepersonals war
eisig kalt, emotionslos, abweisend
und ohne jedes Verständnis. Auf
der Patientenkarte stand: ledige
Mutter, gibt ihr Kind zur Adoption frei. Solch eine Mutter hatte
kein Anrecht auf Zuwendung
und Verständnis. Psychologische
Hilfe gab es damals nicht.
Gleich nach der Entbindung überkam mich
ein Gefühl ungeheurer Leere. Ich sank in
ein tiefes Loch. Danach folgten Wochen der
«Bewusstlosigkeit», eines Lebens wie in
dichtem Nebel, des reinen Funktionierens.
Die Abgabe der Unterschrift vor Gericht lag
genau in jener Zeit. Ich hörte zwar, was man
mir vorlas, aber es kam in meinem Innersten
nicht an. Es schien ohnehin alles schon entschieden. Vor Gericht traf ich P. wieder, der
gesucht worden war und ebenfalls an der
Verhandlung teilnahm. Gesprochen haben
wir nicht miteinander.
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Viele Jahre später, nachdem mich meine
Tochter auf das Gerichtsurteil ansprach,
wurde mir bewusst, dass ich in der damaligen Gemütsverfassung und in Unkenntnis
der Rechtslage nicht realisierte, dass mir
meine Eltern das schriftliche Urteil nicht
aushändigten. Somit konnte ich kein
Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen.
Nun war ich also Mutter ohne mütterliche
Aufgaben, ohne mein Kind, ganz allein, ohne Freundinnen. Die Verwandten durften
nichts wissen. Die Schwangerschaft veränderte mein Denken und Fühlen, mein ganzes Sein. Die Trennung von meinem Kind
riss etwas aus mir heraus, das ich eigentlich
mit Worten nicht ausdrücken kann. Einen
Tod kann man mit der Zeit verarbeiten.
Man kann um den Verstorbenen trauern,
Freunde oder Verwandte trauern mit und
geben Unterstützung. Eine Weggabe des eigenen Fleisch und Blutes lässt sich jedoch
kaum nachfühlen. Wie erträgt man solch
ein Leben und was macht es mit einem? Ich
fühlte mich als schlechter Mensch, als Versagerin. Meine Pläne für mein Leben waren
so anders gewesen. Ich wollte eine Familie
haben, wünschte mir Kinder, denen ich eine
gute Mutter sein wollte. Kann man eine Adoptionsfreigabe Schicksal nennen oder ist es
– eigenes Verschulden?
Der einzig mögliche Weg, um weiterleben
oder funktionieren zu können, war für mich
die Verdrängung, zumindest über einen bestimmten Zeitraum. Nach einer Woche
«Krankheit» – so stand es im Arztzeugnis
– musste ich wieder an den Arbeitsplatz zurück, was nicht einfach war, da der Chef
und die Angestellten sicher wussten, was
sich in der Zwischenzeit ereignet hatte.
Doch man sprach mich darauf nicht an. Ich
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schämte mich. Ich stürzte mich buchstäblich in die beruflichen Aufgaben, in denen
ich Befriedigung und Vergessen suchte, aber
auch eine gewisse Anerkennung für Topleistungen, um doch jemand zu sein.
Plötzlich erwachte ich aus meiner
Lethargie, und es packte mich das
blanke Entsetzen über das, was
ich gemacht hatte. Die Schuldgefühle meinem Kind gegenüber
verfolgten mich ständig, sie waren wie der Schatten von mir. Die
Schuld bestimmte in zermürbender Weise mein weiteres Leben.
Die Wut gegenüber dem Vormund, den Eltern, dem Gericht, den Ärzten und der Hebamme wurde riesig. Ich spürte, dass ich so
und in dieser Umgebung nicht weiterleben
konnte. Ich fand eine Arbeit in England
und versuchte dort ein neues Leben anzufangen, zuerst in einem Gästehaus und Konferenzcenter, danach in einem Spital für
Mutter und Kind als Hilfsschwester.
In dem Gästehaus lernte ich eine junge Frau
kennen, der ich mein ganzes Leid klagen
und mein schweres Herz ausschütten konnte, die mich nicht verurteilte, sondern mich
verstand und mir zuhörte. «Gibt es Vergebung von Schuld, damit Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten erfahren werden
können?», fragte ich sie. Sie wies mich auf
viele verschiedene Stellen in der Bibel hin,
wo Jesus den vielen verzweifelten Menschen
die Vergebung Gottes zusagte. «So darfst
auch du mit der Vergebung Gottes rechnen,
und er wird zu deinem Kind und dessen El-
tern schauen und ihnen wohltun», versicherte sie mir. «Du darfst im Vertrauen auf
Gott diese bedingungslose Vergebung einfach annehmen.» Was ich von Herzen tat.
Meine Situation hat sich insofern verändert,
als dass ich die drückende Schuldenlast bei
Gott ablegen und Erleichterung erfahren
konnte. Nicht, dass jetzt alles verändert gewesen wäre. Nein, Geschehenes kann man
nicht ungeschehen machen; die Konsequenzen der Weggabe und das Heimweh
nach meinem Kind sind geblieben, doch die
Schuldgefühle wichen einem starken Glauben, der mir in wiederkehrenden Krisen immer wieder neue Hoffnung und Zuversicht
gab und mich nicht im Weh versinken liess.
Als ich vor 9 Jahren von der Fachstelle für
Adoption Zürich einen Brief mit dem wunderbaren Logo erhielt, war ich ausser mir
vor Freude. Darin hiess es, dass eine junge
Frau, geboren 1966, ihre Wurzeln suche.
Auf diesen Moment hatte ich viele Jahre gewartet, an ihn geglaubt, oft daran gezweifelt
und wieder gehofft.
Und dann brachen all die vielen Fragen und
eine grosse Angst vor der ersten Begegnung
mit Wucht auf mich herein. Wer bin ich eigentlich? Wie stelle ich mich vor? Wird
meine Tochter mich verurteilen? Wie sieht
sie aus? Ist sie gross, klein, rundlich oder
schlank? Wie tönt ihre Stimme? Welche
Farbe haben ihre Augen? – Meine sind
braun, ihr Vater hatte blaue Augen. Wird sie
mich mögen? Was werden ihre Fragen sein?
