MPIfG Jahrbuch 2015–2016
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MPIfG Jahrbuch 2015–2016 MPIfG Jahrbuch 2015–2016 Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist eine Einrichtung der Spitzenforschung in den Sozialwissenschaften. Es betreibt anwendungsoffene Grund lagen forschung mit dem Ziel einer empirisch fundierten Theorie der sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen. Im Mit telpunkt steht die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen sozialem, politischem und ökonomischem Handeln. Mit einem vornehmlich institutionellen Ansatz wird erforscht, wie Märkte und Wirtschaftsorganisationen in historischinstitutionelle, politische und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind, wie sie entstehen und wie sich ihre gesellschaftlichen Kontexte verändern. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet einen Beitrag zur politischen Diskussion über zentrale Fragen moderner Gesellschaften. Zwei Direktoren leiten das MPIfG gemeinsam. Etwa sechzig wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden, Stipendiaten, Gastwissenschaftler und Projekt mit arbeiter sind in oft international zusammengesetzten Forscherteams am Institut tätig. Das MPIfG gehört zu einem weltweiten Netzwerk von Forschungs institutionen. Es kooperiert eng mit Instituten und Fachbereichen an der Sciences Po in Paris, der Northwestern University in Chicago, der Columbia University in New York und dem European University Institute in Florenz. Das MPIfG gehört zu den etwa achtzig Instituten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Das MPIfG betreibt Nachwuchsförderung in der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRSSPCE). Die vom Institut gemeinsam mit der Universität zu Köln getragene internationale Doktorandenschule bietet ein in Deutschland einmaliges Doktoranden programm im Bereich der Wirtschaftssoziologie und der politischen Ökonomie. LA SALADA Die große Chance – An mehr als 7.800 Ständen verkaufen Händler auf dem Markt La Salada T-Shirts, Jeans, Jacken, Schuhe und Kindermode. Viele der angebotenen Waren sind Markenimitate. Ende 1980 als infor meller und illegaler Markt entstanden, ist La Salada seit 2001 ein Groß handelsmarkt, der sich in die argentinische Wirtschaft eingegliedert hat. Die Brücke über den stark verseuchten Riachuelo, der in den Rio de la Plata mündet, leitet die Menschen auf diesen Markt der großen Chancen. Zusammen mit der Fotografin Sarah Pabst hat sich MPIfGWissenschaftler Matías Dewey La Salada auch künstlerisch genähert. > Seite 19 MPIfG Jahrbuch 2015–2016 Herausgegeben vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung © 2015 Redaktion Christel Schommertz Silvia Oster Gestaltung und Satz www.dk-copiloten.de Bildnachweis La Salada Project/Sarah Pabst Titel, 15, 16, 19, 20, 21 (oben); MPIfG/Matthias Jung 5, 18, 36, 72, 144 (oben und Mitte rechts), 145 (unten); MPIfG/Astrid Dünkelmann 9, 13, 21 (unten), 24 (unten), 27, 42, 48, 54, 60, 66, 80, 88, 96, 110, 112, 114 (oben und unten rechts), 117, 118, 123, 129, 130, 132 (oben), 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 143 (oben links und Mitte, Mitte und unten), 144 (mittlere Spalte links und Mitte), 146 (links); MPIfG/Nina Engwicht 22, 23, 24 (oben); Reuters/David W. Cerny 25; picture alliance/ EPA/Andy Rain 29; picture alliance/Rainer Jensen 30; picture alliance/Sven Hoppe 33; ullstein Bild/ddp 37; picture alliance/EMPICS Sport/Harvey Georges 39; picture alliance/Arne Dedert 40; picture alliance/Tim Brakemeier 43; picture alliance/Scanpix Bildhuset/ Bengt Olof Olsson 49; AFP/Scanpix Bildhuset/ Bertil Ericson 52; ddp images/Michael Kappeler 55; picture alliance/Peter Kneffel 59; picture alliance/ ZB/Martin Schutt 61; picture alliance/Jan Haas 67; picture alliance/Karl-Josef Hildenbrand 68; picture alliance/ZB/Hendrik Schmidt 69; picture alliance/ Scanpix Bildhuset/Maria Annas 70; picture alliance/ ZB/Jens Kalaene 71; ullstein bild/CARO/Frank Sorge 73; Fürther Bündnis für Familien/Oswald Gebhardt 77; picture alliance/SZ Photo/Robert Haas 78; picture alliance/Matthias Schrader 79; picture alliance/ZB/ Ralf Hirschberger 81; AAP One Image/Stefan Postles 85; ullstein bild/vario images 89; ullstein bild/AKG 90; picture alliance/Revierfoto 95; picture alliance/ Wildlife/A. Mertiny 97; imago/Schöning 98; picture alliance/Frank Leonhardt 100; dominicfoto.de/ Dominic Akyel 102; Karl Eduard Biermann [Public domain]/Wikimedia Commons from Wikimedia Commons 103; picture alliance/Thomas Muncke 104; kragoART 105; Stephanie Lacombe 114 (oben links); MPIfG/Jens Beckert 114 (unten links); MPIfG/ Christoph Seelbach 115 (links), 119, 124, 146 (Mitte); MPIfG/Hardy Welsch 115 (rechts), 116, 145 (oben), 146 (rechts); Vrije Universiteit Amsterdam 131; Körber-Stiftung/David Ausserhofer 132 (unten); MPIfG/Elisabeth Zizka-Fuchs 143 (oben rechts); MPIfG/Jürgen Bauer 144 (unten links); MIT/Stuart Darsch 144 (unten rechts); MPIfG 147. Druck Heider Druck GmbH, Bergisch Gladbach MPIfG Jahrbuch 2015–2016 Inhalt Editorial Die Jahre 2013 und 2014 5 Interview Zeitgeschichte und Diffusionsforschung – Zwei innovative Forschungsvorhaben 9 ARIANE LEENDERTZ UND MARK LUTTER IM GESPRÄCH MIT RALF GRÖTKER Aus der Forschung Übersicht über die Forschungsprojekte am MPIfG seit 2013 THEMA: Illegale Märkte 14 Grauzone Schwarzmarkt 15 „Die Übergänge sind fließend“ 16 Die große Chance INTERVIEW MIT JENS BECKERT 19 Matías Dewey Erstaunliche Zusammenarbeit 22 Nina Engwicht Töten für den Lifestyle 25 Annette Hübschle Imaginierte Zukunft Wie fiktionale Erwartungen wirtschaftliche Dynamik vorantreiben 29 Jens Beckert Große Hoffnungen und brüchige Koalitionen Industrie, Politik und die schwierige Durchsetzung der Photovoltaik 37 Timur Ergen Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten? Haushaltsüberschüsse im internationalen Vergleich 43 Lukas Haffert Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat 49 Philip Mehrtens Varianten der Finanzialisierung Was treibt und was bremst die private Verschuldung in Deutschland? 55 Daniel Mertens Mieterland oder Hauseigentümernation? Wohnungsmärkte in Deutschland und den USA 61 Sebastian Kohl 2 Inhalt Kinder, Arbeit und Konsum Warum Demografie und politische Ökonomie nicht zu trennen sind 67 Wolfgang Streeck Milieu und Raum Wie kulturelle Prägungen die Unterschiede regionaler Geburtenzahlen in Deutschland erklären 73 Barbara Fulda Konfliktverminderung durch Entkoppelung Anmerkungen zur Reform der deutschen Finanzverfassung 81 Fritz W. Scharpf Die Akademikerrepublik Kein Platz für Arbeiter und Geringgebildete im Bundestag? 89 Armin Schäfer Ökonomisierung und moralischer Wandel 97 Dominic Akyel Die „Neue Ökonomie“ des industriellen Kapitalismus Eine industrielle und institutionelle Revolution 103 Alfred Reckendrees 103 Kooperation Europäische und globale Sozialforschung verzahnen Das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies 111 Emeritierung Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. Zur Emeritierung von Wolfgang Streeck 115 Lukas Haffert und Daniel Mertens Daten und Fakten Ausgewählte Veröffentlichungen 2013 bis 2014 121 Promotionen und Habilitationen 2013 bis 2014 129 Preise und Ehrungen 2013 bis 2014131 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am MPIfG 2013 bis 2014 133 Wissenschaftliche Gäste am MPIfG 2013 bis 2014138 Inhalt Organisation und Struktur des MPIfG 140 MPIfG 2015: Leitung, Gremien und Verein der Freunde und Ehemaligen 144 Informationsmaterial und Kontakt 147 3 Die Jahre 2013 und 2014 Auch in den letzten beiden Jahren stand die Bedeutung der Wirtschaft für die Entwicklung moderner Gesellschaften im Mittelpunkt unserer Forschung. Mit zwei Forschungsbereichen, die von den Direktoren geleitet werden, drei unabhängigen Nachwuchsgruppen und einer Doktorandenschule, die international und interdisziplinär arbeitet, untersucht das Institut in seinem dritten Forschungsprogramm die sozialen und politischen Grundlagen wirtschaftlicher Prozesse und wirtschaftlichen Handelns. Unsere Arbeit konzentriert sich auf die Funktionsweise von Märkten in kapitalistischen Gesellschaften und ihre Wechsel wirkung mit Politik und Gesellschaft in einem interdisziplinären Zusammenspiel von historisch-institutionalistischer politischer Ökonomie und einer handlungstheoretisch orientierten Wirtschaftssoziologie. Nachdem unser Fachbeirat im Jahr 2014 die wissenschaftliche Arbeit des MPIfG erneut als international herausragend bewertet hat, sehen wir uns darin bestärkt, diesen Weg weiterzugehen. Mit zwei neuen Forschungsgruppen haben wir dabei die thematische Basis des MPIfG erweitert. In den vergangenen Jahren ist die historische Dimension sozialwissenschaftlicher Fragestellungen für uns wichtiger geworden. Um uns zukünftig systematischer mit ihr zu befassen, haben wir 2014 die Forschungsgruppe Ökonomisierung des Sozialen und gesellschaftliche Komplexität gegründet, die von der Zeithistorikerin Ariane Leendertz geleitet wird. Wir sind der Überzeugung, dass die Sozialwissenschaften insbesondere dann weiterführende Erkenntnisse über unsere Gesellschaft hervorbringen werden, wenn sie ihre Gegenstände im historischen Kontext untersuchen. Dies gilt erst recht für die Erfor schung der gegenwärtigen wirtschaftlichen Krise, die nicht ohne die Strukturbrüche der letzten Jahrzehnte zu verstehen ist. Die Forschungsgruppe Transnationale Soziologie der Diffusion um Mark Lutter wird mit quantitativen Methoden untersuchen, welche Faktoren die Verbreitung von Innovationen zwischen Individuen, Netzwerken, Organisationen und Gesellschaften beeinflussen. Ihr Ziel ist eine empirisch fundierte soziologische Theorie über Ausbreitungsprozesse in modernen Gesellschaften. Die Mechanismen der Verbreitung von Trends zu verstehen ist von zentraler Bedeutung für die Erklärung gesellschaftlichen Wandels. Eine dritte Forschungsgruppe unter der Leitung von Martin Höpner verfolgt bereits seit einer Reihe von Jahren die Dynamiken der europäischen Integration. Die hier untersuchten autonomen Handlungsspielräume der supranationalen Organe und die Probleme wirtschaftspolitischer Koordination spielen eine bedeutende Rolle für die Bewertung der gegenwärtigen Krise des Euroraums. Die Arbeiten unseres wissenschaftlichen Nachwuchses sind wichtige Bausteine für das Verständnis der Einbettung von Märkten und Wirtschaftsorganisationen in historische, politische und kulturelle Zusammenhänge. Mit der IMPRS-SPCE, der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy betreiben Die Jahre 2013 und 2014 5 wir gemeinsam mit der Universität zu Köln und unseren internationalen Partnern ein Dok to randenprogramm, das Maßstäbe für die Qualifikation von Nachwuchswissen schaftlern in Deutschland setzt. In der IMPRS-SPCE haben seit ihrer Gründung im Jahr 2007 bereits 52 junge Forscherinnen und Forscher ihre Promotion vorbereitet oder abgeschlossen. Die meisten haben Karrierewege in der Wissenschaft gewählt, andere haben nun eindrucksvolle Aufgaben in öffentlichen Institutionen oder in der Wirtschaft. Viele bleiben dem Institut verbunden und sind Teil eines Netzwerks mit den heutigen Wissen schaftlern am MPIfG, das wir mit Freude weiter ausbauen werden. Zukünftig wollen wir unsere Alumni noch stärker als bislang in den fachlichen und öffentlichen Dialog einbeziehen. Für diese Absicht und die damit verbundenen Maßnahmen sind wir im vergangenen Jahr mit Fördergeldern ausgezeichnet worden. Wir haben bereits begonnen, einige der geplanten Maßnahmen in die Tat umzusetzen. Über die Kooperation mit nationalen Forschungseinrichtungen hinaus haben wir in den vergangenen Jahren mit einer Anzahl führender Forschungsinstitute im Ausland Aus tauschbeziehungen auf- und ausgebaut, darunter in Europa mit Forschungszentren der Sciences Po in Paris, dem European University Institute in Florenz sowie in den USA mit der University of California, Berkeley, der Harvard University, dem Massachusetts Institute of Technology (MIT) in Cambridge und der Northwestern University in Chicago. Unser engster Partner ist heute die Pariser Hochschule Sciences Po, mit der wir seit 2012 durch das gemeinsame Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies eine innovative und enge Form der Zusammenarbeit etabliert haben. Zwei Nach wuchsgruppen forschen am MaxPo gemeinsam zu den neuen Formen der Instabilität in westlichen Gesellschaften, die einer weitreichenden Liberalisierungspolitik, einhergehend mit technologischem Wandel und großen kulturellen Veränderungen zuzuschreiben sind. Ein internationales Gästeprogramm und Vortragsreihen mit Beteiligung führender Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler sorgen für einen lebendigen Austausch zwischen Forschern aus Europa und den USA. Die Arbeit des Centers fördert die internationale Sichtbarkeit der Sciences Po und des MPIfG und stärkt damit auch die europäische Soziologie und Politikwissenschaft. Eine Vielzahl von Veranstaltungen prägte das Institutsleben in den Jahren 2013 und 2014. Sie umspannten die Felder der Politischen Ökonomie, der Wirtschaftssoziologie und der Wirtschaftsgeschichte. Themen waren etwa der Finanzmarktkapitalismus, die Demo kratie im Zeitalter der Liberalisierung, der Wandel des Sozialstaats, die Folgen von Austeritätspolitik, die Ökonomisierung des Sozialen, Vermögen und soziale Ungleichheit sowie Prozesse der Marktentstehung und der Wertbildung auf Märkten. Und wie in der Vergangenheit entstanden am Institut zahlreiche Bücher und Aufsätze, die weite Verbreitung in der Wissenschaft und auch in der Öffentlichkeit fanden. Zahlreiche Gäste aus dem In- und Ausland bereicherten den akademischen Diskurs, und eine Reihe unserer jungen Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler wurden für ihre Arbeiten mit angesegezeichnet. All dies do ku mentiert dieses Jahrbuch. Einige der henen Preisen aus Erkenntnisse, die aus unseren Forschungsprojekten hervorgingen, wollen wir Ihnen auf den folgenden Seiten vorstellen. 6 Editorial In der wissenschaftlichen Welt wie auch in der Öffentlichkeit initiieren unsere Forschungs ergebnisse Diskussionen über die Folgen der Krise des Kapitalismus, der Ökonomisierung, der wachsenden Ungleichheit in unserer Gesellschaft und zum Verständnis wirtschaftlicher Prozesse. Wolfgang Streecks Buch „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ fand national und international breites Interesse und stieß eine Debatte über die Wurzeln der gegenwärtigen Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise und die Reformierbarkeit der Europäischen Union an. Armin Schäfer trug mit seiner For schung über die sinkende Wahlbeteiligung in Deutschland und der davon ausgehenden Gefahr für die Demokratie zur wissenschaftlichen wie öffentlichen Diskussion über den Legitimationsverlust der Politik und die Chancen einer Eindämmung dieses Trends bei. Philip Maders viel beachtete und mit zwei renommierten Preisen ausgezeichnete Promo tionsarbeit brachte das öffentliche Bild der Mikrofinanz als Maßnahme zur Armutsbe kämpfung ins Wanken. Im Oktober 2014 haben wir unseren langjährigen Direktor und Kollegen Wolfgang Streeck mit einem internationalen wissenschaftlichen Kolloquium und einer Festveranstaltung zu seinen Ehren verabschiedet. Auf der Basis, die seine Vorgänger Renate Mayntz und Fritz W. Scharpf geschaffen haben, hat er das MPIfG zu der renommierten Forschungsinstitution heranwachsen lassen, die es heute ist. Ihm gilt unser großer Dank – für die vergangenen fast zwanzig Jahre seiner Direktorentätigkeit am MPIfG und die vielen innovativen wissenschaftlichen Beiträge, mit denen er zur herausragenden internationalen Sichtbarkeit und Reputation des Instituts beitrug. Vor uns liegen Jahre, für die wir uns wiederum anspruchsvolle Ziele gesetzt haben. Unsere gegenwärtigen Forschungsprojekte werden unser Wissen über gesellschaftliche Entwick lungsprozesse weiter vertiefen und neue Erkenntnisse bringen. Auf der Grundlage unserer in mehr als dreißig Jahren gewachsenen wissenschaftlichen Expertise wollen wir weiterhin als führende sozialwissenschaftliche Forschungseinrichtung in Deutschland und der Welt dazu beitragen, dass wir soziale und politische Entwicklungen besser verstehen lernen und damit nicht nur einen Beitrag zur Spitzenforschung leisten, sondern auch zur politischen Kultur unseres Landes. Jens Beckert Die Jahre 2013 und 2014 7 Interview Zeitgeschichte und Diffusionsforschung – Zwei innovative Forschungsvorhaben Die Zeithistorikerin Ariane Leendertz und der Soziologe Mark Lutter im Gespräch über unterschiedliche Ansätze in der Soziologie und Geschichtswissenschaft und die Arbeits vorhaben ihrer Forschungsgruppen. Moderation: Ralf Grötker Ariane Leendertz Mark Lutter Zwei neue Forschungsgruppen erweitern seit 2014 die thematische Basis des MPIfG. Die Gruppe „Ökonomisierung des Sozialen und gesellschaftliche Komplexität“ (Leendertz) ist die erste Forschungsgruppe am MPIfG mit zeithis torischem Schwerpunkt. Ziel der Forschungsgruppe „Transnationale Diffusion von Innovationen“ (Lutter) ist der Entwurf einer empirisch fundierten soziologischen Theorie der Diffusion. RAlf Grötker Herr Lutter, Frau Leendertz – was sind die übergreifenden Themen Ihrer Forschungsgruppen? Mark Lutter Allgemein gesprochen beschäftigen wir uns mit sozialen Strukturen, die relevant sind für Prozesse der Ausbreitung oder Diffusion. Solche Strukturen können beispielsweise Netzwerke sein, innerhalb derer sich Informationen verbreiten, oder bestimmte Praktiken wie etwa Gleich stellungspolitik in Unternehmen. Aber auch Gesetze, die in ähnlicher Form über einen gewissen Zeitraum hinweg in vielen Ländern eingeführt werden, zählen wir dazu. Unsere übergreifende These ist, dass Ausbreitungsprozesse Zeitgeschichte und Diffusionsforschung 9 jeglicher Art maßgeblich von der Netzwerkeinbettung gesteuert werden – und nicht notwendigerweise dadurch, dass das, was besonders erfolgreich ist, die besten Qualitäten aufweist. Was hat das mit Ihrem bisherigen Forschungsthema zu tun – den Winner-take-all-Märkten? Lutter In beiden Fällen geht es um die Konzentration von extremem Erfolg. Diffusion ist eine Variante einer solchen Erfolgskonzentration. Und in beiden Fällen geht es um die Auseinandersetzung mit den Wirtschaftswissenschaften, die davon ausgehen, dass die erfolgreichsten Lösungen zugleich immer auch die optimale Antwort auf die Anforderungen des Marktes darstellen. Genau das stellen wir in Frage. ARiane Leendertz Für meine Forschungsgruppe besteht die Herausforderung hauptsächlich darin, an einem gesellschaftswissenschaftlichen Institut genuin zeitgeschichtliche Perspektiven zu etablieren. Die Zeitgeschichte ist den Sozial wissenschaften nicht fremd. In der Sozialforschung geht es oft darum, die Wurzel von Problemen, mit denen wir heute zu kämpfen haben, in der Ver gangenheit ausfindig zu machen. Wir Historiker sind dagegen eher bestrebt, uns gewissermaßen von der Gegenwart abzukoppeln. Uns interessieren Mög lichkeitskonstellationen, die es in der Vergangenheit gab. Von diesen Konstella tionen führt jeweils nur ein einziger Weg in die heutige Wirklichkeit. Wir wollen aber auch die anderen Pfade untersuchen. Wie kann man so etwas in einem Forscherteam angehen? Leendertz Die Gruppe hat ein gemeinsames Dach: Die Geschichte der 60er- bis 90er-Jahre des zwanzigsten Jahrhunderts. Uns interessiert: Gibt es in diesem Untersuchungszeitraum, insbesondere in den 70er- und 80er-Jah ren, tatsächlich so etwas wie einen Strukturbruch? Viele Sozialhistoriker behaupten das. Uns interessiert insbesondere der Aspekt der ebenfalls häufig behaupteten Ökonomisierung des Sozialen. Lässt sich so etwas beobachten? Um dieser Frage nachzugehen, müssen wir viele unterschiedliche Phänome ne zugleich untersuchen und auf mögliche Zusammenhänge hin analysieren. Das ist ganz anders als in der empirischen Sozialforschung. Was genau ist der Unterschied? Man könnte vielleicht sagen, dass die generalisier baren Aspekte in der Forschung von Mark Lutter eine größere Rolle spielen: über greifende Prinzipien; Methoden, die immer weiter verfeinert werden; Datenbanken, die man als Experimentierfeld aufbaut. Lutter Am Ende sind wir bestrebt, Kausalaussagen darüber zu machen, wie Ausbreitungsprozesse funktionieren. Meine Hoffnung wäre natürlich, dass wir damit auch Historikern, die sich mit spezifischen Veränderungsprozessen befas sen, Erkenntnisse über Veränderungsmechanismen an die Hand geben können. 10 Interview Worauf achten Sie besonders beim Aufbau Ihrer Forschungsgruppen? lutter Das thematische Interesse ändert sich oft während der Betreuung. Ich selbst versuche dabei, den Doktoranden meine eigenen Erfahrungen und Vorstellungen davon mit auf den Weg zu geben, wie sozialwissenschaftliche Forschung aussehen sollte. Vornehmlich wünsche ich mir eine Soziologie, die das, was sie behauptet, auch empirisch zu belegen und falsifizieren versucht. Leendertz Die Mitglieder der Gruppe müssen die Geschichte des westeuro päischen und US-amerikanischen zwanzigsten Jahrhunderts sehr gut kennen. Spezielle thematische Interessen spielen eine geringere Rolle. In der histori schen Forschung gibt es einen starken gemeinsamen Kern in der Methodik: die Quellenarbeit. Ausgehend davon gibt es unterschiedliche Verfahren, um Hypothesen zu belegen. Anders als bei den Forschungsmethoden von Mark Lutter gehören dazu auch qualitative Diskursanalysen. Was konkret hat Ihre Forschungsgruppe bislang unternommen? Leendertz Wir haben mit Begriffsklärung begonnen. Was verstehen wir unter „Ökonomisierung des Sozialen“? Damit haben wir uns in einer Ar beits gruppe befasst, der auch Kolleginnen der Universität angehören. Unser Ziel dabei ist nicht, eine Zeitdiagnose zu entwerfen, sondern vielmehr, einen analytischen Kern des Ökonomisierungsbegriffes herauszuarbeiten. Solch ein Kern kann zum Beispiel in Strukturmerkmalen bestehen, die nicht beschränkt sind auf die Entwicklung zu einem bestimmten historischen Zeitpunkt. Allerdings gilt unser Interesse nicht der Ökonomisierung per se, sondern Transformationen und Umbrüchen im sogenannten „langen“ zwanzigsten Jahrhundert allgemein, und hierbei insbesondere der Periodisie rung. Die Epoche der 70er- und 80er-Jahre wird zum Beispiel oft beschrieben als das Ende des organisierten Kapitalismus. Uns interessiert: Was genau ist da zu Ende gegangen? Was hat neu begonnen? Kann Ökonomisierung als Analyserahmen eine andere Perspektive auf das vergangene Jahrhundert eröffnen und damit Wandlungsprozesse im späten zwanzigsten und frühen einundzwanzigsten Jahrhundert besser greifbar und verstehbar machen? Denn das ist ja auch gerade eine große Herausforderung der Zeitgeschichte, nämlich Wege zu finden, wie man die allerjüngste, bis in die Gegenwart rei chende Phase der Vergangenheit adäquat beschreiben kann. Lutter Versuchst Du auch, Ökonomisierung zu erklären, statt diese zu beschreiben? Suchst Du auch nach Faktoren, die zu der Entwicklung beitragen? Leendertz Ja, natürlich. Aber zunächst einmal gilt es, mithilfe eines spezi fi schen Begriffs- und Analyserahmens überhaupt darzustellen, was denn eigent lich „die Entwicklung“ war – historistisch ausgedrückt: dar zustellen und zu verstehen, was eigentlich passiert ist. Beschreibung und Erklärung sind in der geschichtswissenschaftlichen Arbeitsweise, ebenso wie in der his to rio grafischen Darstellung der Forschungsergebnisse, zumeist Zeitgeschichte und Diffusionsforschung 11 eng ineinander verschränkt. Um zu verstehen, was geschehen ist, müs sen wir natürlich auch zu erklären versuchen, warum etwas geschehen ist oder was zu der beschriebenen Entwicklung beigetragen hat. Anders als viele Sozialwissenschaftler verknüpfen wir unsere Erklärungen aber in der Regel nicht mit der Suche nach allgemeinen Gesetzmäßigkeiten, sondern finden sie jeweils in sehr spezifischen historischen Konstellationen und einem komplexen, nur teilweise in Kausalbeziehungen aufzulösendem Zusammenspiel von Faktoren und Kontingenzen. Um ein Verständnis von so etwas wie Ökonomisierung zu erhalten, schauen Historiker sich bei spielsweise über einen längeren Zeitraum hinweg den Einfluss von ökono mischen Experten in unterschiedlichen gesellschaftlichen Feldern an, wie der öffentlichen Verwaltung und der Politikberatung. Oder die Rolle der Wirtschafts-Thinktanks und von Wirtschaftsgutachten, die von der Politik eingeholt werden. Oder den Stellenwert von Wirtschaft in den Medien. Das Geschäftsfeld von Beratungsfirmen, die auf einmal in Stadtverwaltungen und Ministerien eine sehr aktive Rolle spielen. Wir diagnostizieren dann eine Ökonomisierung dort, wo diese Akteure in Bereiche eindringen, wo sie zuvor noch nicht präsent waren. Herr Lutter: Auf welchem Stand ist Ihr Forschungsteam? lutter Derzeit untersuche ich die Rolle sozialer Akzeptanz bei der Ausbreitung neuer Organisationsformen oder Praktiken. Eine Studie, an der ich zusammen mit Luke Dauter von der University of California-Berkeley arbeite, untersucht anhand der Ausbreitung von Charter-Schulen in den USA, wie die schrittweise Zunahme der sozialen Akzeptanz dieser neuen Organisationsform ihre weitere Ausbreitung bestimmt – und zwar unabhängig von ihrer Performanz oder ihrer tatsächlichen Notwendigkeit (also beispielsweise dann, wenn die alten Schulformen in Schultests als gut evaluiert werden). Eine weitere Studie, die ich gemeinsam mit Daniel Kinderman von der University of Delaware verfasse, untersucht die Bestimmungsfaktoren der zunehmenden Ausbreitung von Corporate Social Responsibility (CSR) bei Organisationen in OECD-Ländern seit den frühen 80er-Jahren. Während bisherige Studien die These vertreten, CSR verbreite sich als „institutionelles Substitut“ gerade in Zeiten zunehmen der Marktliberalisierung, behaupten andere, dass CSR die Rolle einer „institu tionellen Spiegelung“ bestehender organisierter Marktwirtschaft zukommt. CSR breitet sich hiernach besonders stark in koordinierten Ökonomien aus. In dieser Studie argumentieren wir, dass beide Lager richtig liegen, allerdings zu unterschiedlichen Zeitpunkten und unter verschiedenen Bedingungen. CSR ist zuerst ein institutionelles Substitut, dessen Ausbreitung mit Liberalisierung korreliert. Gewinnt CSR jedoch an sozialer Akzeptanz durch ihre eigene Ausbreitung, so wendet sich das Blatt. Ihre Ausbreitung wird dann auch in koordinierten Makroökonomien wahrscheinlich. Voraussetzung hierfür ist aber eine vorherige ausreichende Zunahme an CSR-Praktiken und damit ein ausreichender Gewinn an Legitimität. 12 Interview Mehr Informationen zu den Forschungsgruppen Forschungsgruppe „Ökonomisierung des Sozialen und gesellschaftliche Komplexität” Ariane Leendertz Die Forschungsgruppe untersucht die Zusammenhän ge zwischen dem politischen und wissenschaftlichen Umgang mit gesellschaftlicher „Komplexität“ und der „Ökonomisierung des Sozialen“ seit den 1970er-Jah ren. Auf das seinerzeit konstatierte politische Problem vermeintlich zunehmender gesellschaftlicher Kom plexi tät gab es unterschiedliche Antworten. Eine Forschungsgruppe „Transnationale Diffusion von Innovationen“ Mark Lutter davon lautete, als zu „komplex“ erscheinende Zusam menhänge aus dem Aufgabenbereich des Staa tes heraus zu definieren und gesellschaftliche Steuerung anderen Kräften, wie dem Markt, zu überlassen. Mit In einer globalisierten Gesellschaft spielen Innovatio diesem Argument wurden, ausstrahlend von den USA nen eine immer bedeutendere Rolle. Doch welche Fak und Großbritannien, Deregulierung und wirtschaftli to ren bestimmen, wie sich Innovationen zwischen che Liberalisierung vorangetrieben. Vor diesem Individuen, Netzwerken, Organisationen und Gesell Hintergrund ist es das Ziel der Forschungsgruppe, mit schaf ten ausbreiten? Wie setzen sich neue Orga ni der „Ökonomisierung des Sozialen“ einen Analyserah sationsformen, Gesetzgebungen, technische Errun men zu entwickeln, der wirtschafts- und sozialgeschicht genschaften oder kulturelle Normen, Moden und liche sowie ideen- und kulturgeschichtliche Perspekti Geschmack durch? Die Forschungsgruppe arbeitet am ven integriert. Zugleich soll das Konzept diachron Entwurf einer soziologischen Theorie der Diffusion. offen sein, um die Einbettung der Zeit nach den Besonderes Interesse liegt dabei auf der Analyse sozia 1970er-Jahren in die Geschichte des langen zwanzigs ler Prozesse und deren Wirkung auf die Verbreitung ten Jahrhunderts zu ermöglichen. von Innovationen. Inwiefern lassen sich Diffu sions Potenzielle Themen: Vermarktlichung von politischer prozesse durch so zia le Einbettungsformen des Han Sprache und Politikfeldern; Rhetoriken und die Praxis delns wie etwa soziale Ansteckung, Interaktion, Netz von Kosten-Nutzen-Analysen in der Politik; Subjekti werke sowie soziale und kulturelle Kapitalformen vierungsprozesse im Sinne einer „Ökonomisierung des erklären? Selbst“; der Einfluss von Unternehmensberatungen in Potenzielle Themen: Ausbreitung und Akzeptanz der Politik; soziale und kulturelle Bedeutung der von Charter-Schulen in den USA; Ausbreitung und Expansion des Finanzsektors. Akzeptanz von CSR-Organisationen in OECD-Ländern. Zum Weiterlesen Zum Weiterlesen Lutter, M.: Do Women Suffer from Network Closure? The Leendertz, A.: Medialisierung der Wissenschaft: Die öffentli- Moderating Effect of Social Capital on Gender Inequality che Kommunikation der Max-Planck-Gesellschaft und der Fall in a Project-Based Labor Market, 1929 to 2010. American Starnberg (1969–1981). Geschichte und Gesellschaft 40(4), Sociological Review, 80(2), 329–358 (2015). 555–590 (2014). Lutter, M.: Strukturen ungleichen Erfolgs: Winner-take-all- Leendertz, A.: „Finalisierung der Wissenschaft“: Konzentrationen und ihre sozialen Entstehungskontexte auf Wissenschaftstheorie in den politischen Deutungskämpfen der flexiblen Arbeitsmärkten. Kölner Zeitschrift für Soziologie Bonner Republik. Mittelweg 36 22(4), 93–121 (2013). und Sozialpsychologie, 65(4), 597–622 (2013). Zeitgeschichte und Diffusionsforschung 13 14 Vermögensungleichheit in Europa Die Politik der Qualität* Voraussetzungen geldpoliti scher Steuerung Soziale Bewegungen und die Entstehung neuer Märkte Qualitätsbildung* Politische Ökonomie der Photovoltaikindustrie > Seite 37 Konjunkturprognosen und der Umgang mit Unsicherheit in der Wirtschaft* Illegale Märkte in der Krise > Seite 19 Historisch-institutionelle Grundlagen von Mieter- und Hauseigentümerländern > Seite 61 Global Governance und Corporate Social Responsibility* Forbes 400: Die Superreichen in den USA Finanzkriminalität Fiktionalität und kapitalistische Dynamik > Seite 29 Evaluationssysteme für den Führungskräftenachwuchs* Die Struktur illegaler Märkte > Seite 15 Die Rolle von Intermediären bei der Wertbildung auf Märkten* Die Produktion von kulturellen Bedeutungen und Bildung von Preisen auf dem Weinmarkt* Kapitalistische Entwicklung und der Markt für Unter nehmenskontrolle Die politische Ökonomie von Bankenrettungspaketen* Die politische Ökonomie privater Verschuldung* > Seite 55 „Winner-take-all“-Märkte in der Kultur- und Kreativwirtschaft Die Entstehung und Ausbreitung sozialer Normen Die Bedeutung von Legitimation bei der Diffusion von Innovationen FORSCHUNGSGRUPPE TRANSNATIONALE DIFFUSION VON INNOVATIONEN > Seite 9 Positionsbildung europäischer Gewerkschaften Die „New Economy“ des industriellen Kapitalismus* > Seite 103 Die politische Ökonomie des Bestattungsmarktes* > Seite 97 Nationale Parlamente und die wirtschaftspolitische Steuerung der Europäischen Union Lohnfindung im Euroraum Verknüpfung von Steuer, Sozialund Finanzpolitik in Ostasien* Umweltprogramme in katholi schen Ordensgemeinschaften Transnationale Politik und pro fessionelle Expertise* Transnationale Governance und Landnahme* Trajektorien transnationaler Governance Streit um das Urheberrecht* Soziale Mobilisierung und Landbesitz in Brasilien Politik und Skaleneffekte* Patente und Professionen* Die Politische Ökonomie von Wechselkursanpassungen Mikrofinanz und Finanzia lisierung* Die Dynamiken der „Integra tion durch Recht“ Neue Mächte in der Gover nance des Welthandels* Internationale Rechnungs legungsstandards in Afrika Austeritätspolitik in der Euro zone* Die Politische Ökonomie der „Integration durch Recht“* Global-lokale Interaktionen in grenzüberschreitender Governance* Eliten auf Probe* FORSCHUNGSGRUPPE GRENZÜBERSCHREITENDE INSTITUTIONENBILDUNG Populäre Gegenwartsdiagnosen Gesellschaftliche „Komplexität“ FORSCHUNGSGRUPPE ÖKONOMISIERUNG DES SOZIALEN UND GESELLSCHAFT LICHE KOMPLEXITÄT > Seite 9 FORSCHUNGSGRUPPE POLITISCHE ÖKONOMIE DER EUROPÄISCHEN INTEGRATION Wirtschaft und Sozialpart nerschaft* Staatsverschuldung und Staatstätigkeit > Seite 49 Soziale Bedingungen und Folgen flexibler Arbeitsmärkte* > Seite 67 Kollektive Arbeitskonflikte in China Klassenmacht, Staat und Politikwechsel* Die Institution Familie im Kontext sozialen und ökonomi schen Wandels Die europäische Wirtschaftsund Sozialintegration Die Finanzkrise des Staates im Kapitalismus der Gegenwart Dezentralisierung und Wohl fahrtsstaat* Demokratie im Zeitalter der Liberalisierung* > Seite 89 Das Zeitalter des NeoProtestantismus?