Identitätsentwicklung - Schweizerische Fachstelle für Adoption
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Identitätsentwicklung - Schweizerische Fachstelle für Adoption
Identitätsentwicklung Themenheft Nr. 2, 2010 Impressum Herausgeberin: Schweizerische Fachstelle für Adoption Hofwiesenstrasse 3 Postfach 340 8042 Zürich t: 044 360 80 90 f: 044 360 80 99 e: [email protected] www.adoption.ch Gestaltungskonzept: Urs Bachmann, bfvg.ch Gestaltung und Layout: Jan Poldervaart, fractal projects Illustrationen: Michèle Bizaj, *1999 Mai 2010 Inhalt Einleitung 4 Identitätsentwicklung bei abgebenden Müttern 7 Bericht einer abgebenden Mutter 7 Identitätsentwicklung bei Adoptivkindern 14 Bericht eines Adoptivkindes 14 Identitätsentwicklung bei Adoptiveltern 18 Bericht von Adoptiveltern 20 Beratungsstellen und Kursangebote 22 3 Einleitung «Drum muss ich noch einmal zurück an so viele Orte, um mich wieder zu finden.» (Pablo Neruda, Der Wind) 4 Rolf Widmer Geschäftsleiter In diesem Themenheft wollen wir der Frage nachgehen, wie der Adoptionsprozess die Identitätsentwicklung der Beteiligten beeinflussen kann. Wir sind uns bewusst, dass die näheren Umstände und besonderen Bedingungen einer Adoption so vielfältig sind, wie jeder Mensch einzigartig ist. Der Adoptionsprozess greift, wie kaum ein anderer Prozess, in die elementare ElternKind-Beziehung ein und hat weitreichende seelische und soziale Folgewirkungen. Die persönlichen Stellungnahmen von Betroffenen und die Hintergrundberichte sollen mithelfen, Frauen, die ihr Kind zur Adoption freigeben, zu verstehen, das Zusammenleben von Adoptivkindern und Adoptiveltern positiv zu gestalten sowie alle an diesem Prozess Beteiligten zu unterstützen. Junge Menschen, die in Adoptivfamilien aufwachsen, haben neben allen andern Herausforderungen, die Kinder bewältigen müssen, die Zusatzaufgabe, zwei Familien konstruktiv in ihr Leben zu integrieren: Die, in der sie leben und jene, aus der sie stammen. Was bewegt diese jungen Menschen? Was sind ihre spezifischen Themen? Wie können wir ein Adoptivkind auf dem Weg seiner Identitätsfindung, der Erarbeitung seiner Biografie, die wir meist nur bruchstückhaft kennen, unterstützen? Wo sind Grenzen gesetzt? Mancher junge Mann und manche junge Frau stellt sich die Frage, ob ein Mensch selbstbestimmt ein Lebenskonzept entwerfen kann oder ob die biologische Herkunft ihn in eine Richtung drängt, er also quasi fremdbestimmt einen vorbestimmten Weg gehen muss. Nicht nur junge Menschen haben Zukunftsängste, sondern auch viele aufnehmende Eltern. Auch sie befürchten mitunter, bestimmte Anlagen der leiblichen Eltern könnten sich «durchsetzen», wenn ihre Kinder älter werden. Was ist in den Genen hinterlegt, was sind Sozialisationsfaktoren, was sind weitere Umwelteinflüsse? Den meisten abgebenden Müttern fällt es schwer, sich von ihrem Kind zu trennen. Sie tun es meist aus Liebe zu ihm. Sie sehen sich nicht dazu in der Lage, dem Kind das Aufwachsen in materieller und emotionaler Sicherheit und einem stabilen Sozialisationsrahmen zu ermöglichen. Sie glauben, dem Kind keine Rahmenbedingungen bieten zu können, in denen es seine Persönlichkeit und seine Fähigkeiten optimal entwickeln könnte. Das Weggeben ihres Kindes ist für viele Frauen ein Traumata, das sie durchs ganze Leben begleitet. Die nachfolgenden Beiträge sind Möglichkeiten, wie Identitäten von Menschen, die an einem Adoptionsprozess beteiligt sind (leibliche Eltern, Kind, Adoptiveltern), sich entwickeln und verändern können. Doch auch nach der Lektüre werden viele Fragen offen bleiben. Die Mitarbeiterinnen unserer Fachstelle stehen Ihnen gerne zur Verfügung, begleiten Sie nach Wunsch über kurze oder längere Zeit oder vernetzen Sie mit anderen Fachleuten. Wir wünschen Ihnen eine spannende Lektüre und gute Gespräche mit Ihren Kindern, Ihrem Partner, Ihrer Partnerin, Freunden und Freundinnen. 5 Identitätsentwicklung bei abgebenden Müttern 6 Gitta Lehner Sozialarbeiterin FH Jede Frau, die schwanger ist, erfährt eine markante physische und psychische Veränderung. Auch wenn sie den Zustand des Schwangerseins verdrängt, der Körper und die Seele speichern das Heranwachsen des Kindes. Für viele Frauen ist das Schwangersein etwas Schönes, Erwünschtes. Für einige Frauen nicht. Etwa zehn Prozent aller Frauen entwickeln in der Schwangerschaft eine Depression. Die Symptome sind unterschiedlich. Einige Frauen berichten von einer grundsätzlichen Verzweiflung, andere von einer inneren Leere, wieder andere von einer übermässigen Gleichgültigkeit. Auch psychosomatische Beschwerden treten häufig auf. Viele Frauen entwickeln düstere Zukunftsaussichten, ein Gefühl der Hoffnungslosigkeit kann sich ausbreiten. Um einiges prägnanter ist dieser Prozess bei Frauen, die, aus welchen Gründen auch immer, zur Zeit des Mutterwerdens absolut keine Perspektive mit einem Kind sehen und sich dazu entschliessen, ihr Kind zur Adoption freizugeben. Auch abgebende Frauen entwickeln eine Identität als Mutter In den letzten 400 Jahren hat sich mit dem steten Wandel der Familien- und Gesellschaftsstrukturen auch die Rolle der Mutter extrem verändert: Früher gehörte zur traditionellen Familie auch das Gesinde. Die Familie war kein Ort des Privatlebens, sondern der Produktion. Der Kampf ums Überleben bestimmte den Alltag und die Kinder mussten schon früh mitarbeiten. Das Gesinde war in die Erziehung der Kinder miteinbezogen. Die Hausgemeinschaft wurde von der Nachbarschaft, dem Dorf und der Gemeinde sozial kontrolliert. Verhalten, das nicht den Normen entsprach, wurde geahndet. Ab dem 20. Jahrhundert entwickelte sich die Familie zur Kleinfamilie. Es gab eine strukturbedingte Trennung von Wohnung und Arbeitsstätte. Dem Mann oblag die ausserhäusliche Erwerbsarbeit, die Frau kümmerte sich um Hausarbeit und Kindererziehung. Die Wahl des Ehepartners wurde zur Liebeswahl und nicht länger von ökonomischen Rücksichten bestimmt. Seit den 80er Jahren hat sich diese Entwicklung fortgesetzt, indem die Frauen meist auch einer Erwebstätigkeit nachgehen. Familie und Karriere unter einen Hut zu bringen, ist ein Anspruch, der sich einseitig nur an die Frau richtet. Von ihr wird erwartet, den Beruf der Familie unterzuordnen. Wir haben in unserer heutigen Gesellschaft idealisierte Mutterbilder und eine relativ genaue Vorstellung davon, wie Frauen ihre Mutterschaft leben, wie sie gegenüber ihren Kindern fühlen und sich verhalten sollen. Entwickelt sich das Kind oder sein zukünftiges Leben nicht wie erwünscht, so wird die Mutter mehr als der Vater dafür verantwortlich gemacht. Bereits während der Schwangerschaft würden sich die Gefühle der Frau auf das Kind übertragen, steht in manchem Ratgeber und Sachbuch. Eine werdende Mutter habe ihrer Schwangerschaft und ihrem Ungeborenen gegenüber positive Gefühle zu empfinden, sie solle