Werde ich stark genug sein, ihr in die Augen
zu schauen und all ihre Fragen ehrlich zu beantworten? Wird es ein zweites, drittes
Treffen geben?
Wir haben uns im Zoo Zürich zum ersten
Mal getroffen. «Warum im Zoo?», fragte
ich mich. Meine Tochter erklärte mir dann,
dass wir nebeneinander her gehend besser
und unbefangener sprechen könnten, als
einander gegenüber sitzend. Wie aufmerksam, fürsorglich und taktvoll von meiner
Tochter. Ich war eine halbe Stunde vor dem
Termin dort, parkierte mein Auto und spazierte in der Gegend umher, um vielleicht
meine Tochter schon bei ihrem Eintreffen
zu sichten. Dasselbe dachte auch meine
Tochter, nur parkierte sie nicht, sondern
fuhr im Gebiet herum und sah mich.
Und dann – der grosse Moment!!! Mein Herz zersprang beinahe. Nicht zögernd, nein, bestimmt und geradewegs kam die
junge Frau auf mich zu, und ich
spürte es tief innen – ohne Erkennungszeichen etc.: Es ist meine
Tochter, die ich jetzt das allererste
Mal sehe.
Es war ein wunderbares Gefühl, meine
Tochter, eine wunderschöne, junge, vor
Energie strotzende Frau in den Armen zu
halten und fest an mich zu drücken. Vierunddreissig Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet. Mein Herz pochte vor Freude und Aufregung bis zum Hals. So glücklich war ich im Leben noch nie gewesen.
Nein, sie gleicht im Aussehen nicht mir, sie
ist abgeschnitten ihr Vater, was mich nicht
störte, im Gegenteil fast freute, denn er war
ein anmutiger Bursche gewesen. Das gewinnende, fröhliche Lachen meiner Tochter ist
aufmunternd und geradezu ansteckend. Sie
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hat jedoch, wie ich über die Jahre feststellen
konnte, meine Charakterzüge, was mich
ebenfalls freut.
Natürlich herrschte in den ersten Minuten
unseres ersten Treffens eine gewisse Spannung. Wer fängt an und wie, damit es nicht
verletzend wirkt. Nur nicht kompliziert tun,
dachte ich.
Meine Tochter hat die Spannung
aufgelöst mit ihrer liebenswürdigen und herzlichen Aussage:
«Danke, dass du mich geboren
und nicht abgetrieben hast. Ich
liebe mein Leben und bin glücklich und zufrieden.» Das war für
mich ein riesiges Geschenk, und
ich war so dankbar, dass sie mich
nicht verurteilte.
Bald schon drängten sich viele Fragen auf,
und es fiel mir nicht schwer, diese ehrlich
und ausführlich zu beantworten. Zwischen
uns fand ein tiefes gegenseitiges Verstehen,
ein einander Wahrnehmen statt. Acht Stunden waren wir zusammen, und wir hatten
nie einen faden, spannungslosen Moment.
Sie erzählte, wie und wo sie aufgewachsen
war, was weiteren ergiebigen Gesprächsstoff
lieferte, denn sie wuchs nur einige Dörfer
von mir entfernt auf. Sie erzählte von ihrer
Kindheit und ich durfte ihr Fragen stellen,
die sie mir bereitwillig beantwortete. Wir
beide fühlten, dass sich zwischen uns eine
Beziehung aufbauen könnte, vorsichtig
wahrnehmend und langsam gestaltend.
Einige Zeit später erzählte mir meine Toch-
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ter, dass sie eigentlich nur ihre Wurzeln hatte kennen lernen wollen und dann wäre für
sie die Sache erledigt gewesen, was sich zu
meinem grossen Glück anders entwickelte.
Zwischenzeitlich lernte ich auch die Adoptiveltern meiner Tochter kennen. Kurz
nachdem meine Mutter gestorben war, arrangierte M. ein Treffen mit ihrer Adoptivmutter und mir. Es war ein herzliches Kennenlernen, und ich konnte ihr danken, dass
sie unserer Tochter viel Liebe und Zuwendung gab und sie zu einer bemerkenswerten,
attraktiven, fleissigen und verantwortungsbewussten Frau erzogen hatte. Ich hatte
meine Gefühle zuvor überprüft, und ich
konnte diese Aussage ohne Eifersucht,
heimlichen Groll oder Ohnmacht gegenüber erlittenem Schmerz oder persönlichem
Zurückgesetztsein machen. Es war eine
wohltuende Freiheit zwischen uns, bis auf
einen Punkt, den ich gegenüber der Adoptivmutter zu diesem Zeitpunkt nicht ansprechen mochte.
Diese eine Gegebenheit beschäftigte mich
sehr und ich hatte einige Mühe, diesen Umstand anzunehmen. Warum hat die Adoptivfamilie den angestammten Vornamen
meines Kindes nicht anerkannt, nicht gewürdigt? Warum hat sie den selbst gewählten Namen nicht an die zweite oder dritte
Stelle gesetzt? Für mich war das sehr schwierig zu verstehen und zu akzeptieren und ich
fühlte mich verletzt. Ich hatte damals meinem Kind bewusst den Namen M. gegeben.
Jahrelang habe ich täglich intensiv an M. gedacht und jetzt soll es diese M. nicht geben,
sondern ich muss sie L. nennen.
Das war für mich nochmals ein Verlust, und
ich fühlte mich betrogen. Sofort kam mir
der Gedanke, dass Adoptiveltern nicht das
Wohl des Kindes im Auge haben, sondern
egoistisch ihre Eigeninteressen verfolgen
und möglichst rasch ihre Kinderlosigkeit
loswerden wollen. Anfangs hatte ich im Gespräch Mühe, meine Tochter L. zu nennen,
und ich nannte sie immer wieder M. Nicht
aus Trotz, sondern weil ich immer an M.
dachte. Meine Tochter sagte mir dann einmal: «Gell, es fällt dir schwer, mich L. statt
M. zu nennen.» Ich gab es zu. Für mich habe ich diesen Punkt später so gelöst, dass M
mein kleines Kind und L. meine erwachsene
Tochter ist. Das half mir.