* Braucht die Wirtschaft Sozialpolitik?* Ausbildung und Institutionen bildung in der philippinischen Animationsindustrie* INSTITUTIONELLER WANDEL IM GEGENWÄRTIGEN KAPITALISMUS Wie soziale Bewegungen Märkte verändern* Die politische Regulierung im Weinmarkt* Wie sind Märkte möglich? SOZIOLOGIE DER MÄRKTE Auswirkungen der Finanzkrise auf Kinderarmut* Aus der Forschung: Übersicht über die Forschungsprojekte am MPIfG seit 2013 Illegale Märkte in Postkonflikt gesellschaften* > Seite 22 Geburtenverhalten im regionalen sozialen Kontext* > Seite 73 Entwicklung der Berufsbildung Die Verschuldung privater Haushalte in der Austerität* Die Regulierung bezahlter Hausarbeit Die Politische Ökonomie sozio technischen Wandels Die Mikrofundierung der Finanzialisierung Der illegale Markt für Rhinozeroshorn* > Seite 25 Der Arbeitstag der Taxifahrer in Warschau IMPRS-SPCE DOKTORANDEN PROGRAMM: DISSERTATIONS PROJEKTE Methodenberatung laufender Projekte Wissensproduktion und Social Media* Sozialwissenschaftliche Theorie und politische Praxis* Interessenbildung in virtuellen Gruppen THEORIEN UND METHODEN Normative Grundlagen und Grenzen politischer Legitimität > Seite 81 Globalisierung und Governance GLOBALE STRUKTUREN UND IHRE STEUERUNG Wirtschaftlicher Wandel und der Konflikt um Steuerreformen Vermarktung von Kulturen* Unsicherheiten und ihre Folgen für das Geburtenverhalten Status und Exploration im Literaturmarkt Staatsverschuldung und Staatstätigkeit* Sphärenintegration und Unsicherheiten bei Auslandsadoptionen* Sozialpolitische Präferenzen in Entwicklungsländern* Rassenausgrenzung und regio nale Entwicklung Politische Ökonomie von Haushaltsüberschüssen* > Seite 43 Politische Responsivität im Kontext sozialer Ungleichheit Neue politische Parteien als Innovatoren* Moralische Grundlagen von Wohnungsmärkten* Moralische Anfechtung und der Markt für sexuelle Dienstleistungen* Lobbying von Reformen im Finanzsektor Lebenswelten großer Familien im Hartz-IV-Bezug* Koordination und Konkurrenz um erneuerbare Energien* Kontinuität und Wandel in neoliberalen Entwicklungs ländern Klassenpolitik in ethnischen Konflikten* * abgeschlossene Projekte grün: Beiträge in diesem Jahrbuch THEMA: Illegale Märkte Grauzone Schwarzmarkt Die Abgrenzung ist alles andere als einfach: Seit 2012 widmet sich das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung in Köln dem Themenfeld „Illegale Märkte“. Doch nicht überall sind Herstellung, Vertrieb und Konsum gleichermaßen kriminell wie bei Drogen oder Kinderpornografie. Wissenschaftliche Mitarbeiter und Doktoranden um Direktor Jens Beckert forschen zu Produktfälschungen in Argentinien, zum Abbau und Handel mit Diamanten in Sierra Leone, zum Handel mit Rhinozeroshorn und zu Finanzmarktkriminalität – ein Blick auf ein innovatives, wirt schaftssoziologisches Projekt. THEMA: ILLEGALE MÄRKTE 15 Interview „Die Übergänge sind fließend“ Kein Markthandeln findet ausschließlich illegal statt, nie ist es völlig abgetrennt von der legalen Wirtschaft. Jens Beckert, Direktor am Max-Planck-Institut für Gesellschaftsfor schung, findet die Übergänge zwischen den Ökonomien darum besonders interessant. Jens Beckert im Interview; die Fragen stellte Ralf Grötker Ralf Grötker Warum beschäftigen Sie sich am MPIfG mit illegalen Märkten? Jens Beckert In meinem Forschungsbereich befassen wir uns vor allem mit der Soziologie des Marktes. Bislang sind wir dabei stillschweigend von der Annahme ausgegangen, dass sich Markthandeln vor allem im legalen Rahmen abspielt. Mit dem neuen Forschungsbereich wollen wir austesten, inwiefern sich bisherige Fragestellungen und Methoden auch auf die Erfor schung von illegalen Märkten ausweiten lassen. Welche neuen Erkenntnisse erhoffen Sie sich dabei? Illegale Märkte sind zunächst einmal interessant, weil sie eine erhebliche wirtschaftliche und soziale Bedeutung haben. Über die Beschäftigung damit erfährt man aber indirekt auch etwas über die Voraussetzungen, auf denen legale Märkte aufbauen. Man kann zum Beispiel sehr gut erkennen, welche Folgen es hat, wenn bestimmte unterstützende Strukturen wegfallen, etwa der Schutz von Eigentumsrechten. Akteure auf illegalen Märkten müssen mitei nander kooperieren, ohne sich auf den Rechtsschutz des Staates verlassen zu können. Dies hat enorme Auswirkungen auf die Organisation dieser Märkte. Welche Folgen sind dies? Auf illegalen Märkten sind die Beziehungen der Wirtschaftsakteure untereinander fast vollstän Illegale Märkte kommen dig beschränkt auf persönliche Netzwerke, in sozusagen nicht aus ihren denen enge Vertrauensbeziehungen aufgebaut Kinderschuhen heraus. werden können, wo aber auch Fehlverhalten schnell bestraft werden kann. Das hat dann aber auch Folgen für die Organisationsform: Unternehmen können sich nicht so stark ausdehnen wie in der legalen Wirtschaft. Illegale Märkte kommen sozusagen nicht aus ihren Kinderschuhen heraus. 16 Aus der Forschung THEMA: ILLEGALE MÄRKTE Was sind Ihre Forschungsfragen? Uns interessiert, wie die Kooperation der Marktteilnehmer unter Bedingun gen des fehlenden Rechtsschutzes funktioniert. Wie organisiert sich Wettbe werb? Wie können Abnehmer von illegalen Waren den Wert eines Produktes erkennen? Schließlich gibt es für illegale Waren, seien es nun gefälschte Markenprodukte oder Drogen, weder Werbung noch Produktsiegel oder eine Stiftung Warentest. Ein Beispiel: Bei den Imitaten von Markenkleidung gibt es tatsächlich unterschiedliche Qualitäten – und es gibt auch ein ver breitetes Know-how, wie man diese erkennen kann. Darauf sind wir bei der Recherche in Onlineforen gestoßen. Interessanterweise aber werden viele Konsumenten, die gezielt Produktimitate kaufen – das haben wir beobachtet –, das Gefühl, es mit einer Fälschung zu tun zu haben, nie ganz los. Selbst wenn sie ihre Umwelt erfolgreich täuschen. Denn in ihrem Herzen sind diese Konsumenten Markenfans. Dieses Phänomen könnte auch erklären, warum die Industrie oft nur halbherzig gegen Markenpiraterie vorgeht: Gewisser maßen trägt der Handel mit Imitaten zur Werthaltigkeit der Marke bei. Werden die Forschungsergebnisse auch für die Politikberatung relevant sein? Wir haben in erster Linie ein systematisches Interesse. Deshalb haben wir zum Auftakt des Projekts auch eine umfangreiche Untersuchung durchgeführt, in der wir versuchten, die verschiedenen Formen illegaler Märkte gegeneinander abzugrenzen. Dennoch sind die Ergebnisse ein zelner Forschungsprojekte auch ganz unmittelbar praxisrelevant. Bei der Untersuchung zum Handel mit Rhinozeroshorn im südlichen Afrika zum Beispiel hat unsere Wissenschaftlerin herausgefunden, dass Wilderer, die das Horn liefern, den Artenschutz als eine Fortsetzung kolonialer Entrechtung sehen. Diese Tatsache wird man bei Maßnahmen zum Schutz der Nashörner berücksichtigen müssen. Ist es für Wissenschaftler nicht sehr schwierig, sich Zugang zu Informationen über illegale Märkte zu verschaffen? Ehrlich gesagt, ich war überrascht, als wie viel leichter als gedacht sich die Infor mationsbeschaffung letztendlich herausstellte. Unsere Wissenschaftler haben beispielsweise Gefängnisinsassen interviewen können. Auch Gerichtsakten und Polizeidokumente sind für die Erforschung illegaler Märkte eine große Hilfe. In wieder anderen Fällen hat sich der investigative Journalismus als informative Quelle erwiesen. Alle Forscher waren im Feld und hatten direkten Kontakt mit den Marktakteuren, die zumeist Auskunft erteilt haben. Forschung in dem Bereich braucht viel Vorbereitung und Umsicht. Doch sie ist möglich. Keiner unserer Forscher ist je in eine wirklich gefährliche Situation gekommen. „Die Übergänge sind fließend“ 17 Welche anderen Überraschungen haben Sie bislang erlebt? Eine echte Überraschung war, festzustellen, wie eng legale und illegale Marktsegmente oftmals mitein Die Verschränkung von ander verbunden sind – vor allem in solchen Berei legalen Strukturen und chen, wo ungesetzliche Praktiken von den Markt illegalen Handlungen teilnehmern nicht zugleich als moralisch verwerf gehört mit zu den lich eingestuft werden. Der fließende Übergang von interessantesten For Legalität und Illegalität zeigt sich auch in einem schungsfragen in der Bereich, in welchem wir eben erst ein neues Projekt Untersuchung illegaler begonnen haben: Finanz markt kriminalität. Hier Märkte. finden illegale Handlungen im Kontext völlig legaler Organisations- und Marktstrukturen statt. Uns ist klar geworden, dass die Ver schränkung von legalen Strukturen und illegalen Handlungen mit zu den inte ressantesten Forschungsfragen in der Untersuchung illegaler Märkte gehört. Jens Beckert Jens Beckert ist seit 2005 Direktor am MPIfG und Professor für Soziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Fachgebiete: soziale Einbettung der Wirtschaft, insbesondere anhand der Unter suchung von Märkten; Organisationssoziologie; Soziologie der Erbschaft; soziologi sche Theorie. 18 Aus der Forschung THEMA: ILLEGALE MÄRKTE Die große Chance Matías Dewey Protokoll: Ralf Grötker La Salada, in einem Vorort von Buenos Aires gelegen, hat sich in den vergangenen Jahren zu einem bedeutenden Umschlagplatz für preiswerte Kleidung in Argentinien entwickelt. An mehr als 7.800 Ständen verkaufen Händler T-Shirts, Jeans, Jacken, Schuhe, Unterwäsche und Kindermode, ein großer Teil sind Markenimitate. Vielen Standbetreibern gehören zugleich Sweatshops, in denen die Textilien entworfen, Stoffe gekauft und zugeschnitten werden. Matías Dewey hat erfahren, warum die Menschen hier durchaus zuversichtlich in die Zukunft blicken. Mein Bruder arbeitet als Soziologe bei einer Nichtregierungsorganisation (NGO), die Konfliktlösungsseminare für junge Frauen in Argentinien durchführt. Als zusätzlichen Anreiz für die Teilnahme an den Seminaren bietet die NGO Feldhockeykurse an. Weil ich früher einmal selbst professionell Hockey gespielt habe, war ich als Hockeylehrer im Einsatz. Dabei wurde ich darauf aufmerksam, dass die Eltern von vielen der jun gen Frauen beruflich in La Salada tätig sind. So habe ich die ersten Kontakte für meine Feldforschung geknüpft. In La Salada kommen verschiedene Aspekte von Illegalität zusammen. Ein Großteil der hier gehandelten Kleidung ist gefälschte Markenware. Außerdem besteht die Marktsiedlung aus nicht genehmigten Bauten. Und schließlich ist ein Großteil der in La Salada verrichteten Arbeit illegal in dem Sinne, dass die Werkstätten dafür keine Steuern zahlen, die Regeln zur Arbeitssicherheit nicht beachtet werden und es keine geordneten Arbeitsverhältnisse gibt. Die Arbeiter in den Sweatshops haben zumeist einen Migrationshintergrund. Die große Chance 19 Was mich am meisten fasziniert hat, ist der Opti mismus der Menschen, die in La Salada tätig sind. Eine Arbeit, das heißt auch: ein Die meisten von ihnen wissen, dass das, was sie Einkommen und eine tun, nicht völlig legal ist. Aber niemand hier hat tägliche Routine. die Absicht, Mafiaboss zu werden oder mit schwe rer Kriminalität großes Geld zu verdienen. Sie selbst definieren ihre Tätigkeit vor allem als Arbeit – körperliche Arbeit, bei der oftmals erlernte Fähigkeiten zum Einsatz kommen. Eine Arbeit, das heißt auch: ein Einkommen und eine tägliche Routine. Viele Verkäufer haben zuvor als Straßenhändler gearbeitet, immer in informellen und extrem kurzfristigen Beschäftigungsverhältnissen. La Salada ist für sie der erste richtige Job. Auf einmal sehen sie eine Zukunft für sich, können sich einen Fernseher und vielleicht ein Auto leisten, einen Internetzugang bezahlen. Ein Mann, den ich kennengelernt habe, hat früher als Getränkehändler gearbeitet. Jetzt ist er Karrenschieber in La Salada. In den letzten acht Jahren hat er fünfmal sein Auto gewechselt. Obwohl der Staat als Ordnungsmacht in La Salada so gut wie überhaupt nicht präsent ist, kommt es erstaunlich selten zum Ausbruch von Gewalt. Vielleicht hat das aber auch einfach damit zu tun, dass wir es hier nicht mit schwerer, organisierter Kriminalität zu tun haben. Außerdem gibt es ein hohes Maß an „Gesetzestreue“ – wenn man das so sagen kann. Die Händler in La Salada zahlen nämlich Steuern. Nicht im gewöhnlichen Sinn: Sie bezahlen dafür, dass eigentliches Recht nicht durchgesetzt wird und sie ungestört ihren Handel treiben können. Dieses Geld landet teilweise tatsächlich in den Kassen des Staates. Und dass jemand seinen informellen Zahlungspflichten nicht nachkommt, passiert nur selten. Dies hat paradoxerweise auch damit zu tun, dass es keine klaren Regeln gibt: Man weiß einfach nicht, welche Folgen einem drohen können, wenn man die Zahlung verwei gern würde. 20 Aus der Forschung THEMA: ILLEGALE MÄRKTE Obwohl La Salada illegal ist, stellt der Markt für alle Beteiligten eine Win-win-Situation dar. Die Händler haben ihr Auskommen, und die Kunden der Markt für alle Beteiligten eine aus den unteren und mittleren Einkommensgrup Win-win-Situation dar. pen können sich in La Salada mit Kleidung ver sorgen – für legale Ware fehlt ihnen wegen der hohen Preise in Argentinien das Geld. Aus Sicht der Politik sind billige Kleidung und die Schaffung von Arbeitsplätzen ein willkommener Ersatz für Wohlfahrtsleistungen. Diese Dynamik stärkt nicht nur Marktbeziehungen, sondern auch klientelische Netzwerke und bestehende Machtverhältnisse. Obwohl La Salada illegal ist, stellt Matías Dewey Matías Dewey ist seit 2013 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er ist Soziologe und wurde 2008 an der Universität Rostock im Fach Politikwissenschaft promoviert. Dewey ist Mitglied des Wissenschaftskomitees des Netzwerks argentinischer Wis senschaftler in Deutschland (RCAA). Forschungsinteressen: illegale Märkte; informelle Institutionen; Sozialtheorie; qua litative Sozialforschung; lateinamerikanische Studien. Die große Chance 21 Erstaunliche Zusammenarbeit Nina Engwicht Protokoll: Ralf Grötker In den Jahren des Bürgerkrieges terrorisierten Rebellen die Zivilbevölkerung in Sierra Leone, um an „Blutdiamanten“ zu kommen und um mit ihnen zu handeln – im Tausch für Waffen aus Liberia. Nach Kriegsende wurde der Diamantensektor sowohl im Land als auch auf internationaler Ebene umfassend reformiert. Das Ziel: Die gesamte Wertschöpfungs- und Handelskette sollte der staatlichen Kontrolle unterworfen werden. Das ist nur bedingt gelungen, wie Doktorandin Nina Engwicht herausfand. In Sierra Leone spielten im Bürgerkrieg zwischen 1991 und 2002 Diamanten, die ohne Genehmigung abgebaut und unter Umgehung von Lizenzen und Zollbestimmungen gehandelt wurden, eine wichtige Rolle als illegale Währung und bei der Geldwäsche. Beide werden üblicherweise als Faktoren dargestellt, die Kriminalität und terroristische Struk turen begünstigen und dadurch auch die Stabilität der Nachkriegsgesellschaft gefährden. In meiner Studie schaue ich auf die Überbleibsel des kriegsökonomischen Diamantenmark tes. Mich interessiert, wie dieser Markt unter veränderten Kontextbedingungen im heutigen Sierra Leone funktioniert, wie verbreitet illegale Diamantenproduktion und -handel heute noch sind und in welcher Beziehung der illegale Diamantenmarkt zum legalen Markt und zum Staat steht. Ich habe von Ende 2012 bis Juni 2013 sechs Monate im Land verbracht, um Interviews und teilnehmende Beobachtungen durchzuführen. Am meisten erstaunt haben mich die Gewaltlosigkeit und das hohe Maß an sozialer Integration und wie eng der legale und der illegale Markt für Diamanten verzahnt sind. Ich habe mir zum Beispiel die großen Marktplätze für illegalen Diamantenhandel angeschaut. 22 Aus der Forschung THEMA: ILLEGALE MÄRKTE Sie sind gut organisiert: Es gibt für jeden dieser Märkte einen Vorsitzenden. Auf einem der un ter suchten Marktplätze gab es neben diesem „Chair man“ auch einen Ältestenrat, einen Sekretär und einen Vizesekretär, einen Schatzmeister, einen Buchprüfer, einen PR-Beauftragten und weitere Posten. Wer auf einem solchen Markt als Händler tätig werden will, muss sich zuerst registrieren lassen. Das gesamte Marktgeschehen wird dominiert von Akteuren, die erstaunlich kollaborativ agie ren, also eher reibungslos zusammenwirken. Die die Gewaltlosigkeit, das hohe Maß Händler verkaufen nicht nur an End kunden, an sozialer Integration und wie eng sondern immer wieder auch untereinander – der legale und der illegale Markt es entsteht eine Wertschöpfungs kette, von der viele Beteiligte profitieren können. Wenn es für Diamanten verzahnt sind. zu Konflikten kommt, werden diese durch den Vorsitzenden geschlichtet. Außerdem existiert eine Art Sozialfonds, in den alle Händler einzahlen und aus dem den Mitgliedern bei einer Heirat, einem Todesfall oder einer Namenszeremonie für Kinder eine Unterstützung gezahlt wird. Nach dem Bürgerkrieg hatte die Regierung auf den illegalen Märkten zunächst viele Razzien durchgeführt. Dabei wurden auch Händler festgenommen. Die Illegalen unter ihnen haben sich damals an den Vorsitzenden der legalen Diamantenhändler gewandt. Dieser hat sich dann bei den Behörden dafür starkgemacht, dass die Razzien beendet werden. Am meisten erstaunt haben mich Dass sich die Marktakteure gegenseitig unterstützen, hat etwas mit der Struktur der Handelsbeziehungen zu tun. Die meisten Diamanten, die im Land geschürft werden, sind sogenannte Mêlée-Ware: Steine der kleinsten Kategorie. Wenn ein solcher Stein den Besitzer wechselt, dann wird dafür keine Einzelquittung ausgestellt. Das macht es leicht, geltende Regelungen zu umgehen. Hinzu kommt, dass viele Händler selbst Lizenzen zum Diamantenabbau haben. Sie können illegalen Diamantenschürfern ihre Ware abkaufen und sie dann als eigene, legale Ware weiterverkaufen und sogar legal exportieren. Aus Sicht des Staates ist dies immer noch besser, als wenn die Diamanten geschmuggelt würden. Diamanten im Wert von 500.000 US-Dollar. Erstaunliche Zusammenarbeit 23 Ankaufbüros für Diamanten in Kono, Sierra Leone. Davon abgesehen gibt es in Sierra Leone kein staat liches Wohlfahrtssystem. Viele junge Männer, die Aus Sicht der Behörden sind ansonsten möglicherweise ein Unruheherd würden, die funktionierenden Handels finden in den illegalen Marktsektoren Arbeit. Daher verflechtungen ein Grund, ein sind diese funktionierenden Handelsverflechtungen auch aus Sicht der Behörden durchaus ein Grund, gewisses Maß an Illegalität zu ein gewisses Maß an Illegalität zu tolerieren. Natür tolerieren. lich ist der illegale Diamantenhandel auch für kri minelle Organisationen interessant. Aber deren Existenz ist in Friedenszeiten nicht so folgen schwer, wie sie es in den Kriegsjahren war. Außerdem finanzieren sich kriminelle Organisationen aus sehr vielen verschiedenen Quellen – auf Diamanten sind sie nicht angewiesen. Nina Engwicht Nina Engwicht ist wissenschaftliche Mitarbeiterin an der Friedensakademie Rhein land-Pfalz – Akademie für Krisenprävention und zivile Konfliktberatung. Von 2011 bis 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am MPIfG. Sie stu dierte Politikwissenschaft, Neuere Geschichte, Publizistik und Kommu nikations wissenschaft an der Universität Potsdam. Forschungsinteressen: illegale Märkte in (Post-)Konfliktgesellschaften; Ressourcen konflikte und Friedensprozesse nach Bürgerkriegen. 24 Aus der Forschung THEMA: ILLEGALE MÄRKTE Töten für den Lifestyle Annette Hübschle Protokoll: Ralf Grötker In Südafrika werden jeden Tag drei Nashörner getötet, ihr Horn auf dem internationalen Markt illegal verkauft. Der Kruger-Nationalpark sowie weitere öffentliche und private Wildgehege sind zu wahren Schlachtfeldern geworden, auf denen staatliche Sicherheitskräfte und Wildhüter für das Überleben der Rhinozerosse kämpfen. Trotzdem wird es Schätzungen zufolge nur noch sieben Jahre dauern, bis sie ausgerottet sind. Die Zahl der gewilderten Tiere ist in zwei Jahren von 668 (2012) auf 1.215 (2014) gestiegen. Doktorandin Annette Hübschle untersucht, warum der Schutz des Nashorns nicht gelingt. Ich bin in Namibia aufgewachsen und hatte durch meine langjährige Tätigkeit als wissenschaftliche Mitarbeiterin an einem südafrikanischen Forschungsinstitut im For schungsbereich zum organisierten Verbrechen Netzwerke aufgebaut, die bei der Daten erhebung äußerst wertvoll waren. Während meiner zwölfmonatigen Feldforschung im südlichen Afrika und in Südostasien habe ich mehr als 420 ethnografische Interviews und Diskussionen in Kleingruppen durchgeführt. Unter den Interviewten waren Wilderer und deren Anführer – die meist aus Mosambik stammenden kingpins –, verurteilte Nashornjäger in südafrikanischen Gefängnissen, Nashornfarmer, Strafverfolger und Wildhüter, Vertreter von Dorfgemeinschaften, die in der Nähe des Kruger-Nationalparks auf der mosambikanischen Seite leben, von Natur schutzorganisationen und NGOs, Händler, Schmuggler und asiatische Konsumenten. Töten für den Lifestyle 25 Die hohe Zahl an Interviews und der Vergleich mit anderen qualitativen Daten wie etwa Polizeidokumenten und Gerichtsakten erleichterten es, die Erkenntnisse zu verifizieren. Dies ist besonders wichtig, wenn illegale Märkte untersucht werden. Mein Ziel war es, den Markt in seiner Gesamtheit zu verstehen und zu erfassen, angefangen bei der „Produktion“ – der Wilderei, der Jagd oder dem Diebstahl – bis hin zum grenz übergreifenden Produkttausch und Konsum des Rhinozeroshorns. Im Hinblick auf die Hindernisse, die Illegalität und Transnationalität bedeuten, stellt sich die Frage, wie die diver sen Marktakteure Teil einer Gesellschaftsordnung werden und die Koordinationsprobleme lösen, die Wettbewerb, Zusammenarbeit und Wertbildung an sie stellen. Ein wichtiger Befund, der sich herausschält, ist, dass zentrale Akteure entlang der gesamten Wert Contested illegality, die angezwei schöpfungskette das Verbot der Nashornwilderei felte Illegalität, fungiert als eine schlichtweg nicht akzeptieren. Ich bezeichne die Legitimationsstrategie für illegale ses Phänomen als contested illegality, angezweifelte Illegalität, und es fungiert als eine Legitimations wirtschaftliche Handlungsweisen. strategie für illegale wirtschaftliche Handlungs weisen. Das fängt bei den Wilderern an. Meist handelt es sich dabei um Menschen, die das ihnen angestammte Land und die damit verbundenen Jagdrechte durch koloniale Enteignung oder die Gründung von Nationalparks oder Wildschutzgebieten verloren haben. Dass sie die neu geschaffene Rechtsordnung und das Handelsverbot durch das Washingtoner Artenschutzübereinkommen (CITES) von 1973 – das auch noch unter dem alten Apartheidsregime etabliert wurde – nicht akzeptieren, liegt auf der Hand. Die Wilderer sind jedoch oft nur die Fußsoldaten von professionellen Großwildjägern und Großwildfarmern, meist weißen Afrikanern, die über persönliche Netzwerke verfügen und Rhinozeroshorn bis nach Asien verkaufen. Unter ihnen gibt es viele, die eigenes Farmland oder Jagdreviere besitzen, aber auch Tierärzte und Hubschrauberpiloten. Auch diese Leute glauben, dass sie, moralisch betrachtet, auf der Seite des Rechts stehen. Die verbreitete Meinung unter ihnen ist, dass man das Nashorn nur effektiv schützen könne, wenn man Jagd und Verkauf des Horns erlaubt, um Anreize für die private Zucht zu schaffen, und wenn man der Staatskasse die für den Umwelt- und Artenschutz erforderlichen Geldmittel zuführt. Tatsächlich hat ein solcher Ansatz auf lokaler Ebene bislang jedoch wenig bewirkt – der landinterne Handel mit Rhinozeroshorn war bis 2009 in Südafrika erlaubt – und hat Schnittstellen zwischen legalen und illegalen Geschäften kreiert. Die prominente Rolle von Staatsakteuren in der Form von korrupten Aktivitäten ist nicht zu vernachlässigen, wie zum Beispiel Betrug bei CITES-Genehmigungen bis hin zur aktiven Teilnahme von Polizisten und Wildschützern in Wildereigruppen. Bei den Endabnehmern schließlich scheint die Unrechtmäßigkeit so gut wie keine Rolle zu spielen. Rhinozeroshorn gehört zu den teuersten Waren der Welt, ein Kilogramm kostet mehr als 50.000 Euro. Traditionell wird das pulverisierte Horn als Medizin ver 26 Aus der Forschung teuersten Waren der Welt, ein Kilo gramm kostet mehr als 50.000 Euro. THEMA: ILLEGALE MÄRKTE Rhinozeroshorn gehört zu den wendet. Es ist aber auch Statussymbol, Geschenk zur Vertiefung von Geschäftsverbindungen oder Investitionsobjekt. Wer Rhinozeroshorn als Wert anlage kauft, der setzt geradezu darauf, dass die Preise im Zuge des Aussterbens der Nashörner weiter steigen. Viele der bisherigen politischen Maßnahmen haben in meinen Augen das Problem nur verschlimmert. Die Mobilisierung der Armee zum Schutz der Nashörner und die Erlaubnis für Wildschützer, die sich bedroht fühlen, Schusswaffen einzusetzen, haben dazu geführt, dass im vergangenen Jahr allein im Kruger-Nationalpark an die fünfzig Wilderer erschossen wurden – nicht gerade förderlich für die Akzeptanz von Schutzmaßnahmen für Nashörner. Es ist nicht verwunderlich, wenn die Lokalbevölkerung den Eindruck gewinnt, das Leben eines wilden Tieres werde höher bewertet als ihres. Soziale Ungerechtigkeit und das koloniale Erbe begünstigen die Hinwendung der Lokalbevölkerung zur Wilderei, bietet sie doch Möglichkeiten zur sozialen Mobilität, also zum Aufstieg in höhere sozioökonomische Positionen. Denn Wilderer bilden ihre eigenen Jagdgruppen und vertreiben das Horn an Zwischenmänner oder asiatische Abnehmer. Zudem haben Dorfbewohner rund um den Kruger-Nationalpark nur wenige andere Möglichkeiten, ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Im Zuge von Parkerweiterungen durch den Anschluss von Schutzgebieten in den Nachbarländern Mosambik und Simbabwe sind erst in der jüngsten Zeit erneut Dorfgemeinden umgesiedelt worden. Was ich mir vorstellen könnte, wäre der Einsatz von Social Impact Bonds – Strukturhilfen und Investitionen für Landansprüche, Schulen und Krankenhäuser, die als Belohnung dafür gezahlt werden, dass die Dorfgemeinschaften den Kampf gegen die Wilderei unterstützen. Annette Hübschle Annette Hübschle ist seit 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin an der University of Cape Town und baut dort ein neues Forschungsinstitut zum Thema „Artenschutz und illegaler Handel mit Wildtieren und Pflanzen“ auf. Von 2011 bis 2015 war sie Doktorandin an der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE). Hübschle hat Vergleichende und Internationale Politik und Geschichte sowie Kriminologie und Strafrecht an der University of Cape Town studiert. Forschungsinteressen: illegale und informelle Märkte; organisierte Kriminalität; Verknüpfung von organisierter Kriminalität mit Terrorismus. Töten für den Lifestyle 27 Zu diesem Thema Die hier abgedruckten Beiträge wurden 2014 im Magazin „MaxPlanckForschung 4.14“ der Max-Planck-Gesellschaft veröffentlicht. >http://tinyurl.com/beckert-forschung Englische Fassung >http://tinyurl.com/beckert-forschung-e Forschungscluster „Die Struktur illegaler Märkte“ >http://tinyurl.com/mpifg-illegal-markets La Salada Project: Fotografie trifft Soziologie >www.lasaladaproject.com Zum Weiterlesen BECKERT, J. & WEHINGER, F.: In the Shadow: DEWEY, M.: Crisis and the Emergence of Illicit Illegal Markets and Economic Sociology. Markets: A Pragmatist View on Economic Socio-Economic Review 11(1), 5–30 (2013). Action outside the Law. MPIfG Discussion DEWEY, M.: Taxing the Shadow: The Political Economy of Sweatshops in La Salada, Argentina. MPIfG Discussion Paper 14/6. Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2014. www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp14-6.pdf Paper 14/18. Max-Planck-Institut für HÜBSCHLE, A. & VAN DER SPUY, E.: Gesellschaftsforschung, Köln 2014. Organized Crime and Law Enforcement in www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp14-18.pdf Southern Africa: The Challenges Confronting Research. SADC Law Journal 2, 319–334 (2013). 