mit dem Kind wohlwollend kommunizieren, es willkommen heissen. Und was, wenn eine Frau keine solchen Gefühle und Gedanken hegt? In unseren Köpfen hängt das Wohl eines noch Ungeborenen und eines Säuglings hauptsächlich vom Verhalten der Mutter ab. Deren Rolle wird als extrem wichtig und prägend eingeschätzt. Das erwartete Verhalten und Fühlen und das tatsächliche Empfinden einer werdenden Mutter, die ungewollt schwanger wurde, führen zu inneren Konflikten. Ein Anspruch ist die Präsenzfrage: Eine Mutter hat sich nach der Geburt ihres Kindes um dieses zu kümmern. Eine Mutter, die sich von ihrem Kind abwendet, es in grosser Not – jede abgebende Mutter befindet sich in einer Notsituation – in fremde Hände gibt, wird vom Umfeld, von der Gesellschaft in der Regel abgewertet, stigmatisiert. Kaum beachtet wird, wieviel Liebe nötig ist, um ein Kind in fremde Hände zu geben, ihm durch die Adoptionsfreigabe ein perspektivenreicheres Leben zu ermöglichen. Es fällt abgebenden Frauen deshalb oft schwer, offen über die Adoptionsfreigabe zu sprechen. Dieses Schweigen erschwert die Verarbeitung des Ereignisses. Wie lebt eine Frau mit der Adoptionsfreigabe? Hier der Bericht einer Frau, die vor 44 Jahren Mutter wurde und dieses Muttersein nicht ausleben konnte: «Ich war noch nicht 20 Jahre alt, kurz nach der Berufslehre, als Sekretärin in einer Handelsfirma in Zürich angestellt und bei meinen Eltern wohnhaft, als ich die Schwangerschaft feststellte. Dieser Umstand erschreckte mich sehr. Einerseits freute ich mich auf mein/unser Kind. Es wurden in mir zärtliche, mütterliche Gefühle wach, der Wunsch, m e i n e m Kind alles zu geben, was es zu einem guten Leben braucht, es zu schützen gegen mögliche Angriffe von aussen. Andererseits fürchtete ich 7 mich vor meinen Eltern, denn diese duldeten meine bereits 1 1/2-jährige Freundschaft mit P. in keiner Weise, da sie P. als arbeitsfaul und als Nichtsnutz einstuften. Sie waren angesehene Geschäftsleute in einem grösseren Dorf, und es wurde von den Kunden auf die heranwachsenden Kinder genau geschaut. Eine Tochter, die sich nicht nach den damals gängigen Normen verhielt, konnte den Geschäftsumsatz nach unten beeinflussen. Die logische Konsequenz am Festhalten meiner Freundschaft mit P. war der Rausschmiss von zu Hause an meinem 20. Geburtstag, der auch gleich ein Rausschmiss aus der Gesellschaft, d.h. der Gemeinschaft im Dorf und von meinen Schulkameraden, war. Ob die Eltern damals wussten, dass ich schwanger war, weiss ich bis heute nicht, da mit mir nie über diese Zeit gesprochen wurde. Die Schwangerschaft, die ich so lange wie möglich geheim zu halten versuchte, brachte für mich eine grosse körperliche, aber auch seelische Veränderung mit sich. Zu dieser Zeit, 1966, wurde man als unverheiratetes schwangeres Mädchen als Hure abgestempelt. Das schmerzte mich zutiefst, hatte ich doch nur den einen Freund, den ich liebte und dem ich vertraute. Nebst ihm hatte ich niemanden, mit dem ich über meine Situation hätte sprechen können. Ich traute mich nicht mehr unter die Leute, ich schämte mich vor mir selbst und konnte mich im Spiegel nicht mehr betrachten. Ich scheute mich, meinen veränderten, zusehends runder werdenden Körper anzunehmen. Die Beine schmerzten, waren geschwollen und an zwei Stellen offen. Im Geschäft, in dem ich in Zürich arbeitete, sprach man nicht mit mir. Man ging mir aus dem Weg. Ich fühlte mich abgewiesen, see- 8 lisch verwundet, ausserhalb aller sozialen Beziehungen. Jeweils nach der Arbeit, wenn ich mich hinsetzte und ruhiger wurde, meldete sich mein Kind mit fast schmerzhaften Bewegungen. Ich wusste, dass mein Kind die Schwere der Situation spürte. Ich wollte mit ihm sprechen, ihm sagen, dass alles gut würde, aber oft erstickten Tränen die Worte. Trotz aller Belastungen war meinem Freund und mir klar, wir wollten unser Kind behalten und nach der Geburt heiraten. Dazu kam es aber nicht, weil P. kurz vor der Geburt des Kindes nicht mehr erschien; sogar seine Eltern wussten nicht, wo er war. Allein gelassen, einsam und verzweifelt rief ich meine Eltern an und bekannte ihnen, dass ich den Freund nicht mehr hatte und fragte, ob ich wieder nach Hause kommen dürfte. Ich kam, begleitet von meiner Mutter, als Notfall ins Spital, da ich vorher nirgendwo angemeldet gewesen war. Die Geburt verlief schnell, ohne Komplikationen und ohne dass man mit mir gesprochen oder mich gefragt hätte, wie ich fühlte. Meine Tochter wurde nach der Geburt nicht zuerst mir, sondern meiner Mutter gezeigt, die dann entsetzt sagte: «Dieses Kind kannst du nicht haben.» Nie vorher war die Rede von Adoption gewesen. P. und ich hatten nie davon gehört, und so waren mir solche Gedanken nicht präsent. Nach diesem Ausruf meiner Mutter lief die Maschinerie Adoption auf Hochtouren. Ein Behalten meines Kindes war eigentlich nicht mehr möglich, da der Vormund so viele Hindernisse aufzählte, wenn ich es behalten würde, dass es mir selbst unmöglich schien, da mich P. verlassen und ich von ihm keine Unterstützung mehr hatte. Etwas wollte ich meinem Kind aber unbedingt auf seinen Lebensweg mitgeben: Seinen Vornamen – seine erste Identität. Es war ein schöner, bedeutungsvoller Name, und ich war überzeugt, dass dieser Name meinem Kind gefallen würde. Damals, 1966, gab es keine sozialen Angebote, kein Frauenhaus, keine materielle Unterstützung für alleinerziehende Mütter, bzw. waren mir keine solchen Institutionen bekannt, und es wurden mir auch keine solchen Stellen angegeben. Nach dem nagenden Gefühl des Erst-benutzt-und-danachfallen-gelassen-worden-seins verspürte ich eine grosse Müdigkeit und Resignation. Die zermürbenden Besprechungen mit dem Vormund meines Kindes machten mich des Kämpfens müde. So wurde ich von den Umständen gezwungen, in die Freigabe des Kindes zur Adoption einzuwilligen. In jenem Moment war es der einzig gangbare Weg – für das Wohl meines Kindes und für mich –, so jedenfalls versicherte mir der Vormund meines Kindes immer wieder. Eine andere Ansprechperson hatte ich nie, nicht seitens des Spitals, noch von einer Adoptionsstelle. Ein schreckliches Beispiel der Erniedrigung war die Aussage der mich behandelnden Hebamme, die kurz nach der Geburt mit meinem Kind auf ihren Armen zu mir kam, mein Töchterchen anschaute und sagte: «Ach du armes Kind, sieh nur, welch grausame Mutter du hast. Zuerst hat sie ein Lot- terleben geführt, weiss sicher nicht einmal, wer dein Vater ist und jetzt will sie auch noch nichts von dir wissen.» Das war wie ein Todesstoss. Meine Tochter wurde nicht aus einer flüchtigen Bekanntschaft heraus gezeugt; ich liebte meinen Freund und hätte mir eine Ehe mit ihm vorstellen können. Was mich sehr verärgerte, war, dass meine Eltern mit ihrem Urteil über P. wahrscheinlich Recht hatten. Das konnte ich mir fast nicht eingestehen. Man hat mich dann gedrängt, den Namen und Wohnort des Kindsvaters bekanntzugeben, dem Kind zuliebe, was ich tat. Die Behandlung der Ärzte und des übrigen Pflegepersonals war eisig kalt, emotionslos, abweisend und ohne jedes Verständnis. Auf der Patientenkarte stand: ledige Mutter, gibt ihr Kind zur Adoption frei. Solch eine Mutter hatte kein Anrecht auf Zuwendung und Verständnis. Psychologische Hilfe gab es damals nicht. Gleich nach der Entbindung überkam mich ein Gefühl ungeheurer Leere. Ich sank in ein tiefes Loch. Danach folgten Wochen der «Bewusstlosigkeit», eines Lebens wie in dichtem Nebel, des reinen Funktionierens. Die Abgabe der Unterschrift vor Gericht lag genau in jener Zeit. Ich hörte zwar, was man mir vorlas, aber es kam in meinem Innersten nicht an. Es schien ohnehin alles schon entschieden. Vor Gericht traf ich P. wieder, der gesucht worden war und ebenfalls an der Verhandlung teilnahm. Gesprochen haben wir nicht miteinander. 