Bei einem späteren Gespräch mit der Adoptivmutter lernte ich ihre Beweggründe für
die Namensänderung kennen und verstehen. Da die Adoptiveltern nach dem alten
Adoptionsgesetz zu jung waren das Kind zu
adoptieren, war es bis zum Zeitpunkt der
möglichen Adoption als Pflegekind registriert. Die dauernden Besuche des Vormundes, und die enormen Ängste der Adoptivmutter, ich könnte das Kind suchen
und ihr wegnehmen, waren so gross, dass sie
durch die Namensänderung mögliche
Rückschlüsse verhindern wollte. Identitätskonflikte auf beiden Seiten?
lernen meiner Tochter hat sich für mich eine neue Welt erschlossen. Ich freue mich
immer, mit ihr zusammen zu sein. Ich höre
ihr gerne zu, wenn sie von ihrem Leben erzählt, wenn sie mir ihre philosophischen
Gedanken verrät, und oft schon haben ihre
Worte mich zum Weiterdenken und -entwickeln angeregt. Es ist eine Freude, zu sehen, wie sie sich in Beruf und Familie bewegt.
Oft wurde meine Persönlichkeitsstruktur
durch äussere Zwänge, durch Schuldgefühle
und innere Hemmungen gestört. In der
Auseinandersetzung mit Krisensituationen
und mit dem Überwinden derselben habe
ich etwas Neues, für meine Weiterentwicklung Wichtiges gelernt, nämlich die Anforderungen und Herausforderungen meines
Lebens mit Hingabe, Konzentration und
tiefer Liebe zu bewältigen und zur Vollendung zu bringen. Die verschiedenen Identitätskrisen oder Wendezeiten haben mich
geformt und zu dem Menschen gemacht,
der ich heute bin. Die anfangs aussichtslose
Situation hat sich für mich zu einer grossen
und wertvollen Kraftquelle entwickelt.»
E.H.
Mit den Fürsorge- und Beratungsstellen, die
es heute gibt, mit dem betreuten Wohnen
für Mutter und Kind und dem Wissen von
heute, würde ich nicht mehr zu einer Adoption einwilligen. Ich bin dankbar, dass für
werdende Mütter in schwierigen Situationen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen.
Schlussgedanken
Man kann das Leben nicht rückwärts, sondern nur vorwärts leben. Mit dem Kennen-
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Identitätsentwicklung
bei Adoptivkindern
Gitta Lehner
Sozialarbeiterin FH
Viele Adoptivkinder wachsen relativ unbeschwert auf, können ihre Adoptionsgeschichte in ihr Leben integrieren, ohne
dass sie Verhaltsauffälligkeiten aufweisen
oder das Gefühl haben, benachteiligt gewesen zu sein. Andere leiden immer wieder
stark unter dem Verlust der biologischen
Familie.
Ein Kind identifiziert sich im ersten Lebensjahr vollkommen mit seiner Bezugsperson (zuerst mit der leiblichen Mutter –
auch wenn es gleich nach der Geburt von
ihr getrennt wird: Es kennt ihren Herzschlag, ihre Stimme, etc. –, danach mit den
Pflegeeltern, falls es in einer Übergangspflege ist) und erleidet durch die Trennung
von ihr nicht nur diesen Verlust, sondern
auch den Verlust von Teilen seiner eigenen
Identität. Seine erste Identitätsgleichung
lautet nämlich: «Ich bin, was meine Eltern
sind.» Kinder, die weggegeben werden, erleben ein Trauma, egal, wann sie zu ihren
Adoptiveltern kommen. Manche können
dieses Ereignis aufarbeiten, bei anderen
wirkt es sich später auf die grundsätzliche
Beziehungsfähigkeit aus. Oft verlässt eine
erwachsene Adoptierte, die das Verlassenwerden nie verarbeitet hat, ihren Partner,
bevor er sie verlassen könnte. So kann sie
die Situation kontrollieren. Bei den nächsten Partnern wiederholt sie dieses Verhalten – so lange, bis sie ihr erstes Verlassenwerden, jenes durch die leibliche Mutter,
verarbeitet hat.
Es ist wichtig, dem Kind schon ganz früh
zu sagen, dass es adoptiert wurde und ihm
genügend Raum für die biologische Familie zu schaffen, mit ihm Biografiearbeit zu
leisten. Das Kind soll den Verlust seiner
Ursprungsfamilie betrauern und ausdrükken dürfen, ohne ein schlechtes Gewissen
haben zu müssen. Ihm muss die Auseinan-
dersetzung mit seinen leiblichen Eltern
und deren Geschichte zugemutet werden,
damit es sehen kann, was es von diesen Eltern erhalten hat – vor allem sein Leben –
und was ihm von diesen Eltern nicht gegeben werden kann (Nahrung, ein Zuhause,
Zärtlichkeit etc.). Es gewinnt durch diese
Hinwendung Eigenständigkeit und kann
sich ohne Angst auf eine Beziehung mit
seinen sozialen Eltern jenseits seines leiblichen Ursprungs einlassen. Ein verdrängter
oder tabuisierter Verlust wird sich früher
oder später bemerkbar machen.
Da die biologische Familienstruktur zerstört ist, kann das Kind darum bemüht
sein, spezielle Wiederherstellungsversuche
zu unternehmen. Oft sucht es die Ursache
des Weggegebenwordenseins zuerst bei
sich selber, fühlt sich nicht wertvoll genug,
um von der Mutter behalten worden zu
sein. Sucht es später die «Schuld» bei seinen leiblichen Eltern, so bedeutet dies für
das Kind, von «schlechten» Eltern abzustammen und somit«schlechte Gene» zu
besitzen, d.h. selber «schlecht» zu sein.
Manche Kinder suchen mit den Jahren
nach idealisierten Vorbildern, nach Liebesobjekten, um die verlorenen (leiblichen)
Eltern zu ersetzen. Einige Adoptivkinder
glauben auch, den Adoptiveltern so dankbar sein zu müssen, dass sie es nicht wagen
aufzubegehren, eigene Meinungen zu äussern oder in der Jugend pubertäre Kämpfe
zu führen. Solch ein Verhalten beeinflusst
die Identitätsbildung und kann die Entwicklung zu einem eigenständigen Menschen behindern.