28 Aus der Forschung Imaginierte Zukunft Wie fiktionale Erwartungen wirtschaftliche Dynamik vorantreiben Jens Beckert Im Herbst 2008 erreichte die Finanzkrise ihren Höhepunkt: Der Markt für verbriefte Wertpapiere US-amerikanischer Hypothekendarlehen implodierte. Anleger, die in die vermeintlich sicheren Papiere investiert hatten, sahen sich plötzlich mit riesigen Verlusten konfrontiert. Die notwendigen Wertberichtigungen und fällige Zahlungen aus Kreditversicherungen brachten das Finanzsystem in kürzester Zeit an den Rand des Kollapses. Warum hatten Investoren und Ökonomen die Vorzeichen der dann einsetzenden weltweiten Finanzkrise nicht erkannt? Märkte sind nicht effizient. Die Ratio nalitätsannahmen der ökonomischen Theorie scheitern an der komplexen Wirklichkeit der Wirtschaft. Erwartungen lassen sich nicht als rational verstehen, sondern sind kontingente Imaginationen der Zukunft. Solche „fiktionalen“ Erwartungen spielen eine zentrale Rolle für Entscheidungen und für die wirtschaftliche Dynamik, behauptet Jens Beckert. Seit dem Herbst 2008 ist die Analyse der Ursachen und Konsequenzen der Finanzkrise ein wichtiges Thema in den Sozialwissenschaften. Jenseits der Frage nach regulatorischen Reformen hat die Finanzkrise für die sozialwissenschaftliche Forschung eine weitere Diskussion eröffnet, die sich in einer einfachen Frage zusammenfassen lässt: Wie lassen sich Erwartungen in der Wirtschaft verstehen? Imaginierte Zukunft 29 Im Herbst 2008 versicherten Bundeskanzlerin Angela Merkel und Finanzminister Peer Steinbrück den Deutschen in einer Pressekonferenz, dass der Staat für ihre Depoteinlagen garantieren würde. Erzeugt wurde – erfolgreich – die Erwartung, dass die Spareinlagen bei den Banken weiterhin sicher seien. Verhindert wurde ein Bank Run. Ein Beispiel für die Politik der Erwartungen. Investoren hatten sich Anfang der 2000er-Jahre für den Kauf von Hypothekenanleihen in der Erwartung einer risikoarmen Verzinsung ihres Kapitals entschieden. Grundlage dieser Erwartungen waren das Rating der Finanzinstrumente und optimistische Einschätzungen der Entwicklung des US-amerikanischen Immobilienmarktes. Im Jahr 2008 dann verän derten sich die Erwartungen schlagartig vor dem Hintergrund sinkender Immobilienpreise in den USA. Keiner der Akteure glaubte noch an die Sicherheit der Derivate, alle wollten gleichzeitig verkaufen. Die Zukunft ist nicht kalkulierbar In beiden Situationen – beim Kauf und beim Verkauf – beruhten die Entscheidungen der Investoren auf ihren Annahmen über eine zukünftige Entwicklung. Klar ist: Solche Erwartungen sind von wesentlicher Bedeutung für die Entscheidungen von Wirtschafts akteuren und damit für die Wirtschaftsentwicklung – sowohl für Wachstum als auch für Krisen. Doch worauf beruhen sie, und wie verändern sie sich? Die zentrale Antwort der Wirtschaftswissenschaf ten lautet: Erwartungen basieren auf der Analyse aller vorhandenen Informationen, einschließlich der Voraussagen bezüglich der Entwicklung der wichtigen Indikatoren der Wirtschaftsentwicklung, und sie sind im Aggregat zutreffend. Auch wenn 30 Soziologen und Verhaltensökonomen zweifeln die Rationalitäts annahmen der ökonomischen Theorie seit Langem an. Aus der Forschung es individuelle Fehler gibt, die Wirtschaft konvergiert bei dem korrekten Modell der Zukunft. Der Marktpreis ist somit immer der effiziente Preis. Wenn dem so ist: Wie kamen die Investoren zu den Überzeugungen, auf deren Grundlage sie die verbrieften Hypothekenanleihen kauften, deren Wert später ins Bodenlose sank? Es scheint, dass die vermeintlich sichere Investition auf einer Fiktion beruhte, die durch rhetorische Mittel und institutionelle Signale glaubhaft gemacht wurde. Soziologen und Verhaltensökonomen zweifeln die Rationalitätsannahmen der ökonomi schen Theorie seit Langem an. Akteure beziehen längst nicht alle verfügbaren Informatio nen in ihre Überlegungen ein, sie sind in ihren Entscheidungen durch den sozialen, kul turellen und institutionellen Kontext beeinflusst und sie machen Entscheidungsfehler, die sich auf starre Denkschemata zurückführen lassen. In einer dynamischen Ökonomie sind zukünftige Entwicklungen zudem prinzipiell nicht vorauszuberechnen. Erwartungen las sen sich somit nicht einfach als rational verstehen, Entscheidungen nicht als ausschließlich auf determinierten Kalkulationen beruhend. Dies gilt umso mehr für die turbulenten Umwelten moderner kapitalistischer Ökonomien, in denen zukünftige wirtschaftliche Entwicklungen in hohem Maße offen und damit ungewiss sind. Unsere Gegenwart liefert überzeugende Beispiele hierfür: Wer hätte noch vor wenigen Jahren mit einer solch herausragenden Bedeutung von Smartphones für die Entwicklung der gesamten Ökonomie gerechnet? Wer weiß, ob es in drei Jahren den Euro als gemeinschaftliche Währung noch geben wird? Wer kann sagen, wie sich der Aktienmarkt in zwölf Monaten entwickelt? Antworten auf diese Fragen lassen sich nicht eindeutig aus ökonomischen Modellen herleiten. Doch trotz der Offenheit und Unkalkulierbarkeit der Zukunft müssen Wirtschaftsakteure Entscheidungen treffen. Und diese Entscheidungen hängen von den Zukunftsprojektionen ab, mit denen die Wahl einer Alternative gerechtfertigt wird. Handeln als ob Erwartungen unter Bedingungen von Ungewiss heit lassen sich als fiktional bezeichnen. Fiktional Erwartungen sind Platzhalter meint hier nicht, dass die Vorstellungen per se im Entscheidungsprozess. falsch wären; sie lassen sich nur nicht empirisch verifizieren, zumindest solange die Zukunft noch nicht zur Gegenwart geworden ist. Die gegenwärtigen Vorstellungen von Akteuren hin sichtlich zukünftiger Zustände der Welt sind in dem Sinn fiktional, dass sie eine neue, eigene Realität schaffen. Entscheidungen unter Bedingungen von Ungewissheit beruhen auf Imaginationen und Projektionen, von deren Richtigkeit die Akteure überzeugt sind. Solche fiktionalen Erwartungen sind von enormer Bedeutung, denn sie geben Orientie rung in Entscheidungsprozessen – und zwar trotz der Unmöglichkeit, zukünftige Ent wicklungen tatsächlich vorauszusehen. Akteure handeln, als ob sich die Zukunft in der angenommenen Weise entfalten würde. Erwartungen sind somit Platzhalter im Entschei dungsprozess, mit deren Hilfe sich über die im Augenblick der Entscheidung herrschende Unkenntnis der tatsächlichen Entwicklung hinwegsehen lässt. Imaginierte Zukunft 31 Goldpreisentwicklung 2010 bis 2014 Abb. 1 US-Dollar pro Unze Gold 2.000 1.750 1.500 1.250 1.000 2010 2011 2012 2013 2014 Quelle: Börsendaten. Der Begriff der fiktionalen Erwartung schließt an die Analyse von fiktionalen Texten in den Literaturwissenschaften an. Denn fiktionale Texte sind – wenngleich mit erheblichen Unterschieden – ebenfalls dadurch charakterisiert, dass die Autorin oder der Autor eine erdachte Wirklichkeit beschreibt. In Form von Geschichten, als Stories, werden fiktionale Erwartungen auch in der Wirtschaft kommuniziert und entfalten dort ihre Wirkung. Ein Beispiel: Im November 2011 strahlte der amerikanische Fernsehsender CNBC ein Interview mit dem einflussreichen Rohstoffinvestor Jim Rogers zur Frage der weiteren Goldpreisentwicklung aus. Rogers prognostizierte, dass der Goldpreis, der damals bei etwa 1.700 US-Dollar pro Unze stand, langfristig und nach auch möglichen Kursverlusten auf 2.000 US-Dollar steigen, dann aber im Verlauf des noch Jahre anhaltenden Bullenmarktes 2.400 US-Dollar erreichen würde. Allerdings gab er keine konkrete Zeitspanne für diese erwartete Entwicklung an. Die britische Großbank HSBC erwartete zu dem Zeitpunkt für 2012 einen Anstieg des Goldpreises auf durchschnittlich 2.025 US-Dollar. Gold sollte also ein lukratives Investment sein. Solche Aussagen wiederholen sich täglich in der Finanzpresse, sie sind Teil unseres Alltags. Immer sind solche Prognosen mit Geschichten verbunden, die die erwartete Zukunft als glaubwürdige Entwicklung erscheinen lassen. Beim Goldpreis ist dies häufig die Geschichte vom Gold als Krisenwährung. Es lohnt sich, solche Voraussagen genauer zu betrachten. Es werden Behauptungen über einen zukünftigen Zustand der Welt aufgestellt, von dessen Eintreffen die Akteure über zeugt sind. Die Aussage eines steigenden oder sinkenden Goldpreises ist ex ante jedoch 32 Aus der Forschung Entwicklungsprognosen sind stets mit Geschichten verbunden, die die erwartete Zukunft als glaub würdig erscheinen lassen. Beim Goldpreis ist dies häufig die Geschichte vom Gold als Krisenwährung. empirisch nicht validierbar. Vielmehr handelt es sich um die Vorspiegelung eines mögli chen Ereignisses, die dazu motivieren soll, so zu handeln als ob der Goldpreis sich in die vorhergesagte Richtung verändern würde. In diesem Sinn sind die Aussagen fiktional. Abbildung 1 zeigt, dass die Voraussage eines steigenden Goldpreises im Jahr 2012 schließ lich nicht eintrat. Statt zu steigen, fiel der Goldpreis seit der Prognose. Doch geht es nicht darum, rechthaberisch auf nur post festum erkennbare Fehleinschätzungen hinzuweisen, sondern systematisch die Rolle solcher imaginierten Zukünfte für wirtschaftliche Ent scheidungsprozesse und die Wirtschaftsentwicklung insgesamt zu erfassen. Durch fiktiona le Erwartungen werden Begründungen für Entscheidungen unter Bedingungen von Unge wissheit geschaffen. Solche Begründungen sind notwendig, damit Entscheidungen nicht beliebig erscheinen, um Entscheidungen zu koordinieren und um Innovationen voranzu treiben. Fiktionale Erwartungen motivieren wirtschaftliches Handeln, dessen Richtigkeit sich erst später herausstellt, und tragen dadurch zur Dynamik der Wirtschaft bei. Erwartungen als Motor der Zukunft Entscheidungen sind demnach nicht durch ökonomische Kalkulation determiniert, son dern sie beruhen auf kontingenten, also auf immer auch anders möglichen Erwartungen. Die Erzählung über eine bestimmte erwartete zukünftige wirtschaftliche Entwicklung könnte immer auch eine andere sein. Daraus ergeben sich zwei für die sozialwissenschaft liche Forschung wichtige Konsequenzen. Zum einen muss man mit einer „Politik der Erwartungen“ rechnen. Das heißt, die im Feld der Wirtschaft geäußerten Erwartungen sind nicht interessenunabhängig geäußerte richtige Einschätzungen, sondern sind selbst Mittel, mit denen sich wirtschaftliche Inte ressen verfolgen lassen. Voraussetzung ist die Glaubwürdigkeit der Erzählung. Dies mag Imaginierte Zukunft 33 auf den ersten Blick trivial erscheinen, doch ist der Wettbewerb um Erwartungen tatsäch Erwartungen sind selbst Mittel, lich einer der bedeutendsten und zugleich am mit denen sich wirtschaftliche wenigsten erforschten Aspekte wirtschaftlicher Interessen verfolgen lassen. Konkurrenz. Man denke etwa an das Werben von Start-up-Unternehmen um das Interesse von Risikokapitalgebern. Mit angenommenen Zahlen und einer Geschichte müssen letztere überzeugt werden, dass das noch unfertige Produkt tatsächlich eine Marktchance hat. Hierfür müssen die Jungunternehmer eine erfolgreiche Zukunft glaubwürdig erzählen können. Oder man denke an Konsumenten, deren Kaufbereitschaft für ein neues Smart phone durch die Erzeugung von Erwartungen an das neue Produkt geschaffen wird. Entwicklung des Bruttoinlandsprodukts der BRICS-Staaten Abb. 2 Prozent 20 15 10 5 0 –5 –10 2000 2001 2002 Russland VR China Brasilien 2003 2004 2005 2006 2007 2008 2009 2010 2011 2012 2013 Südafrika Indien Finanzmärkte mit ihrer hohen Ungewissheit und Volatilität sind besonders geprägt von fiktionalen Erwartungen. Nicht nur die Prognosen der Analysten von Banken und Wirtschaftsforschungsinstituten sind Beispiele hierfür. Das BRICS-Konzept, eine Kreation der US-amerikanischen Investmentbank Goldman Sachs, lenkte mehr als ein Jahrzehnt lang bedeutende Investitionsströme in eine Handvoll Schwellenländer, basierend auf der fiktionalen Erwartung, es seien gerade diese Länder, in denen ein besonders hohes und stabiles Wirtschaftswachstum und infolgedessen hohe Steigerungen der Aktienkurse zu erwarten seien. Tatsächlich haben sich sowohl die Wirtschaft als auch die Aktienmärkte der Länder höchst unterschiedlich entwickelt. Quelle: IMF, World Economic Outlook 2014. 34 Aus der Forschung Die Marketingindustrie ist mit nichts anderem beschäftigt als mit der Erzeugung und Stabilisierung fiktionaler Erwartungen. Zum anderen lässt sich die Zukunft zwar nicht voraussehen, doch können Erwartungen und die Handlungen, die sie auslösen, bestimmte Entwicklungen überhaupt erst hervorrufen. In diesem Sinn können Erwartungen performativ sein. Ein Beispiel hierfür sind technologische Innovationen. Niemand kann am Beginn des Innovationsprozesses vorhersehen, ob eine Innovation im technischen Sinn gelingt und dann auch noch am Markt erfolgreich sein wird. Doch, wenn überhaupt, kann die vorgestellte technologische Zukunft nur mithilfe der durch fiktionale Erwartungen motivierten Investitionen je Realität werden. Ohne eine glaubwürdi ge Fiktion am Anfang käme es nicht zu den notwendigen Investitionen und wir könnten nie herausfinden, ob die vorgestellte Zukunft möglich ist. Ein verändertes Verständnis ökonomischer Prozesse Über Finanzmärkte hinaus sind fiktionale Erwartungen relevant für wohl sämtliche Bereiche der Wirtschaft: Kapitalinvestitionen, Investitionen in Humankapital, den Konsum, Inno vationsprozesse und das Funktionieren des Geldes. Sie sind ein in der Forschung bislang kaum wahrgenommener Schlüssel zum Verständnis wirtschaftlicher Dynamik. Es sind die Vorstellungswelten der Akteure, die Investitionsströme lenken und das Moment der Kreativität in die Ökonomie einbringen, ebenso wie neue Unsicherheit. Wirtschaftliche Dynamik wird auch durch die menschliche Fähigkeit vorangetrieben, sich eine Welt vorzu stellen, die anders ist als die jeweils gegebene. Dies gibt Raum nicht nur für interessante empirische Projekte wirtschaftssoziologischer Forschung, sondern eröffnet auch ein frucht bares Paradigma in den Sozialwissenschaften, in dem die Erwartungen der Akteure im Mittelpunkt stehen. „The future matters“: Nicht nur die Vergangenheit ist relevant für die Erklärung sozialen Handelns, sondern auch die Vorstellungen von der Zukunft. Die Hinwendung zu fiktionalen Erwartungen und den Narrativen, mit denen Glaubwür digkeit für bestimmte Erwartungen zukünftiger Entwicklung geschaffen wird, führt auch zu einer veränderten Analyse ökonomischer Prozesse. Im Mittelpunkt stehen die Bedeu tungen, die wirtschaftliche Güter und Prozesse durch ihre Interpretation erlangen. Daran schließt sich die Frage an, wie solche Bedeutungen erzeugt, stabilisiert und verändert werden. Wenn Erwartungen fiktional sind, gibt es kein allein auf Kalkulation beruhendes Handeln in der Wirtschaft und eine Wissenschaft der Ökonomie folgt eher dem Modell der Hermeneutik als dem der Naturwissenschaften. Imaginierte Zukunft 35 Jens Beckert Jens Beckert ist seit 2005 Direktor am MPIfG und Professor für Soziologie an der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln. Fachgebiete: soziale Einbettung der Wirtschaft, insbesondere anhand der Unter suchung von Märkten; Organisationssoziologie; Soziologie der Erbschaft; soziolo gische Theorie. Zum Weiterlesen Beckert, J.: Imagined Futures: Expectations Beckert, J.: Imagined Futures: Fictional and Capitalist Dynamics. Cambridge: Expectations in the Economy. Theory and Harvard University Press 2016, im Society 42(3), 219–240 (2013). Erscheinen. Beckert, J.: Capitalist Dynamics: Fictional Erwartungen und kapitalistische Dynamik. Expectations and the Openness of the Future. Vortrag auf der 6. Wissenschaftlichen MPIfG Discussion Paper 14/7. Max-Planck- Tagung des Instituts für die Gesamtanalyse Institut für Gesellschaftsforschung, Köln 2014. der Wirtschaft (ICAE) der Universität Linz, www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp14-7.pdf Beckert, J.: Capitalism as a System 36 Beckert, J.: Imaginierte Zukünfte: Fiktionale 11.–13. Dezember 2014. www.youtube.com/watch?v=GTirjP2xrXs of Expectations: Toward a Sociological CNBC: Gold Will Hit $ 2,400 Bubble: Microfoundation of Political Economy. Politics Jim Rogers. 9.11.2011. & Society 41(3), 323–350 (2013). www.cnbc.com/id/45220369 Aus der Forschung Große Hoffnungen und brüchige Koalitionen Industrie, Politik und die schwierige Durchsetzung der Photovoltaik Timur Ergen Die direkte Nutzung der Sonnenenergie blickt auf eine lange Geschichte ansehnlicher technischer Entwürfe, überschwänglicher Zukunftshoffnungen und schlichten kommerziellen Scheiterns zurück. Timur Ergen zeigt, wie sich diese eigentümliche Entwicklungsgeschichte mit politisch-ökonomischen Organisationsproblemen verstehen lässt. Die politisch-ökonomische Entwicklungsfalle der Photovoltaik Von den ersten industriegesellschaftlichen Debatten zur Endlichkeit fossiler Brennstoffe Mitte des neunzehnten Jahrhunderts bis zur Politisierung des anthropogenen Klimawan dels in den letzten zwei Jahrzehnten galt die Nutzung der Sonnenenergie immer wieder als technische Kur für ganze Bündel gesellschaftlicher Probleme. Auch schlugen sich die jeweiligen Hoffnungen rund um die Nutzung der Sonnenenergie in recht fokussierten und großzügigen Unterstützungsleistungen nieder. Vermehrt seit den 1970er-Jahren förderten reiche Industriegesellschaften die verschiedensten Varianten solartechnischer Anlagen – teils in Form von Forschungs- und Entwicklungsleistungen, teils in Form ambi tionierter Kommerzialisierungsprogramme. Trotzdem stockte die breitflächige Kommerzialisierung der Photovoltaik bis in die späten 1990er-Jahre irgendwo „zwischen Labor und Markt“ (Gerhard Mener). Große Hoffnungen und brüchige Koalitionen 37 Weder die vielen Hoffnungen um Solartechnologien noch das permanente Scheitern in der industriellen Entwicklung sollten wirklich überraschen. Energieversorgungssysteme sind in Umfang wie Position so zentral in modernen Gesellschaften verankert, dass ihre Strukturen immer wieder zum Gegenstand breiterer politischer Debatten wurden. Gleich zeitig stellt diese tiefe Verankerung eine verhältnismäßig extreme Eintrittsbarriere in die Energieversorgung dar: Um es in den jeweiligen Investitionszyklus der Energieversor gungsindustrie zu schaffen, mussten neue Technologien wirtschaftlich mit über Jahrzehnte ausgebauten Wertschöpfungsketten konkurrieren. Fehlten stabile Absatzmöglichkeiten, ließ sich die Produktion nicht ausbauen; und ohne Investitionen in die Produktion ent standen keine neuen Absatzmöglichkeiten. Auch politisch waren die Bedingungen für neue Energietechnologien nicht viel zuträglicher: Wie Für anspruchsvolle Entwicklungs in jedem wirtschaftlich stark verflochtenen Sektor prozesse unkonventioneller Ener verschmolzen in der Politik des Energiesektors gietechnologien waren gezielte die Interessen etablierter Branchen mit denen von Gesellschaften und Staaten. Und selbst wenn öffentliche Interventionen oft zu diese Interessenharmonie durch Krisen oder oberflächlich oder flüchtig. gesellschaftliche Bewegungen erschüttert wurde, verschwanden Initiativen zur Restrukturierung der Energieversorgung oft so schnell, wie sie gekommen waren. Für anspruchsvolle Entwicklungsprozesse unkonventioneller Energietechnologien waren Bewegungen gezielter öffentlicher Intervention oft zu ober flächlich oder flüchtig. Kommerzialisierungsversuche zwischen Euphorie und Ernüchterung Nach der erstmaligen gezielten Entwicklung der Siliziumsolarzelle Mitte der 1950erJahre war ihren Entwicklern schnell klar, dass die Produktionskosten der Technik den Breiteneinsatz ausschlossen. Bis in die 1970er-Jahre wurde die Technologie daher beinahe exklusiv von Forschungseinrichtungen, staatlichen Stellen und forschungsintensiven Firmen getragen – insbesondere in Rahmen von Satelliten- und Weltraumprogrammen. So konnte die Photovoltaik über Jahrzehnte etliche hochkarätige Forscher und Unternehmen für sich gewinnen und profitierte durch Verbundeffekte von der Entwicklung von Halbleitern. Die Energietechnologiepolitik hatte in den Nachkriegsjahrzehnten bei Weitem nicht den Charakter, den sie in den 1970er-Jahren entwickeln sollte. Erst die gesellschaftlichen Entwicklungen dieses Jahrzehnts brachen die Photovoltaik aus ihrer Nischenexistenz heraus. Versuche öffentlicher Stellen und erster Unternehmen, sich mit tels der Photovoltaik für eine neue Rolle in der Energietechnologiepolitik zu empfehlen, häuften sich kurz vor der ersten Ölkrise. Wichtige Unterstützer der Photovoltaik, Aktivis ten, Umweltschutzbewegungen, Kernkraftkritiker und ökologisch-progressive Kongressabgeordnete hingegen entdeckten die Technologie erst relativ spät in der zweiten Hälfte der 1970er-Jahre. Nach der ersten Ölkrise wurden Energieunabhängigkeit 38 Die gesellschaftlichen Entwicklun gen der 1970er-Jahre brachten die Photovoltaik aus ihrer Nischen existenz heraus. Aus der Forschung Nur ein paar Jahre nach dem Beginn der US-amerikanischen Solarförderung wurde auch das Weiße Haus mit Solaranlagen ausgestattet. Im Juni 1979 begutachtete Präsident Jimmy Carter die neue Technik, welche die Heißwasserversorgung sicher stellen sollte. und Energiesicherheit zu einem breit anerkannten Motiv, staatliche Aktivitäten im Ener giesektor zu rechtfertigen, insbesondere in den USA. In diesen Zusammenhängen entstand schließlich die breitere Unterstützung für die Photovoltaik. Die wichtigste Initiative zur Kommerzialisierung der Technologie entstand 1973 auf einer Konferenz in Cherry Hill, New Jersey. Unterstützer entwickelten dort ein bis in die Gegen wart wirksames Leitbild für die industrielle Entwicklung der Technologie. Statt auf techni sche Durchbrüche zu warten, wollte man die Siliziumphotovoltaik mit einer Misch förderung aus der koordinierten Entwicklung der Produktionstechnik und der öffentli chen Nachfrage systematisch hoch skalieren. Bis in das Jahr 1985, so die Hoffnungen, würden sich die Kosten damit um den Faktor fünfzig bis einhundert senken lassen. Die klassische Förderung wurde von diesem Modell staatlicher Industrieschaffung allerdings nicht abgelöst. Insbesondere in Deutschland, Japan und den USA förderte man die Technologie bis in die 1990er-Jahre wie jede andere Zukunftstechnologie – über die öffent liche Forschungsförderung und die Schaffung zuträglicher Infrastruktur. Mit der politischen Durchsetzung der amerika nischen Programme begann ein langsamer Pro Nachdem die Förderprogramme zess der Erosion der Unterstützerkoalition und für die Photovoltaik politisch durch fragmentierter Implementation. Trotz – und teil gesetzt waren, begann die Koalition weise wegen – der massiven öffentlichen Förder der Unterstützer langsam zu leistungen weigerten sich Firmen, weiter in die Produktion zu investieren und die Herstellung ein fragmentieren. facher technischer Varianten zu erweitern. Zudem entwickelten Aktivisten, Parlamentarier, Regierungsstellen und Forschungsorganisationen über die Zeit zunehmend abweichende Pläne und konfligierende Zielvorstellungen. In Große Hoffnungen und brüchige Koalitionen 39 Der Schriftsteller Günter Grass und der Präsident von Eurosolar, Hermann Scheer, gaben am 15. Oktober 1999 eine Pressekonferenz am Rande der Frankfurter Buchmesse. Grass wurde mit dem Literatur-Nobelpreis ausgezeichnet, der SPD-Politiker erhielt den Alternativen Nobelpreis für sei nen „unermüdlichen Einsatz zur Förderung der Solarenergie“. Beide mahnten eine Umkehr in der Energiepolitik an. In einem von Grass gewünschten öffentlichen Gespräch mit dem Verfechter der Solarenergie warfen beide Politikern, Wirtschaftsvertretern und Wissenschaftlern vor, die Zukunft aufgegeben zu haben. Die Entwicklung der zunächst teureren Sonnenenergie werde abgeblockt. der Folge wurde keiner der ursprünglichen Pläne umgesetzt und die Industrie fiel erneut in die zersplitterte Hochrisikoforschung zurück. Als die konservative Reaktion und die Ölschwemme der 1980er-Jahre der Kommerzialisierung der Photovoltaik ein frühes Ende bescherten, wurde ein größtenteils blockierter und überkommener Entwicklungskomplex zurück in die Bedeutungslosigkeit getrieben, während das ursprüngliche mobilisierende Narrativ zunehmend als gestrige Fantasterei gesehen wurde. Trotz mehrerer politischer Bekenntnisse zur wei teren Förderung der Technolo gie wurden erst In Deutschland, Japan und den USA in den frühen 1990er-Jahren in Deutschland, entwickelte sich die Sorge, in der Japan und den USA praktische Neuauflagen der Technologie international zurück Ini tia ti ve nach Cherry Hill in Angriff ge nom men – konsortienförmige Initiativen zur ab ge zufallen und Pioniervorteile aus der stimm ten Hochskalierung der Produktion und Hand zu geben. Nachfrageförderprogramme. Diese Programme waren nicht nur energie- oder umweltpolitisch motiviert. Vielmehr entwickelte sich in allen drei Ländern eine Art Sorge, in der Technologie international zurückzufallen und Pioniervorteile aus der Hand zu geben. Es entstand ein technologiepolitischer Investitionswettlauf, wie man ihn aus der Kernkraft oder der Halbleiterindustrie kennt. Zugleich entstanden seit Ende der 1980er-Jahre insbesondere in Deutschland die Vorläu fer jener grünen Energiepolitik, für die die Bundesrepublik später bekannt werden sollte. 40 Aus der Forschung Entwicklung der grünen Energiepolitik bis heute Blickt man auf Mobilisierungsversuche für die Erweiterung der Förderung der Photovoltaik in allen drei Ländern, waren diese immer wieder von industriepolitischen Versprechen durchsetzt. So sprachen Befürworter von „einem der umsatzstärksten industriellen Märkte des nächsten Jahrhunderts“ oder von der einzigen „Halbleitertechnologie, bei der die Europäische Union gegenwärtig einen Weltmarktanteil von einem Drittel“ innehabe. Kaskadenartig folgte auf ein deutsches 1.000-Dächer-Programm im Jahr 1990 ein japani sches 70.000-Dächer-Programm und wiederum ein deutsches 100.000-Dächer-Programm zum Anschub der Industrie. Einerseits entwickelten Fürsprecher einer grünen Energiepolitik mit der Wiederentdeckung der Technologieförderung eine wesentlich breitere gesellschaftliche Resonanz als mit Verbotsforderungen und ethischen Ermahnungen, Problemen zwischen Kernkraft und Klimawandel entgegenzutreten. Es gelang ihnen, die ökologische Restrukturierung der Energieversorgung als Wachstumsprogramm zu bewerben und nicht länger als Programm aus Verboten und Entsagungen. Statt Umweltpolitik gegen den Markt und wirtschaftliche Staatenkonkurrenz zu organisieren, schuf grüne Technologie langsam Nutznießer einer ökologischen Energieversorgung. Mit der Förderung von Stromeinspeisungen durch das Erneuerbare-Energien-Gesetz seit der Jahrtausendwende wurden Firmengründungen und neue Investitionen in größerem Maßstab Wirklichkeit. In den Jahren 2000 bis 2005 hatten insbesondere Regionen im Süden Deutschlands die Förderung für sich entdeckt. Ostdeutsche Kommunen versuchten sich mithilfe der Photovoltaik industriell neu aufzu stellen. Und beinahe jede etablierte politische Partei zeigte schließlich – zumeist schon vor dem Reaktorunfall von Fukushima – prinzipielle Unterstützung für die Vision. In den letzten zehn Jahren sind die deutschen För der programme in eine tiefe Krise geraten. Statt Umweltpolitik gegen den Global verstrickte sich die nach fünfzig Jah Markt und wirtschaftliche Staaten ren kurz vor der Wirtschaftlichkeit stehende konkurrenz zu organisieren, Industrie auf der Suche nach Startvorteilen – schaffte grüne Technologie lang durchaus plangemäß – in einen ungebremsten Investitionswettlauf. Die Folgen waren Über ka sam Nutznießer einer ökologischen pazitäten und ein enormer Druck auf die Förder Energieversorgung. regime, was zu Förderkürzungen, Preisdruck sowie zu öffentlicher Kritik führte. Zusehends hatte sich eine Abwärtsspirale aus industriellem Verfall, exzessiver Ausbeutung der Förde rung und nach lassender Bestandslegitimität entwickelt. Die mehrjährige öffentliche Diskussion um Schutzzollforderungen europäischer Zellfertiger offenbarte darüber hin aus, dass auch politisch ein Großteil der kooperativen Harmonie der späten 1990er- und frühen 2000er-Jahre im Industriewachstum verflogen war. Die Probleme der deutschen Solarförderung waren gemessen am Umfang des Vorhabens Energiewende durchaus Rückschläge, die im Verlauf komplexer gesellschaftlicher Wandlungsprozesse zu erwarten sind. Überraschen muss es dennoch, wie sich innerhalb von nur drei Jahren ein interna tional symbolträchtiges Leuchtturmprojekt zur Auflösung von Widersprüchen zwischen beschäftigungs-, umwelt- und wirtschaftspolitischen Zielen in einem Regime festsetzen konnte, das all diesen Zielgrößen gleichzeitig entgegenzuwirken schien. Große Hoffnungen und brüchige Koalitionen 41 Innovationspolitik und sektorale Ordnung Die grüne Technologiepolitik ist häufig als eine Art Anschubfinanzierung gesehen worden, die gesellschaftliche Unterstützung für eine ökologische Energieversorgung schaffen sollte. Die zugrundliegende Idee: Mit der Verfestigung neuer Industrien, Geschäftsfelder und Versorgungsstrukturen würden zukünftige politische Initiativen zur ökologischen Umge staltung der Energieversorgung breiter unterstützt werden und leichter durchzusetzen sein. In beiden größeren Unterstützungsinitiativen für die Photovoltaik in Deutschland und den USA stockte dieser Kreislauf. Zwar banden die jeweiligen Fördermaßnahmen wie geplant neue Interessen an die Technologie, gleichzeitig jedoch verringerten sie die politi sche Agilität und Flexibilität des Sektors. Im politisch angestoßenen Wachstum der Industrie entstanden neue Koordinierungser fordernisse, denen nur bedingt mit dem Aufbau neuer regulativer Strukturen begegnet wurde. Debatten um die Unterstützung der Industrie entbrannten vor allem über die Höhe der Leistungen, die man ihr zubilligen sollte. In den seltensten Fällen zielte die Diskussion darauf ab, wie sich die Solarförderung halbwegs effektiv implementieren und vor allem legitimatorisch durchhalten lassen könnte. Es fehlten viel mehr eine kontinuierlich effek tive Umsetzung der Förderpläne, regelmäßige Signale, dass Fördermittel nicht verpufften, und ein Minimum an sektoraler Problemlösungsfähigkeit. Dadurch ließen sich politische Unterstützungsprogramme nur schwer kontinuierlich durchhalten. Timur Ergen Timur Ergen ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er studierte Politikwissenschaft, Soziologie und Volkswirtschaftslehre an der RWTH Aachen und wurde im Oktober 2014 an der Universität zu Köln promoviert. Forschungsinteressen: industrielle Organisation; Politische Ökonomie; Technologie politik; Wirtschaftssoziologie. Zum Weiterlesen ABELSHAUSER, W.: Der Traum von der umweltverträglichen Energie und seine schwie Doktorgrades der Philosophie. Ludwig- rige Verwirklichung. Vierteljahreshefte für Maximilians-Universität, München 2000. Sozial- und Wirtschaftsgeschichte 101(1), 49–61 (2014). 42 Inaugural-Dissertation zur Erlangung des RADKAU, J.: Von der Kohlenot zur Solaren Vision: Wege und Irrwege bundesdeutscher MENER, G.: Zwischen Labor und Markt: Energiepolitik. In: Schwarz, H.-P. (Hg.), Die Geschichte der Sonnenenergienutzung in Bundesrepublik Deutschland: Eine Bilanz Deutschland und den USA, 1860–1986. nach 60 Jahren. Böhlau, Köln 2008, 461–86. Aus der Forschung Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten? Haushaltsüberschüsse im internationalen Vergleich Lukas Haffert 2014 erzielte die Bundesregierung den ersten ausgeglichenen Bundeshaushalt seit 1969. Mit die ser „schwarzen Null“ verbinden sich große Hoffnungen: Endlich wieder seien Investitionen in die öffentliche Infrastruktur, in Bildung, Forschung und Familien möglich, die lange Zeit ausgeblieben sind. Doch wie berechtigt ist dieser Optimismus? Eine Untersuchung von Ländern, die dauerhaft Haushaltsüberschüsse erwirtschaften, bietet Anlass zu Skepsis. Der Rückgang staatlicher Handlungsfähigkeit und die Suche nach politischen Antworten In fast allen entwickelten Demokratien geht die Handlungsfähigkeit des Staates seit Jahren zurück. Es festigt sich der Eindruck, politische Entscheidungen seien immer öfter das Ergebnis unverrückbarer Sachzwänge. Solche Zwänge untergraben die fundamentale Voraussetzung der Demokratie, nämlich die Möglichkeit, eine Wahl zwischen verschiede nen Alternativen zu haben. Wo der Sachzwang herrscht, ist keine Wahl mehr zu treffen. Vor diesem Hintergrund ist es ein enorm wichtiges Ziel, den Spielraum für politische Optionen wiederherzustellen. Wie aber ist dies zu bewerkstelligen? Eine insbesondere in Deutschland sehr populäre Strategie sieht die Lösung hierfür in einer nachhaltigen Konsolidierung der öffentlichen Haushalte und dem Erwirtschaften dauer hafter Überschüsse. Ihre Logik basiert auf einem einfachen Umkehrschluss: Wenn eine Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten? 43 steigende Verschuldung zu einer sinkenden Handlungsfähigkeit führt, muss eine sinkende Verschuldung einen Wiederanstieg derselben nach sich ziehen. Gelingt es also, fiskalische Manövriermasse zurückzugewinnen, kann auch wieder zwischen politischen Alternativen entschieden werden. Diese Strategie kann man als „progressive Konso lidierungsthese“ bezeichnen. Ein Abbau der Staats Sachzwänge untergraben eine verschuldung ist demnach kein Zweck an sich, fundamentale Voraussetzung der sondern ein Mittel zum Zweck, nämlich zur Wie Demokratie: die Wahl zwischen der gewinnung staatlicher Gestaltungsfähigkeit. Konsolidierungen sind also nur ein erster Schritt verschiedenen Alternativen. und sollen es ermöglichen, die nötigen finanziel len Ressourcen für die eigentlichen Politikziele aufzubringen. Diese eigentlichen Ziele sind dann vor allem Programme, die Zukunftschancen schaffen, statt für die Lasten der Vergangenheit aufzukommen. Konkret dienen diesem Zweck vor allem „harte“ und „wei che“ Investitionen: einerseits in die öffentliche Infrastruktur, andererseits in die Bürgerin nen und Bürger eines Landes, also in Bildung, Forschung und Familien. Erlauben Überschüsse die Wiedergewinnung staatlicher Handlungsfähigkeit? Besonders gute Voraussetzungen für das Gelingen einer progressiven Konsolidierung scheinen Länder mit dauerhaften Haushaltsüberschüssen zu haben. Solchen Ländern gelingt es nämlich nicht nur, ihre Einnahmen und Ausgaben auszugleichen und das Wachstum der Staatsverschuldung zu stoppen. Vielmehr können sie die Verschuldung sogar deutlich senken. Damit nimmt auch ihre Zinslast erheblich ab, wodurch sich neue, substanzielle fiskalische Spielräume eröffnen. Zudem sind Überschussländer weniger auf das Wohlwollen der Finanzmärkte angewiesen. Die Voraussetzungen für eine Befreiung vom Diktat des politischen Sachzwangs sind dort also sehr günstig. Darüber hinaus sind Haushaltsüberschüsse ein empirisch weitaus relevanteres Phänomen, als man intuitiv vermuten mag. So erzielten die meisten entwickelten Demokratien in den vergangenen drei Jahrzehnten zwar gelegentlich eine „schwarze Null“. In der Regel verloren sie diese aber auch rasch wieder. Das bekannteste Beispiel dafür dürfte der in den Jahren 1998 bis 2000 erwirtschaftete und verlorene Haushaltsüberschuss der Regierung Clinton sein. Sechs Ländern jedoch gelang es, ihre Haushalte für mehr als ein Jahrzehnt fast permanent in den Sechs Staaten erzielten für mehr als schwarzen Zahlen zu halten, nämlich Australien, ein Jahrzehnt Überschüsse. na da, Neuseeland und Dänemark, Finnland, Ka Schweden. All diese Länder wiesen noch zu Beginn der 1990er-Jahre erhebliche Defizite aus. Sie reagierten darauf mit umfassenden fiskalischen Konsolidierungsanstrengungen, glichen ihre Haushalte aus und bewahrten die Überschüsse bis zum Ausbruch der Weltfinanzkrise im Jahr 2008 (Abb. 1). 