9 Viele Jahre später, nachdem mich meine Tochter auf das Gerichtsurteil ansprach, wurde mir bewusst, dass ich in der damaligen Gemütsverfassung und in Unkenntnis der Rechtslage nicht realisierte, dass mir meine Eltern das schriftliche Urteil nicht aushändigten. Somit konnte ich kein Rechtsmittel gegen das Urteil einlegen. Nun war ich also Mutter ohne mütterliche Aufgaben, ohne mein Kind, ganz allein, ohne Freundinnen. Die Verwandten durften nichts wissen. Die Schwangerschaft veränderte mein Denken und Fühlen, mein ganzes Sein. Die Trennung von meinem Kind riss etwas aus mir heraus, das ich eigentlich mit Worten nicht ausdrücken kann. Einen Tod kann man mit der Zeit verarbeiten. Man kann um den Verstorbenen trauern, Freunde oder Verwandte trauern mit und geben Unterstützung. Eine Weggabe des eigenen Fleisch und Blutes lässt sich jedoch kaum nachfühlen. Wie erträgt man solch ein Leben und was macht es mit einem? Ich fühlte mich als schlechter Mensch, als Versagerin. Meine Pläne für mein Leben waren so anders gewesen. Ich wollte eine Familie haben, wünschte mir Kinder, denen ich eine gute Mutter sein wollte. Kann man eine Adoptionsfreigabe Schicksal nennen oder ist es – eigenes Verschulden? Der einzig mögliche Weg, um weiterleben oder funktionieren zu können, war für mich die Verdrängung, zumindest über einen bestimmten Zeitraum. Nach einer Woche «Krankheit» – so stand es im Arztzeugnis – musste ich wieder an den Arbeitsplatz zurück, was nicht einfach war, da der Chef und die Angestellten sicher wussten, was sich in der Zwischenzeit ereignet hatte. Doch man sprach mich darauf nicht an. Ich 10 schämte mich. Ich stürzte mich buchstäblich in die beruflichen Aufgaben, in denen ich Befriedigung und Vergessen suchte, aber auch eine gewisse Anerkennung für Topleistungen, um doch jemand zu sein. Plötzlich erwachte ich aus meiner Lethargie, und es packte mich das blanke Entsetzen über das, was ich gemacht hatte. Die Schuldgefühle meinem Kind gegenüber verfolgten mich ständig, sie waren wie der Schatten von mir. Die Schuld bestimmte in zermürbender Weise mein weiteres Leben. Die Wut gegenüber dem Vormund, den Eltern, dem Gericht, den Ärzten und der Hebamme wurde riesig. Ich spürte, dass ich so und in dieser Umgebung nicht weiterleben konnte. Ich fand eine Arbeit in England und versuchte dort ein neues Leben anzufangen, zuerst in einem Gästehaus und Konferenzcenter, danach in einem Spital für Mutter und Kind als Hilfsschwester. In dem Gästehaus lernte ich eine junge Frau kennen, der ich mein ganzes Leid klagen und mein schweres Herz ausschütten konnte, die mich nicht verurteilte, sondern mich verstand und mir zuhörte. «Gibt es Vergebung von Schuld, damit Freiheit und Entwicklungsmöglichkeiten erfahren werden können?», fragte ich sie. Sie wies mich auf viele verschiedene Stellen in der Bibel hin, wo Jesus den vielen verzweifelten Menschen die Vergebung Gottes zusagte. «So darfst auch du mit der Vergebung Gottes rechnen, und er wird zu deinem Kind und dessen El- tern schauen und ihnen wohltun», versicherte sie mir. «Du darfst im Vertrauen auf Gott diese bedingungslose Vergebung einfach annehmen.» Was ich von Herzen tat. Meine Situation hat sich insofern verändert, als dass ich die drückende Schuldenlast bei Gott ablegen und Erleichterung erfahren konnte. Nicht, dass jetzt alles verändert gewesen wäre. Nein, Geschehenes kann man nicht ungeschehen machen; die Konsequenzen der Weggabe und das Heimweh nach meinem Kind sind geblieben, doch die Schuldgefühle wichen einem starken Glauben, der mir in wiederkehrenden Krisen immer wieder neue Hoffnung und Zuversicht gab und mich nicht im Weh versinken liess. Als ich vor 9 Jahren von der Fachstelle für Adoption Zürich einen Brief mit dem wunderbaren Logo erhielt, war ich ausser mir vor Freude. Darin hiess es, dass eine junge Frau, geboren 1966, ihre Wurzeln suche. Auf diesen Moment hatte ich viele Jahre gewartet, an ihn geglaubt, oft daran gezweifelt und wieder gehofft. Und dann brachen all die vielen Fragen und eine grosse Angst vor der ersten Begegnung mit Wucht auf mich herein. Wer bin ich eigentlich? Wie stelle ich mich vor? Wird meine Tochter mich verurteilen? Wie sieht sie aus? Ist sie gross, klein, rundlich oder schlank? Wie tönt ihre Stimme? Welche Farbe haben ihre Augen? – Meine sind braun, ihr Vater hatte blaue Augen. Wird sie mich mögen? Was werden ihre Fragen sein? Werde ich stark genug sein, ihr in die Augen zu schauen und all ihre Fragen ehrlich zu beantworten? Wird es ein zweites, drittes Treffen geben? Wir haben uns im Zoo Zürich zum ersten Mal getroffen. «Warum im Zoo?», fragte ich mich. Meine Tochter erklärte mir dann, dass wir nebeneinander her gehend besser und unbefangener sprechen könnten, als einander gegenüber sitzend. Wie aufmerksam, fürsorglich und taktvoll von meiner Tochter. Ich war eine halbe Stunde vor dem Termin dort, parkierte mein Auto und spazierte in der Gegend umher, um vielleicht meine Tochter schon bei ihrem Eintreffen zu sichten. Dasselbe dachte auch meine Tochter, nur parkierte sie nicht, sondern fuhr im Gebiet herum und sah mich. Und dann – der grosse Moment!!! Mein Herz zersprang beinahe. Nicht zögernd, nein, bestimmt und geradewegs kam die junge Frau auf mich zu, und ich spürte es tief innen – ohne Erkennungszeichen etc.: Es ist meine Tochter, die ich jetzt das allererste Mal sehe. Es war ein wunderbares Gefühl, meine Tochter, eine wunderschöne, junge, vor Energie strotzende Frau in den Armen zu halten und fest an mich zu drücken. Vierunddreissig Jahre hatte ich auf diesen Moment gewartet. Mein Herz pochte vor Freude und Aufregung bis zum Hals. So glücklich war ich im Leben noch nie gewesen. Nein, sie gleicht im Aussehen nicht mir, sie ist abgeschnitten ihr Vater, was mich nicht störte, im Gegenteil fast freute, denn er war ein anmutiger Bursche gewesen. Das gewinnende, fröhliche Lachen meiner Tochter