Doch viele Adoptivkinder wachsen mit der
Unterstützung, der Liebe und dem Einfühlungsvermögen ihrer Adoptiveltern zu
starken Persönlichkeiten heran, können
dank ihrer Geschichte eine Sensibilität
entwickeln, die anderen Menschen zugute
kommt.
Lesen Sie den folgenden Bericht eines Adoptierten, der ein glückliches Leben führt:
«Anfang 2009 habe ich meine
«wahre» Identität gefunden.
Kann man das wirklich so sagen?
Was war davor? War ich ohne
Identität, eine Persönlichkeit ohne Wurzeln? Wenn ich mich so
direkt frage, komme ich zum
Schluss, dass das nicht zutrifft.
Allenfalls fehlten in meinem Leben bis dato Details, die erst
nach und nach zu relevanten
Faktoren wurden. Warum?
Im zarten Alter von ein paar Tagen wurde
ich adoptiert. Ich kam zu einem kinderlosen Paar, das seit einigen Jahren einen unerfüllten Kinderwunsch hatte. Meine Eltern
hatten sich und das Umfeld darauf vorbereitet, dass irgendwann vielleicht ein neues
Familienmitglied «von aussen» dazu
kommen würde. So hatten sie die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, die für
eine volle Akzeptanz aller Seiten nötig waren. Zwei Jahre nach mir wurde mein Bruder adoptiert, und so war unsere Familie
komplett.
Die erste Erinnerung, die ich in diesem Zusammenhang habe, ist die Antwort auf
meine kindliche Frage, woher ich eigentlich käme. Normalerweise müsste die Antwort ja lauten: «Aus Mamis Bauch», oder
so ähnlich. Die Antwort, die ich jeweils bekam, lautete: «Wir haben dich ausge-
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sucht.» Für mich schien das logisch und
adäquat zu sein. Ich stellte mir das Kinderbekommen wie Äpfel im Konsum kaufen
vor. Man steht vor einer Reihe Bettchen
mit Babys drin und sucht sich das Geeignetste aus…
Erst später, als das Verständnis für die biologischen Abläufe entstand, fing ich an,
diese Antwort zu hinterfragen. Von diesem
Moment an wurde mir auch das Wort
«Adoption» begreiflich. Ich wusste, dass
meine Eltern und mein Bruder nicht meine leiblichen Verwandten waren. Da es mir
aber nie abnorm vorkam, beschäftigte
mich diese Tatsache eigentlich nicht weiter. Es war eher so, dass meine Eltern befürchteten, dass ich darunter leiden würde.
Sei es durch die Tatsache als solches oder
durch Hänseleien anderer Kinder. Jedenfalls waren meine Kindergärtnerin und
meine Lehrer jeweils schon von Anfang an
informiert und sensibilisiert worden. Auch
den Eltern meiner Mitschüler wurde mitgeteilt, dass ich adoptiert sei.
Ich erlebte trotzdem Ausgrenzung. Diese
stand in meinen Augen aber eher im Zusammenhang damit, dass unsere Familie
frisch auf meinen ersten Schultag hin an einen neuen Ort gezogen war. Ich kann mich
nicht daran erinnern, dass ich je wegen des
Adoptiertseins geplagt wurde.
Später, als ich in die Pubertät kam, interessierte es mich mehr und mehr, wer eigentlich meine leiblichen Eltern waren. Meine
Adoptiveltern hatten gemäss ihren Aussagen keine diesbezüglichen Informationen.
Im Verlauf der Jugend flachte mein Interesse etwas ab. Ich habe damals nie etwas unternommen, um meine leiblichen Eltern zu
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finden. Da stand anderes im Vordergrund.
Allerdings öffnete ich mich dem Thema
gegenüber und hatte nicht das Gefühl, diese Tatsache verstecken zu müssen. Man
spürte zu jener Zeit auch, dass das Thema
Adoption nichts Besonderes oder gar Negatives war.
Die Gesellschaft öffnete sich der
Thematik gegenüber vermehrt,
und so war es ganz normal, wenn
jemand sagte, er wolle ein Kind
adoptieren oder sei selbst adoptiert worden. Auch die Gesetzgebung hat merklichen Einfluss auf
die Akzeptanz gehabt. Vor allem
die gesetzliche Gleichstellung zu
leiblichen Kindern, z.B. bzgl. des
Erbrechts, hat das Verständnis
gefördert. Heute kann ich sagen,
dass sich für mich keine Nachteile in meinem Leben aus der Tatsache, adoptiert worden zu sein,
ergeben haben.
Später, als ich ca. 30 Jahre alt wurde, interessierte mich dieses Thema wieder vermehrt. Ich stellte mir von neuem Fragen
nach meiner Herkunft, nach den Umständen und Gründen für die Freigabe, nach
allfälligen Geschwistern usw. Allerdings
erübrigte sich die Fragerei, da ich spürte,
dass ein konkretes Verfolgen dieser Frage
mehr Probleme als Nutzen gebracht hätte.
Vermutlich hätte das zu dieser Zeit zu einer
Identitätskrise geführt, da sich mein Leben
sehr stark im Wandel befand. Abgesehen
davon spürte ich, dass seitens meiner Eltern, v.a. meiner Mutter, Befürchtungen da
waren, ihr Status als meine Eltern könnte
in Frage gestellt oder sonst irgendwie negativ tangiert werden. Also liess ich es bleiben.
Während meiner zweiten Ausbildung hatte ich eine Klassenkollegin, die in derselben Situation war wie ich. Sie allerdings
machte sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Als sie nach wenigen Wochen
erzählte, wie der Erstkontakt verlaufen
war, wurde ich wieder „gwunderig“. Zumal
sie nur Positives berichtete und richtiggehend ins Schwärmen geriet. Nun stand ich
wieder vor der Entscheidung, mich gegen
den Wunsch meiner Adoptivmutter zu
stellen oder nicht. Schliesslich entschied
ich, meine Bedürfnisse zurückzustellen
und die Suche nicht zu starten. Evt. würde
ich nach dem Tod meiner Mutter zu suchen beginnen.