44 Aus der Forschung Entwicklung des Haushaltssaldos in sechs Überschussländern Abb. 1 Prozent des BIP 6 4 2 0 –2 –4 –6 –8 – 10 – 12 1990 1992 Finnland Schweden Dänemark 1994 1996 1998 2000 2002 2004 2006 2008 Australien Neuseeland Kanada Quelle: OECD Economic Outlook No. 92; eigene Berechnung. Wie aber haben diese Länder ihre neu gewonnenen fiskalischen Spielräume genutzt? Haben sie Steuern gesenkt? Staatsausgaben erhöht? Wenn ja, in welchen Bereichen? Bei der Beantwortung dieser Fragen liegt ein besonderes Augenmerk auf der staatlichen Gestaltungstätigkeit: Wenn sich die Hoffnungen der Konsolidierungsbefürworter erfüllen, dann sollte in diesen Ländern ein deutlicher Wiederanstieg der öffentlichen Investitionen in die öffentliche Infrastruktur und die Bürgerinnen und Bürger zu beobachten sein. Ein Anstieg der Gestaltungsausgaben bleibt aus Die Ergebnisse der empirischen Untersuchung können jedoch nur als ernüchternd bezeichnet werden. Dies zeigt insbesondere die Entwicklung der Nettokernausgaben, also die Entwicklung der gesamten Staatsausgaben abzüglich sämtlicher Zinskosten und der Ausgaben des Wohlfahrtsstaates. Sie erlauben damit einen Einblick in die Entwicklung der staatlichen Gestaltungsfähigkeit, verstanden als die Fähigkeit, zukunftsorientierte Ausgaben zu tätigen. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung dieser Ausgaben in den ersten zehn Überschussjahren und den vorausgehenden Konsolidierungen. Dabei steht das mit der Zahl 1 bezeichnete Jahr für das jeweils erste Jahr im Überschuss. Der für dieses Jahr abgebildete Wert ent Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten? 45 Durchschnittliche Entwicklung der Nettokernausgaben der Überschussländer Abb. 2 Prozent des BIP 30 28 26 24 22 20 Jahre vor und nach erzieltem Überschuss –4 –3 –2 –1 0 1 2 3 4 5 6 7 8 9 10 Quelle: OECD Economic Outlook No. 92; eigene Berechnung. spricht also dem Durchschnitt dessen, was die einzelnen Länder in ihrem jeweils ersten Überschussjahr, in Kanada zum Beispiel im Jahr 1997 und in Schweden im Jahr 1998, an Nettokernausgaben tätigten. Sowohl in Dänemark, Finnland und Schweden als auch in Australien, Kanada und Neuseeland war Den sechs Ländern gelang es die Haushaltskonsolidierung, die dem Überschuss nicht, ihre Zusatzeinnahmen vorausgegangen war, mit erheblichen Kürzungen für eine spürbare Erhöhung der der Nettokernausgaben verbunden. Damit erfolg te der Abbau des Defizits also fast ausschließlich Nettokernausgaben zu nutzen. auf der Ausgabenseite des Haushalts. So kürzte beispielsweise der kanadische Bundesstaat seine Ausgaben in nur vier Jahren von 120,0 auf 108,8 Milliarden Kanadische Dollar. Nach Überwindung der Defizite kehrte sich dieser Trend dann aber nicht etwa um, sondern setzte sich sogar weiter fort: Statt wieder anzu steigen, gingen die Nettokernausgaben weiterhin leicht zurück. Hinter diesem grafischen Eindruck (Abb. 2) verbirgt sich ein Zusammenhang, der auch statistisch abgesichert werden kann. Selbst wenn man die Überschussländer mit anderen Ländern vergleicht und dabei den Einfluss zusätzlicher Faktoren wie Globalisierung und Demografie berücksichtigt, bleibt die Entwicklung der Investitionsausgaben enttäu schend. Trotz häufig wiederholter Absichtserklärungen gelang es den sechs Ländern nicht, ihre Zusatzeinnahmen für eine spürbare Erhöhung der Nettokernausgaben zu nutzen. Ganz Ähnliches gilt auch für die harten Infrastrukturinvestitionen und die weichen Investitionen in Bildung, Forschung und Familien: All diese Ausgaben wurden während der Konsolidierungsphase deutlich gekürzt, im Überschuss aber nicht wieder erhöht. 46 Aus der Forschung Konsolidierungen verändern den politischen Entscheidungskontext Der Befund, dass selbst lang anhaltende Über schüsse nicht mit einem spürbaren Wiederanstieg der öffentlichen Investitionstätigkeit verbunden Konsolidierungsphase prägten waren, wirft unmittelbar die Frage nach den auch die Fiskalpolitik der Über Grün den für diese Entwicklung auf. Wie die schussperiode. genauere Unter suchung der einzelnen Länder zeigt, blieb die Fiskalpolitik der Überschussländer stark von Weichenstellungen geprägt, die im Konsolidierungszeitraum getroffen worden waren. Entscheidungen der Konsolidierung setzten sich folglich in der Fiskalpolitik der Überschussperiode fort und bedingten diese. Sie stärkten bestimmte Interessengruppen und deren politischen Ziele und schwächten deren Konkurrenten. Die Art und Weise, wie ein Überschuss entstand, hatte also Auswirkungen darauf, wie er verwendet wurde. Die Weichenstellungen in der Das lag in erster Linie an der konkreten Ausgestaltung der Konsolidierungsmaßnahmen. Diese erreichten nicht nur ein enormes Ausmaß, vielmehr kam es daneben auch zu grundlegenden politischen und institutionellen Reformen, die ein dauerhaftes Regime sparsamer und risikoscheuer Fiskalpolitik etablierten. Vor allem aber vollzogen sich die einzelnen politischen Veränderungen nicht unabhängig voneinander, sondern verstärk ten sich gegenseitig: Neue Vorstellungen von guter Fiskalpolitik lösten institutionelle Reformen aus, diese veränderten die politischen Maßnahmen, die sich wiederum auf die Struktur der politischen Interessen auswirkten. Veränderte politische Interessen beein flussten sodann das strategische Kalkül der Parteien, die neue institutionelle Reformen auf den Weg brachten. Letztlich blieben diese Reformen auch nach dem erfolgreichen Abschluss der Konsolidierung wirksam. Die Haushaltskonsolidierung wurde damit zu der entscheidenden Weggabelung: Die Reformen beschränkten den politischen Spielraum bei der Verwendung der Überschüsse, indem sie ein neues „Überschussregime“ etablierten, das der Bewahrung ausgeglichener Haushalte durch fortgesetzte Sparsamkeit einen klaren Vorrang vor größeren Investitionen einräumte. Die „schwarze Null“ ist kein Zeichen zurückkehrenden Überflusses Eine „schwarze Null“ ist demnach nicht mit wach sender fiskalpolitischer Handlungsfähigkeit gleich zusetzen. Die Verteilung der Überschüsse erfolgt die zunehmende Erosion staatlicher unter nicht weniger großen politischen Zwängen Gestaltungsfähigkeit weder stoppen als die Verteilung von Konsolidierungslasten. Und noch umkehren. die Interessengruppen und Politikfelder, die beson ders umfangreiche Sparmaßnahmen verkraften müssen, haben eine sehr schlechte Ausgangsposition, um vom Haushaltsplus zu profitie ren. Mit Überschüssen allein ist die zunehmende Erosion staatlicher Gestaltungsfähigkeit also weder gestoppt noch gar umgekehrt. Mit Überschüssen allein lässt sich Freiheit von Schulden – Freiheit zum Gestalten? 47 Vor diesem Hintergrund sind zukünftige deutsche Haushaltsüberschüsse zurückhaltend zu bewerten. Denn angesichts der Tatsache, dass keinem der untersuchten Länder ein Wiederausbau der Gestaltungsausgaben gelang, ist es unwahrscheinlich, dass ausgerech net Deutschland seine Investitionstätigkeit bei gleichzeitigem Schuldenabbau spürbar wird erhöhen können. Dies wäre wohl nur möglich, wenn die dafür nötigen Mittel durch Steuererhöhungen oder eine Kürzung anderer Staatsausgaben generiert werden können – und mit beidem ist bis auf Weiteres nicht zu rechnen. Vielmehr macht die Existenz eines Überschusses solche Schritte sogar zunehmend unwahrscheinlich. Lukas Haffert Lukas Haffert ist seit Juli 2015 Oberassistent am Institut für Politikwissenschaft der Universität Zürich. Von 2010 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Danach arbeitete er ein Jahr am Europäischen Hochschulinstitut in Florenz. Haffert studierte Volkswirtschaftslehre in Münster und St. Gallen und wurde im Juli 2014 an der Universität zu Köln promoviert. Für seine Doktorarbeit erhielt er 2015 die Otto-Hahn-Medaille der Max-Planck-Gesellschaft. Forschungsinteressen: Politische Ökonomie; Fiskalpolitik; Staatstätigkeitsfor schung; Institutionentheorie. Zum Weiterlesen HAFFERT, L.: Freiheit von Schulden – Freiheit HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: Haushalts zum Gestalten? Die Politische Ökonomie überschüsse, konservative Parteien und von Haushaltsüberschüssen. Schriften aus das Trilemma der Fiskalpolitik. Politische dem Max-Planck-Institut für Gesellschafts Vierteljahresschrift 55(4), 699–724 (2014). forschung, Bd. 84. Campus, Frankfurt a.M. 2015. HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: From Austerity to Expansion? Consolidation, Budget Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity. Politics & Society 43(1), 119–148 (2015). 48 Aus der Forschung Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat Philip Mehrtens Wie kann es in einem entwickelten Industrieland mit einem ausgebauten Sozialstaat gelingen, die öffentliche Verschuldung in kurzer Zeit und in großem Umfang zu reduzieren? Was sind die gesell schafts- und sozialpolitischen Folgen einer Haushaltskonsolidierung und wie stellt sich die Politik nach einer überwundenen Schuldenkrise in Zeiten regelmäßiger Überschüsse dar? Die Entwicklung in Schweden gibt Antworten auf die hier aufgeworfenen Fragen. Die Verschuldung der öffentlichen Haushalte liegt in den entwickelten westlichen Ländern heute im Durchschnitt bei über einhundert Prozent des Bruttoinlandsprodukts. Der Schuldenstand übertrifft damit die gesamte jährliche Wirtschaftsleistung der Volkswirt schaften und steigt vor allem durch die jüngsten staatlichen Bankenrettungsmaßnahmen weiter an. Enorme Staatsschulden und insbesondere schnell ansteigende Defizite können den Hand lungsspielraum einer Regierung beschneiden und starken strukturellen Problemdruck erzeugen. Politik findet dadurch häufig in einem Kontext anhaltender Austerität statt: Sie wandelt sich von der proaktiven Gestaltung der Gesellschaft durch staatliche Ausgaben hin zur Durchsetzung von Sparmaßnahmen. Aufgrund der ökonomischen und demogra fischen Bedingungen zeichnet sich in den meisten Ländern kein einfacher Ausweg aus der gegenwärtigen Verschuldungspraxis ab. Vor diesem Hintergrund verspricht die Analyse eines Landes, das eine solche Wirtschafts- und Schuldenkrise bereits überwunden hat, besonders interessante und vielversprechende Erkenntnisse. Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat 49 Schweden – ein Musterland? Schweden war in den 1980er- und den 1990er-Jah ren mit ähnlichen Haushaltskrisen konfrontiert. Politik in anhaltender Austerität Trotzdem gilt Schweden gemeinhin als reiches wandelt sich von der proaktiven und vorbildhaftes Musterland mit einem hohen Gestaltung der Gesellschaft durch Lebensstandard, dem es gelingt, wirtschaftliche Prosperität und eine zufriedene Bevölkerung mit staatliche Ausgaben hin zur hoher Einkommens- und Chancengleichheit zu Durchsetzung von Sparmaßnahmen. vereinbaren. Als zentrale Gründe dafür gelten unter anderem der ausgebaute Wohlfahrtsstaat mit seinem großen öffentlichen Sektor und die weitreichende Umverteilung durch hohe Steuersätze. Die zwei schweren Staatsschuldenkrisen haben Schweden jedoch tiefgreifend verändert. Durch einschneidende Antikrisenmaßnahmen und strukturelle Reformen ist es den schwedischen Regierungen mittlerweile zwar gelungen, neue Wachstumsimpulse zu setzen und zweistellige Defizite in regelmäßige Haushaltsüberschüsse zu verwandeln; diese haben allerdings ihren Preis und so zeigt der schwedische Staat heute ein anderes sozial- und gesellschaftspolitisches Gesicht. Die Stagflationskrise In Schweden endete gegen Mitte der 1970er-Jahre die goldene Nachkriegszeit dauerhafter Prosperität (Abb. 1). Die schwedische Politik war mit einer doppelten Krise konfrontiert. Strukturelle Probleme in der Wirtschaft und bei der Lohnfindungspolitik bewirkten eine sogenannte Stagflation, also steigende Inflationsraten bei einem gleichzeitig gerin gen Wachstum. Bürgerliche und sozialdemokratische Regierungen begegneten dem Stagflationsdilemma zunächst auf die klassisch keynesianische Weise mit schuldenfi nanzierten staatlichen Ausgabensteigerungen und wiederholten Abwertungen der Krone. Diese führten zu öffentlichen Defiziten und einer schnell ansteigenden Staatsverschuldung. Nachdem sich die Situation Anfang der 1980er-Jahre nicht besserte, reagierten die Politiker, indem sie den zuvor betriebenen Ausbau des öffentlichen Sektors zu bremsen versuchten. Sie hielten jedoch an der grundsätzlichen wirtschafts- und arbeitsmarktpoli tischen Ausrichtung fest, deren wichtigstes Ziel das Vollbeschäftigungsversprechen blieb. Letztlich gelang es, den Schuldenstand vor allem aufgrund der starken Inflation und einer auf der Exportindustrie basierenden Wachstumsstrategie zu konsolidieren. Wichtige Strukturreformen umfassten die Deregulierung der Finanzmärkte und eine Verschiebung der Steuerlast hin zu indirekten Konsumsteuern. Die Finanz- und Immobilienkrise Obwohl die Wirtschafts- und Haushaltsprobleme zunächst gelöst waren, geriet Schweden zu Beginn der 1990er-Jahre in eine zweite und noch verheerendere Wirtschafts- und Finanzkrise. Durch das Platzen einer Spekulationsblase auf dem Kredit- und Immo bilienmarkt, gepaart mit der tiefsten und längsten wirtschaftlichen Rezession seit den 50 Aus der Forschung 90 Abb. 1 Saldo Schulden Staatsschulden und Finanzierungssaldo als Anteil des schwedischen Bruttoinlandsprodukts in Prozent Goldenes Zeitalter Krise I Krise II Sparpolitik 8 80 6 70 4 2 60 0 50 –2 40 –4 30 –6 20 –8 10 –10 0 –12 1970 1975 1980 1985 1990 1995 2000 2005 2010 Quelle: OECD Economic Outlook Database. 1930er-Jahren, drohte das gesamte schwedische Finanz- und Bankensystem aus den Fugen zu geraten. Arbeitslosigkeit und Staatsverschuldung stiegen sprunghaft an. In wenigen Jahren verdoppelten sich die öffentlichen Verbindlichkeiten auf fast 85 Prozent des Bruttoinlandsprodukts und die Arbeitslosenquote verfünffachte sich auf über 11 Prozent. Die Krise wurde zusätzlich durch das hohe Zinsniveau verschärft, mit dem die Zentralbank versuchte, das System fester Wechselkurse aufrechtzuerhalten und eine Abwertung der Krone zu verhindern. Durch einen beispiellosen nationalen Kraftakt und einschneidende Reformen ist es der schwedi schen Politik schließlich gelungen, die Banken zu sende Antikrisenpakete und erreich stabilisieren, den Export und damit die Wirtschaft te eine größtmögliche und relativ zu beleben und zweistellige Haushaltsdefizite in faire Lastenverteilung. regelmäßige Überschüsse zu verwandeln. Im Ver gleich zu ähnlichen Krisensituationen in anderen Ländern fallen bei der schwedischen Haushalts konsolidierung insbesondere drei Aspekte auf: die lagerübergreifende Zusammenarbeit von Regierung und Opposition, die hohe Transparenz der Reformmaßnahmen und die Beteiligung möglichst aller Bevölkerungsgruppen an den Kosten. So vermied das Land eine Verschleppung der Krise durch politisches Taktieren, verabschiedete umfassende Antikrisenpakete und erreichte eine größtmögliche und relativ faire Lastenverteilung. Schweden verabschiedete umfas Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat 51 Die Grundprinzipien des schwedischen Wohlfahrtsstaates blieben von der Austeritätspolitik unbe rührt. Dennoch wurden konstitutive Merkmale des schwedischen Modells wie etwa das Vollbeschäf tigungsziel zugunsten der Geldwertstabilität aufgegeben. Kehrseite dieser Reform ist eine bis heute anhaltende, hohe Sockelarbeitslosigkeit. Paradigmatische Verschiebungen Dennoch wurden konstitutive Merkmale des schwedischen Modells wie das Vollbeschäf tigungsziel zugunsten der Geldwertstabilität aufgegeben. Weitere institutionelle Reformen umfassten den Beitritt zur Europäischen Union, die Einführung einer unabhängigen halts Zentralbank, eine grundlegende Rentenreform und eine deutlich striktere Haus politik. Unter anderem schreibt diese eine rigide mehrjährige Ausgabendeckelung und ein Überschussziel gesetzlich fest. Trotz dieser weitreichenden Strukturreformen und teilweise erheblicher Kürzungen der Sozialausgaben blieben die Grundprinzipien des schwedischen Wohlfahrtsstaates auf dem Höhepunkt der Finanzkrise Mitte der 1990er-Jahre von der Austeritätspolitik unberührt. Weiterhin gab es eine universelle soziale Absicherung für alle Bürgerinnen und Bürger, die durch Steuern und Abgaben und nicht durch private Sozialversicherungen finanziert wurde. Allerdings gab es in allen relevanten Politikfeldern durch die Krisenmaßnahmen tiefgreifende Refor Tiefgreifende Reformen haben men, die die Prioritäten der Staatstätigkeit ver die Prioritäten der Staatstätigkeit schoben haben. Es kann von einer paradigmati verschoben: Die Haushaltsdisziplin schen Wende gesprochen werden, nach der Haus haltsdisziplin Vorrang vor Umverteilung hat. Zwar hat nun Vorrang vor einer gelang es so, die dramatische Schuldenkrise unter Umverteilung. Kontrolle zu bringen und den Staatshaushalt zu sanieren. Die Kehrseite dieser Reformen wird aber vor allem durch eine anhaltend hohe Sockelarbeitslosigkeit und Dualisierungstendenzen auf dem Arbeitsmarkt deutlich. 52 Aus der Forschung Sparen ohne finanzielle Notwendigkeit Das strikte Haushaltsregime führt Schweden bis heute fort, obwohl die Schuldenkrise lange überwunden ist und die Staatsverschuldung seit vielen Jahren kontinuierlich abge baut wird. Selbst die schwere globale Finanz- und Wirtschaftskrise im Jahr 2009, von der auch Schweden stark betroffen war, hat nichts daran geändert. Der schwedische Staat erzielt jedes Jahr einen strukturellen Primärüberschuss. Anders als viele andere europä ische Länder, die unter Rekordschuldenständen ächzen und die öffentlichen Ausgaben kürzen müssen, hat Schweden eine sehr geringe Staatsverschuldung. Theoretisch könnte das Land problemlos mehr in seine Infrastruktur oder sein Bildungssystem investieren – tut dies jedoch nicht, sondern spart weiter. Obwohl der schwedische Staat jedes Jahr mehr Geld einnimmt, als er ausgibt und finanzi ell glänzend dasteht, nutzt er den zurückgewonnen finanziellen Spielraum nicht für poli tische Maßnahmen zur stärkeren Gestaltung der Gesellschaft etwa durch höhere Staats ausgaben oder eine Ausweitung der Sozialpolitik. Stattdessen zieht sich der Staat immer weiter aus Wirtschaft und Gesellschaft zurück, hält das Sparregime auch Jahre nach der Krise aufrecht und verwendet die Überschüsse für den Schuldenabbau und wiederholte Steuersenkungen. Diese ohne finanzpolitische Notwendigkeit scheinbar paradoxe Sparpolitik hat über die letz ten beiden Dekaden eine schleichende Libera hat eine schleichende Liberalisierung li sie rung und Privatisierung insbesondere in und Privatisierung des schwedischen den Dienstleistungssektoren des schwedischen Wohlfahrtsstaates bewirkt. Wohl fahrts staates bewirkt. Die sozioökonomi schen Folgen des staatlichen Rückzugs markieren eine Risikoverlagerung vom Staat und der Solidargemeinschaft auf den Markt und das Individuum. Kinderbetreuung, schulische Bildung, gesundheitliche Absicherung oder die Rente hängen in Schweden immer stärker vom persönlichen Einkommen, individueller Vorsorge und dem Bildungsgrad der Schwedinnen und Schweden ab. Der Staat garantiert nicht mehr ein gleichermaßen hohes Niveau sozialer Sicherung für alle Bürgerinnen und Bürger. Während sich die Finanzsituation des schwedischen Staates jedes Jahr verbessert, sinken die öffentlichen Renten, die Arbeitslosenquote verbleibt auf einem hohen Niveau und die Einkommensungleichheit steigt seit Jahrzehnten schneller als in den meisten europäischen Ländern. Die scheinbar paradoxe Sparpolitik Schweden heute Heute befindet sich Schweden in einem ambivalenten Zustand. Einerseits sind die Steuersätze, die Staatsquote und die soziale Sicherung im internationalen Vergleich immer noch sehr hoch. Andererseits sind sie im letzten Jahrzehnt aber auch besonders schnell und stark gesunken. Angesichts der Entwicklungen ist es fraglich, ob Schweden unein geschränkt als Vorbild für eine erfolgreiche Haushaltskonsolidierung dienen kann. Zwar Staatsschulden und Staatstätigkeit im schwedischen Sozialstaat 53 ist es zutreffend, dass Schweden die schwere Krise in den 1990er-Jahren relativ schnell gelöst hat, allerdings geht dies einher mit einem Rückgang der gesellschafts- und sozial politischen Ambitionen des Staates. Steuerliche Entlastungen kommen vor allem den Wohlhabenden zugute. Dennoch genießt das Überschussregime in beiden politischen Lagern hohe Legitimation. Weder regierende Sozialdemokraten noch die bürgerliche Opposition stellen die Sparpolitik ernsthaft infrage. Eine Umkehr dieses Entwicklungstrends ist daher auch vor dem Hintergrund der Finanz- und Schuldenkrisen in weiten Teilen Europas und der poli tischen Ausgangslage in Schweden eher unwahrscheinlich. Philip Mehrtens Philip Mehrtens ist seit 2009 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er studierte Politikwissenschaft und Sozialpolitik an der Universität Bremen und wurde 2013 an der Universität zu Köln promoviert. Forschungsinteressen: politische Ökonomie; vergleichende Sozialpolitikforschung; Fiskalpolitik; institutioneller Wandel. Zum Weiterlesen MEHRTENS, P.: Staatsschulden und HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: Haushalts Staatstätigkeit: Zur Transformation überschüsse, konservative Parteien und der politischen Ökonomie Schwedens. das Trilemma der Fiskalpolitik. Politische Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Vierteljahresschrift 55(4), 699–724 (2014). Gesellschaftsforschung, Bd. 80. Campus, Frankfurt a.M. 2014. 54 SVALLFORS, S.: Politics as Organized Combat: New Players and New Rules of the Game in HAFFERT, L. & MEHRTENS, P.: From Austerity Sweden. MPIfG Discussion Paper 15/2. Max- to Expansion? Consolidation, Budget Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Surpluses, and the Decline of Fiscal Capacity. Köln 2015. Politics & Society 43(1), 119–148 (2015). www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp15-2.pdf Aus der Forschung Varianten der Finanzialisierung Was treibt und was bremst die private Verschuldung in Deutschland? Daniel Mertens Niedrige Zinsen der Europäischen Zentralbank, massenweise Kreditangebote im Internet, NullProzent-Finanzierungen im Handel: Für Privatpersonen war es selten so leicht, einen Kredit aufzu nehmen. Warnungen vor einem Konsumrausch und möglichen Kreditblasen ignorieren jedoch die Komplexität des Phänomens. Aus dem Blickwinkel der Politischen Ökonomie werden die Zusam menhänge klarer. Die Finanzkrise war in vielerlei Hinsicht ein Ereignis mit Enthüllungskraft. Licht fiel dabei auch auf den lange Zeit unbeachteten oder doch zumindest unterschätzten Anstieg privater Verschuldung. Insbesondere in den USA, aber auch in einigen europäischen Ländern hatte dieser Anstieg zunächst die Wohnungsmärkte, dann ganze Finanzsysteme und Volkswirtschaften an den Rand des Abgrunds oder darüber hinaus gebracht. Die nun folgende Welle an Privatinsolvenzen und Hausräumungen in Ländern, in denen die Immobilienblasen platzten, verstärkte dabei das verbreitete Bild, private Verschuldung und Überschuldung gehörten zusammen wie Tag und Nacht. Allerdings verstellte dies man cherorts den Blick darauf, dass der Kredit an private Haushalte längst zu einem zentralen Moment kapitalistischer Vergesellschaftung geworden war. So ist das enorme Wachstum von Immobilien- und Konsumentenkrediten während der vergangenen dreißig bis vierzig Jahre ein Kernelement der sogenannten Finanzialisierung. Damit ist – grob gesprochen – ein Prozess gemeint, durch den Finanzaktivitäten, Varianten der Finanzialisierung 55 Privatverschuldung in der OECD, 1995–2010 Abb. 1 Privatverschuldung in Prozent des BIP 110 100 90 80 70 60 50 40 30 20 10 1995 1997 Großbritannien USA Deutschland OECD Mittelwert 1999 2001 2003 2005 2007 2009 Schweden Spanien Frankreich Italien Quellen: OECD Financial Balance Sheets; OECD Economic Outlook No. 95; eigene Berechnung. -interessen und -motive eine Bedeutungszunahme in Politik, Wirtschaft und Gesellschaft erfah Das enorme Wachstum von ren. Unklar ist allerdings, inwiefern sich die Immobilien- und Konsumenten ser Prozess zwischen den Ländern des OECDkrediten ist ein Kernelement der Wirtschaftsraumes unter scheidet und durch welche institutionellen Bedingungen spezifische Finanzialisierung. Varianten der Finanzialisierung entstehen. Mit Blick auf die Entwicklung privater Verschuldung sticht der deutsche Fall besonders hervor. Abbildung 1 zeigt für eine Reihe von Ländern den Anstieg der Verbindlichkeiten privater Haushalte, wobei die Schulden deutscher Haushalte seit Beginn der 2000er-Jahre entgegen dem internationalen Trend zurückgegangen sind. Auch nach der Finanzkrise stagnierte das Kreditvolumen gemessen an der Wirtschaftsleistung und wirft Fragen nach dem Umfang der Finanzialisierung hiesiger Privathaushalte auf. Das langfristige und durchaus dynamische Schuldenwachstum bis Ende der 1990er-Jahre macht Erklärungen nach dem Muster „Das war in Deutschland schon immer so“ allerdings höchst unplausibel. Wie also lässt sich stattdessen die Kreditentwicklung erklären? 56 Aus der Forschung Was eine Politische Ökonomie der Privatverschuldung leistet Private Verschuldung ist auf das Engste mit gesellschaftlichen Regelsystemen, politischen Weichenstellungen und wirtschaftlicher Entwicklung verknüpft und kann nicht allein als Ergebnis vereinzelter Konsum- und Investitionsentscheidungen verstanden werden. Eine ganze Reihe von Forschungsbeiträgen hat für die lange Phase der US-amerikanischen Kreditexpansion diese Prämissen unterstrichen, indem sie die Rolle der privaten Verschuldung in der Entwicklung des dortigen Sozial- und Wirtschaftsmodells herausge stellt und dessen Rückwirkungen auf das Kreditvolumen offengelegt hat. Politökonomische Konzepte wie das des privatisierten Keynesianismus oder des finanzdominierten Akkumulationsregimes betonen dabei das systematische Zusammenspiel verschiedener institutioneller Teilbereiche, die gemeinsam zu einem außerordentlichen Anstieg der Privatverschuldung in den USA beigetragen haben – mit entsprechenden Parallelen in anderen entwickelten Ländern. Im Kern lassen sich fünf dieser Teilbereiche benennen, die die Verschuldungsbereitschaft und Verschuldungsmöglichkeiten privater Haushalte bedin gen: das Finanzsystem, das währungs- und wirtschaftspolitische Regime, der Arbeitsmarkt, der Wohlfahrtsstaat und der Wohnungsmarkt (Abb. 2). Eine Politische Ökonomie der Privatverschuldung muss dabei die Dynamik verschuldungsrelevanter Institutionen in den Blick nehmen, unabhängig davon, ob sie aus ihnen selbst entspringt oder Folge sich wan delnder Kräfteverhältnisse und historischer Ereignisse ist. Privatverschuldung im deutschen Modell Im Gegensatz zu den USA und vielen anderen Ländern war das deutsche Wirtschafts- und Das deutsche Wirtschafts- und Sozialmodell, wie es sich in der Nachkriegszeit Sozialmodell der Nachkriegszeit etablierte, viel stärker von der Entwicklung des basierte auf einer Politik, die Exportsektors abhängig. Damit basierte es auf einer Sparen und Investitionen stets mehr Politik, die Sparen und Investitionen stets mehr förderte als Leihen und Konsum. Die umfang förderte als Leihen und Konsum. reiche fiskalische Förderung des privaten (Bau-) Sparens, die frühe Festigung eines Mietwohnungsmarktes, die strikt an Außenwirtschaft und Preisstabilität orientierte Politik der Bundesbank oder die industriepolitisch ausgerichtete Regulierung des deutschen Finanzsystems – all dies sind wichtige Anhaltspunkte für einen in der Tendenz restriktiveren Umgang mit dem privaten Kredit. Doch auch diese oftmals ineinandergreifenden Elemente des deutschen Modells befan den sich immer in Bewegung, sodass ihr Einfluss auf die private Verschuldung variierte und von den ökonomischen und politischen Zeichen der Zeit mitbestimmt wurde. So begann die Expansion des Kreditgeschäfts mit Privathaushalten Ende der 1960er-Jahre, als der damalige Wirtschaftsminister Karl Schiller im Zuge der ersten Nachkriegsrezession die Zinsen liberalisierte und das Wettbewerbsverbot für den Bankensektor aufhob. Die nur wenig später erfolgte Liberalisierung der Genossenschaftsbanken erweiterte die Verschuldungsmöglichkeiten der Haushalte zusätzlich und bescherte dem deutschen Finanzsektor Mitte der 1970er-Jahre Freiheitsgrade wie sie damals nur die Schweiz kannte. Auch die 1990er-Jahre waren von einer massiven Ausweitung des Kreditgeschäfts bestimmt, zunächst durch die direkten Effekte des Wiedervereinigungsbooms, im Anschluss daran Varianten der Finanzialisierung 57 Die institutionellen Grundlagen privater Verschuldung Abb. 2 Finanzsystem Wohnungsmarkt Verschuldungsbereitschaft und Verschuldungsmöglichkeit privater Haushalte Wohlfahrtsstaat Währungsund wirtschaftspolitisches Regime Arbeitsmarkt vor allem aber durch dessen politische Verarbeitung: Privatisierungen und eine nie dage wesene staatliche Förderung von Eigentum im Wohnungsmarkt liefen mit einer expansi ven Geldpolitik im Nachklang der Krise des Europäischen Währungssystems zusammen. Im Ergebnis wuchs die Verschuldung deutscher Haushalte in den 1990er-Jahren tatsäch lich stärker als in den USA und den meisten anderen Industrienationen (Abb. 1). Trendumkehr und gedämpfte Finanzialisierung In den 2000er-Jahren allerdings kristallisierte sich die eingangs beschriebene Abweichung Deutsch Die Vollendung der Europäischen lands vom internationalen Trend heraus. Nicht Währungsunion und die Turbu nur, weil die Sondereffekte der Wiedervereinigung lenzen auf dem Neuen Markt allmählich nachließen, auch die Vollendung der Europäischen Währungsunion und die Turbu veränderten die Parameter der lenzen auf dem Neuen Markt veränderten die Kreditentwicklung. Pa ra meter der Kreditentwicklung. So drückten die Wettbewerbsbedingungen im Finanzsektor verstärkt auf die Profitabilität des Privat kreditgeschäfts und veranlassten die international ausgerichteten Banken zur Expansion in die Eurozone. Die das inländische Kreditgeschäft dominierenden Sparkassen und Genossenschaftsbanken wurden ins be sondere durch die Markteintrittsstrategien von ausländischen Banken und von Branchen- und Direktbanken herausgefordert, stellten 58 Aus der Forschung Durch Privatisierungen und die massive staatliche Förderung von Eigentum im Wohnungsmarkt wuchs die Verschuldung deutscher Haushalte in den 1990er-Jahren stärker als in den