ist aufmunternd und geradezu ansteckend. Sie 11 hat jedoch, wie ich über die Jahre feststellen konnte, meine Charakterzüge, was mich ebenfalls freut. Natürlich herrschte in den ersten Minuten unseres ersten Treffens eine gewisse Spannung. Wer fängt an und wie, damit es nicht verletzend wirkt. Nur nicht kompliziert tun, dachte ich. Meine Tochter hat die Spannung aufgelöst mit ihrer liebenswürdigen und herzlichen Aussage: «Danke, dass du mich geboren und nicht abgetrieben hast. Ich liebe mein Leben und bin glücklich und zufrieden.» Das war für mich ein riesiges Geschenk, und ich war so dankbar, dass sie mich nicht verurteilte. Bald schon drängten sich viele Fragen auf, und es fiel mir nicht schwer, diese ehrlich und ausführlich zu beantworten. Zwischen uns fand ein tiefes gegenseitiges Verstehen, ein einander Wahrnehmen statt. Acht Stunden waren wir zusammen, und wir hatten nie einen faden, spannungslosen Moment. Sie erzählte, wie und wo sie aufgewachsen war, was weiteren ergiebigen Gesprächsstoff lieferte, denn sie wuchs nur einige Dörfer von mir entfernt auf. Sie erzählte von ihrer Kindheit und ich durfte ihr Fragen stellen, die sie mir bereitwillig beantwortete. Wir beide fühlten, dass sich zwischen uns eine Beziehung aufbauen könnte, vorsichtig wahrnehmend und langsam gestaltend. Einige Zeit später erzählte mir meine Toch- 12 ter, dass sie eigentlich nur ihre Wurzeln hatte kennen lernen wollen und dann wäre für sie die Sache erledigt gewesen, was sich zu meinem grossen Glück anders entwickelte. Zwischenzeitlich lernte ich auch die Adoptiveltern meiner Tochter kennen. Kurz nachdem meine Mutter gestorben war, arrangierte M. ein Treffen mit ihrer Adoptivmutter und mir. Es war ein herzliches Kennenlernen, und ich konnte ihr danken, dass sie unserer Tochter viel Liebe und Zuwendung gab und sie zu einer bemerkenswerten, attraktiven, fleissigen und verantwortungsbewussten Frau erzogen hatte. Ich hatte meine Gefühle zuvor überprüft, und ich konnte diese Aussage ohne Eifersucht, heimlichen Groll oder Ohnmacht gegenüber erlittenem Schmerz oder persönlichem Zurückgesetztsein machen. Es war eine wohltuende Freiheit zwischen uns, bis auf einen Punkt, den ich gegenüber der Adoptivmutter zu diesem Zeitpunkt nicht ansprechen mochte. Diese eine Gegebenheit beschäftigte mich sehr und ich hatte einige Mühe, diesen Umstand anzunehmen. Warum hat die Adoptivfamilie den angestammten Vornamen meines Kindes nicht anerkannt, nicht gewürdigt? Warum hat sie den selbst gewählten Namen nicht an die zweite oder dritte Stelle gesetzt? Für mich war das sehr schwierig zu verstehen und zu akzeptieren und ich fühlte mich verletzt. Ich hatte damals meinem Kind bewusst den Namen M. gegeben. Jahrelang habe ich täglich intensiv an M. gedacht und jetzt soll es diese M. nicht geben, sondern ich muss sie L. nennen. Das war für mich nochmals ein Verlust, und ich fühlte mich betrogen. Sofort kam mir der Gedanke, dass Adoptiveltern nicht das Wohl des Kindes im Auge haben, sondern egoistisch ihre Eigeninteressen verfolgen und möglichst rasch ihre Kinderlosigkeit loswerden wollen. Anfangs hatte ich im Gespräch Mühe, meine Tochter L. zu nennen, und ich nannte sie immer wieder M. Nicht aus Trotz, sondern weil ich immer an M. dachte. Meine Tochter sagte mir dann einmal: «Gell, es fällt dir schwer, mich L. statt M. zu nennen.» Ich gab es zu. Für mich habe ich diesen Punkt später so gelöst, dass M mein kleines Kind und L. meine erwachsene Tochter ist. Das half mir. Bei einem späteren Gespräch mit der Adoptivmutter lernte ich ihre Beweggründe für die Namensänderung kennen und verstehen. Da die Adoptiveltern nach dem alten Adoptionsgesetz zu jung waren das Kind zu adoptieren, war es bis zum Zeitpunkt der möglichen Adoption als Pflegekind registriert. Die dauernden Besuche des Vormundes, und die enormen Ängste der Adoptivmutter, ich könnte das Kind suchen und ihr wegnehmen, waren so gross, dass sie durch die Namensänderung mögliche Rückschlüsse verhindern wollte. Identitätskonflikte auf beiden Seiten? lernen meiner Tochter hat sich für mich eine neue Welt erschlossen. Ich freue mich immer, mit ihr zusammen zu sein. Ich höre ihr gerne zu, wenn sie von ihrem Leben erzählt, wenn sie mir ihre philosophischen Gedanken verrät, und oft schon haben ihre Worte mich zum Weiterdenken und -entwickeln angeregt. Es ist eine Freude, zu sehen, wie sie sich in Beruf und Familie bewegt. Oft wurde meine Persönlichkeitsstruktur durch äussere Zwänge, durch Schuldgefühle und innere Hemmungen gestört. In der Auseinandersetzung mit Krisensituationen und mit dem Überwinden derselben habe ich etwas Neues, für meine Weiterentwicklung Wichtiges gelernt, nämlich die Anforderungen und Herausforderungen meines Lebens mit Hingabe, Konzentration und tiefer Liebe zu bewältigen und zur Vollendung zu bringen. Die verschiedenen Identitätskrisen oder Wendezeiten haben mich geformt und zu dem Menschen gemacht, der ich heute bin. Die anfangs aussichtslose Situation hat sich für mich zu einer grossen und wertvollen Kraftquelle entwickelt.» E.H. Mit den Fürsorge- und Beratungsstellen, die es heute gibt, mit dem betreuten Wohnen für Mutter und Kind und dem Wissen von heute, würde ich nicht mehr zu einer Adoption einwilligen. Ich bin dankbar, dass für werdende Mütter in schwierigen Situationen verschiedene Möglichkeiten zur Verfügung stehen. Schlussgedanken Man kann das Leben nicht rückwärts, sondern nur vorwärts leben. Mit dem Kennen- 13 Identitätsentwicklung bei Adoptivkindern Gitta Lehner Sozialarbeiterin FH Viele Adoptivkinder wachsen relativ unbeschwert auf, können ihre Adoptionsgeschichte in ihr Leben integrieren, ohne dass sie Verhaltsauffälligkeiten aufweisen oder das Gefühl haben, benachteiligt gewesen zu sein. Andere leiden immer wieder stark unter dem Verlust der biologischen Familie. Ein Kind identifiziert sich im ersten Lebensjahr vollkommen mit seiner Bezugsperson (zuerst mit der leiblichen Mutter – auch wenn es gleich nach der Geburt von ihr getrennt wird: Es kennt ihren Herzschlag, ihre Stimme, etc. –, danach mit den Pflegeeltern, falls es in einer Übergangspflege ist) und erleidet durch die Trennung von ihr nicht nur diesen Verlust, sondern auch den Verlust von Teilen seiner eigenen Identität. Seine erste Identitätsgleichung lautet nämlich: «Ich bin, was meine Eltern sind.» Kinder, die weggegeben werden, erleben ein Trauma, egal, wann sie zu ihren Adoptiveltern kommen. Manche können dieses Ereignis aufarbeiten, bei anderen wirkt es sich später auf die grundsätzliche Beziehungsfähigkeit aus. Oft verlässt eine erwachsene Adoptierte, die das Verlassenwerden nie verarbeitet hat, ihren Partner, bevor er sie verlassen könnte. So kann sie die Situation kontrollieren. Bei den nächsten Partnern wiederholt sie dieses Verhalten – so lange, bis sie ihr erstes