Die Jahre vergingen, und ich wurde Vater
meines ersten Sohnes. Wow, was für ein
Gefühl, ein eigenes Kind zu haben! Das ist
nicht selbstverständlich. Aufgrund der
Tatsache, dass auch in meinem Bekanntenkreis unfreiwillig kinderlose Paare existieren, haben meine Frau und ich schon früh
auch diesen Fall besprochen. Da ich durch
meine Adoption in meinen Augen einen
«Joker» gezogen hatte, setzte ich mich für
diese Variante als Alternative für den Fall
der Fälle ein. Meine Frau konnte sich sehr
gut mit dieser Idee anfreunden. Doch wir
hatten Glück: Nach dem ersten Kind folgte das zweite und später das dritte.
Inzwischen sind meine Kinder gross genug, dass sie in etwa wissen, wie Kinder
entstehen. Ich habe ihnen schon früh ver-
sucht zu erklären, wie das bei mir ausgesehen hat mit Mami und Papi. Sie schienen
das zu verstehen, sie fragten nicht nach.
Im Jahr 2005 verstarb meine geliebte Adoptivmutter. Es war der traurigste Moment
meines Lebens. Mir war aber klar, dass ich
nun meine Option bezüglich der Suche
nach leiblichen Verwandten einlösen
konnte.
Rund drei Jahre später stolperte ich im Internet per Zufall über einen Link zur Adoptionsstelle. In diesem Moment wusste
ich, dass ich jetzt entscheiden musste, was
ich will. Ich klickte den Link an und stellte
sogleich einen Erstkontakt her. Die Sache
kam ins Rollen. Ab jetzt wurde es spannend. Täglich wartete ich auf irgendeine
Nachricht. Und siehe da, es gab das erste
Telefonat, in dem mir u.a. mitgeteilt wurde, wie ich vor der Adoption mit Vornamen geheissen hatte. Puah, das war heftig.
Das hat mich kurz aus der Bahn geworfen.
Wie hiess ich jetzt? So oder anders? Ich
hatte auf einmal ein riesiges Mitteilungsbedürfnis und sprach mit meiner Frau und
Freunden darüber. Nicht aber mit meinem
Vater! Er wäre vermutlich gekränkt gewesen, da ich ihn nicht über meine Suche informiert hatte.
Als nächstes erfuhr ich, dass seitens meiner
leiblichen Mutter auch Kontakt erwünscht
war. Ich hielt nichts von telefonieren,
schreiben usw. Face to face schien mir die
einzig richtige Variante zu sein. Die Gegenseite schien gleich zu denken, wie mir
die Sozialarbeiterin mitteilte. Na also, das
ging doch! Jetzt musste nur noch meine
Familie informiert werden. Meine Kinder
verstanden zunächst nicht mehr ganz, was
jetzt abging.
Der grosse Tag stand Anfang 2009 bevor.
Ich sollte ins Büro der Sozialarbeiterin
kommen, um meine leibliche Mutter zu
treffen. Ich war nicht oft in meinem Leben
so nervös wie auf dieser Reise. Dort angekommen betrat ich mit etwa 10 kg Fotoalben im Gepäck das Büro. Ich war nicht der
erste vor Ort. Ich wurde bereits sehnsüchtig erwartet, wie mir vor der Tür mitgeteilt
wurde. Das erste Treffen begann emotional
und herzlich. Nach rund drei Stunden biografischer Darlegungen beider Seiten endete der offizielle Teil dieses ersten Treffens. Beim inoffiziellen, also ganz privaten,
Teil, bewies sich die Verwandtschaft zwischen meiner leiblichen Mutter und mir.
Jedenfalls staunten wir, die Serviertochter
des Cafés und ich, nicht schlecht, als zweimal ein Kaffee Doppelcrème mit Doppelzucker bestellt wurde. Das war der Beweis!
Meine Kinder kommen mit der Sache inzwischen klar und haben verstanden, dass
sie jetzt – nicht auf übliche Weise – eine
weitere Grossmutter dazubekommen haben.
Ich habe letztendlich nicht meine Identität
gefunden, sondern diese um ein fehlendes
Puzzleteil vervollständigt.»
D. H.
Inzwischen habe ich auch meine Familie
mit meiner leiblichen Mutter bekannt gemacht und dazu noch meine leiblichen
Halbbrüder und deren Kinder kennengelernt. Das waren ganz spezielle Momente.
Sie waren geprägt von Vertrauen und Offenheit. Einfach lässig!
Heute habe ich noch das Problem, wie ich
meine leibliche Mutter nennen soll. Ich
kann und will nicht Mutter sagen, weil
dieser «Titel» für mich eine andere Bedeutung hat, als nur die Gebärerin zu sein.
Ich spreche sie deshalb mit ihrem Vornamen an. Und für die, die sie nicht per Namen kennen, ist sie halt meine leibliche
oder biologische Mutter. Ich spüre allerdings, dass ich für meine leibliche Mutter
so etwas wie der verlorene Sohn bin. Ich
will sie auf keinen Fall kränken, aber ich
denke, wir werden diese Frage noch klären
müssen.
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Identitätsentwicklung bei
Adoptiveltern
Gitta Lehner
Sozialarbeiterin FH
Die neun Monate Schwangerschaft entfallen bei Adoptiveltern. Trotz langer Vorbereitungszeit trifft die tatsächliche Elternschaft sie unvermittelt, da es keine Garantie gibt, wirklich ein Kind adoptieren zu
können. Erhalten sie ein Kind zugesprochen, so engagieren sich die meisten Adoptiveltern mit voller Kraft, einfühlsam, aufopfernd, wohlwollend und mit unendlicher Geduld für ihr Adoptivkind.
Kinder gelten als Quelle individueller
Glückserfahrung und emotionaler Bereicherung. Die meisten Paare (auch kinderlose) entwickeln Phantasien von ihrem
leiblichen Kind. Sie stellen sich vor, wie ein
solches aussehen würde, wie es sich verhalten, wie intelligent es sein würde. Eine
Identifikation mit dem Kind über äusserlich wahrnehmbare Merkmale bleibt Adoptiveltern versagt. Die Konfrontation mit
dem heranwachsenden Adoptivkind kann
desillusionierend sein. In Konfliktfällen
neigen manche Adoptiveltern dazu, wenn
auch unbewusst, Problemverhalten als genetisch weitervererbt zu betrachten, als Folge einer belasteten Schwangerschaft oder
der Trennung von der leiblichen Mutter.