USA und den meisten anderen Industrienationen. Auf die ökonomischen und sozialen Unsicherheiten der 2000erJahre allerdings reagierte die obere Mittelschicht in Deutschland mit einer steigenden Sparquote. Auch quasistaatliche Kreditprogramme für die Wohneigentumsbildung und eine Ausweitung der Studienfinanzierung konnten die bremsenden Effekte des verhältnismäßig hohen Zinsniveaus infolge der europäisierten Geldpolitik nicht ausgleichen. ihre Kreditvergabepraxis aber nur in Ansätzen auf angloliberale Standards um. Vor allem verzichteten sie auf eine Nutzung der politisch ermöglichten Verbriefung von Immobilienund Konsumentenkrediten. Zugleich dämpfte die europäisierte Geldpolitik die Kreditnachfrage durch ein an der wirtschaftlichen Situation Deutschlands gemessen hohes Zinsniveau. Damit wurde eine gegenteilige Dynamik zu den boomenden und nachfragestarken Ländern in der europäischen Peripherie erzeugt. Die durch das Abgleiten in die Rezession provozierten Reformen in der sozialen Sicherung und auf dem Arbeitsmarkt entfalteten ebenfalls eine bremsende Wirkung auf die private Verschuldung. Zwar wurden quasistaatliche Kreditprogramme für die Wohneigentumsbildung und die Studienfinanzierung ausgewei tet, doch öffentliche Ausgabenkürzungen, vor allem in der Rente, und die zunehmend pre kären Beschäftigungsverhältnisse verursachten ökonomische und soziale Unsicherheiten. Insbesondere die obere Mittelschicht reagierte auf diese Situation mit einer steigenden Sparquote und nicht mit höherer Verschuldung. Damit stand auch die aus fiskalischen Gründen erfolgte Abschaffung der Eigenheimzulage im Einklang, die in den 1990er-Jahren noch sehr expansiv wirkte. Zudem bestimmten stagnierende Hauspreise wieder das Bild des Wohnungsmarktes, nachdem der Wiedervereinigungsboom verebbt war. Unter diesen institutionellen, politischen und wirtschaftlichen Bedingungen blieb das Schuldenwachstum in Deutschland hinter dem anderer Länder zurück. Die vielerorts verstärkte Verknüpfung der Immobilien- und Konsumentenkredite mit den globa len Finanzmärkten verharrte hier auf einem niedrigen Niveau und dämpfte so den Finanzialisierungstrend. Privathaushalte waren als Sparer und Mieter vergleichsweise stärker in die sich ausweitenden Finanzmarktbeziehungen eingebunden, beispielsweise über die Riester-Rente oder den Aufstieg institutioneller Investoren im Wohnungsmarkt, wenngleich der Kredit in der Sozial- und Wirtschaftspolitik an Bedeutung gewonnen hatte. Varianten der Finanzialisierung 59 Nach der Finanzkrise Seit 2008 hat die politische Bearbeitung der Finanz- und Eurokrise zu einer partiel len Neukonfiguration dieser Dynamiken geführt. Insbesondere die niedrigen Zinsen der Europäischen Zentralbank sorgen in Deutschland für Bedenken, weil sie die Spar orientierung der Haushalte weiter unterlaufen und Anreize für die Kreditaufnahme geben würden. In der Tat zeigt sich, dass viele Haushalte ihre Spareinlagen verringern. Allerdings lagen die Wachstumsraten im Kreditgeschäft in den vergangenen Jahren fortwährend unter dem gesamtwirtschaftlichen Wachstum. Des Weiteren hat die Finanzkrise eine gewisse Vorsicht bei einigen Finanzakteuren in Deutschland hervorgerufen, wie in den etwas vorsichtigeren Beleihungsstandards in der Immobilienfinanzierung ersichtlich wird. Schließlich wird in diesem Zusammenhang immer wieder auf die stark steigenden Preise auf einigen regionalen Wohnungsmärkten hingewiesen, die Vorreiter oder bereits Ausdruck einer weiteren (Kredit-)Blase seien. Die bisherigen Ausführungen sollten aber plausibel gemacht haben, dass die Dynamik privater Verschuldung nicht allein den Kreditkosten ent springt, sondern einem komplexen Geflecht politökonomischer Zusammenhänge. Diesem Geflecht Rechnung zu tragen, kann Richtschnur sein, nicht nur um die Privatverschuldung in weiteren Ländern zu analysieren, sondern auch um die Konflikte zwischen Gläubigern und Schuldnern in der globalen Ökonomie sorgfältiger zu interpretieren. Daniel Mertens Daniel Mertens ist seit Oktober 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am Lehrstuhl für Internationale Beziehungen und Internationale Politische Ökonomie der Goethe-Universität Frankfurt. Von 2009 bis 2014 war er wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG und wurde 2014 an der Universität zu Köln promoviert. Er studierte Politikwissenschaft, Rechtswissenschaft und Betriebswirtschaftslehre an den Universitäten Bonn und Leeds. Forschungsinteressen: vergleichende Kapitalismusforschung; Finanzialisierung; Institutionentheorie; Fiskal- und Sozialpolitik; Arbeitsbeziehungen. Zum Weiterlesen MERTENS, D.: Erst sparen, dann kau- STREECK, W.: Re-Forming Capitalism: fen? Privatverschuldung in Deutschland. Institutional Change in the German Political Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Economy. Oxford University Press, Oxford Gesellschaftsforschung, Bd. 82. Campus, 2009. Frankfurt a.M. 2015. HEIRES, M. & NÖLKE, A. (HG.): Politische Ökonomie der Finanzialisierung. Springer VS, Wiesbaden 2014. 60 Aus der Forschung Mieterland oder Hauseigentümernation? Wohnungsmärkte in Deutschland und den USA Sebastian Kohl Deutschland weist im internationalen Vergleich eine hohe Quote von Mieterhaushalten auf, wohin gegen insbesondere in angelsächsisch geprägten Ländern bereits seit dem frühen zwanzigsten Jahrhundert in erster Linie Hauseigentümer wohnen. Oft werden diese Unterschiede durch anders gelagerte kulturelle Präferenzen oder verschiedenartige Wohnungspolitiken der Staaten in den Nachkriegsjahren erklärt. Es zeigt sich jedoch, dass Staaten bereits im ausgehenden neunzehnten Jahrhundert in städtischer Organisation, Wohnungsfinanzierung und der Bauwirtschaft Wege ein schlugen, die die bis heute geltenden Unterschiede erklären können. Die Frage, ob man mieten oder kaufen soll, stellt sich nicht nur für Wohnungssuchende, sondern scheidet ganze Länder voneinander: Während in angelsächsisch geprägten Län dern die Mehrheit von mehr als sechzig Prozent der Haushalte in den eigenen vier Wän den lebt, ist dies in deutschsprachigen Ländern eine Minderheit von weniger als fünfzig. Waren in den USA kurz vor der Finanzkrise fast siebzig Prozent Hauseigentümer, lagen vergleichbare Werte für Deutschland in der Nähe von vierzig. Mehr noch: Über das letzte Jahrhundert kann man eine relativ stabile Diskrepanz von zwanzig Prozentpunkten zwi schen den Wohneigentumsquoten dieser beiden Länder ausmachen (Abb. 1). Angesichts zahl reicher gesellschaftlicher und wirtschaftlicher Umbrüche im letzten Jahrhundert Mieterland oder Hauseigentümernation? 61 Wohneigentumsquoten angelsächsischer und kontinentaler Länder Abb. 1 Prozent 80 70 60 50 40 30 Kanada Neuseeland Australien Irland 2010 2007 2004 2001 1998 1995 1992 1989 1983 1986 1980 1976 1973 1970 1967 1964 1960 1954 1949 1945 1936 1919 1900 20 USA Großbritannien Deutschland Schweiz Quelle: UN und Nationale Statistikämter. überraschen diese stabilen Unterschiede; umso mehr jedoch, als dass diese Länder ansonsten ver wand te ökonomische Hintergrundbedingungen haben. Darüber hinaus äußern sich deutsche wie US-amerikanische Haushalte in Umfragen zu ihren Wohnvorstellungen ähnlich: Der Wunsch nach Eigentum ist in beiden Ländern gleich ausgeprägt. Die Wohneigentumsquote in Deutschland und den USA unter scheidet sich seit rund einhundert Jahren um zwanzig Prozentpunkte. Unterschiede in Wohneigentumsquoten betreffen nicht nur die Frage, in welcher Rechts form Menschen letztlich leben, sondern haben auch erhebliche Auswirkungen auf die Gesellschaft. In der letzten Finanzkrise zum Beispiel ist die Sprengkraft deutlich geworden, die von einem hypothekenfinanzierten Wohneigentum ausgehen kann. So kam es zu einem dramatischen Verfall von Hauspreisen, zu Zwangsversteigerungen und zur Erschütterung des Finanzsystems gerade in solchen Ländern, die zuvor durch Versprechungen hinsicht lich Altersabsicherung, finanzieller Sicherheit und der Erfüllung von Mittelklasseträumen Hauseigentum besonders gefördert hatten. Wohneigentum wird zudem mit einer höheren Arbeitslosigkeit wegen größerer Immobilität und einer Verbürgerlichung von Lebensstil und Wahlverhalten in Verbindung gebracht: Auch scheint es mit konservativen politischen Einstellungen und einem entsprechenden Wahlverhalten einherzugehen. 62 Aus der Forschung Bisherige wissenschaftliche Erklärungen Wie lassen sich diese Unterschiede in den Wohneigentumsquoten wissenschaftlich erklä ren? Am populärsten sind Auffassungen, die die Unterschiede in kulturell bedingten Präferenzen sehen: Zum amerikanischen Traum gehört demnach einfach das Eigenheim. Dies ist nicht von der Hand zu weisen; es erklärt aber nur bedingt, warum es innerhalb der beiden Länder eine sehr starke regionale Varianz von Eigentumsquoten gibt und warum sich die Eigentumsquoten historisch sehr stark verändert haben. Sozioökonomische und demografische Analysen hingegen, die sich wie ein Großteil aller wissen schaft lichen Untersuchungen auf Daten nach liche Länder wie Deutschland, die 1980 stützen, führen Wohneigentumsunterschiede Schweiz oder Schweden haben auf Faktoren wie wirtschaftliches Wachstum, Ein höhere Mieterquoten. kom men, den Anteil an Haushalten mit älte ren Bewohnern oder mit Familien mit Kindern zurück. Überraschend ist der Befund, dass gerade wirtschaftlich fortschrittliche Länder wie Deutschland, die Schweiz oder Schweden höhere Mieterquoten haben. Obwohl Stu dien mit diesen Variablen gut jährliche Änderungen von Wohneigentumsquoten erklären können, lassen sie offen, warum Länder permanente Niveauunterschiede auch schon vor 1980 aufweisen. Deutsche und US-Städte hatten jedoch bereits vor dem Ersten Weltkrieg signifikant unterschiedliche Zahlen an Eigenheimbesitzern (Abb. 2). Gerade wirtschaftlich fortschritt Politologische Ansätze verweisen auf die stärkere politische Förderung von Wohneigentum in den USA seit dem New Deal in den 1930er-Jahren. Angesichts eines nur fragmentären Wohlfahrtsstaates nach europäischem Vorbild fing die US-Regierung unter Franklin D. Roosevelt an, Sozialpolitik durch die Subventionierung und Ermöglichung günstiger Hypotheken zu betreiben. Deutschland dagegen unterstützte den mietlastigen sozialen Wohnungsbau, Neubauten privater Vermieter und ein mieterfreundliches Recht. Die These, dass es einen trade-off zwischen Wohlfahrtsstaatsausgaben einerseits und privatem Hauseigentum andererseits gibt, ist in der Tat für die Zeit nach 1980 mit Daten gut bestä tigt worden. Aber auch mit diesen Ansätzen gelingt es nicht zu erklären, warum deutsche und US-ame rikanische Städte bereits vor dem Auftreten der ersten dezidierten Wohnungspolitiken ähnlich deutliche Unterschiede hinsichtlich der Quote an Wohneigentümern aufwiesen wie ein Jahrhundert später – so verschieden Wohnungspolitik und Wohlfahrtsinstitutio nen auch gewirkt haben mochten. Die langfristig bestehende Lücke zwischen den Wohn eigentumsquoten in beiden Ländern haben die Wohnungspolitiken zumindest nicht zu reduzieren gewusst. Wie historisch gewachsene Institutionen die Länderunterschiede erklären Die gängigen Antworten weisen also vor allem eine historische Schlagseite auf: Sie ver nach lässigen, dass die Diskrepanz zwischen der deutschen und US-amerikanischen Wohneigentumsquote bereits mehr als ein Jahrhundert überdauert hat (Abb. 2). Sie lassen Mieterland oder Hauseigentümernation? 63 Einfamilienhaus- und Wohneigentumsquoten in deutschen und US-amerikanischen Städten um 1900 Abb. 2 ke e Familien mit Wohneigentum in Prozent 35 30 nn Ha 0 10 it tro l De Einfamilienhäuser in Prozent 20 30 40 Deutschland A B C D E F G H I J K L au k Yo r w Ne tin et St 0 4 5 6 se na to I J K L rli n H G Be 5 C F 10 D E Al B 1 n A 15 3 Es 20 2 K W Aa öln ies ba ch de en n ov er 25 .P P Br rov oo id kl enc yn e Ci Je nc Ch rs in ic ey n a C a g St ity ti o .L ou Lo is ui sv M ille in Al ne le ap gh ol en Ba is y lti m or e De I nv nd er ian ap o lis Kr ef el 40 St d M ilw au 45 Kassel Nürnberg Bochum Kiel Barmen Gelsenkirchen Frankfurt a.M. Halle a.S. Magdeburg Königsberg Dresden Danzig 50 60 70 80 90 100 Vereinigte Staaten 1 2 3 4 5 6 Omaha Washington Kansas City Philadelphia San Francisco New Orleans Quelle: Tygiel, J.: Housing in Late Nineteenth-Century: American Cities: Suggestions for Research. Historical Methods 12(2), 84–97 (1979). RWZ: Reichswohnungszählung. Höbbing, Berlin 1918. Baron, A.: Der Haus- und Grundbesitzer in Preußens Städten einst und jetzt. Fischer, Jena 1911. insbesondere drei zentrale, angebotsseitige Institutionenbereiche des Wohnungsmarktes außer Acht: die städtische Organisation von Bauland, den organisierten Hauskredit und den Bausektor der Einfamilienhäuser. 64 Aus der Forschung Städtische Organisation. US-amerikanische Städte sind im neunzehnten Jahrhundert meist als „private Städte“ aufgebaut und erweitert worden, wohingegen deutsche Städte auf eine jahrhundertealte öffentliche Organisation des Stadtlebens zurückblicken konnten. Die priva te Organisation städtischen Baulands, des Transports und der Infrastruktur führte schon früh zu schnelleren Stadterweiterungen, zu einem leichteren Zugang zu urbanem Bauland sowie zu deutlich weniger Auflagen für Neubauten. Schon früh etablierten sich US-amerikanische Städte als suburbanisierte Ansammlungen von Einfamilienhäusern, begünstigt durch größere Baufirmen und den weit verbreiteten Hausbau in Eigenverantwortung. Deutsche Städte expandierten dagegen um ihren kompakten frühneuzeitlichen Stadtkern in dichteren Geschossbauten. Wohnfinanzierung. Ein wichtiger Faktor hinter diesen verschiedenen Bauformen war die unterschiedliche Organisation von Hypothekenbanken. In den USA entwickelten sich im neunzehnten Jahrhundert Bausparvereine, sogenannte savings and loan associations. Als nachbarschaftliche Kredithilfeinstitutionen gaben sie auf Einlagebasis kleinere Hauskredite aus, deren Höhe meist nicht mehr als die Finanzierung eines Einfamilienhauses zuließ. In Deutschland hingegen entwickelten sich ab den 1860er-Jahren große überregionale Hypothekenbanken. Durch den Verkauf von Pfandbriefen finanzierten sie sich auf dem Kapitalmarkt und gaben vorzugsweise Kredite für Mieteinkommen generierende, mehrge bau schossige Gebäude aus. Parallel entwickelten sich profitbeschränkte Wohnungs genossenschaften, die für die städtischen unteren Mittelschichten ebenfalls vermehrt Geschosswohnungen zur Miete an Mitglieder bauten. Die die deutschen Eigenheime finanzierenden Bausparkassen allerdings entstanden nicht früher als in den 1920er-Jahren und wurden erst in der Nachkriegszeit relevant. Staatliche Wohnungspolitik setzte in bei den Ländern folglich erst ein, nachdem diese institutionellen Strukturen im Wohnungssektor entstanden waren. Die finanzzentrierte US-Wohnungspolitik verstärkte dabei nur noch die Eigenheimtendenz der savings and loans, während die deutsche Wohnungspolitik in den Wohnungsgenossenschaften einen Adressaten für subventionszentrierte Politik fand. Bausektor. Gleichzeitig blieb der deutsche Ein familienhausbau ein ziemlich traditionell organi siertes Geschäft: Private Bauherren beauftragten politik verstärkte die Eigenheim mittelständische Handwerksfirmen für den Bau tendenz, während die deutsche eines individuell zugeschnittenen Eigenheims im Wohnungspolitik in Wohnungs Massivbau; Fertighausanbieter hatten es schwer, spürbare Marktanteile zu gewinnen. In den USA genossenschaften einen Adressaten entwickelte sich stattdessen eine fordistische für subventionszentrierte Politik Form der Massenproduktion von Eigenheimen fand. im Leichtbau, die in relativ standardisierter Form in kompletten Vororten durch überregionale Baufirmen für den Markt hergestellt wurden. Diese unterschiedlichen Produktionsformen im Bausektor führten in den USA zu wesentlich günstigeren Hauspreis-zu-EinkommensVerhältnissen als in Deutschland. Die finanzzentrierte US-Wohnungs Mieterland oder Hauseigentümernation? 65 Wohneigentumsquoten historisch bedingt Frei zugängliches städtisches Bauland, frei erhält liche Eigenheimkredite sowie die standardisierte Sind Städte historisch als Miets- und Massenproduktion begünstigten den Bau von nicht dominant als Einfamilien Einfamilienhäusern in den USA. Diese historisch hausstädte gewachsen, so haben gewachsenen Bau- und Stadtstrukturunterschiede schreiben sich bis in die heutige Zeit fort: Sind sie auch heute noch niedrigere Städte historisch als Miets- und nicht dominant Wohneigentumsquoten. als Ein fami lien hausstädte gewachsen, so haben sie auch heute noch niedrigere Wohn eigen tums quoten. Waren Einfamilienhäuser in US-Städten vor dem Ersten Weltkrieg noch zu einem Großteil vermietet, kam es jeweils während und nach den Weltkriegen wegen Mietpreiskontrollen, Konsumregulierungen und aufgeschobenen Familiengründungen zu massiven Verkäufen derselben. In Deutschland führte die wenig verbreitete Institution des Stockwerkeigentums, aber auch ein ständig neu verhandelter rechtlicher Kompromiss zwischen Vermietern und Mietern dazu, dass städtische Geschosswohnungen weiterhin zum Großteil Mietwohnungen blieben. Bis in die 1980er-Jahre bestimmten daher etablierte Interessengruppen wie die savings and loans und Maklerverbände in den USA sowie die gemeinnützige Wohnwirtschaft und Grundbesitzervereine in Deutschland maßgeblich das Verbleiben auf dem einmal einge schlagenen Weg in der Wohnungswirtschaft. Sebastian Kohl Sebastian Kohl ist seit 2010 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. Er studierte Volkswirtschaftslehre, Soziologie und Philosophie in Köln und Paris und wurde 2014 an der Universität zu Köln und der Sciences Po in Paris im Rahmen eines bi natio nalen Promotionsverfahrens (Cotu telle) promoviert. Für seine Arbeit erhielt er 2014 den Dissertationspreis der Deutsch-Französischen Hochschule in Saarbrücken. Forschungsinteressen: Wirtschaftssoziologie; Wohnungsmärkte; Politische Ökono mie; Sozialphilosophie; Philosophie der Sozialwissenschaften. Zum Weiterlesen HARLOE, M.: The People’s Home? Social KOHL, S.: The Power of Institutional Legacies: Rented Housing in Europe and America. How Nineteenth-century Housing Associations Blackwell, Oxford 1995. Shaped Twentieth-century Housing Regime KEMENY, J.: The Myth of Home Ownership: Private Versus Public Choices in Housing Tenure. Routledge, London 1981. 66 Differences between Germany and the US. European Journal of Sociology 56(2), 2015 (im Erscheinen). Aus der Forschung Kinder, Arbeit und Konsum Warum Demografie und politische Ökonomie nicht zu trennen sind Wolfgang Streeck Geburten und Geburtenraten sind normalerweise Thema der Familiensoziologie oder der Demogra fie. Was haben sie in einem Forschungsprogramm zur politischen Ökonomie des modernen Kapita lismus zu suchen? Sehr viel – so viel, dass man sich nur schwer vorstellen kann, wie man sie ohne Bezug auf Politik und Wirtschaft auch nur annähernd verstehen soll. Im Folgenden ein paar Beispiele: Die niedrigen und sinkenden Geburtenraten in den reichen kapitalistischen Gesellschaften sind nicht nur Resultat eines erleichterten Zugangs zu wirksamen Mitteln der Empfängnisverhütung, sondern auch einer rapiden Zunahme der weiblichen Erwerbstätigkeit seit dem Ende der 1960er-Jahre. Ohne sie wären die Geburtenraten trotz Empfängnisverhütung weit weniger stark gesunken, wenn überhaupt. Auch hat sich par allel zur Erwerbstätigkeit der Frauen und mit ihr zusammenhängend die Familienstruktur verändert; Ehen sind seltener geworden, Scheidungen und Zusammenleben außerhalb der Ehe häufiger. Der Anteil der Kinder, die außerehelich geboren werden, nimmt in nahezu allen OECD-Ländern zu; in einigen übersteigt die Zahl der unehelich geborenen Kinder die der ehelich geborenen schon heute deutlich. Zugleich haben verheiratete Frauen immer noch mehr Kinder als nicht verheiratete. Kinder, Arbeit und Konsum 67 In prekären Verhältnissen nehmen Kinderzahlen wieder zu, Frauen suchen einen Ausgleich, um den ausbleibenden Erfolg bei der Arbeits- und Partnersuche zu kompensieren. Die Zusammenhänge zwischen weiblicher Er werbsbeteiligung, Familienstrukturen und Gebur Die Zusammenhänge zwischen ten sind vielfältig und längst nicht zureichend er weiblicher Erwerbsbeteiligung, nis der forscht. Ein eigenes Einkommen, Ergeb Familienstrukturen und Geburten Beteiligung am Arbeitsmarkt, macht Frauen unab hängiger und hat gelockerte Partnerbeziehungen sind längst nicht zureichend zur Folge. Letztere drücken, wenn alles andere erforscht. gleich bleibt, auf die Geburtenrate, vor allem wenn prekäre Partnerschaften mit prekären oder auch besonders anspruchsvollen Beschäftigungs verhältnissen („Karrieren“) zusammentreffen. Dies gilt vor allem in der Mittelschicht, wo Frauen aus wirtschaftlicher Unsicherheit oder um ihres beruflichen Fortkommens willen, oder weil der gewünschte Partner nicht in Sicht beziehungsweise auf ihn kein Verlass ist, auf Kinder verzichten oder die Geburt von Kindern aufschieben – nicht selten bis es zu spät ist. Am unteren Rand der Gesellschaft, wo Armut herrscht, nehmen die Kinderzahlen in prekä ren Verhältnissen wieder zu, weil Frauen einen Ausgleich dafür suchen, dass sie weder bei der Arbeits- noch bei der Partnersuche Erfolg haben. Gesellschaften brauchen Nachwuchs, um sich zu erneuern und zu erhalten – wie viel Nachwuchs ist strittig. Unstrittig ist aber, dass die reichen kapitalistischen Gesellschaften heute nicht mehr in der Lage oder nicht mehr bereit sind, den für eine konstante Bevölkerungszahl nötigen Nachwuchs selbst hervorzubringen; dies gilt sogar für bevölke rungspolitisch erfolgreiche Länder wie Schweden oder Frankreich. Gesellschaften, die die vom Tod laufend in sie gerissenen Lücken nicht selber zu füllen vermögen, können sich 68 Aus der Forschung Einwanderer tragen zur Stabilisierung der Bevölkerung bei. Der Preis können hohe Integrations kosten und soziale Konflikte sein. alternativ oder zusätzlich durch Einwanderung ergänzen. Einwanderer, wenigstens solche der ersten Generation, haben in der Regel höhere Geburtenraten als die einheimische Bevölkerung und tragen auch dadurch zur Stabilisierung der Bevölkerung bei. Der Preis dafür können sehr hohe Integrationskosten sein – die im traditionellen Normalfall der Selbstergänzung der Bevölkerung durch einheimische Geburten von den einheimischen Familien getragen werden – sowie soziale Konflikte, wie sie zurzeit in einigen europäischen Ländern immer weiter zunehmen, ohne dass ein Ende abzusehen wäre. Gesellschaften, die sich als überaltert oder, mit dem Soziologen Franz-Xaver Kaufmann, „unter jüngt“ empfinden, können auch versuchen, trotz schlägt sich – durch die Ausglie der Folgen veränderter Sozialstrukturen für ein derung der Kinderpflege – in heimischen Nachwuchs zu sorgen. Auch das hat den staatlichen Haushalten als aber Kosten, nämlich in Gestalt der Ersetzung von früher unbezahlter Familienarbeit durch öffent Ausweitung der Staatstätigkeit te Dienstleistungen, vor allem liche oder priva nieder. bei der Pflege von Kleinkindern. Da es um die nächste Generation geht, kann die Qualität der außerfamilialen Versorgung nie hoch genug sein, was die Kosten ständig nach oben treibt. Die Ausweitung der Arbeitsmärkte schlägt sich damit, über den Umweg der Ausgliederung eines großen Teils der Kinderpflege aus den veränderten Familienstrukturen, in den staat lichen Haushalten als Ausweitung der Staatstätigkeit nieder. Die Ausweitung der Arbeitsmärkte Kinder, Arbeit und Konsum 69 Gesellschaften, die Frauen wie Männer in „Karrieren“ einspannen, müssen in vielerlei Hinsicht umdenken. Etwa müssen sie es unverheirateten Frauen erleichtern, auch ohne verlässlichen oder dauerhaften Partner Kinder zu haben. Staaten, die das nicht wollen, müssen ihre Arbeitsmärkte für Personen öffnen, die bereit sind, als private Kindermädchen den Nachwuchs der Mittelschicht zu versorgen – zu bezahlbaren, das heißt in der Praxis: sehr niedrigen Löhnen. In der Regel bedeutet dies zusätzliche Einwanderung, zusätzliche Konflikte und wachsende wirtschaftliche und soziale Ungleichheit, wobei die Einwanderer auf zweierlei Weise zur Erhöhung der Kinderzahlen beitragen: durch ihre eigenen Kinder und indem sie für die sogenannte „Vereinbarkeit von Familie und Beruf“ bei besserverdienenden Paaren oder Individuen sorgen. Der Paradefall hier sind die USA. Gesellschaften, die Frauen wie Männer in „Karrieren“ einspannen und dabei den Arbeits einsatz einer und eines jeden immer weiter steigern wollen oder müssen – auch, um gestie gene Humankapitalkosten zu amortisieren –, müssen in vielerlei Hinsicht umdenken. Da es immer weniger Ehen gibt, von stabilen Ehen gar nicht zu reden, müssen sie es den als Folge unverheirateten Frauen erleichtern, auch ohne verlässlichen oder dauerhaften Partner Kinder zu haben. Unehelichkeit muss sozial möglich und sozialpolitisch ermöglicht werden – sonst treten Verhältnisse ein wie in Japan oder Italien, wo beides nicht der Fall ist und wo deshalb die Geburtenraten niedriger sind als überall sonst in der OECD-Welt. 70 Aus der Forschung Konsum wird immer mehr von Normen bestimmt. Diese machen kostspielige und Zeit beanspruchen de „Erlebnisse“ zur Voraussetzung für soziale Anerkennung und in der Lebenswirklichkeit zu einer gesellschaftlichen Pflicht. Im Übrigen sind die reichen kapitalistischen Gesellschaften der Gegenwart nicht nur Arbeits-, sondern auch Konsumgesellschaften. Konsum wird in ihnen kaum noch von materiellen Notwendigkeiten, sondern zunehmend von sozialen Normen bestimmt. Diese machen ebenso kostspielige wie Zeit beanspruchende „Erlebnisse“ – die Werbefachleute sprechen von „Erlebnis-Shopping“ – zur Voraussetzung für soziale Anerkennung und erheben sie so faktisch zu einer gesellschaftlichen Pflicht. Kinder, insbesondere meh rere auf einmal, erschweren die Ableistung obligatorisch gewordener Verbrauchs- und Erlebnispflichten, zumal wenn die Beschaffung der dafür erforderlichen materiellen Mittel intensives berufliches Engagement nötig macht. Bemühungen, jungen Paaren Kinder als Alternative zu Fernreisen oder SUVs schmackhaft zu machen, sind zwar vielerorts im Gang, scheinen aber bislang kaum erfolgreich zu sein. Die politische Ökonomie des Geburtenverhaltens in den Gesellschaften des fortgeschrittenen Kapi talismus wirft schwierige moralische Probleme Kindern nach Maßgabe der Renta auf, nicht nur in Bezug auf Einwanderung und bilität unterschieden wird, beginnt bei der Reproduktionsmedizin und ihren Mög der kapitalistische Totalitarismus. lichkeiten, die Gebärfähigkeit von Frauen an die von ihnen erwartete „Karriere“ anzupassen. Ein Thema, dem man sich stellen muss, ist die immer häufigere, oft nur implizite, immer öfter aber auch explizite Forderung nach etwas, das ich als „soziale Eugenik“ bezeichnen möchte. Diese bestünde darin, Familien nach der zu erwartenden „Qualität“ der von ihnen produ zierten Kinder und nicht mehr nach ihrem materiellen Bedarf staatlich zu unterstützen. Wo zwischen guten und schlechten Kinder, Arbeit und Konsum 71 „Akademikerinnen“, so heißt es, bringen Kinder zur Welt, die als junge Erwachsene intel ligenter, leistungsbereiter, angepasster usw. sein werden als die, bedauerlicherweise, viel zahlreicheren Kinder von arbeitslosen Supermarktkassiererinnen auf Hartz IV. Sollte man diesen nicht die staatliche Unterstützung kürzen und das Geld jenen überweisen, damit die einen mehr und die anderen weniger Kinder bekommen? Man muss aber wissen: Wo zwi schen guten und schlechten Kindern nach Maßgabe der voraussichtlichen Rentabilität ihres Humankapitals unterschieden wird, beginnt der kapitalistische Totalitarismus. Wolfgang Streeck Wolfgang Streeck ist seit November 2014 Direktor emeritus am MPIfG. Nach dem Studium der Soziologie in Frankfurt am Main und New York (Columbia) wurde er 1986 an der Universität Bielefeld habilitiert. Von 1976 bis 1988 war er Research Fellow am Wissenschaftszentrum Berlin, danach forschte und lehrte er als Pro fessor für Soziologie und industrielle Arbeitsbeziehungen an der Universität von Wisc onsin in Madison. 1995 wurde er als Nachfolger von Renate Mayntz in das Direktorium des MPIfG berufen. Zum Weiterlesen BERTRAM, H. & DEUFLHARD, C.: Die über NULLMEIER, F.: Kritik neoliberaler Menschen- forderte Generation: Arbeit und Familie in der und Gesellschaftsbilder und Konsequenzen Wissensgesellschaft. Verlag Barbara Budrich, für ein neues Verständnis von „sozialer Opladen 2015. Gerechtigkeit“. Friedrich-Ebert-Stiftung, BITTMAN, M. & WAJCMAN, J.: The Rush Bonn 2010. Hour: The Character of Leisure Time and SARRAZIN, T.: Deutschland schafft sich Gender Equity. Social Forces 79(1), 165–189 ab: Wie wir unser Land aufs Spiel setzen. (2000). Deutsche Verlags-Anstalt, München 2010. HOCHSCHILD, A. R.: The Commercialization STREECK, W.: Volksheim oder Shopping Mall? of Intimate Life: Notes from Home and Work. Die Reproduktion der Gesellschaft im Dreieck University of California Press, Berkeley & von Markt, Sozialstruktur und Politik. In: Los Angeles 2003. Steinbach, A., Hennig M. & Arránz Becker, JÜRGENS, U. & KRZYWDZINSKI, M.: Zur Zukunftsfähigkeit des deutschen Produktionsmodells. In: Kocka, J. (Hg.), O. (Hg.), Familie im Fokus der Wissenschaft. Springer VS, Heidelberg & Wiesbaden 2014, 353–380. Zukunftsfähigkeit Deutschlands: Sozialwissenschaftliche Essays. WZBJahrbuch 2007. Edition Sigma, Berlin 2007, 203–227. Dieser Beitrag erschien erstmals in „Gesellschaftsforschung 2|14“ (Dezember 2014). > tinyurl.com/streeck-kinder-arbeit-konsum 72 Aus der Forschung Milieu und Raum Wie kulturelle Prägungen die Unterschiede regionaler Geburtenzahlen in Deutschland erklären Barbara Fulda Die Bevölkerungspyramide der Bundesrepublik Deutschland steht auf dem Kopf, und trotz erheb licher familienpolitischer Investitionen stagniert die Geburtenrate bei knapp 1,4 Kindern pro Frau. Diese Zahl erweckt den Anschein, dass sich Paare überall in Deutschland aufgrund ähnlicher Hand lungs- und Orientierungsmuster für beziehungsweise gegen Kinder entschieden. Doch die Gebur tenraten unterscheiden sich von Region zu Region zum Teil drastisch. Deutschland besteht aus einem Mosaik unterschiedlichster Fertilitätsmuster (Abb. 1). So lag die Anzahl der Lebendgeborenen je 10.000 Einwohner im Jahr 2013 in Dresden und Leipzig bei jeweils 115,0 beziehungsweise 111,4 – ähnlich hoch wie in Schweden oder Frankreich im selben Zeitraum. Die großen Differenzen in den Fertilitätsraten erklärt man mit ganz verschiedenen Faktoren, etwa mit dem nachhaltigen Einfluss der unter schiedlichen politischen Systeme in Ost- und Westdeutschland vor der Wiedervereinigung. Doch können diese Erklärungen nicht vollständig überzeugen. Denn die regionalen Geburtenraten im östlichen und westlichen Teil Deutschlands divergieren zum Teil viel deutlicher als zwischen Ost und West. Überdies sind die Fertilitätsmuster innerhalb Deutschlands seit mehr als einhundert Jahren erstaunlich stabil geblieben – trotz politi scher Systemwechsel und erheblicher wirtschaftlicher Umwälzungen. Milieu und Raum 73 Regionale Fertilitätsraten in Deutschland im Jahr 2013 Abb. 1 Anzahl Lebendgeborene je 10.000 Einwohner Cloppenburg Vechta Osterode am Harz Fürth Waldshut 58,5–73,3 73,3–77,7 77,7–82,0 82,0–88,5 88,5–115,3 Quelle: Statistisches Bundesamt, 2015. 