Verlassenwerden, jenes durch die leibliche Mutter, verarbeitet hat. Es ist wichtig, dem Kind schon ganz früh zu sagen, dass es adoptiert wurde und ihm genügend Raum für die biologische Familie zu schaffen, mit ihm Biografiearbeit zu leisten. Das Kind soll den Verlust seiner Ursprungsfamilie betrauern und ausdrükken dürfen, ohne ein schlechtes Gewissen haben zu müssen. Ihm muss die Auseinan- dersetzung mit seinen leiblichen Eltern und deren Geschichte zugemutet werden, damit es sehen kann, was es von diesen Eltern erhalten hat – vor allem sein Leben – und was ihm von diesen Eltern nicht gegeben werden kann (Nahrung, ein Zuhause, Zärtlichkeit etc.). Es gewinnt durch diese Hinwendung Eigenständigkeit und kann sich ohne Angst auf eine Beziehung mit seinen sozialen Eltern jenseits seines leiblichen Ursprungs einlassen. Ein verdrängter oder tabuisierter Verlust wird sich früher oder später bemerkbar machen. Da die biologische Familienstruktur zerstört ist, kann das Kind darum bemüht sein, spezielle Wiederherstellungsversuche zu unternehmen. Oft sucht es die Ursache des Weggegebenwordenseins zuerst bei sich selber, fühlt sich nicht wertvoll genug, um von der Mutter behalten worden zu sein. Sucht es später die «Schuld» bei seinen leiblichen Eltern, so bedeutet dies für das Kind, von «schlechten» Eltern abzustammen und somit«schlechte Gene» zu besitzen, d.h. selber «schlecht» zu sein. Manche Kinder suchen mit den Jahren nach idealisierten Vorbildern, nach Liebesobjekten, um die verlorenen (leiblichen) Eltern zu ersetzen. Einige Adoptivkinder glauben auch, den Adoptiveltern so dankbar sein zu müssen, dass sie es nicht wagen aufzubegehren, eigene Meinungen zu äussern oder in der Jugend pubertäre Kämpfe zu führen. Solch ein Verhalten beeinflusst die Identitätsbildung und kann die Entwicklung zu einem eigenständigen Menschen behindern. Doch viele Adoptivkinder wachsen mit der Unterstützung, der Liebe und dem Einfühlungsvermögen ihrer Adoptiveltern zu starken Persönlichkeiten heran, können dank ihrer Geschichte eine Sensibilität entwickeln, die anderen Menschen zugute kommt. Lesen Sie den folgenden Bericht eines Adoptierten, der ein glückliches Leben führt: «Anfang 2009 habe ich meine «wahre» Identität gefunden. Kann man das wirklich so sagen? Was war davor? War ich ohne Identität, eine Persönlichkeit ohne Wurzeln? Wenn ich mich so direkt frage, komme ich zum Schluss, dass das nicht zutrifft. Allenfalls fehlten in meinem Leben bis dato Details, die erst nach und nach zu relevanten Faktoren wurden. Warum? Im zarten Alter von ein paar Tagen wurde ich adoptiert. Ich kam zu einem kinderlosen Paar, das seit einigen Jahren einen unerfüllten Kinderwunsch hatte. Meine Eltern hatten sich und das Umfeld darauf vorbereitet, dass irgendwann vielleicht ein neues Familienmitglied «von aussen» dazu kommen würde. So hatten sie die bestmöglichen Voraussetzungen geschaffen, die für eine volle Akzeptanz aller Seiten nötig waren. Zwei Jahre nach mir wurde mein Bruder adoptiert, und so war unsere Familie komplett. Die erste Erinnerung, die ich in diesem Zusammenhang habe, ist die Antwort auf meine kindliche Frage, woher ich eigentlich käme. Normalerweise müsste die Antwort ja lauten: «Aus Mamis Bauch», oder so ähnlich. Die Antwort, die ich jeweils bekam, lautete: «Wir haben dich ausge- 15 sucht.» Für mich schien das logisch und adäquat zu sein. Ich stellte mir das Kinderbekommen wie Äpfel im Konsum kaufen vor. Man steht vor einer Reihe Bettchen mit Babys drin und sucht sich das Geeignetste aus… Erst später, als das Verständnis für die biologischen Abläufe entstand, fing ich an, diese Antwort zu hinterfragen. Von diesem Moment an wurde mir auch das Wort «Adoption» begreiflich. Ich wusste, dass meine Eltern und mein Bruder nicht meine leiblichen Verwandten waren. Da es mir aber nie abnorm vorkam, beschäftigte mich diese Tatsache eigentlich nicht weiter. Es war eher so, dass meine Eltern befürchteten, dass ich darunter leiden würde. Sei es durch die Tatsache als solches oder durch Hänseleien anderer Kinder. Jedenfalls waren meine Kindergärtnerin und meine Lehrer jeweils schon von Anfang an informiert und sensibilisiert worden. Auch den Eltern meiner Mitschüler wurde mitgeteilt, dass ich adoptiert sei. Ich erlebte trotzdem Ausgrenzung. Diese stand in meinen Augen aber eher im Zusammenhang damit, dass unsere Familie frisch auf meinen ersten Schultag hin an einen neuen Ort gezogen war. Ich kann mich nicht daran erinnern, dass ich je wegen des Adoptiertseins geplagt wurde. Später, als ich in die Pubertät kam, interessierte es mich mehr und mehr, wer eigentlich meine leiblichen Eltern waren. Meine Adoptiveltern hatten gemäss ihren Aussagen keine diesbezüglichen Informationen. Im Verlauf der Jugend flachte mein Interesse etwas ab. Ich habe damals nie etwas unternommen, um meine leiblichen Eltern zu 16 finden. Da stand anderes im Vordergrund. Allerdings öffnete ich mich dem Thema gegenüber und hatte nicht das Gefühl, diese Tatsache verstecken zu müssen. Man spürte zu jener Zeit auch, dass das Thema Adoption nichts Besonderes oder gar Negatives war. Die Gesellschaft öffnete sich der Thematik gegenüber vermehrt, und so war es ganz normal, wenn jemand sagte, er wolle ein Kind adoptieren oder sei selbst adoptiert worden. Auch die Gesetzgebung hat merklichen Einfluss auf die Akzeptanz gehabt. Vor allem die gesetzliche Gleichstellung zu leiblichen Kindern, z.B. bzgl. des Erbrechts, hat das Verständnis gefördert. Heute kann ich sagen, dass sich für mich keine Nachteile in meinem Leben aus der Tatsache, adoptiert worden zu sein, ergeben haben. Später, als ich ca. 30 Jahre alt wurde, interessierte mich dieses Thema wieder vermehrt. Ich stellte mir von neuem Fragen nach meiner Herkunft, nach den Umständen und Gründen für die Freigabe, nach allfälligen Geschwistern usw. Allerdings erübrigte sich die Fragerei, da ich spürte, dass ein konkretes Verfolgen dieser Frage mehr Probleme als Nutzen gebracht hätte. Vermutlich hätte das zu dieser Zeit zu einer Identitätskrise geführt, da sich mein Leben sehr stark im Wandel befand. Abgesehen davon spürte ich, dass seitens meiner Eltern, v.a. meiner Mutter, Befürchtungen da waren, ihr Status als meine Eltern könnte in Frage gestellt oder sonst irgendwie negativ tangiert werden. Also liess ich es bleiben. Während meiner zweiten Ausbildung hatte ich eine Klassenkollegin, die in derselben Situation war wie ich. Sie allerdings machte sich auf die Suche nach ihrer leiblichen Mutter. Als sie nach wenigen Wochen erzählte, wie der Erstkontakt verlaufen war, wurde ich wieder „gwunderig“. Zumal sie nur Positives berichtete und richtiggehend ins Schwärmen geriet. Nun stand ich wieder vor der Entscheidung, mich gegen den Wunsch meiner Adoptivmutter zu stellen oder nicht. Schliesslich entschied ich, meine Bedürfnisse