Die Frage der Aufklärung des adoptierten
Kindes über seine Herkunft ist für jene Eltern ein Problem, die das Adoptivkind wie
ein leibliches Kind erleben und behandeln
möchten. Aufklärung bedeutet aus systemischer Sicht das Klarstellen von sozialen
Bezügen. Dies bedeutet für Adoptiveltern
grundsätzlich, Abstand zu nehmen von der
mit den tatsächlichen Gegebenheiten
nicht übereinstimmenden Vorstellung, ein
nicht leibliches Kind so betrachten zu können, als sei es doch ein leibliches. Sobald
sich Adoptiveltern an die Stelle der leiblichen Eltern setzen und als bessere, nämlich
fürs Kind sorgende, Eltern auftreten, zeigt
das Kind oft Solidarität mit den biologischen Eltern und verübelt dies den Adoptiveltern. Es sollte Adoptiveltern bewusst
sein, dass sie mit ihrem Kind eine besondere soziale Konstellation haben. Möchten
die Eltern lieber nicht über die Adoption
sprechen, so merkt dies das Kind und gerät
in einen Konflikt: Entweder es rebelliert,
um auf die Diskrepanz zwischen seinen
Gefühlen, seinem Wissen und der Haltung
der Adoptiveltern aufmerksam zu machen
oder es hält sich zurück, und so wird aus
dem Dilemma ein innerer ungelöster Konflikt. Kinder, die das Thema Adoption
nicht anschneiden, tragen die entstandenen Konflikte innerlich aus oder verdrängen sie. Es ist wichtig, dass Adoptiveltern
ihrem Kind immer wieder das Gespräch
über seine Adoption anbieten.
Biografiearbeit wird als leicht umsetzbare
Methode eingesetzt, um mit Kindern in jedem Lebensalter an ihrer eigenen Geschichte zu arbeiten. Sie hilft Kindern und
Jugendlichen bei der Rekonstruktion ihrer
Vergangenheit und ermöglicht ihnen damit einen realistischen und annehmbaren
Zugang zu ihrer oft erschwerten Lebensgeschichte. Ihr Herkunftsland, frühere Lebensorte, verlorene Familienmitglieder
oder Vorfahren erhalten ihren Platz. In einem gemeinsamen Prozess werden Erlebnisse zusammengetragen und besprochen,
Lücken geschlossen, manchmal Fantasien
entwickelt. In einem Lebensbuch, einem
Lebensbrief, mittels gemalten Bildern, Geschichten etc. wird die Geschichte des Adoptivkindes festgehalten, so dass sie im Alltag präsent bleibt. Unsere Fachstelle bietet
laufend Kurse zum Thema Biografiearbeit
an, um Adoptiveltern in diesem Prozess
optimal zu unterstützen.
Viele Adoptiveltern meinen, von ihnen
würde erwartet, dass sie nach vollzogener
Adoption ein besonders harmonisches Familienbild abgeben, dass sie möglichst keine Probleme haben dürften, um auf diese
Weise ihre «Eignung» unter Beweis zu
stellen. Diese Haltung kann die Identitätsentwicklung in der Elternrolle beeinträchtigen. Manche Adoptiveltern erleben ihre
Beziehung zum Kind immer als labil und
haben Angst, das Kind könnte sich von ihnen distanzieren. Grundlage dafür ist die
oft unbewusste Eifersucht auf die leiblichen Eltern, die Angst, das Kind sehne sich
im Grunde nur nach ihnen. Besonders in
der Pubertät, der Zeit der zermürbenden
Kämpfe, erschrecken Adoptiveltern vor
dem Wunsch des Kindes, seine leiblichen
Eltern kennen zu lernen. Doch kaum ein
Kind wünscht, die Adoptiveltern durch die
leiblichen zu ersetzen. Jugendliche haben
nur ein verstärktes Bedürfnis, sich im Rahmen ihrer Identitätssuche mit ihrer Biographie auseinanderzusetzen.
Nachfolgend schildern «frische» Adoptiveltern, wie sie ihre neue Rolle ausfüllen,
was für Gedanken und Gefühle sie beschäftigen:
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«Es ist unser letzter Ferientag im Sommer
2009. Nach 800 Velokilometern auf Ostseeinseln und in Norddeutschland sind wir
kurz vor Berlin, um von dort mit dem
Nachtzug wieder nach Hause zu fahren.
Das Telefon haben wir bei uns, es blieb
aber bis zu diesem Donnerstag drei Wochen lang ausgeschaltet, es sollten ja richtige Ferien sein. In Gedanken sind wir noch
auf unserer herrlichen Reise und ein bisschen auch schon daheim. Es ist so etwas
wie ein Schalttag: Umschalten von Frischluftferien am Strand und im Wald auf
Stadtleben und die vertraute Wohnumgebung. Und auch das Telefon darf jetzt, kurz
vor Urlaubsschluss, wieder klingeln, denn
zu Hause renovieren die Handwerker zwei
Zimmer. Am letzten Tag vor den Ferien haben wir noch die halbe Wohnung auf den
Kopf gestellt für neue Holzböden und den
Maler.
Unser letztes Ferienmittagessen wird gerade serviert, als das Telefon tatsächlich klingelt. Am anderen Ende ist Frau L. von der
Fachstelle für Adoption. Eine Sekunde
nachdem sie sich vorgestellt hat ist klar –
die freundliche Dame ruft nicht an, um
uns zu fragen, ob wir schöne Ferien haben.
Das Gespräch ist kurz, vier, fünf Minuten
vielleicht. Als wir auflegen, brechen erstmal alle Dämme. Dabei haben wir gar
nicht viel erfahren: Vor ein paar Wochen
ist V. geboren, jetzt lebt sie in einer Pflegefamilie, und wir wurden ausgewählt, sie zu
adoptieren. Mehr wissen wir nicht. In einer
Woche können wir sie das erste Mal sehen.