74 Aus der Forschung Ist also eher die Schwierigkeit, Beruf und Elternschaft miteinander zu vereinbaren, ein plausibles Argument für den Geburtenrückgang in Deutschland (Abb. 2)? Die Realität widerlegt die Annahme vieler Familienpolitiker, man könne allein durch den Ausbau von Kitaplätzen und offenen Ganztagsschulen die „zeitlichen Kosten“ – also den zeitlichen Aufwand, den Kinderbetreuung neben dem Beruf in Eigenleistung erfordert – reduzie ren. So ist in manchen Gegenden Deutschlands die Geburtenrate pro Frau höher, als es die Zahl öffentlicher Kinderbetreuungsmöglichkeiten vermuten ließe. Auch der Zusammenhang „mehr Geld, mehr Kinder“ scheint angesichts der stabilen regionalen Geburtenunterschiede in Deutschland nicht zu gelten. Der Landkreis Osterode am Harz etwa nimmt mit 58,8 Lebendgeborenen je 10.000 Einwohnern im Jahr 2013 einen der hinteren Plätze ein, obwohl es sich um einen Kreis mit einem recht hohen nominalen Bruttoinlandsprodukt je Erwerbstätigem von über 65.000 Euro handelt. Wodurch aber las sen sich die unterschiedlichen Fertilitätsmuster der Bundesrepublik erklären, wenn weder strukturelle Einflüsse noch politische Systemstrukturen als Gründe ausreichen? Ein neuer Ansatz in der demografischen Forschung Eine neue Betrachtungsweise in der demografischen Forschung richtet den Blick auf regional unterschiedliche Geschlechterrollenvorstellungen, die auch die Akzeptanz fami lienpolitischer Maßnahmen beeinflussen. Diesem Ansatz zufolge erklären strukturelle und ökonomische Gegebenheiten nicht vollständig, warum sich Menschen für Kinder entscheiden. Zusätzlich spielen hier kulturelle Normen eine wichtige Rolle. Sie wirken mancherorts dem von familienpolitischen Maßnahmen intendierten Effekt entgegen, die Geburtenzahlen durch die Verbesserung von Kinderbetreuungsangeboten zu erhöhen. Denn prinzipiell wandeln sich kulturelle Prä gungen wie Ideen von Familie und Elternschaft – soziologisch ausgedrückt: Familienleitbilder – sehr von familienpolitischen Maßnah viel langsamer, als sich strukturelle Veränderun men intendierten Effekt entgegen gen durchsetzen. Das kann die Stabilität der regio wirken, die Geburtenzahlen nalen Geburtenunterschiede erklären und zur Folge haben, dass familienpolitische Förderungen durch die Verbesserung lokaler kurzfristig nicht überall im gewünschten Maß Infrastruktur zu erhöhen. angenommen werden. Ein mögliches Indiz für unterschiedliche regionale Vorstellungen von Familie und dem familiären Zusammenleben kann die Zahl der Väter sein, die das im Jahr 2007 eingeführte Elterngeld in Anspruch neh men: Laut Statistischem Bundesamt besteht hier eine „klare regionale Konzentration“ im Süden und Südosten Deutschlands, in Bayern, Sachsen und Thüringen. Aber auch in fast allen Kreisen Brandenburgs nahm mehr als jeder vierte Vater 2012 Elterngeld in Anspruch. Kulturelle Normen können dem Milieu und Raum 75 Geburtenrückgang in Deutschland von 1951 bis 2012 Abb. 2 Geburtenrate je 1.000 Einwohner 17,5 15,0 12,5 10,0 1950 1960 1970 1980 1990 2000 2010 Quelle: Statistisches Bundesamt, 2013. Kulturelle Unterschiede und regional unterschiedliche Geburtenraten Der Vergleich zweier soziostrukturell ähnlicher Gegenden in Süddeutschland belegt den vermuteten Zusammenhang zwischen kulturellen Normen und strukturellen Faktoren. Obwohl Waldshut in Baden-Württemberg und Fürth in Bayern in soziostruktureller Hin sicht vergleichbar sind, weist Waldshut eine deutlich niedrigere, Fürth aber eine höhere Anzahl an Kindern pro Frau auf, als aufgrund der lokalen soziokulturellen Gegebenheiten anzunehmen wäre. Die unerwarteten Fertilitätsraten beider Landkreise korrespondie ren mit in diesen Regionen bestehenden abweichenden kulturellen Wertvorstellungen und einem hierdurch geprägten Vereins- und Gemeinschaftsleben. In beiden sozialen Milieus offenbaren sich somit in vielfältiger Hinsicht verschiedene Familienleitbilder. Familienleitbilder enthalten Auffassungen über die Rolle einer Mut ter oder eines Vaters sowie über Normalbiografien von Frauen und Männern. Als Normalbiografien gelten dabei Lebensläufe, die als „typisch“ angesehen werden, wenn zum Beispiel nach dem Schulabschluss erst eine Ausbildung, dann der Berufseinstieg und zuletzt die Familiengründung erfolgen. Solche Auffassungen variieren regional. Ge schlechts rollenvorstellungen stehen wiederum in Wechselwirkung mit den verbreiteten Ansichten über staatliche Aufgaben und Grenzen staatlichen Engagements, beispielsweise in der Kinderbetreuung. 76 Aus der Forschung Waldshut. Das alltägliche Familienleben innerhalb dieser beiden sozialen Kontexte vari iert spürbar: Das hervorstechende Merkmal des sozialen Milieus in Waldshut sind die eher traditionellen bis konservativen Wertvorstellungen von Familie, die sich in dem Wunsch nach einer klassischen Arbeitsteilung zwischen beiden Partnern äußern. Wollen beide Eltern arbeiten gehen, konkurrieren in Waldshut die Anforderungen der heutigen modernen Arbeitswelt nach flexiblen Arbeitnehmern mit dem traditionellen Familien leitbild. Doch beeinflusst dies nicht nur direkt die Entscheidung von Eltern für Kinder. Auch das lokale Vereinsleben und das Kinderbetreuungsangebot passen sich dem mili eueigenen Familienleitbild an – beispielsweise durch kürzere Kita-Öffnungszeiten. Diese Widersprüche erklären die mit Blick auf die soziokulturellen Strukturen unerwartet nied rige Fertilitätsrate in Waldshut. Fürth. In Fürth begründet insbesondere die Kompatibilität von Familienmodell und Er werbsleben die überraschend hohe Fertilitätsrate. Das im modernen sozialen Milieu Fürths verbreitete Familienleitbild ist mit dem nationalen, positiv konnotierten Leitbild der er werbstätigen Frau gut vereinbar. Will eine Mutter dem milieueigenen Familienleitbild nach kommen, bedeutet dies für sie nicht, sich zwischen Familie und Erwerbstätigkeit entscheiden zu müssen. Familienbezogene Normen, Familienleitbilder und lokale Angebote entsprechen den Forderungen der Arbeitswelt an Arbeitnehmerinnen und Arbeitnehmer. Damit sind die regionalen Lebensbedingungen für Familien besonders günstig; Eltern fällt die Entscheidung für (weitere) Kinder leichter – auch weil Nicht-Familienmitglieder und Vereine im deutsch landweiten Vergleich recht viel Erziehungs- und Betreuungsverantwortung übernehmen. Weltkindertag 2014 in Fürth: Der Verein Fürther Bündnis für Familien setzt sich dafür ein, dass sich Familie und Erwerbsarbeit besser vereinbaren lassen, dass Familien wirtschaftlich nicht benachteiligt werden und dass sich Solidarität und Verantwortung zwischen den Generationen entwickeln. Milieu und Raum 77 Entsprechen Familienleitbild und das regionale soziale Umfeld dem nationalen Leitbild der erwerbs tätigen Frau, fällt die Entscheidung für Kinder leichter. Eine niedrige Fertilitätsrate in eher konservativen sozialen Kontexten ist auch auf Länder ebene beobachtbar. Stets ging die Forschung davon aus, dass gerade in Ländern, in denen das klassische Familienleitbild dominiert, mehr Kinder geboren würden. Doch die Zahlen der letzten Jahre sprechen gegen diese Hypothese: Insbesondere in Italien und Spanien werden vergleichsweise wenige, in Schweden und Island dagegen vergleichsweise viele Kinder geboren. Dabei gelten die beiden skandinavischen Länder als Gesellschaften, die sich durch eine Vielzahl an Formen des Zusammenlebens, wie Patchworkfamilien, sowie eine höhere Frauenerwerbstätigkeit auszeichnen. Familienpolitik muss regional ansetzen Anders als allgemein angenommen, sind es somit nicht sozialkonservative Regionen, in denen die meisten Kinder geboren werden. Stattdessen sind regionale soziale Milieus heute dann familienfreundlich, wenn ihre Leitbilder mit dem gesamtgesellschaftlichen Kontext kompatibel sind; das heißt, wenn Mutterschaft und ökonomische Unabhängigkeit von Frauen miteinander vereinbar sind, die Familienarbeit zwischen beiden Partnern gleichbe rechtigt aufgeteilt werden kann und unterschiedliche Formen von Partnerschaft toleriert werden. Eltern werden also in unterschiedlichem Ausmaß durch ihr soziales Milieu in der Aufgabenteilung unterstützt: Das milieuinterne Leitbild kann dem gesamtgesellschaftli chen Rollenbild stark widersprechen. Da kulturelle und strukturelle Einflüsse miteinander in Wechselwirkung stehen, sollten beide in Erklärungen des Geburtenverhaltens berück 78 Aus der Forschung Staatliche familienpolitische Maßnahmen und Anreize, die lediglich auf die Veränderung strukturel ler Gegebenheiten setzen, haben gebietsweise stark voneinander abweichende Effekte auf die Familienerweiterung. Bleiben sie sogar gänzlich wirkungslos, lässt sich das durch unterschiedliche Familienleitbilder erklären, die sich nicht mit den strukturellen Maßnahmen decken. sichtigt werden. Bisherige wissenschaftliche Erklärungen sind deswegen dahingehend zu überprüfen, ob sie diese entscheidende Wechselwirkung berücksichtigt haben. Das Gewicht struktureller Variablen für regionale Unterschiede der Geburtenraten könnte beispielsweise deutlich kleiner sein als bisher angenommen. Eine weitere Lehre aus dieser Studie ist, dass eine Region nicht zwangsläufig durch eine Verbesserung der strukturellen Bedingungen familienfreundlicher wird. Zugleich verliert auch das von Familienpolitikern oft angeführte Argument an Bedeutung, strukturelle Veränderungen zögen kurzfristig auch ideelle Veränderungen in der Bevölkerung nach sich. Es ist eher umgekehrt: Staatliche familienpolitische Maßnahmen und Anreize, die lediglich auf die Veränderung struktureller Gegebenheiten setzen, haben gebietsweise stark voneinander abweichende Effekte auf die Familiengründung und -erwei terung. Zuweilen bleiben sie sogar gänzlich wirkungslos. Wundern sich Familienpolitiker gelegentlich über diese Wirkungslosigkeit, lässt sich diese erklären: durch unterschiedliche Familienleitbilder, die sich nicht mit den strukturellen Maßnahmen decken. Milieu und Raum 79 Barbara Fulda Barbara Fulda ist seit April 2015 wissenschaftliche Mitarbeiterin im Projekt „Life Course and Family Dynamics in a Comparative Perspective“ an der Technischen Universität Chemnitz. Von 2010 bis 2015 war sie wissenschaftliche Mitarbeiterin am MPIfG und wurde 2014 an der Universität zu Köln promoviert. Sie studierte Sozial wissenschaften und Volkswirtschaftslehre an den Universitäten Köln und Bonn. Forschungsinteressen: Familiensoziologie; Bildungssoziologie; Wirtschaftssoziolo gie; Stadtsoziologie; Raumsoziologie und Demografie. Zum Weiterlesen BERTRAM, H.: Regionale Vielfalt und FULDA, B.: Culture’s Influence: Regionally Lebensformen. In: Bertram, H. (Hg.), Differing Social Milieus and Variation Das Individuum und seine Familie: in Fertility Rates. MPIfG Discussion Lebensformen, Familienbeziehungen und Paper 15/4. Max-Planck-Institut für Lebensereignisse im Erwachsenenalter. DJI: Gesellschaftsforschung, Köln 2015. Familiensurvey 4. Leske + Budrich, Opladen www.mpifg.de/pu/mpifg_dp/dp15-4.pdf 1995, 157–195. NAUCK, B.: Regionale Milieus von Familien COALE, A. J., & WATKINS, S. C.: The Decline in Deutschland nach der politischen Wieder of Fertility in Europe: The Revised Proceedings vereinigung. In: Nauck, B. & Onnen- of a Conference on the Princeton European Isemann, C. (Hg.), Familie im Brennpunkt Fertility Project. Princeton University Press, von Wissenschaft und Forschung: Rosemarie Princeton 1986. Nave-Herz zum 60. Geburtstag gewidmet. H. Luchterhand Verlag, Neuwied/Kriftel 1995, 91–122. 80 Aus der Forschung Konfliktverminderung durch Entkoppelung Anmerkungen zur Reform der deutschen Finanzverfassung Fritz W. Scharpf In Deutschland müssen der Bund und die Länder im Rahmen der Finanzverfassung in den kom menden Jahren Verhandlungen führen, die in ihrer Komplexität und in ihrer grundsätzlichen Be deu tung die bisherigen Herausforderungen weit übertreffen. Können die politische Öko no mie und die Poli tik wissenschaft für diese Konstellation nützliche Erklärungen, Prognosen oder Empfehlungen bieten? Fritz W. Scharpf plädiert für die Abschaffung des horizontalen Finanzausgleichs und mehr Steuerautonomie der Länder. In der Finanzverfassung des deutschen Föderalismus werden 2019 die Gesetze über den Finanzausgleich und den Solidarpakt „Aufbau Ost“ auslaufen, und zugleich wird im Haus haltsjahr 2020 die Kreditaufnahme der Länder durch die Schuldenbremse ausgeschlossen (Art. 109 Abs. 3 und 143d Abs. 1 GG). Da Verteilungsfragen zwischen Bund und Ländern entweder durch Einigung des Bundes mit allen Ländern oder durch ein Bundesgesetz, das der Zustimmung des Bundesrats bedarf, entschieden werden müssen, kann die Einigung von den reichen wie von den armen Ländern blockiert werden, von den großen wie von Konfliktverminderung durch Entkoppelung 81 den kleinen, von den west- wie von den ostdeutschen, und auch von Ländern mit schwar zen, roten oder grünen Regierungsparteien. Kurz, im deutschen Föderalismus können Verteilungsfragen nur im breiten Konsens geregelt werden. Vorschläge, die das ignorieren, sind von vornherein chancenlos. Zugleich sind Entscheidungen über die Finanzver teilung im deutschen Föderalismus wichtiger und Im deutschen Föderalismus können komplizierter als in den meisten anderen Bundes Verteilungsfragen nur im breiten staaten. Die überwiegende Mehrheit der Gesetz Konsens geregelt werden. gebungskompetenzen liegt beim Bund, aber für den Vollzug der meisten Bundesgesetze sind die Länder und Gemeinden zuständig, die diese Aufgaben grundsätzlich aus eigenen Mitteln finanzieren sollen (Art 104a Abs. 1 GG). Deren eigenen Steuereinnahmen wiederum sind mit wenigen Ausnahmen durch (zustimmungspflichtige) Bundesgesetze bestimmt. Anders als in Bundesstaaten wie den USA, in denen der Zentralstaat wie die Gliedstaaten jeweils eigene Aufgaben mit eigener Verwaltung vollziehen und die Kosten mit eigenen Steuergesetzen finanzieren, ist in Deutschland ein weitgehender Finanzausgleich (Abb. 1) also schon deshalb nötig, weil nur so die Länder und Gemeinden in die Lage versetzt werden, das einheitliche Bundesrecht auch einheitlich zu vollziehen. Im Ergebnis erreichen die derzeitigen Regeln eine Anhebung der Steuerkraft (des Steueraufkommens je Einwohner) der schwächsten Länder auf mehr als 99 Prozent des Bundesdurchschnitts. Dieses Ergebnis ist jedoch heftig umstritten: Einerseits beklagen die finanzstarken Länder und manche Ökonomen den perversen Anreizeffekt einer zu hohen Ausgleichsquote. Er führe dazu, dass die erfolgreiche Wirtschaftspolitik eines Lan des nicht durch höhere Einnahmen honoriert und ein Rückgang des örtlichen Steuer aufkommens durch Zahlungen anderer Länder kompensiert werde. Auf der anderen Seite kritisieren manche Länder und viele Sozialpolitiker die einseitige Orientierung des Finanzausgleichs an der Steuerkraft, welche die unterschiedlichen Belastungen der Länder durch Unterschiede der Wirtschaftsstruktur und Sozialstruktur fast ganz außer Acht lasse. Faktisch bedeutet dies, dass die Bund-Länder-Verhandlungen in den kommenden Jahren eine Fülle von anspruchsvollen und konfliktträchtigen Fragen behandeln müssen. Können Erkenntnisse der politischen Ökonomie und Politikwissenschaft diesen Prozess unterstützen? Finanzverfassungsreform im Zwangsverhandlungssystem Die Modelle der ökonomischen Bargaining-Theorie, die dafür in erster Linie infrage kommt, unterstellen freiwillige Verhandlungen unter egoistisch-rationalen Akteuren, die einer Vereinbarung nur dann zustimmen werden, wenn sie dadurch mehr erreichen kön nen als in ihrer durch autonomes Handeln erreichbaren „Rückfallposition“. Die deutsche Finanzverfassung entspricht jedoch dem Modell eines Zwangsverhandlungssystems, in dem keine der beteiligten Regierungen autonom handeln kann und in dem Veränderungen nur im breiten Konsens erreicht werden können. Im Allgemeinen haben solche Konstel 82 Aus der Forschung lationen eine konservative und „pfadabhängige“ Tendenz, weil eine vorangegangene Ver einbarung die Rückfallposition für alle Beteiligten darstellt, sodass die vorher erreichten Besitzstände auch in neuen Verhandlungen verteidigt werden können. Bei den jetzt anstehenden Bund-Länder-Verhand lungen ist dieser Mechanismus, der die Erklärung und Prognose der Ergebnisse durchaus erleichtert nicht länger verteidigt werden. hat, jedoch weitgehend ausgeschaltet. Wenn fast zur selben Zeit die bisher vereinbarten Gesetze (und damit die Rückfallpositionen) im Finanzausgleich und beim Solidarpakt auslau fen und zugleich mit der Schuldenbremse auch eine der letzten Optionen autonomer Finanzpolitik versperrt wird, können bisherige Besitzstände nicht länger verteidigt werden. Im Prinzip stehen deshalb nicht nur die Gegenstände der wegfallenden Gesetze, sondern auch alle übrigen Regelungen der Finanzverfassung zur Disposition. Bisherige Besitzstände können Wenn dann aber in dem komplizierten Regelwerk an vielen Stellschrauben zugleich gedreht werden könnte, und wenn dabei alle Beteiligten allen Ergebnissen zustimmen müssen, so wird die in Verhandlungen zu bewältigende Komplexität drastisch ansteigen. Und wenn man überdies die essenzielle Bedeutung der Finanzverteilung für die Politik des Bundes und der einzelnen Länder und die konträren Interessen berücksichtigt, dann ist es keineswegs verwunderlich, dass die Bund-Länder-Verhandlungen sich immer noch ohne Ergebnis im Kreise drehen. Komplexität reduzieren und Konflikte minimieren Unter Normalbedingungen haben Bund-Länder-Verhandlungen im deutschen Födera lismus immer von leistungsfähigen Mechanismen der Problemvereinfachung und der Konfliktvermeidung profitiert. Auch jetzt müssten alle Beteiligten ein Interesse an der Ver minderung der Komplexität und der Konflikthaftigkeit der Verhandlungen haben. Dafür kann die Föderalismusforschung in der Tat interessante Hinweise bieten. Bedarfsorientierter Finanzausgleich? Der bisherige Finanzausgleich vermindert Unterschiede der originären Steuerkraft, das heißt der Pro-Kopf-Einnahmen aus Landessteuern und dem Landesanteil an den Ver bundsteuern. Aber die sehr hohe Ausgleichsquote bei der Steuerkraft ignoriert gravierende Unterschiede in den Belastungen der Länder. Mit Blick auf den entfallenden Solidarpakt und die drohende Schuldenbremse fordern nun nicht nur die ostdeutschen, sondern auch viele westdeutsche Länder deren Berücksichtigung. Da solche Forderungen höchst kon fliktträchtig sind, wurden sie im Finanzausgleich bisher nur in ganz wenigen Ausnahmen (etwa beim Stadtstaatenbonus) akzeptiert. Tatsächlich geht die Einschätzung der Existenz, der Höhe und der Ursachen besonderer Lasten oder Bedarfe zwischen den Ländern weit auseinander; jedes Land könnte Sonderprobleme ins Spiel bringen, und jedes könnte die Berechtigung daraus abgeleiteter Ausgleichsforderungen bestreiten. Konfliktverminderung durch Entkoppelung 83 Treffen des Council of Australian Governments, dem australischen Bundesrat, im April 2015. Das Beispiel Australien zeigt, dass ein bedarfsorientierter Finanzausgleich möglich ist. Die Mehrwert steuer wird vom Bund erhoben, aber ihr gesamtes Aufkommen wird durch Bundesgesetze auf die Einzelstaaten verteilt. Dass aber auch andere Lösungen möglich sind, zeigt der Finanzausgleich in Australien. Dort wird die Mehrwertsteuer vom Bund erhoben, aber ihr gesamtes Aufkommen wird durch Bundesgesetz auf die Einzelstaaten verteilt. Grundlage des Gesetzes ist die jähr mon wealth Grants Commission (ein kleines Gremium all liche Empfehlung der Com seits akzeptierter Experten mit einem wissenschaftlichen Stab), die zumeist unverändert umgesetzt wird. Sie wird in einem mehrstufigen und transparenten Anhörungsverfahren erarbeitet, und sie orientiert sich an einem politisch gebilligten Maßstab: Jeder Staat soll finanziell in die Lage versetzt werden, seinen Bürgern das landesdurchschnittliche Niveau öffentlicher Leistungen zu bieten. Berücksichtigt werden dabei Unterschiede des relativen Leistungsbedarfs und der relativen Leistungskosten (indigene Schüler, Wüstenregionen etc.), und es wird eine durchschnittliche Ausschöpfung eigener staatlicher Einkommensquellen unterstellt. Darüber hinaus werden jedoch Eingriffe in die Autonomie der Staaten strikt vermieden: Der Ausgleich orientiert sich an Durchschnittswerten bei den Leistungen wie bei der Ausschöpfung der Steuerbasis. Ob diese über- oder unterschritten werden, ist allein Sache der einzelstaatlichen Politik. Ein erster Schritt: Abschaffung des horizontalen Finanzausgleichs Das australische Beispiel zeigt, dass ein bedarfsorientierter Finanzausgleich nicht notwendigerweise an Verteilungskonflikten scheitern muss. Freilich profitiert die australische Lösung nicht nur von dem Vertrauen der Staaten in die Kompetenz und Fairness der Commonwealth Grants Commission, sondern auch von dem Verzicht auf horizon tale Transfers zwischen den Staaten und damit der Beschränkung auf den vertikalen Finanzausgleich. In Deutschland dagegen wird die fast vollständige Angleichung der Steuerkraft der Länder in drei Stufen erreicht – zunächst über die (vertikale) Verteilung 84 Aus der Forschung Umverteilung im Länderfinanzausgleich 2014 Abb. 1 in Euro je Einwohner Bayern Hessen Baden-Württemberg Hamburg Niedersachsen Nordrhein-Westfalen Schleswig-Holstein Rheinland-Pfalz Saarland Brandenburg Sachsen Thüringen Sachsen-Anhalt Mecklenburg-Vorpommern Bremen Berlin – 400 – 200 Geberland 0 200 400 600 800 1.000 1.200 Nehmerland Daten zum Volumen der im Jahr 2014 geleisteten und empfangenen Finanztransfers im Rahmen des sogenannten Länderfinanzausgleichs im engeren Sinne (vorläufige Abrechnung). Der Länderfinanzausgleich im engeren Sinne ist ein (horizontaler) Ausgleichsmechanismus zwischen finanzstarken Ländern (Geberländer) und finanzschwachen Ländern (Nehmerländer). Umrechnung in „Euro je Einwohner“ mittels der Einwohnerzahlen zum 30. Juni 2014. Datenquelle: Bundesministerium der Finanzen. des Länderanteils an der Umsatzsteuer, dann über den (horizontalen) Finanzausgleich zwi schen den Ländern und schließlich durch (wiederum vertikale) Ergänzungszuweisungen des Bundes. Auch bei uns hat jedoch der vertikale Ausgleich das weitaus größere Gewicht: Das Gesamtvolumen der Umverteilung betrug 2013 26,5 Milliarden Euro. Dabei belief sich der Anteil des horizontalen Finanzausgleichs zwischen den Ländern nur auf 8,5 Milliarden Euro, während die vertikale Verteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer und die Ergänzungszuweisungen des Bundes mehr als das Doppelte ausmachten. Aber Konfliktverminderung durch Entkoppelung 85 da die Beiträge zum horizontalen Ausgleich inzwischen zum größten Teil von Bayern, Baden-Württemberg und Hessen aufgebracht werden müssen, während Berlin und Bremen davon am meisten profitieren (Abb. 1), geht es in der – parteipolitisch aufgela denen – öffentlichen Polemik immer um die Beiträge, welche die Geberländer aus ihrem Steueraufkommen abgeben müssen, um damit Wohltaten der Nehmerländer zu finanzie ren, „die wir uns deshalb nicht leisten können“. Dieser Streit belastet alle Finanzverhandlungen zwischen Bund und Ländern und damit auch die Der öffentlich ausgetragene Suche nach dem am Ende unvermeidlichen Kon Streit über den horizontalen sens. Es würde deshalb der Konfliktminderung Finanzausgleich verschärft die dienen, wenn bei einer Reform der Finanz ver fas sung der horizontale Finanzausgleich abge Konflikte zwischen den Ländern. schafft und durch eine erweiterte Umverteilung des Länderanteils an der Umsatzsteuer ersetzt würde. Gewiss wäre auch darüber streitig zu verhandeln. Aber dieser Streit verlöre die besondere Eignung für die öffentliche Polemik und er würde sich auch nicht mehr auf das „Sonderopfer“ der drei Geberländer kon zentrieren. Längerfristig könnte man dann sogar hoffen, dass sich aus der gemeinsamen Orientierung auf den vertikalen Finanzausgleich auch eine Suche nach gemeinsam akzep tierten Kriterien für eine belastungsorientierte Verteilung entwickelt. Die Re-Aktivierung der Finanzhilfen des Bundes Umgekehrt könnte man den einnahmeorientierten Finanzausgleich auch gegen Konflikte über unterschiedliche Belastungen abschotten, wenn für deren Regelung andere Optionen zur Verfügung stünden. In der Föderalismusreform 2005 ist allerdings gerade das Gegenteil beschlossen worden, als unter dem Druck der süddeutschen Ministerpräsidenten ein „Kooperationsverbot“ in die Verfassung aufgenommen wurde, das Finanzhilfen des Bundes für Aufgaben der Länder kategorisch ausschloss. Dieses Verbot hat sich nicht bewährt, und es wurde inzwischen auch zugunsten von Bundeshilfen für Universitäten gelockert und mehrfach durch verfassungsrechtlich zweifelhafte Hilfskonstruktionen umgangen. Besser wäre eine generelle Kompetenz des Bundes, durch Gesetz mit Zustimmung des Bundesrats fallbezogen standardisierte Zuschüsse zur Erfüllung gesamtstaatlich bedeut samer Aufgaben der Länder zu gewähren, die jedoch entsprechend Art. 104b Abs. 2, Satz 2 GG befristet und degressiv ausgestaltet werden sollten. Die auch hier unvermeidlichen Konflikte könnten dann problembezogen begrenzt werden, und im Finanzausgleich ginge es dann nur noch darum, alle Länder so auszustatten, dass sie bei gleichen Pro-Kopf-Ein nahmen die durchschnittlichen Landesaufgaben erfüllen können. Entkoppelung von Finanzausgleich und Steuerautonomie Zu den Grundproblemen nicht nur der deutschen Finanzverfassung, sondern auch der deutschen Demokratie gehört der fast vollständige – und im internationalen Vergleich einmalige – Verzicht der Länder auf eine autonome politische Entscheidung über die eige nen Einnahmen. Im Kontext des Finanzausgleichs freilich werden Vorschläge für autono 86 Aus der Forschung me Steuerkompetenzen der Länder zumeist unter dem Kampfbegriff des „Wettbewerbs föderalismus“ lanciert und dann mit der Forderung nach einer erheblichen Absenkung der Ausgleichsquoten im Finanzausgleich verbunden. Schon deshalb stoßen sie von vornher ein auf Ablehnung bei den Empfängerländern. Im gegenwärtigen System wäre die Steuer autonomie ohne eine solche Absenkung in der Tat absurd, weil dann die Mehreinnahmen abgeschöpft und Steuerverzichte kompensiert würden. Steuerautonomie setzt also eine Entkoppelung des Finanzausgleichs vom tatsächlichen Steueraufkommen der einzelnen Länder voraus. Dass diese auch möglich ist, zeigt die Regelung für unterschiedliche Hebesätze der Grund erwerb Steuerautonomie setzt eine steuer (Art. 107, Abs. 1, letzter HS), der zufolge Entkoppelung des Finanz der Finanzausgleich sich hier nicht auf die tat ausgleichs vom tatsächlichen sächlich den Ländern und Gemeinden zu Steueraufkommen der einzelnen fließenden Steuern, sondern auf ein fiktives Aufkommen beziehen soll, das durch die Anwen Länder voraus. dung eines bundes durchschnitt lichen Steuer satzes auf die einheitlich definierte Bemessungs grundlage ermittelt wird. Würde diese Regel generell angewandt, dann entfiele zunächst der Streit über die perversen Anreize des jetzigen Systems. Länder, die ihr örtliches Aufkommen – sei es durch effektive Wirtschaftsförderung oder durch effiziente Steuer fahndung – über den Bundesdurchschnitt erhöhen, könnten den Zugewinn behalten, und Länder, die politisch gewollt oder durch administrative Ineffizienz auf Steuereinnahmen verzichten, würden nicht von den anderen entschädigt. Vor allem aber entfiele damit die negative politische Koppelung zwischen Steuerautonomie und Finanzausgleich (man könnte auch sagen, zwischen Freiheit und Gleichheit). Länder und Parteien, die im Finanzausgleich eine hohe Ausgleichsquote verteidigen wollen, müssten nicht deshalb auf Autonomie in der Steuerpolitik verzichten. Das allein würde aber kaum ausreichen, um alle Länder von den Vorteilen der Autonomie zu überzeugen. Auch wenn die Ausgleichsquote davon nicht berührt wird, gibt es zwei Gründe, die jedenfalls die wirtschaftsschwachen Länder zögern lassen, auf das Angebot erweiterter Steuerkompetenzen einzugehen. Der erste betrifft die Befürchtung eines Steuerwettbewerbs, der die Attraktivität der wirtschaftsstarken Länder für mobile Unternehmen und begüterte Steuerzahler noch weiter erhöhen könnte. Allerdings gilt dies nicht für alle Steuerarten. Jedenfalls zeigen ausländische Beispiele und die Erfahrung der deutschen Kommunen bei der Gewerbesteuer, dass unterschiedliche Sätze bei den wohnsitz- und standortbezogenen Steuern kaum Mobilität auslösen. Allenfalls müsste die gesetzliche Steuerzerlegung im „Speckgürtel“ der Stadtstaaten korrigiert werden. Das zweite Gegenargument betrifft die unterschiedliche Ergiebigkeit geänderter Steuersätze. So hätte nach Berechnungen der Bundesbank ein zehnprozentiger Zuschlag oder Abschlag dern bei der Einkommen- und Körperschaftsteuer in den wirtschaftsschwachen Län weniger als 200 Euro pro Einwohner, in Bayern aber mehr als 350 Euro ausgemacht. Die Konfliktverminderung durch Entkoppelung 87 wirtschaftsschwachen Länder würden also durch Steuerautonomie weniger politischen Handlungs spielraum gewinnen als die reicheren Länder. Da diese Ungleichheit nicht zu bestreiten ist, kann die Diskussion nur mit einer normativen Frage schließen: Ist die Politik der deutschen Länder bereit, etwas mehr fiskalische Ungleichheit in Kauf zu nehmen, wenn sie dafür etwas mehr fiskalischen Spielraum für eine demokratische Landespolitik gewinnen könnte? Ist die Politik der deutschen Länder bereit, etwas mehr fiskalische Ungleichheit in Kauf zu nehmen, wenn sie dafür etwas mehr fiskalischen Spielraum für eine demokratische Landespolitik gewinnen könnte? Fritz W. Scharpf Fritz W. Scharpf ist Direktor emeritus am MPIfG. Nach dem Studium der Rechts ver si täten Tübingen, wissenschaft und Politischen Wissenschaften an den Uni Freiburg und Yale (USA), legte er 1959 und 1964 sein erstes und zweites Juristi sches Staatsexamen ab und promovierte zum Dr. iur. 1968 habilitierte er sich für das Fach Politikwissenschaften an der Universität Freiburg. Nach Professuren und Direktorentätigkeit an der Universität Konstanz und am Wissenschaftszentrum Berlin (WZB) wurde er 1986 als Direktor an das MPIfG berufen. 2003 wurde er emeritiert. In den Jahren 2003 und 2004 war Scharpf Mitglied der Kommission von Bundestag und Bundesrat zur Modernisierung der bundesstaatlichen Ordnung (Föderalismuskommission). Fritz W. Scharpfs Forschungsarbeiten widmen sich der Politikverflechtung im deut schen Föderalismus und der Europäischen Union sowie der politischen Ökonomie von Wohlfahrtsstaaten. Zum Weiterlesen COMMONWEALTH GRANTS COMMISSION: SCHARPF, F. W.: Föderalismusreform: Kein Report on GST Revenue Sharing Relativities: Ausweg aus der Politikverflechtungsfalle? 2015 Review. Volume 1 – Main Report. Schriften aus dem Max-Planck-Institut für Australian Government, Canberra 2015. Gesellschaftsforschung, Bd. 64. Campus, https://cgc.gov.au/index.php?option=com_ Frankfurt a.M. 2009. attachments&task=download&id=2193 WILLIAMS, R.: Federal-State Financial DEUTSCHE BUNDESBANK: Zur Reform der Relations in Australia: The Role of the föderalen Finanzbeziehungen. In: Deutsche Commonwealth Grants Commission. In: Bundesbank, Monatsbericht September Australian Economic Review 38(1), 2014, 35–54 (2014). 108–118 (2005). RENZSCH, W.: Finanzverfassung und Finanz ausgleich. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 1995. 