zurückzustellen und die Suche nicht zu starten. Evt. würde ich nach dem Tod meiner Mutter zu suchen beginnen. Die Jahre vergingen, und ich wurde Vater meines ersten Sohnes. Wow, was für ein Gefühl, ein eigenes Kind zu haben! Das ist nicht selbstverständlich. Aufgrund der Tatsache, dass auch in meinem Bekanntenkreis unfreiwillig kinderlose Paare existieren, haben meine Frau und ich schon früh auch diesen Fall besprochen. Da ich durch meine Adoption in meinen Augen einen «Joker» gezogen hatte, setzte ich mich für diese Variante als Alternative für den Fall der Fälle ein. Meine Frau konnte sich sehr gut mit dieser Idee anfreunden. Doch wir hatten Glück: Nach dem ersten Kind folgte das zweite und später das dritte. Inzwischen sind meine Kinder gross genug, dass sie in etwa wissen, wie Kinder entstehen. Ich habe ihnen schon früh ver- sucht zu erklären, wie das bei mir ausgesehen hat mit Mami und Papi. Sie schienen das zu verstehen, sie fragten nicht nach. Im Jahr 2005 verstarb meine geliebte Adoptivmutter. Es war der traurigste Moment meines Lebens. Mir war aber klar, dass ich nun meine Option bezüglich der Suche nach leiblichen Verwandten einlösen konnte. Rund drei Jahre später stolperte ich im Internet per Zufall über einen Link zur Adoptionsstelle. In diesem Moment wusste ich, dass ich jetzt entscheiden musste, was ich will. Ich klickte den Link an und stellte sogleich einen Erstkontakt her. Die Sache kam ins Rollen. Ab jetzt wurde es spannend. Täglich wartete ich auf irgendeine Nachricht. Und siehe da, es gab das erste Telefonat, in dem mir u.a. mitgeteilt wurde, wie ich vor der Adoption mit Vornamen geheissen hatte. Puah, das war heftig. Das hat mich kurz aus der Bahn geworfen. Wie hiess ich jetzt? So oder anders? Ich hatte auf einmal ein riesiges Mitteilungsbedürfnis und sprach mit meiner Frau und Freunden darüber. Nicht aber mit meinem Vater! Er wäre vermutlich gekränkt gewesen, da ich ihn nicht über meine Suche informiert hatte. Als nächstes erfuhr ich, dass seitens meiner leiblichen Mutter auch Kontakt erwünscht war. Ich hielt nichts von telefonieren, schreiben usw. Face to face schien mir die einzig richtige Variante zu sein. Die Gegenseite schien gleich zu denken, wie mir die Sozialarbeiterin mitteilte. Na also, das ging doch! Jetzt musste nur noch meine Familie informiert werden. Meine Kinder verstanden zunächst nicht mehr ganz, was jetzt abging. Der grosse Tag stand Anfang 2009 bevor. Ich sollte ins Büro der Sozialarbeiterin kommen, um meine leibliche Mutter zu treffen. Ich war nicht oft in meinem Leben so nervös wie auf dieser Reise. Dort angekommen betrat ich mit etwa 10 kg Fotoalben im Gepäck das Büro. Ich war nicht der erste vor Ort. Ich wurde bereits sehnsüchtig erwartet, wie mir vor der Tür mitgeteilt wurde. Das erste Treffen begann emotional und herzlich. Nach rund drei Stunden biografischer Darlegungen beider Seiten endete der offizielle Teil dieses ersten Treffens. Beim inoffiziellen, also ganz privaten, Teil, bewies sich die Verwandtschaft zwischen meiner leiblichen Mutter und mir. Jedenfalls staunten wir, die Serviertochter des Cafés und ich, nicht schlecht, als zweimal ein Kaffee Doppelcrème mit Doppelzucker bestellt wurde. Das war der Beweis! Meine Kinder kommen mit der Sache inzwischen klar und haben verstanden, dass sie jetzt – nicht auf übliche Weise – eine weitere Grossmutter dazubekommen haben. Ich habe letztendlich nicht meine Identität gefunden, sondern diese um ein fehlendes Puzzleteil vervollständigt.» D. H. Inzwischen habe ich auch meine Familie mit meiner leiblichen Mutter bekannt gemacht und dazu noch meine leiblichen Halbbrüder und deren Kinder kennengelernt. Das waren ganz spezielle Momente. Sie waren geprägt von Vertrauen und Offenheit. Einfach lässig! Heute habe ich noch das Problem, wie ich meine leibliche Mutter nennen soll. Ich kann und will nicht Mutter sagen, weil dieser «Titel» für mich eine andere Bedeutung hat, als nur die Gebärerin zu sein. Ich spreche sie deshalb mit ihrem Vornamen an. Und für die, die sie nicht per Namen kennen, ist sie halt meine leibliche oder biologische Mutter. Ich spüre allerdings, dass ich für meine leibliche Mutter so etwas wie der verlorene Sohn bin. Ich will sie auf keinen Fall kränken, aber ich denke, wir werden diese Frage noch klären müssen. 17 Identitätsentwicklung bei Adoptiveltern Gitta Lehner Sozialarbeiterin FH Die neun Monate Schwangerschaft entfallen bei Adoptiveltern. Trotz langer Vorbereitungszeit trifft die tatsächliche Elternschaft sie unvermittelt, da es keine Garantie gibt, wirklich ein Kind adoptieren zu können. Erhalten sie ein Kind zugesprochen, so engagieren sich die meisten Adoptiveltern mit voller Kraft, einfühlsam, aufopfernd, wohlwollend und mit unendlicher Geduld für ihr Adoptivkind. Kinder gelten als Quelle individueller Glückserfahrung und emotionaler Bereicherung. Die meisten Paare (auch kinderlose) entwickeln Phantasien von ihrem leiblichen Kind. Sie stellen sich vor, wie ein solches aussehen würde, wie es sich verhalten, wie intelligent es sein würde. Eine Identifikation mit dem Kind über äusserlich wahrnehmbare Merkmale bleibt Adoptiveltern versagt. Die Konfrontation mit dem heranwachsenden Adoptivkind kann desillusionierend sein. In Konfliktfällen neigen manche Adoptiveltern dazu, wenn auch unbewusst, Problemverhalten als genetisch weitervererbt zu betrachten, als Folge einer belasteten Schwangerschaft oder der Trennung von der leiblichen Mutter. Die Frage der Aufklärung des adoptierten Kindes über seine Herkunft ist für jene Eltern ein Problem, die das Adoptivkind wie ein leibliches Kind erleben und behandeln möchten. Aufklärung bedeutet aus systemischer Sicht das Klarstellen von sozialen Bezügen. Dies bedeutet für Adoptiveltern grundsätzlich, Abstand zu nehmen von der mit den tatsächlichen Gegebenheiten nicht übereinstimmenden Vorstellung, ein nicht leibliches Kind so betrachten zu können, als sei es doch ein leibliches. Sobald sich Adoptiveltern an die Stelle der leiblichen Eltern setzen und als bessere, nämlich fürs Kind sorgende, Eltern auftreten, zeigt das Kind oft Solidarität mit den biologischen Eltern und verübelt dies den Adoptiveltern. Es sollte Adoptiveltern bewusst sein, dass sie mit ihrem Kind eine besondere soziale Konstellation haben. Möchten die Eltern lieber nicht über die Adoption sprechen, so merkt dies das Kind und gerät in einen Konflikt: Entweder es rebelliert, um auf die Diskrepanz zwischen seinen Gefühlen, seinem Wissen und der Haltung der Adoptiveltern aufmerksam zu machen oder es hält sich zurück, und so wird aus dem Dilemma ein innerer ungelöster Konflikt. Kinder, die das Thema Adoption nicht anschneiden, tragen die entstandenen Konflikte innerlich aus oder verdrängen sie. Es ist wichtig, dass Adoptiveltern ihrem Kind immer wieder das Gespräch