Die nächsten Stunden erleben wir wie in
Trance. Berlin liegt noch 20 Kilometer vor
uns, im warmen Sommerwind radeln wir
mit weichen Knien. Hunderte Dinge gehen uns durch die Köpfe, wichtige und un-
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wichtige, grosse und kleine. Alles ist völlig
unsortiert, und auf jeden Gedanken können wir uns nur eine kurze Zeit konzentrieren, dann kommt jedem von uns etwas
völlig anderes in den Sinn, das jetzt aktuell
werden würde. Wie wird das sein, wenn
wir in acht Tagen das kleine Mädchen sehen? Wo bekommen wir ein Kinderbett
her? Wer schaut uns da beim ersten Besuch
in die Augen? Welche Freunde können uns
Babykleider «vererben»? Wie reagiert V
auf uns? Beim Frühstück im Zug rast Süddeutschland an uns vorbei, zugleich fliegen
uns Stichworte durch den Kopf: Arbeitgeber informieren! Versicherung? Wann sind
die Handwerker fertig? Babynahrung, Mini-Badewanne, Kinderwagen und Wickeltisch?
Zwischendurch schauen wir uns
immer wieder an und strahlen
wortlos. Viel wissen wir zu dem
Zeitpunkt nicht, nur den Namen, das Geburtsdatum und
dass wir noch eine lange Woche
warten müssen, um die Kleine
das erste Mal bei der Pflegefamilie zu besuchen.
Wenn uns zum Organisatorischen eine
Weile nichts in den Sinn kommt, schweifen die Gedanken weit in die Ferne: Wie
wird das sein, wenn sie das erste Mal bei
uns auf dem Arm liegt, irgendwann das erste Mal «dadadada» sagt, sich den Kopf
das erste Mal an der Tischplatte anschlägt,
ein Bild malt und uns schenkt, keine Wollstrumpfhosen anziehen will, mit dem Velo
umkippt oder im Schultheaterstück einen
Zwerg spielt? All das war 24 Stunden vor-
her kein Thema. Jetzt ist es unvorstellbar
und doch sind wir ganz nah bei ihr, sie ist
nicht fassbar, wir kennen sie noch nicht,
und sie uns nicht, und doch ist sie schon
ganz nah, ganz unser Kind. Wir haben beide nicht gewusst, was in diesen Stunden
passieren wird, haben das Eintreffen einer
so grundlegenden Nachricht nur sehr abstrakt vor uns gesehen, fast schon verdängt.
Vorbereiten kann man sich darauf wohl
nur bedingt. Unsere Adoptionsbewerbung
lief damals erst sieben Monate, und wir
hatten das ganze Verfahren ein wenig hinter uns gelassen. Jetzt kommt alles sehr
überraschend und wird unglaublich dynamisch.
Acht Tage nach diesem Anruf machen wir
uns auf den Weg, V. das allererste Mal zu
sehen. Am Tag zuvor hatten wir in der
Fachstelle schon ein Foto von ihr in den
Händen, das wir heute noch sorgfältig hüten, darauf schläft sie und lächelt ganz entspannt. Auch jetzt ist immer noch alles unfassbar, Gedanken und Gefühle sind wirr,
aber im Glück! Wir sind beide kommunikative Menschen, pflegen einen grossen
Freundeskreis, doch für solch eine Begegnung fehlt uns jede Erfahrung. Wir fahren
zu unserem Kind... Die Vormundin holt
uns vom Bahnhof ab und begleitet uns zu
den Übergangspflegeltern, von denen wir
wissen, dass sie schon über 70, also schon
Pflegegrosseltern sind. Familie K. gehört
heute zu unserer Familie, an diesem 31. Juli 2009 sind es noch fremde Leute, die die
knapp drei Monate alte V. liebevoll umsorgen.
Das Zimmer, in dem V. schläft, liegt gen
Norden und ist schön kühl an diesem
Sommertag. Uns klopfen die Herzen bis an
den Hals, viel reden können wir gar nicht,
sind extrem nervös und angespannt und
haben wohl auch wenig Nerv für den Small
Talk. Immerhin lernen wir gleich den
Menschen kennen, der von jetzt an unsere
Tochter sein wird. Es ist fast nicht zum
Aushalten. Und auch Frau K weiss das und
führt uns sachte ins Kinderzimmer. V.
schläft. Als wir alle um sie herum versammelt sind, wacht sie auf und muss weinen –
so viele unbekannte Gesichter. Auf dem
Arm von Frau K. wird die Kleine bald wieder ganz ruhig. Uns und die Vormundin
behält sie aber im Blick, schaut und
lauscht, wer da gekommen ist. Wir sitzen
ein bisschen unbeholfen daneben, beobachten V. bei ihrer Übergangs-Pflegemutter,, die die Situation ganz routiniert meistert: Wir sollen sie einfach mal schöppeln.
Wenn einer von uns schöppelt,
vergisst er alles ringsum und
sieht nur noch V. Mit grossen
dunklen Augen schaut sie einen
an, trinkt geduldig und schläft
zufrieden wieder ein. Der andere
schaut zu und muss sich immer
fragen: Wer ist dieses Kind? Sind
wir wirklich seine Eltern? Was
genau beginnt jetzt?
In den nächsten zwei Wochen besuchen
wir V. fast jeden Tag für vier, fünf Stunden.
Sie soll uns, unsere Stimmen, unseren Geruch kennen lernen, und wir wollen sie erleben, sie im Wagen spazieren fahren und
von Familie K so viel wie möglich über ihre ersten zweieinhalb Monate erfahren. Besonders schön (und wichtig) sind die beiden Tage, an denen wir V. – einmal zusammen mit der Pflegemutter, einmal ohne sie
– zu uns nach Hause nehmen dürfen. Jetzt
fühlen wir uns schon richtig «in Familie».
Nach zwölf Tagen ist es soweit: V. kommt
von Familie K. zu uns. Der Abschied fällt
uns nicht leicht, V hat nur eine kleine Tasche mit ein paar Kleidern und ihren beiden Nuggi – mehr Dinge gehören noch
nicht zu ihrem kleinen Leben, in dem sie
schon so viel erlebt hat. Auf der Heimfahrt
werden uns die Knie zum dritten Mal
weich. Kein einfacher Tag, die Kleine so
mitzunehmen und sie aus ihrer Umgebung
herauszuholen. Immerhin kennt sie den
neuen Ort ein bisschen. Die erste Nacht
mit ihr werden wir – wie vieles andere –
nicht vergessen. Ihr Stubenwagen, in dem
vor Jahrzehnten schon alle Kinder der Familie geschlafen haben, steht neben unserem Bett, und wir hören jedes Atmen und
Schnaufen, Kopfdrehen und Rascheln.