88 Aus der Forschung Die Akademikerrepublik Kein Platz für Arbeiter und Geringgebildete im Bundestag? Armin Schäfer Die Abgeordneten des Bundestages sollen Vertreter des ganzen Volkes sein, doch ein Abbild des Volkes sind sie nicht. Migranten und Frauen, aber noch stärker Arbeiter und Geringgebildete sind im Parlament unterrepräsentiert; dort dominieren Akademikerinnen und Akademiker. Das wirft die Frage auf, ob die Interessen von sozial Benachteiligten angemessen vertreten werden. In seiner Eröffnungsrede zur ersten Sitzung des 2013 neu gewählten Deutschen Bundes tages hob Bundestagspräsident Norbert Lammert hervor, dass die Abgeordneten „keine Versammlung von Helden und Heiligen“, sondern ein getreues Abbild der Bevölkerung seien. Weder sozioökonomisch noch in ihren Einstellungen unterschieden sich die Mit glieder des 18. Bundestages nennenswert von der Gesellschaft, die sie repräsentieren. Viel mehr bildeten sie eine „ziemlich repräsentative Mischung von Herkunft, Alter, Berufen, Begabungen, Temperamenten, Erfahrungen, Stärken und Schwächen“, so Lammert. Diese Auffassung überrascht, denn empirisch lässt sie sich nicht belegen: Frauen, Migranten oder Arbeiter sind im Bundestag deutlich unterrepräsentiert. Für die beiden erstgenann ten Gruppen hat sich die Repräsentationslücke zwar nicht vollständig geschlossen, aber doch etwas verkleinert. Die Akademikerrepublik 89 In sozioökonomischer Hinsicht gilt dies jedoch nicht. Der Bundestag ist fast vollständig ein Aka Der Bundestag ist fast vollständig demikerparlament, in das es kaum Arbeiter oder ein Akademikerparlament. einfache Angestellte schaffen. Obwohl laut Erhe bungen des Statistischen Bundesamtes nur 14 Pro zent der Bevölkerung über ein abgeschlossenes Hochschulstudium verfügen, sind mehr als 80 Prozent der Abgeordneten Akademiker. Von den Parteimitgliedern über die Kandidaten bis zu den Abgeordneten nimmt die soziale Selektivität immer weiter zu, von einer „ziemlich repräsentativen“ Mischung lässt sich in dieser Hinsicht nicht sprechen. Ist spiegelbildliche Repräsentation wünschenswert? Wenn die Rede davon ist, dass eine Gruppe eine andere repräsentiert, kann gemeint sein, dass beide Gruppen bestimmte Merkmale teilen. Repräsentieren in diesem Sinn bedeu tet, etwas wirklichkeitsnah abzubilden. Doch spätestens seit dem bahnbrechenden Buch der Politikwissenschaftlerin Hanna Pitkin zum „Konzept der Repräsentation“ wird das Prinzip der „spiegelbildlichen“ oder „deskriptiven Repräsentation“ als nachrangig zur Responsivität der Abgeordneten gegenüber den Wählerinnen und Wählern angesehen: Die Repräsentanten müssen Anliegen und Interessen der Bevölkerung kennen und in ihren Entscheidungen berücksichtigen. Repräsentieren besteht nach dieser Auffassung in einem Dialog zwischen Parlamentariern und Bevölkerung. Dabei wird den Abgeordneten ein hohes Maß an Autonomie zugestanden, das jedoch mit der Pflicht einhergeht, eige ne Entscheidungen gegenüber den Repräsentierten zu begründen. Weicht das Verhalten Die Nationalversammlung trat als erste gewählte deutsche Volksvertretung 1848 in der Frankfurter Paulskirche zusammen. Sie bestand überwiegend aus Akademikern und wurde darum als „Gelehrten parlament“ bezeichnet. 90 Aus der Forschung Anteil der Personen mit (Fach-)Hochschulreife Abb. 1 Bevölkerung Parteimitglieder Bundestagskandidaten Abgeordnete in Prozent 0 20 40 60 80 100 Quelle: Statistisches Bundesamt, Deutsche Parteimitgliederstudie 2009, GLES Kandidatenstudie 2009. Vergleichbare Daten zu den Bildungsabschlüssen der Abgeordneten der 18. Wahlperiode liegen noch nicht vor. der Gewählten ohne ausreichende Begründung dauerhaft und gravierend von den Einstellungen und Interessen ihrer Wählerinnen und Wähler ab, ist das Reprä sen ta tionsverhältnis gestört. Nicht das Wer, sondern das Wie ist aus dieser Perspektive für die Qualität der Repräsentation entscheidend. Doch ist dieses Verständnis auch kritisiert worden. Insbesondere feministische Autorinnen verweisen Was prägt die Qualität der Reprä darauf, dass die teilweise krasse Unterrepräsenta sentation: das Wer oder das Wie? tion von Frauen in den Parlamenten sich auf die dort getroffenen Entscheidungen auswirke und die Benachteiligung von Frauen weiter fortführe. Deshalb sprechen sich Politikwissen schaftlerinnen wie Anne Philipps, Jane Mansbridge oder Melissa Williams für „Gruppen repräsentation“ aus, die sicherstellen soll, dass benachteiligte Gruppen im Parlament ver treten sind. Dabei wird nicht angenommen, Frauen seien in ihren politischen Überzeugungen eine homogene Gruppe. Doch mit größerer numerischer Stärke im Parlament nehme die Wahr scheinlichkeit zu, dass ihre Belange in politischen Entscheidungen berücksichtigt werden. In vielen westlichen Demokratien gibt es inzwischen freiwillige oder bindende Regeln, die die Nominierung von Kandidatinnen erleichtern. Bündnis 90/Die Grünen und Die Linke gehen in Deutschland besonders weit in ihren Bemühungen, Geschlechterparität zu ver wirklichen. Im neu gewählten Bundestag stellen in beiden Fraktionen Frauen die Mehrheit. Verfechterinnen der Gruppenrepräsentation sehen das Pitkin’sche Repräsentationsideal Die Akademikerrepublik 91 zwar skeptisch, wehren sich aber gleichzeitig gegen das deskriptive Modell, da nur benach teiligte Gruppen einen besonderen Anspruch auf eine bevorzugte Behandlung hätten. Und obwohl manche von ihnen beispielsweise Arbeiter dazuzählen, weisen andere dies zurück, da in fast allen Parlamenten Arbeiterparteien vertreten seien, weshalb kein zusätzlicher Repräsentationsbedarf bestehe. Allerdings finden sich in den Parlamentsfraktionen auch dieser Parteien kaum noch Arbeiter. Wenn jedoch die deskriptive Unterrepräsentation von Frauen oder ethnischen Minderheiten einen Mangel darstellt, sollte dies auch für andere Gruppen gelten. Das Gesetz zunehmender Disproportionalität In den Siebzigerjahren des 20. Jahrhunderts for mulierte der amerikanische Politikwissenschaftler Der Akademikeranteil ist heute Robert Putnam das „Gesetz zunehmender Dispro höher als jemals zuvor in einem frei portionalität“. Es besagt, dass die soziale Selektivität gewählten deutschen Parlament. von gesellschaftlichen Positionen mit deren Wich tig keit zunimmt. Das Führungspersonal in der Wirtschaft, aber auch in Wissenschaft und Politik, rekrutiert sich überproportional aus der oberen Mittelschicht und der Oberschicht. Wenn bereits ein Elternteil zur Elite gehörte, ist die Wahrscheinlichkeit besonders groß, auch selbst eine herausgehobene Position einzuneh men. Obwohl in Deutschland, darauf weist der Elitenforscher Michael Hartmann hin, die Durchlässigkeit in der Politik deutlich höher als etwa in Unternehmen ist, trifft Putnams Gesetz in der Tendenz auch dort zu. Das zeigt Abbildung 1 anhand von Bildungsabschlüssen. Während 27 Prozent der Bevölkerung (mindestens) über die Fachhochschulreife verfügen, sind es bei den Parteimitgliedern mehr als die Hälfte. Noch homogener wird die Gruppe, wenn nur jene Parteimitglieder betrachtet werden, die 2009 für den Bundestag kandidier ten. 87 Prozent von ihnen haben die Schule mindestens mit dem Fachabitur abgeschlossen. Mit dem Schritt ins Parlament steigt dieser Anteil auf 93 Prozent an – er liegt damit 66 Prozentpunkte über dem Anteil an der Bevölkerung. Unter den Abgeordneten des Deutschen Bundestages befindet sich kaum noch jemand, der nach Mittlerer Reife eine Lehre gemacht und in einem Handwerksberuf gearbeitet hat – geschweige denn jemand, der die Schule mit Hauptschulabschluss verlassen hat. Der Akademikeranteil im Bundestag hat im Lauf der Zeit stetig zugenommen. Abbildung 2 zeigt die Entwicklung von 1949 bis 2009: Hatten anfangs 45 Prozent der Abgeordneten stu diert – was angesichts der damals geringen Zahl von Hochschulabsolventen ein hoher Prozentsatz ist –, stieg der Anteil in den Siebzigerjahren auf 70 Prozent und in den Neunzigerjahren auf mehr als 80 Prozent. Im 2009 gewählten Bundestag lag er bei 91 Prozent. Damit ist der Akademikeranteil heute höher als jemals zuvor in einem frei gewählten deut schen Parlament. Da gleichzeitig auch der Akademikeranteil in der Bevölkerung gestiegen ist, lässt sich zwar nicht behaupten, die Verzerrung sei heute größer als etwa im Gelehrtenparlament der Paulskirche von 1848, aber dennoch ist der Akademikeranteil im Bundestag mehr als sechsmal so hoch wie in der Bevölkerung. 92 Aus der Forschung Anteil der Akademiker im Bundestag Abb. 2 in Prozent 100 80 60 40 20 05 09 20 20 98 02 20 19 90 94 19 19 83 87 19 19 76 72 69 65 80 19 19 19 19 19 61 57 19 19 53 19 19 49 0 Quelle: Datenhandbuch des Deutschen Bundestages. Für den 18. Deutschen Bundestag liegen noch keine detaillierten Informationen über die Schulabschlüsse der Parlamentarier vor, aber zurzeit spricht nichts dafür, dass sich das Bild grundlegend geändert hat. So stellen etwa Arbeiter und Handwerker gemeinsam nur 2,8 Prozent der Abgeordneten, während etwa dreimal so viele Unternehmer oder Selbstständige und sogar achtmal so viele Juristen vertreten sind (FAZ, 22. Oktober 2013). Erfolgsfaktor Geld Nun ließe sich vermuten, dass die Überrepräsentation von Akademikerinnen und Akademikern im Bundestag Ergebnis der an die Abgeordneten gestellten Anforderungen und damit die Folge eines Kompetenzvorsprungs ist. Viele im Parlament verhandel te Themen sind schwierig und verlangen großes Fachwissen. Doch der vermeintliche Kompetenzvorsprung ist nicht der einzige Grund. Wenn man statistisch überprüft, wer von den aufgestellten Kandidaten den Sprung ins Parlament schafft, fällt eine Reihe von Punkten ins Auge. Wichtig ist etwa, ob man auf einem sicheren Listenplatz platziert ist oder in einem Wahlkreis antritt, der in der Vergangenheit mit klarer Mehrheit an die eigene Partei ging. Zudem steigt die Wahrscheinlichkeit, gewählt zu werden, mit dem Bekanntheitsgrad. Amtsinhaber haben somit einen Vorteil gegenüber Herausforderern, die bisher kein politisches Amt innehatten. Die Akademikerrepublik 93 Private Ausgaben und erfolgreiche Kandidaturen Abb. 3 Wahrscheinlichkeit, in den Bundestag gewählt zu werden 1 0,8 0,6 0,4 0,2 Private Wahlkampfausgaben in Euro 0 0 4.000 8.000 12.000 16.000 20.000 Quelle: GLES Kandidatenstudie 2009. Doch selbst wenn all diese Faktoren berücksich tigt werden, bleiben die im Wahlkampf aufgewen Kandidatinnen und Kandidaten, deten Ressourcen ein wichtiger Erklärungsfaktor: die mehr Geld und Zeit in ihren Wer für den Bundestag kandidieren möchte, muss Wahlkampf investieren, haben Zeit, aber auch eigenes Geld investieren, wodurch die Hürden für viele Berufsgruppen und für größere Erfolgsaussichten. Geringverdiener hoch werden. Kandidatinnen und Kandidaten, die – unter sonst gleichen Bedingungen – mehr Geld und mehr Zeit in ihren Wahlkampf investieren, haben größere Erfolgsaussichten. Dabei kommt es weniger auf das von den Parteien veranschlagte Geld, sondern vielmehr auf die zusätzlich getä tigten privaten Wahlkampfausgaben an. Im Durchschnitt geben Wahlkämpfer mehrere Tausend Euro aus der eigenen Tasche für den Wahlkampf aus – und im Extremfall sogar fünfstellige Beträge. Abbildung 3 zeigt, wie sich die Wahrscheinlichkeit verändert, in den Bundestag gewählt zu werden, wenn die privaten Ausgaben zunehmen. Dabei werden die oben genannten Erklärungsfaktoren sowie eine Reihe weiterer Gründe berücksichtigt, sodass statistisch der „Nettoeffekt“ der privaten Ausgaben ermittelt werden kann. Unter sonst gleichen Bedingungen gilt: Je höher diese liegen, desto höher ist auch die Erfolgsaussicht, in den Bundestag einzuziehen. Allerdings könnte die Kausalität zwischen Ressourcen und Amt auch umgekehrt verlaufen: Die Parteien erwarten von Kandidaten auf aussichtsreichen Listenplätzen oder in sicheren Wahlkreisen, dass sie einen privaten Beitrag zum Wahlkampfbudget leisten. Von aussichtslo 94 Aus der Forschung sen Kandidaten kann dagegen kaum verlangt werden, dass sie eigenes Geld investieren. Doch selbst wenn höhere private Wahlkampfaufwen dungen die Folge einer aussichtsreichen Kandidatur in einem sicheren Wahlkreis oder auf einem vorderen Listenplatz wären, änder te dies nichts an dem demokratietheoretisch problematischen Zusammenhang zwischen Ressourcen und der Möglichkeit, gewählt zu werden. Denn wenn eine Erwartungshaltung in den Parteien besteht, dass eine aussichtsreiche Kandidatur durch nicht unerhebliche Privatausgaben vergolten wird, wirkt dies als Ausschlusskriterium für Aspiranten mit gerin gem Einkommen. Unterrepräsentation als demokratisches Problem? Das von Putnam formulierte Gesetz zunehmender Disproportionalität besagt, dass die soziale Basis immer exklusiver wird, je wichtiger die zu besetzende Position ist. Wie die Forschung auch für Deutschland zeigt, rekrutieren sich die Eliten in der Wirtschaft über proportional aus einem relativ kleinen Bevölkerungssegment. Für die Politik galt dies bislang in geringerem Ausmaß, doch sitzen auch in den Parlamenten heute fast nur noch Akademiker. Eine Laufbahn wie die von Norbert Blüm, der als Werkzeugmacher bei Opel arbeitete, erst auf dem zweiten Bildungsweg studierte und schließlich Bundesminister wurde, gibt es kaum noch. Und mit Bodo Ramelow gibt es in den fünfzehn deutschen Bundesländern nur einen Ministerpräsidenten ohne Hochschulabschluss. Diese Verschiebung in der Zusammensetzung der politischen Elite berührt die Frage, ob Repräsentation vollständig darauf verzichten kann, dass die Repräsentanten den Repräsentierten ähneln. Wer in den Parlamenten sitzt, darauf haben Befürworterinnen der Gruppenrepräsentation hingewiesen, ist für die dort getroffenen Entscheidungen nicht Die Akademikerrepublik 95 unerheblich. Das belegen auch einige in den letzten Jahren veröffentlichte empirische Studien. Repräsentation als Dialog kann nur gelingen, wenn sich die Lebenswelten von Repräsentanten und Repräsentierten überlappen. Sonst treffen erstgenannte Entschei dungen über Probleme, die sie selbst nur aus zweiter Hand kennen. Ein sozial homogenes Parlament kann zudem bei sozial benachteiligten Gruppen das Gefühl verstärken, nicht repräsentiert zu werden. „Die da oben“ werden in diesem Fall als fremd und von den eige nen Problemen weit entfernt wahrgenommen. Armin Schäfer Armin Schäfer ist seit 2014 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „International Vergleichende Politische Ökonomie“ an der Universität Osnabrück. Er war von 2001 bis 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter am MPIfG. 2014 habili tierte er sich an der Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg. Er studierte Politik wissenschaft, Volkswirtschaftslehre sowie Friedens- und Konfliktforschung an der Universität Marburg und der University of Kent at Canterbury und wurde 2004 an der Universität Bremen promoviert. Forschungsinteressen: Demokratie und soziale Ungleichheit; politische Ökonomie; europäische Integration; Parteien. Portrait Armin Schäfer: http://tinyurl.com/schaefer-taz Zum Weiterlesen SCHÄFER, A.: Der Verlust politischer Gleichheit: KÜHNE, A.: Repräsentation enträtselt oder Warum die sinkende Wahlbeteiligung der immer noch „the Puzzle of Representation“? Demokratie schadet. Schriften aus dem Max- Entwicklungen und Lehren aus unterschiedli Planck-Institut für Gesellschaftsforschung, Bd. chen Forschungsstrategien. Zeitschrift für 81. Campus, Frankfurt a.M. 2015. Parlamentsfragen 44(3), 459–485 (2013). SCHÄFER, A., VEHRKAMP, R. & GAGNÉ, PHILLIPS, A.: The Politics of Presence: The J. F.: Prekäre Wahlen: Milieus und soziale Political Representation of Gender, Ethnicity, Selektivität der Wahlbeteiligung bei der and Race. Oxford University Press, Oxford Bundestagswahl 2013. Bertelsmann Stiftung, 1995. Gütersloh 2013. www.wahlbeteiligung2013.de PITKIN, H. F.: The Concept of Representation. University of California Press, Berkeley 1967. HARTMANN, M.: Soziale Ungleichheit – kein Thema für die Eliten? Campus, Frankfurt a.M. 2013. 96 Aus der Forschung Ökonomisierung und moralischer Wandel Dominic Akyel Wir leben in einer Welt, in der alles zur Ware werden kann, sogar natürliche Ressourcen wie Trinkwasser, soziale Leistungen oder künstlerische Ideen. Ursächlich für diese Entwicklung waren allerdings nicht nur politische und ökonomische Veränderungen, sondern auch der Wandel sozialer Wertvorstellungen. Was jedoch macht die moralische Dimension der Ökonomisierung aus? Der englische Begriff Whale Watching bezeichnet einen neuen Tourismuszweig, der sich immer größerer Beliebtheit erfreut: die Beobachtung von Walen und von Delfinen in ihrem natürlichen Lebensraum. Dass Walbeobachtung eine kommerziell lohnende Branche werden konnte, also ökonomisiert werden konnte, liegt in einem moralischen Wandel begründet, der das Verhältnis der Menschen zum Wal verändert hat. Während Wale noch zu Beginn des zwanzigsten Jahrhunderts als ökonomische Ressource wahr genommen wurden, entwickelten sich Walerzeugnisse im Verlauf des Jahrhunderts durch moralische Veränderungen von legalen und legitimen zu moralisch umstrittenen Gütern, die einer hohen Marktregulierung unterworfen wurden. Die kommerzielle Walbeobachtung bildete sich als Folge einer Ausweitung sozialer Verbote heraus, die mit einer Tabuisierung bestimmter Produkte, in diesem Fall von Walerzeugnissen aus nicht akzeptierten Fängen, einherging. Die tatsächliche Entstehung und konkrete Ausgestaltung des Marktes hing zwar ebenso von den Aktivitäten lokaler Unternehmer ab, der Wandel kultureller Vorstellungen war jedoch eine wichtige Voraussetzung. Ökonomisierung und moralischer Wandel 97 Der Handel mit moralisch problematischen Produkten Die Frage nach moralischen Werten stellt sich in modernen kapitalistischen Ökonomien deshalb, Moralischer Wandel ist eine weil das wirtschaftliche Handeln ebenso von sozia Triebkraft der Ökonomisierung. len und kulturellen Wertvorstellungen gesteuert und strukturiert wird wie von verbindlichen Rechtsnormen. Aus diesem Grund gehen ökonomische Veränderungen häufig mit einer moralischen Neubewertung von Waren und Gütern einher. Moralischer Wandel ist deshalb eine wichtige Triebkraft für die Entstehung von Ökonomisierungsprozessen. In besonderem Ausmaß zeigt sich der große Einfluss sozialer Wertvorstellungen, wenn moralisch problematische Produkte und Dienstleistungen auf Märkten gehandelt wer den. Beim Geschäft mit Gütern, die als schützenswert, anrüchig oder gefährlich ein gestuft werden, geraten ökonomische Anforderungen und moralische Vorstellungen regelmäßig in Konflikt. Bei der Spekulation mit Lebensmitteln, dem Angebot erotischer Dienstleistungen oder der Waffenproduktion müssen Unternehmer deshalb besondere Strategien anwenden, um ihr Handeln zu legitimieren und ihre ökonomischen Ziele zu verfolgen. Daher unterliegt der Handel mit derartigen Produkten neben rechtlichen häufig auch speziellen moralischen Einschränkungen. Was jedoch war dafür verantwortlich, dass sich das Marktprinzip während der letzten Jahrzehnte auch in vielen außerökonomischen Bereichen etablieren konnte? Moralische Ansprüche wurden in den Hintergrund gedrängt Viele industrialisierte Länder haben seit den 1970er-Jahren Wirtschaftlichkeit und Renta bilität in den Mittelpunkt gestellt und eine Ausweitung von Marktbeziehungen vorange trieben. Dieser zumeist als „Ökonomisierung“ bezeichnete Prozess zeigt sich mittlerweile in fast allen Wirtschafts- und Gesellschaftsbereichen. Ursächlich dafür war neben politi schen und ökonomischen Veränderungen auch der Wandel sozialer Wertvorstellungen. Im Bestattungswesen herrscht aufgrund von moralischen Bedenken ein informelles Verbot gewinn orientierten Wirtschaftens. Unternehmer müssen deshalb besondere Strategien anwenden, um ihr Handeln zu legitimieren und um ihre ökonomischen Ziele erfolgreich zu verfolgen. 98 Aus der Forschung Zur Ausweitung von Marktbeziehungen trug außerdem die zunehmende Individualisierung bei. Dadurch, dass sich die Menschen immer mehr von gesellschaftlichen Erwartungen emanzipiert haben, sind neue Bedürfnisse und Handlungsziele in den Vordergrund gerückt. Der zeitgenössische Ökonomisierungstrend zeigt sich dabei in vielen Varianten. Auf der einen Seite haben sich in den letzten Jahrzehnten ver industrialisierte Länder Rentabilität stärkt neue Märkte in vormals nicht ökonomi und Effizienz in den Mittelpunkt. sierten Bereichen etabliert, während staatliche Unternehmen privatisiert und Gesetzesordnungen liberalisiert wurden. Auf der anderen Seite sind Unternehmer und Kunden heutzutage viel stärker als in der Vergangenheit auf Gewinn- und Konsummaximierung ausgerichtet. Damit haben klassische Handlungsprinzipien der Wirtschaft an Geltungskraft gewonnen, während moralische und soziale Ansprüche zugunsten von Kosten-Nutzen-Kalkulationen in den Hintergrund gedrängt wurden. Seit den 1970er-Jahren stellen viele Um fortschreitende Ökonomisierung jedoch überhaupt als solche identifizieren zu können, muss man wissen, was die kapitalistische Wirtschaftsordnung in ihrem Wesen ausmacht. Als genuin kapitalistisch gelten solche Ökonomien, in denen privates Unternehmertum, Privateigentum und freie Märkte den Austausch sowie die Güterproduktion bestimmen. Im Gegensatz zu frühen Formen kapitalorientierten Wirtschaftens werden in modernen kapitalistischen Ökonomien sowohl der Handel als auch die Produktion durch private Unternehmer finanziert. Der Besitz der Produktionsmittel konzentriert sich dabei in den Händen einer Minderheit, während der Großteil der Bevölkerung seinen Lebensunterhalt durch Lohnarbeit erwirtschaftet. Der Großteil der wirtschaftlichen Aktivität beruht dem nach auf der Investition von Kapital. Liberalismus und Neoliberalismus in einer globalisierten Wirtschaft Großen Einfluss auf die historische Entwicklung des Kapitalismus hatte der Liberalismus, der im achtzehnten Jahrhundert entstand. Die Anhänger dieser Denkschule glaubten daran, dass gesellschaftlicher Reichtum am besten durch die Kultivierung des individuel len Gewinnstrebens auf freien Märkten zu verwirklichen sei. Sie forderten unbeschränk ten Wettbewerb, freien Handel und eine Minimierung staatlichen Eingreifens in das Wirtschaftsgeschehen. Auch wenn die Ideen des Liberalismus nicht überall gleichermaßen umgesetzt wurden, hatte dieser eine große Wirkung. Vom neunzehnten bis zum frühen zwanzigsten Jahrhundert war das Postulat der Selbstregulierung der Ökonomie eines der wichtigsten Leitbilder der Wirtschaftspolitik. Aus dem Blickwinkel der Zeitgeschichte hat der Ökonomisierungstrend von heute seinen Ursprung im Aufschwung des neoliberalen Denkens in der zweiten Hälfte des zwanzigsten Jahrhunderts. Die Bezeichnung „Neoliberalismus“ bezieht sich dabei auf eine Strömung des Liberalismus, deren Anhänger sich für den freien Austausch von Waren auf Märkten sowie eine radikale Begrenzung staatlicher Eingriffe einsetzen. Ihnen zufolge sollte der Staat seinen Einfluss lediglich zur Sicherung von Recht und Freiheit nutzen, nicht jedoch für die Schaffung eines sozialen Ausgleichs. Ökonomisierung und moralischer Wandel 99 Bio-Supermärkte erreichen heute breite Käuferschichten. Beim Kauf von Lebensmitteln orientiert sich das Markthandeln von Produzenten und Konsumenten heutzutage in weit stärkerem Maße an öko logischen, sozialen und politischen Bewertungsmaßstäben als noch vor zwei Jahrzehnten. Die weltweite politische Umsetzung neoliberaler Ideen war zum einen der intensiven Propagierung dieses Leitbildes durch proliberale Expertennetzwerke geschuldet. Zum anderen wurde sie durch die zunehmende globale Vernetzung von Politik und Wirtschaft gefördert. Anreize für die Umsetzung neoliberaler Managementkonzepte ergaben sich aber auch infolge verschiedener wirtschaftlicher und politischer Veränderungen. So sorgten intensiver globaler Wettbewerb, Rationalisierungsmaßnahmen, wirtschaftliche Konzentrationsprozesse sowie technische Fortschritte für eine höhere Dynamik auf vie len Märkten – der Markteintritt branchenfremder Investoren sowie gestiegene Gewinn ansprüche trugen ebenso dazu bei. Die moralische Dimension der Ökonomisierung Den Aufwind für neoliberale Managementkon te und damit für den Trend zur zeitgenös Ökonomisierung setzt häufig eine zep sischen Ökonomisierung verursachten also ver Neubewertung eines Handelsgutes schiedene soziale, politische und ökonomische und damit den Wandel seiner mora Wandlungsprozesse. Doch gab es auch ideologisch gelenkte Veränderungen: Denn Ökonomisierung lischen Dimension voraus. hat auch eine moralische Dimension. Wer neo liberale Steuerungsmodelle umsetzt, muss sich immer auch der Frage stellen, in welchen Bereichen man einen weitgehend regelfreien Markt zulassen kann und möchte, und ob überhaupt eine grundsätzliche Markteignung des jeweiligen Gutes besteht. Es gibt eine ganze Reihe ambivalenter Güter, beispielsweise sexuelle Dienstleistungen oder Produkte im Bestattungswesen, bei denen Unsicherheit darüber herrscht, ob diese auf freien Märkten gehandelt werden sollten. In diesen Bereichen stehen sich zumeist 100 Aus der Forschung widerstreitende Auffassungen über die Markteignung des betreffenden Gutes und den Umfang der Regulierung unversöhnlich gegenüber. So setzt Ökonomisierung häufig eine Neudefinition und Neubewertung eines Handelsgutes und damit den Wandel seiner moralischen Dimension voraus. Von moralischen zu wirtschaftlichen Veränderungen Ein Beispiel für wirtschaftlichen Wandel infolge einer Veränderung der kulturellen Bedeutung von Gütern ist der Markt für nachhaltige Produkte wie Fair-Trade-Bekleidung, Bio-Lebensmittel oder Ökostrom. Anders als bei herkömmlichen Waren sind bei der Herstellung und beim Kauf dieser Güter moralische Kriterien maßgebend. In den letzten Jahren hat sich das Image dieser Waren allerdings stark verändert. In der Vergangenheit repräsentierten diese Güter die Partikularinteressen der Umwelt-und Naturkostbewegung. Mittlerweile wird der Anspruch auf Nachhaltigkeit und Natürlichkeit von vielen Bevölkerungsschichten geteilt. Dementsprechend orientiert sich das Markthandeln von Produzenten und Konsumenten heutzutage in weit stärkerem Maße an ökologischen, sozi alen und politischen Bewertungsmaßstäben als noch vor zwei Jahrzehnten. Der derzeitige Trend zur Ökonomisierung ist somit keineswegs das Ergebnis einer natürlichen Entwicklungstendenz, sondern beruht auch auf veränderten gesellschaftlichen Wert- und Ziel vorstellungen. Denn die notwendigen Entscheidungs- und Gestaltungsspielräume für ökono mischen Wandel entstanden oftmals erst durch soziale Veränderungen, zum Beispiel durch die Herauslösung der Menschen aus bestehenden sozialen und kulturellen Pflichten. Individualisierungsprozesse tragen zur Ökonomi sierung bei, indem sie das Spannungsverhältnis zwischen ökonomischen Anforderungen und chen das Spannungsverhältnis zwi moralischen Vorstellungen abschwächen. Häufig schen ökonomischen Anforderungen kommt es dabei allerdings zu moralischen Kon und moralischen Vorstellungen ab. ten. In ambivalenten Wirtschaftsbereichen flik den sich oft Protestbewegungen heraus, die bil sich mal grundsätzlich, mal mit Blick auf einzelne Aspekte gegen eine Ausweitung von Marktbeziehungen einsetzen. Jüngstes Beispiel für diese Tendenz ist der weltweite Protest der Occupy-Bewegung gegen Spekulationsgeschäfte auf den Finanzmärkten und das Eindringen ökonomischer Prinzipien in die Politik. Individualisierungsprozesse schwä Keine Abkehr vom Primat neoliberaler Wirtschaftspolitik in Sicht Trotz dieser Gegenbewegungen scheint eine politische Abkehr vom Primat neoliberaler Wirtschaftspolitik nicht in Sicht zu sein. Das liegt einerseits daran, dass der politische Wille fehlt, Forderungen nach sozialer Sicherheit und Gerechtigkeit einen größeren Stellenwert einzuräumen. Andererseits sind die negativen Folgen der Ökonomisierung nicht immer sofort als solche zu erkennen. Ökonomisierung und moralischer Wandel 101 Dass die Verabsolutierung wirtschaftlicher Prinzipien unerwünschte Konsequenzen hat, ist dabei unbestritten. Ökonomisierung führt nicht nur zu einem Mehr an sozia ler Ungleichheit, was sich beispielsweise in zunehmenden Einkommensunterschieden bemerkbar macht. Sie sorgt auch dafür, dass soziale Werte wie Fairness, Verantwortlichkeit und Nachhaltigkeit aus dem Wirtschaftsleben ausgesperrt werden. Die Debatte um die Ökonomisierung berührt somit elementare Fragen nach den Grundprinzipien unseres sozialen Zusammenlebens. Um sicherzustellen, dass Politik, Wissenschaft und Kultur auch in Zukunft ihre eigentlichen Funktionen erfüllen können, scheint es sinnvoll, den Geltungsbereich der Marktkräfte zu begrenzen. Sonst könnte an die Stelle einer solidarischen Gesellschaft irgendwann ein allumfassender Markt treten, auf dem sich die Menschen nur noch als Vertragspartner in einem Tausch von Gütern und Leistungen begegnen. Dominic Akyel Dominic Akyel ist seit Ende 2014 Geschäftsführender Direktor des Exzellenz zentrums für Soziales und Ökonomisches Verhalten (C-SEB) an der Universität zu Köln. Zuvor war er von 2011 bis 2014 wissenschaftlicher Mitarbeiter sowie For schungskoordinator am MPIfG. Zwischen 2012 und 2014 arbeitete er zudem als freiberuflicher Wirtschaftsreferent und Strategieberater für verschiedene Unter nehmen und Berufsverbände. Forschungsinteressen: Wirtschaftssoziologie; Politische Ökonomie; Kultursoziolo gie; Religionssoziologie. Zum Weiterlesen AKYEL, D.: Ökonomisierung und morali AKYEL, D.: Die Ökonomisierung der Pietät: scher Wandel: Die Ausweitung von Markt Der Wandel des Bestattungsmarkts in beziehungen als Prozess der moralischen Deutschland. Schriften aus dem Max-Planck- Bewertung von Gütern. MPIfG Discussion Institut für Gesellschaftsforschung, Bd. 76. Paper 14/13. Max-Planck-Institut für Campus, Frankfurt a.M. 2013. Gesellschaftsforschung, Köln 2014. www.mpifg.de/pu/mpifg-dp/dp14-13.pdf AKYEL, D.: Qualification under Moral Constraints: The Funeral Purchase as a AKYEL, D. & BECKERT, J.: Pietät und Profit: Problem of Valuation. In: Beckert, J. & Kultureller Wandel und Marktentstehung Musselin, C. (Hg.), Constructing Quality: am Beispiel des Bestattungsmarktes. The Classification of Goods in Markets. Kölner Zeitschrift für Soziologie und Oxford University Press, Oxford 2013, Sozialpsychologie 66(3), 425–444 (2014). 223–244. Auszug aus dem Essay „Ökonomisierung und moralischer Wandel“ von Dominic Akyel im Rahmen der Themenwoche „Ware Welt“ des Deutschlandfunks (7. Dezember 2014). > tinyurl.com/akyel-oekonomisierung 102 Aus der Forschung Die „Neue Ökonomie“ des industriellen Kapitalismus Eine industrielle und institutionelle Revolution Alfred Reckendrees Als die Industrialisierung um 1840 in den meisten deutschen Regionen begann, arbeiteten in Aachen bereits mehr als die Hälfte aller Beschäftigten in großen Fabriken. Dampfmaschinen und rauchen de Schornsteine prägten das Bild der Stadt. Wie kam es dazu? Welche Veränderungen brachte die Industriewirtschaft mit sich? Warum war die Entwicklung im westlichen Rheinland so dynamisch? Alfred Reckendrees geht diesen Fragen in einem wirtschaftshistorischen Forschungsprojekt nach. Heute beschränken sich viele deutsche Unternehmen auf die Entwicklung und Vermark tung von Produkten, während die Fertigung in Pakistan, Bangladesch oder Osteuropa erfolgt. Vor gut zweihundert Jahren hatte in den deutschen Staaten ein umgekehrter Prozess begonnen. Bis zum Ende des achtzehnten Jahrhunderts war das Verlagssystem die wichtigste Produktionsform für überregionale Handelsgüter. Kaufleute – die Verleger – lieferten Rohmaterialien an heimgewerbliche Produzenten, die mit eigenen Produktionsmitteln beispielsweise Garn zu Tuch webten. Der Verleger bestimmte die Qualität und das Muster des Tuchs und ließ es verarbeiten. Ab Beginn des neunzehnten Jahrhunderts löste die Fabrik dieses dezentrale Produktionssystem ab. Das Ergebnis war ein neues Produktions- und Akkumulationsregime, das die unternehmerische Tätigkeit ebenso grundlegend veränderte wie die Arbeit. Der fundamentale Transformationsprozess Die „Neue Ökonomie“ des industriellen Kapitalismus 103 Viele Schwellenländer stehen heute vor Problemen, die denen des neunzehnten Jahrhunderts stärker ähneln als den Herausforderungen, denen unsere postindustrielle Gesellschaft gegenübersteht. vom Handels- zum Industriekapitalismus ist nicht allein historisch bemerkenswert. Heute stehen viele „Schwellenländer“ vor Problemen, die denen des neunzehnten Jahrhunderts stärker ähneln als den Herausforderungen, denen unsere postindustrielle Gesellschaft gegenübersteht. In der vorindustriellen Zeit hatten die meisten Produzenten in Familienwirtschaften gelebt, zu denen etwas Land gehörte. Die neuen Industriearbeiter mussten ausschließlich von ihrem Lohn leben. In den Fabriken ersetzten von Wasser- oder Dampfkraft getriebene Maschinen die Handarbeit, der Lebensbereich Arbeit wurde von der Familie getrennt. Für die Fabrikunternehmer war der Wandel zwar einträglicher, aber ebenso radikal. Anders als die Verleger mussten sie viel Geld in Gebäude und Maschinen investieren, organisatori sches Wissen erwerben und Hunderte von Arbeitern koordinieren. Das finanzielle Risiko wuchs, weil sich diese Anlagen nicht kurzfristig amortisierten. Wirtschaftlichkeit hing von der Kapazitätsauslastung ab, doch zugleich vergrößerte die Massenproduktion die Abhängigkeit von internationalen Konjunkturzyklen und Nachfrageänderungen. Auch der Gütertransport und die Kommunikation erlebten einen radikalen Wandel; die Eisenbahn senkte die Transportkosten drastisch und wichtige Informationen reisten nun per Telegraf in wenigen Minuten über den gesamten Kontinent. Die Durchsetzung der industriellen Produktion war kein zwangsläufiger Modernisie rungsprozess. Sie erfolgte regional ungleichzeitig und war von handelnden Menschen geprägt. Unternehmerisches und technisches Lernen, Wissenstransfer zwischen Industrien, die Kooperation und Konkurrenz wirtschaftlicher Akteure, aber auch soziale Konflikte prägten die Entwicklung. 