über seine Adoption anbieten. Biografiearbeit wird als leicht umsetzbare Methode eingesetzt, um mit Kindern in jedem Lebensalter an ihrer eigenen Geschichte zu arbeiten. Sie hilft Kindern und Jugendlichen bei der Rekonstruktion ihrer Vergangenheit und ermöglicht ihnen damit einen realistischen und annehmbaren Zugang zu ihrer oft erschwerten Lebensgeschichte. Ihr Herkunftsland, frühere Lebensorte, verlorene Familienmitglieder oder Vorfahren erhalten ihren Platz. In einem gemeinsamen Prozess werden Erlebnisse zusammengetragen und besprochen, Lücken geschlossen, manchmal Fantasien entwickelt. In einem Lebensbuch, einem Lebensbrief, mittels gemalten Bildern, Geschichten etc. wird die Geschichte des Adoptivkindes festgehalten, so dass sie im Alltag präsent bleibt. Unsere Fachstelle bietet laufend Kurse zum Thema Biografiearbeit an, um Adoptiveltern in diesem Prozess optimal zu unterstützen. Viele Adoptiveltern meinen, von ihnen würde erwartet, dass sie nach vollzogener Adoption ein besonders harmonisches Familienbild abgeben, dass sie möglichst keine Probleme haben dürften, um auf diese Weise ihre «Eignung» unter Beweis zu stellen. Diese Haltung kann die Identitätsentwicklung in der Elternrolle beeinträchtigen. Manche Adoptiveltern erleben ihre Beziehung zum Kind immer als labil und haben Angst, das Kind könnte sich von ihnen distanzieren. Grundlage dafür ist die oft unbewusste Eifersucht auf die leiblichen Eltern, die Angst, das Kind sehne sich im Grunde nur nach ihnen. Besonders in der Pubertät, der Zeit der zermürbenden Kämpfe, erschrecken Adoptiveltern vor dem Wunsch des Kindes, seine leiblichen Eltern kennen zu lernen. Doch kaum ein Kind wünscht, die Adoptiveltern durch die leiblichen zu ersetzen. Jugendliche haben nur ein verstärktes Bedürfnis, sich im Rahmen ihrer Identitätssuche mit ihrer Biographie auseinanderzusetzen. Nachfolgend schildern «frische» Adoptiveltern, wie sie ihre neue Rolle ausfüllen, was für Gedanken und Gefühle sie beschäftigen: 19 «Es ist unser letzter Ferientag im Sommer 2009. Nach 800 Velokilometern auf Ostseeinseln und in Norddeutschland sind wir kurz vor Berlin, um von dort mit dem Nachtzug wieder nach Hause zu fahren. Das Telefon haben wir bei uns, es blieb aber bis zu diesem Donnerstag drei Wochen lang ausgeschaltet, es sollten ja richtige Ferien sein. In Gedanken sind wir noch auf unserer herrlichen Reise und ein bisschen auch schon daheim. Es ist so etwas wie ein Schalttag: Umschalten von Frischluftferien am Strand und im Wald auf Stadtleben und die vertraute Wohnumgebung. Und auch das Telefon darf jetzt, kurz vor Urlaubsschluss, wieder klingeln, denn zu Hause renovieren die Handwerker zwei Zimmer. Am letzten Tag vor den Ferien haben wir noch die halbe Wohnung auf den Kopf gestellt für neue Holzböden und den Maler. Unser letztes Ferienmittagessen wird gerade serviert, als das Telefon tatsächlich klingelt. Am anderen Ende ist Frau L. von der Fachstelle für Adoption. Eine Sekunde nachdem sie sich vorgestellt hat ist klar – die freundliche Dame ruft nicht an, um uns zu fragen, ob wir schöne Ferien haben. Das Gespräch ist kurz, vier, fünf Minuten vielleicht. Als wir auflegen, brechen erstmal alle Dämme. Dabei haben wir gar nicht viel erfahren: Vor ein paar Wochen ist V. geboren, jetzt lebt sie in einer Pflegefamilie, und wir wurden ausgewählt, sie zu adoptieren. Mehr wissen wir nicht. In einer Woche können wir sie das erste Mal sehen. Die nächsten Stunden erleben wir wie in Trance. Berlin liegt noch 20 Kilometer vor uns, im warmen Sommerwind radeln wir mit weichen Knien. Hunderte Dinge gehen uns durch die Köpfe, wichtige und un- 20 wichtige, grosse und kleine. Alles ist völlig unsortiert, und auf jeden Gedanken können wir uns nur eine kurze Zeit konzentrieren, dann kommt jedem von uns etwas völlig anderes in den Sinn, das jetzt aktuell werden würde. Wie wird das sein, wenn wir in acht Tagen das kleine Mädchen sehen? Wo bekommen wir ein Kinderbett her? Wer schaut uns da beim ersten Besuch in die Augen? Welche Freunde können uns Babykleider «vererben»? Wie reagiert V auf uns? Beim Frühstück im Zug rast Süddeutschland an uns vorbei, zugleich fliegen uns Stichworte durch den Kopf: Arbeitgeber informieren! Versicherung? Wann sind die Handwerker fertig? Babynahrung, Mini-Badewanne, Kinderwagen und Wickeltisch? Zwischendurch schauen wir uns immer wieder an und strahlen wortlos. Viel wissen wir zu dem Zeitpunkt nicht, nur den Namen, das Geburtsdatum und dass wir noch eine lange Woche warten müssen, um die Kleine das erste Mal bei der Pflegefamilie zu besuchen. Wenn uns zum Organisatorischen eine Weile nichts in den Sinn kommt, schweifen die Gedanken weit in die Ferne: Wie wird das sein, wenn sie das erste Mal bei uns auf dem Arm liegt, irgendwann das erste Mal «dadadada» sagt, sich den Kopf das erste Mal an der Tischplatte anschlägt, ein Bild malt und uns schenkt, keine Wollstrumpfhosen anziehen will, mit dem Velo umkippt oder im Schultheaterstück einen Zwerg spielt? All das war 24 Stunden vor- her kein Thema. Jetzt ist es unvorstellbar und doch sind wir ganz nah bei ihr, sie ist nicht fassbar, wir kennen sie noch nicht, und sie uns nicht, und doch ist sie schon ganz nah, ganz unser Kind. Wir haben beide nicht gewusst, was in diesen Stunden passieren wird, haben das Eintreffen einer so grundlegenden Nachricht nur sehr abstrakt vor uns gesehen, fast schon verdängt. Vorbereiten kann man sich darauf wohl nur bedingt. Unsere Adoptionsbewerbung lief damals erst sieben Monate, und wir hatten das ganze Verfahren ein wenig hinter uns gelassen. Jetzt kommt alles sehr überraschend und wird unglaublich dynamisch. Acht Tage nach diesem Anruf machen wir uns auf den Weg, V. das allererste Mal zu sehen. Am Tag zuvor hatten wir in der Fachstelle schon ein Foto von ihr in den Händen, das wir heute noch sorgfältig hüten, darauf schläft sie und lächelt ganz entspannt. Auch jetzt ist immer noch alles unfassbar, Gedanken und Gefühle sind wirr, aber im Glück! Wir sind beide kommunikative Menschen, pflegen einen grossen Freundeskreis, doch für solch eine Begegnung fehlt uns jede Erfahrung. Wir fahren zu unserem Kind... Die Vormundin holt uns vom Bahnhof ab und begleitet uns zu den Übergangspflegeltern, von denen wir wissen, dass sie schon über 70, also schon Pflegegrosseltern sind. Familie K. gehört heute zu unserer Familie, an diesem 31. Juli 2009 sind es noch fremde Leute, die die knapp drei Monate alte V. liebevoll umsorgen. Das Zimmer, in dem V. schläft, liegt gen Norden und ist schön kühl an diesem Sommertag. Uns klopfen die Herzen bis an den Hals, viel reden können wir gar nicht, sind extrem nervös und angespannt und haben wohl auch wenig Nerv für den Small Talk. Immerhin lernen wir gleich den Menschen kennen, der von jetzt an unsere Tochter sein wird. Es ist fast nicht zum