Seitdem sind sieben Monate vergangen. V.
ist gewachsen, ist in ihrer neuen Umgebung längst angekommen, und das Schönste, was man über uns Kleinfamilie sagen
kann, ist wohl, dass Normalität, der Alltag
eingezogen ist. Die turbulente Zeit zwischen der ersten Nachricht und V.s Eintreffen ist inzwischen Vergangenheit. Unsere
Familie und Freunde haben V. als unser
Kind kennen gelernt, wir haben viel erzählt, was wir mit ihr erlebt haben, und
manches von dem, was wir über ihre leiblichen Eltern wissen.
V. wird in den nächsten Jahren immer wieder davon hören, wie es für uns war, als sie
zu uns kam. Ihre Mutter, die wir (noch?)
nicht kennen, ist für uns erstaunlich präsent. Wie es ihr wohl geht, ob sie manchmal an ihre Tochter denkt? Der Name V.,
den sie ihr gegeben hat, wird beide begleiten, er ist ein symbolisches Verbindungs-
stück; vielleicht gibt es eines Tages noch
mehr. Dass V. sich diese Tür eines Tages
öffnen kann, wenn sie sie öffnen will,
schätzen wir sehr. Auch wir als Eltern wollen so gut wie möglich wissen, wer sie ist
und woher sie kommt. Und wenn sie nie
wissen will, wer sie auf die Welt gebracht
hat, werden wir zu dritt Vorstellungen davon haben, wer das sein könnte.
Oft reden wir darüber, dass so vieles bei einem leiblichen Kind gar nicht anders sein
kann, als wir es mit V erleben: Wir sind
glücklich mit ihr und spüren, dass sie es
auch ist. Sie hat manchmal einen strengen
Tag mit uns, manchmal wir mit ihr. Sie ist
unser Augenstern, der uns von nun an immer begleiten wird. Einer unserer Wünsche
als Paar ist damit in Erfüllung gegangen:
Wir waren und sind immer sehr froh über
unsere Zweierbeziehung, die von Unbeschwertheit, Optimismus und Glück lebt.
Jetzt können wir dieses Glück mit V teilen.
Erstaunt sind wir, wie heftig die Gefühle
von Verantwortung und Zugehörigkeit
heute sind. Heikle Situationen im Alltag
berühren uns sehr, selbstredend auch die
wunderbaren Momente – jedes Mal sind
wir ganz bei uns und bei unserer Tochter.
Es ist sicher nicht selbstverständlich, dass
diese Mutter- und Vatergefühle gekommen
sind, uns überrascht das ebenso wie es uns
erleichtert.
Seit zwei Monaten fremdet V, wie die meisten Kinder in ihrem Alter. Wir zwei sind
dann ihre „Felsen in der Brandung“, sie will
dann nur bei uns sein – bei ihrer Mama
oder ihrem Papa, am liebsten bei beiden
zugleich.»
F.A. & T.R.
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Beratungsstellen
und Kursangebote
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Beratungsstellen:
Aargau: Jugend- und Familienberatungsstelle, www.jefb.ch
Basel Stadt und Land: Familien-, Erziehungs- und Jugendberatung, www.fejb.ch
Basel: Adopt : in, Adoptionsberatung,
Rosita Rudin, www.adopt-in.ch
Bern: Beratungsstelle für Eltern, Kinder
und Jugendliche,
www.erz.be.ch/site//de/erziehungsberatung
Bern: Erziehungs- und Adoptionsberatung, Brigit Stähelin, 077 448 11 12
Glarus: Erziehungs- und Jugendberatung,
055 646 67 10
Graubünden: Jugendberatung, 081 257
26 90
Innerschweiz: Jugendberatung, www.nozoff.ch
Luzern: Contact, Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche, 041 210 13 08
Nidwalden: Jugend- und Familienberatung, 041 618 75 00
Obwalden: Jugend- und Elternberatung,
041 666 64 62
Schaffhausen: Beratung für Jugendliche
und Familien, www.jugendarbeit-sh.ch
St. Gallen, Appenzell Inner- und Ausserrhoden: Kinder- und Jugendhilfe,
www.kjh.ch
Schwyz: Familienberatung, www.familienschwyz.ch/familie/familieerziehung.asp
Spielgruppen ganze Schweiz: www.spielgruppe.ch
Solothurn: Fachstelle für Familien,
www.beratungsstelle-scala.ch
Solothurn: Infos, Tipps und Adressen für
Jugendliche, www.look-up.ch
Kursangebote:
Solothurn: WEG, Kinder-, Jugend- und
Familienberatung, Denise Arber,
www.wegberatung.ch
Thurgau: Jugend- und Elternberatung,
www.perspektive-wtg.ch
Uri: Jugendberatung, 041 874 11 80
Zug: Punkto, Beratungsstelle für Eltern,
Kinder und Jugendliche, 041 728 34 40
Zürich: Kinder-, Jugend- und Berufsberatung, www.ajb.ch www.kidscorner.ch/beratung
Zürich: Beratung für abgebende Mütter,
Kinder und Familien, Dr. Andrea Schedle,
044 241 55 40
«Du bist nicht in meinem Bauch gewachsen»
Freitag, 18. Juni 2010, 09.00-18.00 Uhr,
Zürich
Freitag, 12. November 2010, 09.00-18.00
Uhr, Bern
Anmeldung: Schweizerische Fachstelle für
Adoption, 044 360 80 90 oder [email protected]
«Biografiearbeit»
Freitag, 4. Juni 2010, 09.00-18.00 Uhr,
Zürich
Samstag, 4. September 2010, 09.00-18.00
Uhr, Zürich
Freitag, 19. November 2010, 09.00-18.00
Uhr, Zürich
Anmeldung: Schweizerische Fachstelle für
Adoption, 044 360 80 90 oder [email protected]
Persönliche Onlineberatung bei Erziehungsfragen: www.erziehungsberatung.ch
Persönliche Telefonberatung: www.elternnotruf.ch
Sensibilisierungsprogramm für Jugendliche und Lehrkräfte zum Thema «Umgang mit Konflikten»:
www.denkraum.ch/schulkonflikte
Jugendberatung und Suchtprävention in
verschiedenen Städten: www.samowar.ch
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