Aushalten. Und auch Frau K weiss das und führt uns sachte ins Kinderzimmer. V. schläft. Als wir alle um sie herum versammelt sind, wacht sie auf und muss weinen – so viele unbekannte Gesichter. Auf dem Arm von Frau K. wird die Kleine bald wieder ganz ruhig. Uns und die Vormundin behält sie aber im Blick, schaut und lauscht, wer da gekommen ist. Wir sitzen ein bisschen unbeholfen daneben, beobachten V. bei ihrer Übergangs-Pflegemutter,, die die Situation ganz routiniert meistert: Wir sollen sie einfach mal schöppeln. Wenn einer von uns schöppelt, vergisst er alles ringsum und sieht nur noch V. Mit grossen dunklen Augen schaut sie einen an, trinkt geduldig und schläft zufrieden wieder ein. Der andere schaut zu und muss sich immer fragen: Wer ist dieses Kind? Sind wir wirklich seine Eltern? Was genau beginnt jetzt? In den nächsten zwei Wochen besuchen wir V. fast jeden Tag für vier, fünf Stunden. Sie soll uns, unsere Stimmen, unseren Geruch kennen lernen, und wir wollen sie erleben, sie im Wagen spazieren fahren und von Familie K so viel wie möglich über ihre ersten zweieinhalb Monate erfahren. Besonders schön (und wichtig) sind die beiden Tage, an denen wir V. – einmal zusammen mit der Pflegemutter, einmal ohne sie – zu uns nach Hause nehmen dürfen. Jetzt fühlen wir uns schon richtig «in Familie». Nach zwölf Tagen ist es soweit: V. kommt von Familie K. zu uns. Der Abschied fällt uns nicht leicht, V hat nur eine kleine Tasche mit ein paar Kleidern und ihren beiden Nuggi – mehr Dinge gehören noch nicht zu ihrem kleinen Leben, in dem sie schon so viel erlebt hat. Auf der Heimfahrt werden uns die Knie zum dritten Mal weich. Kein einfacher Tag, die Kleine so mitzunehmen und sie aus ihrer Umgebung herauszuholen. Immerhin kennt sie den neuen Ort ein bisschen. Die erste Nacht mit ihr werden wir – wie vieles andere – nicht vergessen. Ihr Stubenwagen, in dem vor Jahrzehnten schon alle Kinder der Familie geschlafen haben, steht neben unserem Bett, und wir hören jedes Atmen und Schnaufen, Kopfdrehen und Rascheln. Seitdem sind sieben Monate vergangen. V. ist gewachsen, ist in ihrer neuen Umgebung längst angekommen, und das Schönste, was man über uns Kleinfamilie sagen kann, ist wohl, dass Normalität, der Alltag eingezogen ist. Die turbulente Zeit zwischen der ersten Nachricht und V.s Eintreffen ist inzwischen Vergangenheit. Unsere Familie und Freunde haben V. als unser Kind kennen gelernt, wir haben viel erzählt, was wir mit ihr erlebt haben, und manches von dem, was wir über ihre leiblichen Eltern wissen. V. wird in den nächsten Jahren immer wieder davon hören, wie es für uns war, als sie zu uns kam. Ihre Mutter, die wir (noch?) nicht kennen, ist für uns erstaunlich präsent. Wie es ihr wohl geht, ob sie manchmal an ihre Tochter denkt? Der Name V., den sie ihr gegeben hat, wird beide begleiten, er ist ein symbolisches Verbindungs- stück; vielleicht gibt es eines Tages noch mehr. Dass V. sich diese Tür eines Tages öffnen kann, wenn sie sie öffnen will, schätzen wir sehr. Auch wir als Eltern wollen so gut wie möglich wissen, wer sie ist und woher sie kommt. Und wenn sie nie wissen will, wer sie auf die Welt gebracht hat, werden wir zu dritt Vorstellungen davon haben, wer das sein könnte. Oft reden wir darüber, dass so vieles bei einem leiblichen Kind gar nicht anders sein kann, als wir es mit V erleben: Wir sind glücklich mit ihr und spüren, dass sie es auch ist. Sie hat manchmal einen strengen Tag mit uns, manchmal wir mit ihr. Sie ist unser Augenstern, der uns von nun an immer begleiten wird. Einer unserer Wünsche als Paar ist damit in Erfüllung gegangen: Wir waren und sind immer sehr froh über unsere Zweierbeziehung, die von Unbeschwertheit, Optimismus und Glück lebt. Jetzt können wir dieses Glück mit V teilen. Erstaunt sind wir, wie heftig die Gefühle von Verantwortung und Zugehörigkeit heute sind. Heikle Situationen im Alltag berühren uns sehr, selbstredend auch die wunderbaren Momente – jedes Mal sind wir ganz bei uns und bei unserer Tochter. Es ist sicher nicht selbstverständlich, dass diese Mutter- und Vatergefühle gekommen sind, uns überrascht das ebenso wie es uns erleichtert. Seit zwei Monaten fremdet V, wie die meisten Kinder in ihrem Alter. Wir zwei sind dann ihre „Felsen in der Brandung“, sie will dann nur bei uns sein – bei ihrer Mama oder ihrem Papa, am liebsten bei beiden zugleich.» F.A. & T.R. 21 Beratungsstellen und Kursangebote 22 Beratungsstellen: Aargau: Jugend- und Familienberatungsstelle, www.jefb.ch Basel Stadt und Land: Familien-, Erziehungs- und Jugendberatung, www.fejb.ch Basel: Adopt : in, Adoptionsberatung, Rosita Rudin, www.adopt-in.ch Bern: Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, www.erz.be.ch/site//de/erziehungsberatung Bern: Erziehungs- und Adoptionsberatung, Brigit Stähelin, 077 448 11 12 Glarus: Erziehungs- und Jugendberatung, 055 646 67 10 Graubünden: Jugendberatung, 081 257 26 90 Innerschweiz: Jugendberatung, www.nozoff.ch Luzern: Contact, Beratungsstelle für Kinder und Jugendliche, 041 210 13 08 Nidwalden: Jugend- und Familienberatung, 041 618 75 00 Obwalden: Jugend- und Elternberatung, 041 666 64 62 Schaffhausen: Beratung für Jugendliche und Familien, www.jugendarbeit-sh.ch St. Gallen, Appenzell Inner- und Ausserrhoden: Kinder- und Jugendhilfe, www.kjh.ch Schwyz: Familienberatung, www.familienschwyz.ch/familie/familieerziehung.asp Spielgruppen ganze Schweiz: www.spielgruppe.ch Solothurn: Fachstelle für Familien, www.beratungsstelle-scala.ch Solothurn: Infos, Tipps und Adressen für Jugendliche, www.look-up.ch Kursangebote: Solothurn: WEG, Kinder-, Jugend- und Familienberatung, Denise Arber, www.wegberatung.ch Thurgau: Jugend- und Elternberatung, www.perspektive-wtg.ch Uri: Jugendberatung, 041 874 11 80 Zug: Punkto, Beratungsstelle für Eltern, Kinder und Jugendliche, 041 728 34 40 Zürich: Kinder-, Jugend- und Berufsberatung, www.ajb.ch www.kidscorner.ch/beratung Zürich: Beratung für abgebende Mütter, Kinder und Familien, Dr. Andrea Schedle, 044 241 55 40 «Du bist nicht in meinem Bauch gewachsen» Freitag, 18. Juni 2010, 09.00-18.00 Uhr, Zürich Freitag, 12. November 2010, 09.00-18.00 Uhr, Bern Anmeldung: Schweizerische Fachstelle für Adoption, 044 360 80 90 oder [email protected] «Biografiearbeit» Freitag, 4. Juni 2010, 09.00-18.00 Uhr, Zürich Samstag, 4. September 2010, 09.00-18.00 Uhr, Zürich Freitag, 19. November 2010, 09.00-18.00 Uhr, Zürich Anmeldung: Schweizerische Fachstelle für Adoption, 044 360 80 90 oder [email protected] Persönliche Onlineberatung bei Erziehungsfragen: www.erziehungsberatung.ch Persönliche Telefonberatung: www.elternnotruf.ch Sensibilisierungsprogramm für Jugendliche und Lehrkräfte zum Thema «Umgang mit Konflikten»: www.denkraum.ch/schulkonflikte Jugendberatung und Suchtprävention in verschiedenen Städten: www.samowar.ch 23