104 Aus der Forschung Indirekt dampfbetriebene Webstühle der Weberei Krahnen & Gobbers in Wassenberg, 1894. Die wirtschaftliche Dynamik basierte zu Beginn des neunzehnten Jahrhunderts zunächst auf dem Tuch gewerbe. In Aachen wurde die erste Fabrik, die alle Arbeitsprozesse vom Spinnen bis zur Veredelung der Stoffe integrierte, 1817 eingerichtet. Hier trieb eine zentrale Dampfmaschine die Maschinen an. Fünfzehn Jahre später hatten alle größeren Tuchfabriken auf die mechanisierte Produktion umge stellt. 1850 standen im Regierungsbezirk Aachen fünfmal so viele Dampfmaschinen pro Einwohner wie im preußischen Durchschnitt. Die institutionelle Revolution im Rheinland Der Export der Französischen Revolution und die Integration des Rheinlands in den franzö sischen Staat im Jahr 1798 brachten der regi auf eine verdichtete Gewerberegion onalen Wirtschaft einen großen, zollfreien und eine Gesellschaft im Umbruch, Binnenmarkt und eine einheitliche Währung, die die diese Impulse produktiv auf Napoleonischen Gesetze dagegen eine liberale Rechts- und Wirtschaftsordnung, die bürgerli nehmen konnte. ches Eigentum und Rechtssicherheit garantierte. Dies bewirkte, wie der Historiker Paul Thomes schreibt, einen „Mobilitätsschub für die Produktionsfaktoren Boden, Arbeit und Kapital“. Während die Einführung moderner Institutionen heute in vielen Entwicklungsländern scheitert, traf die institutionelle Revolution im Rheinland auf eine verdichtete Gewerberegion und eine Gesellschaft im Umbruch, die diese Impulse produktiv aufnehmen konnte. Die Abschaffung der Zünfte besiegelte Jahrzehnte lange Auseinandersetzungen um gewerbliche Freiheit. Und eine marktorientierte Agrarwirtschaft, seit Jahrhunderten weitgehend frei von feudalen Bindungen, produzierte für die Städte und Gewerberegionen. Die institutionelle Revolution traf Die „Neue Ökonomie“ des industriellen Kapitalismus 105 Wichtige Industrien im Rheinland um 1815 Abb. 1 M.Gladbach Düsseldorf Neuss Rheydt Erkelenz Heinsberg RHEIN Geilenkirchen Köln Jülich Eschweiler Düren Aachen Siegburg Burtscheid Bonn Zülpich Euskirchen Eupen Gemünd Monschau Münstereifel Ahrweiler Malmedy St. Vith Kohlenbergbau Eisenindustrie Tuchindustrie Quelle: Alfred Reckendrees, eigene Darstellung. Gerade weil die neue institutionelle Ordnung im Rheinland keinen „Urknall“ bedeute te, konnten die Unternehmer die wirtschaftlichen Freiheiten so produktiv nutzen. Die Handelskammer und das Handelsgericht dienten ihnen zur Formulierung kollektiver Interessen. Als das Rheinland 1816 preußisch wurde, blieben diese Institutionen erhalten. Preußen akzeptierte die französische Rechts- und Wirtschaftsordnung im Rheinland, um die Bürger der wirtschaftskräftigen neuen Provinz nicht gegen sich aufzubringen, und löste sie nur allmählich durch neues Recht ab. Zudem wollten die preußischen Reformer positive Entwicklungen zur Ausweitung bürgerlicher Rechte in ganz Preußen nutzen. 106 Aus der Forschung Wichtige Industrien im Rheinland um 1850 Abb. 2 M.Gladbach Düsseldorf Neuss Rheydt Erkelenz Heinsberg RHEIN Geilenkirchen Köln Jülich Eschweiler Düren Aachen Siegburg Burtscheid Bonn Zülpich Euskirchen Eupen Gemünd Monschau Münstereifel Ahrweiler Malmedy St. Vith Kohlenbergbau Eisenindustrie Tuchindustrie Maschinenbau Zinkindustrie Eisenbahn Quelle: Alfred Reckendrees, eigene Darstellung. Die industrielle Revolution im Rheinland Die industrielle Produktion etablierte sich im Aachener Raum früher und schneller als in anderen deutschen Regionen. Um 1850 hatte sich die Fabrikproduktion in fast allen Branchen durchgesetzt. Damals arbeiteten im Aachener Raum nur noch zwanzig Prozent der Erwerbstätigen in der Landwirtschaft, aber zwei Drittel in der gewerblichen Produktion, überwiegend in Fabriken mit über einhundert Beschäftigten. Nur wenige Indikatoren erlauben einen überregionalen Vergleich: Doch 1850 standen im Regierungsbezirk Aachen Die „Neue Ökonomie“ des industriellen Kapitalismus 107 fünfmal so viele Dampfmaschinen pro Einwohner wie im preußischen Durchschnitt; auch in Hinblick auf moderne Unternehmen waren Aachen, Düsseldorf und Köln mit der Hälfte aller Aktiengesellschaften in Preußen führend. Die wirtschaftliche Dynamik basierte zunächst auf dem Tuchgewerbe. Die erste Fabrik, die alle Drei industrielle Cluster, Arbeitsprozesse vom Spinnen bis zur Veredelung Tuchindustrie, Eisenindustrie der Stoffe integrierte, wurde 1817 durch den und Kohlenbergbau, prägten die englischen Mechaniker Dobbs eingerichtet. Eine zentrale Dampfmaschine trieb alle Maschinen Entwicklung. an. Fünfzehn Jahre später hatten alle größeren Tuchfabriken auf die mechanisierte Produktion umgestellt. Das technische Wissen solcher Mechaniker machten sich andere Branchen zunutze; Fabriken für Textil-, Dampf- oder Papiermaschinen entstanden. Dobbs konstruierte auch die Anlagen der „Drath FabrickCompagnie“ (1821) in Eschweiler. Es ist „alles schön, was aus den Händen dieses Mannes hervorgehet“, schwärmte der Aachener Regierungspräsident. Drei industrielle Cluster prägten die Entwicklung: Tuchindustrie, Eisenindustrie und Kohlenbergbau. In jedem Cluster bestand starke Konkurrenz; wegen des Wettbewerbs mussten die Unternehmen ihre Produktivität steigern und die Produkte verbessern. Doch zwischen den Clustern bestand ein intensiver Wissens- und Technologietransfer. Dem Maschinenbau kam eine Scharnierfunktion zu, auch weil die Nachfrage noch zu gering für eine Spezialisierung war und die Unternehmen für mehrere Branchen arbeiteten. So wur den neue Ideen schnell verbreitet. Aktiengesellschaften ermöglichten ebenfalls Lerneffekte, wie die 1836 gegründete „Vereinigungsgesellschaft“ zeigt. Ihr Zweck war es, Kohlengruben aufzukaufen, technisch zu verbinden und zu rationalisieren. Unternehmer aus verschiede nen Branchen beteiligten sich mit ihrem Kapital und ihren jeweiligen Fachkompetenzen. Mehrere innovative Neugründungen wurden von solchen branchenübergreifenden Netzwerken getragen. Sozialer Konflikt und gesellschaftliche Integration Die Einführung der Fabrikproduktion erfolgte kei nes wegs harmonisch; viele Arbeiter fühlten Gesellschaftliche Stabilität und sich den Fabrikherren ausgeliefert. Wiederholt sozialer Frieden waren den kam es zu schweren Konflikten. Als 1830 bei Industriellen so wertvoll, dass sie einer lokalen Revolte auch das Haus des reichsten Kapitalisten Aachens geplündert wurde, sahen nach Wegen suchten, um „den sich Handelsgericht und Handelskammer genö Arbeiter“ in die kapitalistische tigt, das Problem zu diskutieren. Die Unternehmer Gesellschaft zu integrieren. stellten fest, dass viele Fabrikarbeiter in der Tat nicht imstande seien, „sich mit ihren Familien ordentlich zu nähren“. Um „dem Geist der Unzufriedenheit“ zu begegnen, forderten sie gesetzliche Mindeststandards für Arbeit und Entlohnung. Denn freiwillige Vereinbarungen würden nicht von allen Unternehmen eingehalten. Doch die preußische Regierung wollte nicht in freie Arbeitsverträge eingreifen. 108 Aus der Forschung Drei Jahrzehnte später forderte die Handelskammer paritätische Schiedskommissionen, die Arbeitskonflikte schlichten, tarifliche Mindeststandards vereinbaren und Mindestlöhne festlegen können sollten. Die Arbeiter sollten ihre Mit glie der frei wählen, damit deren Entscheidungen auch akzeptiert würden. Zudem schlug sie eine verpflichtende „Rentencasse“ zur Sicherung der „Existenz des Arbeiters im arbeitsunfähigen Lebens alter“ vor. Denn der Lohn reiche nicht dazu aus, private Vorsorge zu leisten. Sie sollte aus Zwangsbeiträgen der Unternehmer, Arbeiter und der Stadt finanziert werden. Diese Überlegungen gingen den Bismarck’schen Sozialversicherungen zwanzig Jahre voraus, fan den aber damals keine Zustimmung in der Regierung. Doch immerhin waren gesellschaft liche Stabilität und sozialer Frieden den Industriellen so wertvoll, dass sie nach Wegen suchten, um „den Arbeiter“ in die kapitalistische Gesellschaft zu integrieren, damit er „bis an sein Ende ein nützliches, das Eigenthum achtendes Mitglied“ der Gesellschaft bleibe. Jenseits der Geschichte Die Anfänge der kapitalistischen Industriewirtschaft verweisen auf die Bedeutung regiona ler Dimensionen für wirtschaftliche Entwicklung. Während Michael Porters Cluster-Kon zept die positiven Effekte regional konzentrierter einzelner Branchen betont, zeigt das Beispiel Aachen, dass auch branchenübergreifende Kooperation unternehmerische Lern prozesse und Wissenstransfer begünstigen und erhebliche Synergien erzeugen kann, und dass kooperative Institutionen wirtschaftliche Handlungsoptionen vergrößern und Investitionen in die Infrastruktur erleichtern können. Die Industriegesellschaft hat viele soziale Institutionen hervorgebracht, die unser Leben bis heute bestimmen. Doch ihre Hintergründe sind vergessen. Die Diskussion über die Zukunft des Sozialstaats mag durch eine historische Perspektive einen anderen Akzent erhalten. Es dürfte heute überraschen, dass Mindestlöhne, (etwas) Mitbestimmung und Rentenversicherung einmal von Unternehmern vorgeschlagen wurden, die sich um die Integrationsfähigkeit der kapitalistischen Gesellschaft sorgten. Die „Neue Ökonomie“ des industriellen Kapitalismus 109 Alfred Reckendrees Alfred Reckendrees war von Juni 2014 bis Juni 2015 Gastwissenschaftler am MPIfG und forscht zum Thema „Die ,New Economy‘ des industriellen Kapitalismus: Industrielle und institutionelle Revolution im Rheinland“. Er ist Associate Professor an der Copenhagen Business School und Mitherausgeber der Scandinavian Econo mic History Review. Forschungsinteressen: Unternehmens- und Wirtschaftsgeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts; Unternehmen in Krisenzeiten; historische Zugänge zur Entrepre neurship-Forschung; die Verwendung von Geschichte in Organisationen. Zum Weiterlesen RECKENDREES, A.: Institutioneller Wandel und RECKENDREES, A.: Why Did Early Industrial wirtschaftliche Entwicklung: Das westliche Capitalists Suggest Minimum Wages and Rheinland in der ersten Hälfte des 19. Social Insurance? MPRA paper 55520, online Jahrhunderts. In: Gilgen, D., Kopper, C. & veröffentlicht 2. September 2014. Leutzsch, A. (Hg.), Deutschland als Modell? http://mpra.ub.uni-muenchen.de/58186/ Rheinischer Kapitalismus und Globalisierung seit dem 19. Jahrhundert. Politik- und Gesellschaftsgeschichte, Bd. 88. Verlag J.H.W. Dietz, Bonn 2010, 45–87. RECKENDREES, A.: Zur Funktion der Aktiengesellschaften in der frü hen Industrialisierung. Jahrbuch für Wirtschaftsgeschichte/Economic history yearbook 2012/2: Die Entstehung des modernen Unternehmens 1400–1860/ The Formation of the Modern Enterprise 1400–1860. Akademie Verlag, Berlin 2012, 137–173. 110 Aus der Forschung Kooperation Europäische und globale Sozialforschung verzahnen Das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) will her ausfinden, wie Individuen, Organisationen und Nationalstaaten mit neuen Formen von Instabilität umgehen. Zugleich steht das Center für eine neue Form der Forschungskooperation: ein gemeinsa mes Center zweier kontinentaleuropäischer Länder mit den bedeutendsten Forschungstraditionen in den Sozialwissenschaften. Das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies Die langjährige Zusammenarbeit des MPIfG mit der renommierten Pariser Hochschule Sciences Po mündete 2012 in der Gründung des MaxPo, das die in Deutschland und Frankreich bestehenden sozialwissenschaftlichen Strömungen international stärker in den Blick rücken soll. Das MaxPo ist ein innovatives und einzigartiges Projekt deutsch-französi scher Forschungskooperation in den Sozialwissenschaften. Die beiden Direktoren, die deut sche Politikwissenschaftlerin Prof. Dr. Cornelia Woll und der französische Soziologe Prof. Dr. Olivier Godechot, bringen Ausbildungs- und Lehrerfahrung aus Deutschland, Frankreich und den USA mit – ein Glücksfall für das Center, in mehr als einer Hinsicht. Denn so weiß etwa Cornelia Woll die sehr interaktiv ausgerichtete Art des Unterrichtens in den USA nach Paris zu importieren, um die diskussionsfreudige Atmosphäre amerikanischer StudierendenKleingruppen nachzuzeichnen. Olivier Godechot, Wissenschaflter der französischen Forschungsinstitution CNRS, war lange Zeit an der École normale supérieure tätig. Cornelia Woll ist nach einem Politik studium in Chicago, einer deutsch-französischen Promotion in Köln und Paris und der Leitung einer Otto-Hahn-Gruppe seit 2004 Dozentin an der Sciences Po. Gemeinsam verzahnen sie US-amerikanische und europäische Sozialforschung. Beide wollen auch britischen und US-amerikanischen Kollegen als Türöffner dienen und den Zugang zu französischen und deutschen sozialwissenschaftlichen Themen erleich tern. Ein Spagat: Denn letztlich wird auf Englisch publiziert; ein Erfordernis des globalen Wissenschaftsmarkts. In ihm den richtigen Platz für die wissenschaftliche Zukunft zu finden – auch darin sehen Cornelia Woll und Olivier Godechot ihre Aufgabe bei der Unterstützung von Doktorandinnen und Doktoranden und jungen Forschern. Max Planck Sciences Po Center Paris 111 Oliver Godechot und Cornelia Woll. Türöffner für englischsprachige Kollegen sein und den Zugang zu französischen und deutschen sozialwissenschaftlichen Thesen erleichtern – das ist das Ziel der Direktoren am MaxPo. Damit wird das Max Planck Center auch Anlaufstelle für die Nachwuchsforscherinnen und -forscher der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE), der Graduiertenschule des MPIfG, in die wiederum die Sciences Po als Partner integriert ist. Aber auch Postdocs werden im Center aufgenommen. Zudem gibt es ein Austauschprogramm für Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler – und alle wirken in den zwei unterschiedlichen Seminarreihen, die SCOOPs, die Seminars and Colloquia on Ökonomie, Politics and Society, und die COOPS, die Conversations on Ökonomie, Politics and Society, mit. Politische Antworten auf sozioökonomische Herausforderungen Godechot und Woll ergänzen sich in ihrer For schung. Sozialstrukturen, Finanzen, Ungleichheit Sozialstrukturen, Finanzen, und Macht – diese Begriffe stehen für zentra Ungleichheit und Macht – das sind le Themen der beiden Forschungsgruppen des die zentralen Forschungsthemen Centers. Die eine, geleitet von Olivier Godechot, blickt auf die Mobilität und Entlohnungsstruktur des MaxPo. auf den Finanzarbeitsmärkten sowie den Topma nager-Arbeitsmarkt und die daraus entstehenden wirtschaftlichen Ungleichheiten. Die andere unter der Leitung von Cornelia Woll lenkt den Fokus auf die Finanzmarktpolitik. Finanzialisierung, Transformation von Arbeitsmärkten und die Zunahme von Ungleichheit Insbesondere die Finanzkrisen der letzten Jahre – 1987, 1998, 2001, 2008 – haben den bedeutenden Einfluss von Finanzmärkten auf die Weltwirtschaft, das Wirtschaftswachstum und den gesellschaftlichen Zusammenhalt deutlich werden lassen und werden als Verursacher für wachsende gesellschaftliche Instabilität angesehen. Occupy Wall Street und andere neue politische Bewegungen prangern diesen direkten Zusammenhang 112 Kooperation zwischen Finanzwirtschaft und Ungleichheit mittlerweile an. „Mich interessierte immer schon, wie die Zwänge und Strukturen eines Finanzmarktes auf die Organisation einer Gesellschaft einwirken“, sagt Olivier Godechot. Die Projekte seiner Forschungsgruppe konzentrieren sich daher auf den Finanzarbeits markt, um das komplexe Konstrukt der Finanzialisierung sowie ihre Ausmaße, Ursachen und Folgen zu analysieren. Wie Positionen und Jobs an bestimmte Personen vergeben werden, kann Aufschluss über die zunehmende wirtschaftliche Ungleichheit geben. Drei Doktorandenprojekte ergänzen derzeit diese Arbeit: Eines beschäftigt sich mit der stei genden Haushaltsverschuldung in den OECD-Ländern, ein weiteres mit dem Risiko management und der Kontrolle von Märkten in größeren Finanzinstitutionen, das dritte mit den Denkmodellen von Ökonomen, die einen wichtigen Anteil an der Legitimation von Finanzialisierung haben und immer neue Wege der Risikokontrolle aufzeigen. Finanzmarktpolitik Cornelia Woll und die Mitglieder ihrer Forschungsgruppe stellen die Frage nach den Rückwirkungen politischer, wirtschaftlicher und gesellschaftlicher Instabilität auf die Politik. Denn aus einer politischen Perspektive betrachtet machte die Finanzkrise von 2007 deutlich, in welchem Ausmaß Regierungen auf Finanzmärkte angewiesen sind. Zugleich zeigte sich, inwieweit der Erfolg der staatlichen Binnenwirtschaft von Märkten abhängt, die aber für Regierungen oft unkontrollierbar sind. Warum mündeten die ergriffenen politischen Maßnahmen nicht immer in internationale Zusammenarbeit? Und warum versagte die internationale Zusammenarbeit ausgerechnet in den Bereichen, in denen sie am dringendsten gebraucht wurde? Hierauf sucht die For schungsgruppe Antworten. Am Schnittpunkt zwischen politischer Ökonomie und kom parativer Politikwissenschaft untersucht sie die Finanzregulierung, die Bankenrettungs- und Geldpolitik sowie die politische Teilhabe unterschiedlicher Interessengruppen. Auch sie betreut derzeit drei Dissertationsvorhaben: Eines betrachtet die politische Dynamik von Finanzreformen als Antwort auf die Kreditkrise von 2007, ein weiteres analysiert, warum es mit der Euroeinführung nicht gelungen ist, effiziente paneuropäische Finanzinfrastrukturen aufzubauen, das dritte erforscht, wie neue Finanzinstrumente eingesetzt werden, um kom munale Infrastruktur als Phänomen kommunaler Governance zu begründen. Rückbesinnung auf klassische Fragen der Wirtschaftssoziologie Beide Wissenschaftler beziehen sich in ihrer Forschungsarbeit auf klassische Fragen der Wirtschaftssoziologie, indem sie Konsequenzen wirtschaftlicher Transformationen für die Gesellschaft analysieren. Der Name des Centers „Umgang mit Instabilität in Marktgesellschaften“ verbindet zwei sozialwissenschaftliche Forschungstraditionen: das Studium sozialer Ungleichheit sowie das Studium der Funktionsweise von Märkten. „Die Wirtschaftssoziologie hat sich in Teilen von wichtigen Fragen der klassischen Sozialwissenschaft – wie denen nach Sozialstrukturen, Ungleichheit und Macht – losgelöst. Mit unseren Arbeiten wollen wir wieder dahin zurückkehren“, so Woll über die zukünftige Forschungsarbeit des Centers. Max Planck Sciences Po Center Paris 113 MaxPo, ein innovatives Projekt deutsch-französischer Forschungskooperation Zum Weiterlesen BAUDELOT, C., CARTRON, D., GAUTIÉ, J., GODECHOT, O., GOLLAC, M. & SENIK, C.: Bien payés ou mal payés? Les travailleurs du public et du privé jugent leurs salaires. Presses de l'ENS, Paris 2014. FOURCADE, M., STEINER, P., STREECK, W. & WOLL, C.: Moral Categories in the Financial Crisis: Discussion Forum. Socio-Economic Review 11(3), 601–627 (2013). GODECHOT, O.: Getting a Job in Finance: The Role of Collaboration Ties. European Journal of Sociology, 55(1), 25–56 (2014). Das Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in WOLL, C.: The Power of Inaction: Bank Market Societies (MaxPo) wurde 2012 von der Pariser Universität Bailouts in Comparison. Cornell University Sciences Po und dem MPIfG gegründet. Die Max-Planck-Gesellschaft Press, Ithaca 2014. und Sciences Po finanzieren das Center, das zunächst auf fünf Jahre ausgelegt ist, zu gleichen Teilen. Es ist Teil der Internationalisie MaxPo Discussion Papers rungsbestrebungen der Max-Planck-Gesellschaft und ein innovatives Projekt deutsch-französischer Forschungskooperation in den Sozial wissenschaften. Kodirektoren des Centers sind der Soziologe Olivier Godechot und die Politikwissenschaftlerin Cornelia Woll. Marion Fourcade, Professorin für Soziologie an der University of California, Berkeley, war bei der Gründung des Zentrums Kodirektorin und ist heute assoziiertes wissenschaftliches Mitglied. Gemeinsam mit einer internationalen Gruppe von Nachwuchswis senschaftlern analysieren sie den grundlegenden Umbau der indust rialisierten Welt. Insbesondere die Wege und Methoden, die Einzel ne, Familien, Organisationen und gesellschaftliche Teilsysteme ent wickeln, um mit der wachsenden Unsicherheit umzugehen, die in FOURCADE, M., OLLION, E. & ALGAN, Y.: einer jahrzehntelangen Entwicklung durch Liberalisierungspolitik The Superiority of Economists. MaxPo Dis und kulturelle Prozesse der Individualisierung hervorgerufen wurde, cussion Paper 14/3. Max Planck Sciences Po stehen im Mittelpunkt des Interesses. Sitz des MaxPo ist Paris. Center on Coping with Instability in Market > www.maxpo.eu Societies, Paris 2014. www.maxpo.eu/pub/maxpo_dp/ Im Rahmen des Gastwissenschaftlerprogramms haben Wissenschaft maxpodp14-3.pdf lerinnen und Wissenschaftler mit internationalem Renommee die Gelegenheit, bis zu drei Monate am MaxPo zu forschen. In den bei WOLL, C.: Politics in the Interest of Capital: A den Vortragsreihen SCOOPS und COOPS sowie der einmal jährlich Not-so-Organized Combat. MaxPo Discus stattfindenden MaxPo Lecture sprechen regelmäßig führende Wis sion Paper 15/2. Max Planck Sciences Po senschaftler am MaxPo. In den vergangenen Jahren waren dies unter Center on Coping with Instability in Market anderem Luc Boltanski, École des hautes études en sciences sociales, Societies, Paris 2015. Paris, und der Wirtschaftsprofessor Thomas Piketty. www.maxpo.eu/pub/maxpo_dp/ maxpodp15-2.pdf 114 Kooperation Emeritierung Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. Zur Emeritierung von Wolfgang Streeck Lukas Haffert und Daniel Mertens Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. Mit diesen Worten ließe sich nicht nur der Kapitalismus beschrei ben, so Kathleen Thelen, sondern auch der Wissenschaftler, der ihn seit Jahrzehnten auf seine eige ne Weise zu entschlüsseln versucht. Es geht – natürlich – um Wolfgang Streeck, auf den Thelen am Abend des 31. Oktober 2014 in den Räumen des Kölner Rautenstrauch-Joest-Museums eine Laudatio hält. Einhundertachtzig Gäste sind zur Emeritierungsfeier gekommen, um einen langjährigen Direk tor, Kollegen, akademischen Lehrer und Kooperationspartner zu ehren. Die Politikwissenschaftlerin vom Massachusetts Institute of Technology hat mit Wegge fährten Streecks gesprochen, in ihrem eigenen Archiv gestöbert, um ein Bild zu zeichnen von dem Menschen, der nach nun fast zwanzig Jahren als Direktor am Max-PlanckInstitut für Gesellschaftsforschung emeritiert wird. Was ihn ausmache, sei die einzigartige Kombination aus normativer Hingabe, empirischem Können und theoretischer firepower. Und nun wird er also „entpflichtet“, wie es Renate Mayntz, die Gründungsdirektorin des MPIfG, zuvor genannt hatte. Befreit von den administrativen Pflichten eines Max-PlanckDirektors, aber weiterhin ausgestattet mit der Möglichkeit und den Mitteln, als Emeritus der Max-Planck-Gesellschaft seinen Forschungsinteressen zu folgen. Dementsprechend hatte Streeck bereits am Vorabend im Rahmen seiner Abschiedsvorlesung deutlich gemacht: Von Abschied wird hier keine Rede sein. Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. 115 Wolfgang Streeck beim Abschiedsempfang mit den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des MPIfG: „Es hat Freude gemacht, mit Ihnen allen zusammenzuarbeiten und ich bedanke mich für die gute Zeit. Ich danke auch der Support Crew, dem Bodenpersonal des wissenschaftlichen Höhenflugs – der manchmal in einem Crash endet, aber sicher nicht Ihretwegen. Gemeinsam haben wir in den letzten zwanzig Jahren vieles von innen heraus um- und aufgebaut, indem wir nicht nur in Technik investiert haben, sondern auch in die Köpfe und in das Miteinander: den guten kollegialen Umgang und das gegenseiti ge Vertrauen, das Gefühl, dass man sich aufeinander verlassen kann.“ „Gesellschaftssteuerung heute“: Rückblick auf fünf Jahrzehnte sozialwissenschaftliches Forschen Seine Vorlesung mit dem Titel „Gesell schafts steuerung heute“ nutzte Streeck dann auch, um auf seine fast fünf Jahrzehnte währende Beschäf ti gung in und mit der Soziologie zurückzubli cken und einen Ausblick auf einige Fragen zu wagen, denen sich das Fach in Zukunft zu wid men habe. In dieser Kombination aus Rückund Vor aus schau wollte er die Vorlesung vor allem als Zwischenbilanz verstanden wissen und ließ keinen Zweifel, dass er selbst noch einiges zur Diskussion der im Ausblick aufgeworfenen Fragen beitragen will. „Während in Deutschland die Sozialwissenschaften infolge der Luhmann'schen Systemtheorie allen Steuerungsambitionen abschwor, nahm von ihnen unbemerkt eines der radikalsten Steuerungsprojekte der Geschichte seinen erfolgreichen Lauf: die weltweite Liberalisierung des demokratischen Kapitalismus.“ Die Rolle der Soziologie in Bezug auf gesellschaft Wolfgang Streeck liche Steuerung habe sich grundlegend gewandelt. Gesteuert werde heute nicht durch eine soziologisch aufgeklärte Demokratie, sondern gewissermaßen nach unten, durch individualisierte Formen sozialer Kontrolle. Konkret identifizierte Streeck vier Quellen solcher Kontrolle, nämlich die Verhaltensökonomie, die Glücksforschung, die Psychopharmakologie und die Neurotechnologie. All diese erforsch ten das menschliche Verhalten mit dem Zweck seiner effizienteren Steuerung. 116 Emeritierung Nie zuvor sei er in einem Raum mit einer so hohen Konzentration an herausragenden Wissenschaft lerinnen und Wissenschaftlern der vergleichenden politischen Ökonomie gewesen, stellte Peter A. Hall fest. Vor allem aber werde die Soziologie heute von der Informatik als Steuerungswissenschaft über „Wenn die Soziologie nicht mehr holt. Algorithmen, die auf unendlich große als Anleitung zur Gesellschafts Datenmengen angewendet werden, seien dabei, steuerung gebraucht wird, dann die Theoriebildung zu ersetzen, mit der sich einst hat soziologische Forschung über die Soziologie ihrem Steuerungsziel genähert habe. Der Triumph solcher Steuerung zeige sich in sozi Gesellschaftssteuerung eine umso alen Netzwerken wie Facebook ebenso wie in der größere Zukunft und sollte höchste individualisierten Terrorismusbekämpfung des Priorität haben.“ Drohnenkrieges. Damit aber entstünden wichtige Wolfgang Streeck neue Notwendigkeiten sozialwissenschaft licher Theoriebildung. Denn die mit der Digitalisierung verbundene Fragmentierung der Gesellschaft habe zur Folge, dass Individuen immer seltener mit Unbekanntem konfrontiert und immer weniger zum Hinterfragen beste hender Gewissheiten herausgefordert würden. Angesichts dieser Entwicklungen, so lautete das knappe Fazit Streecks, werde die Soziologie heute zwar nicht mehr als Anleitung zur Gesellschaftssteuerung benötigt. Aber soziologische Forschung über Gesellschaftssteuerung sei nun wichtiger denn je. „Politics and Society in Dynamic Capitalism“: Wissenschaftliches Kolloquium Am Freitagmorgen folgte dann das wissenschaftliche Kolloquium zu Ehren des Emerierten. Unter dem Titel „Politics and Society in Dynamic Capitalism“ hatten MPIfG-Direktor Jens Beckert und Laudatorin Kathleen Thelen Kollegen, Ko-Autoren und ehemalige Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. 117 Cornelia Woll zum Spannungsverhältnis zwischen Demokratie und Kapitalismus: Trotz ihrer Verletz barkeit in der Finanzkrise und trotz aller neoliberalen Transformationen sind die Staaten zu massiven Interventionen fähig. Doktoranden Streecks eingeladen, dessen zentrale Arbeiten Revue passieren zu lassen und im Licht aktueller Forschungskontroversen erneut zu verhandeln. Was ist aus dem „deutschen Kapitalismus“ geworden, den Streeck vor fast zwanzig Jahren auf die Kurzformel „hohe wirtschaftliche Wettbewerbsfähigkeit bei relativ geringer sozi aler Ungleichheit“ brachte? Sind die Beneficial constraints, die den Erfolg des deutschen Produktionsmodells bei gleichzeitiger Verwirklichung wirtschaftsdemokratischer Ziele ermöglicht hatten, im Zuge vehementer Liberalisierungspolitik auch heute noch wirksam? Inwiefern wurde die relative Stabilität der hiesigen politökonomischen Ordnung und demokratischen Prozesse durch die Etablierung der Wirtschafts- und Währungsunion in Europa unterlaufen, wie bereits Anfang der 2000er-Jahre in „Beyond the Stable State“ thematisiert? Mit seinen zuletzt erschienenen Büchern „Re-Forming Capitalism“ und „Gekaufte Zeit“ hat Streeck eigene Antworten auf diese Fragen gefunden. Die Diskutanten verstanden es, neue Akzente zu setzen und das Kolloquium mit kontroversen Debatten über die Zukunft Europas und der deutschen Wirtschaftsordnung zu bereichern. Festakt im Rautenstrauch-Joest-Museum in Köln Nachdem das wissenschaftliche Œuvre Streecks im Mittelpunkt des Kolloquiums gestan den hatte, wandten sich die Wortbeiträge des Festaktes noch einmal stärker der Biografie des Gefeierten zu. So erinnerte Hans-Werner Bartsch, Bürgermeister der Stadt Köln, an Streecks Rolle beim Umzug des MPIfG in sein heutiges Gebäude an der Paulstraße und an den Verbleib des Instituts am Standort Köln. Und Christoph Engel, Vorsitzender der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion in der Max-Planck-Gesellschaft, verwies auf die Weichenstellungen, die während Streecks Amtszeit als Sektionsvorsitzender 118 Emeritierung DGB-Vorsitzender und MPIfG-Kuratoriumsmitglied Reiner Hoffmann schätzt die konstruktiven und kon troversen Debatten mit Wolfgang Streeck. zwischen 2003 und 2006 geschehen seien. Der DGB-Bundesvorsitzende Reiner Hoffmann schließlich bedankte sich für die langjährige Mitarbeit Streecks in Projekten der HansBöckler-Stiftung und würdigte dessen Arbeiten als Quelle wichtigen Orientierungswissens für gewerkschaftliches Handeln. Zugleich betonte er die intellektuelle Unabhängigkeit des Wissenschaftlers und dessen Freude an der argumentativen Auseinandersetzung, die etwa in Bezug auf die Eurokrise sicher noch fortgesetzt werde. In ihrer Laudatio berichtete Kathleen Thelen schließ lich, wie ihr Streecks Arbeiten während „Ich habe nie ein ausgeprägtes ihrer Promotion in den 1980er-Jahren zuerst be Bedürfnis nach ‚Freizeit‘ gehabt. Die gegnet waren. Diese Texte hätten – damals noch Fragen zu beantworten, die sich mir in Form von bereits vor ihrer Veröffentlichung stellen, sehe ich nicht als ‚Arbeit‘. informell verbreiteten Kopien – das In te res se einer ganzen Generation US-amerikanischer, ver Der Spaß, über sie nachzudenken, gleichend arbeitender Polit-Ökonomen am deut ist Teil meiner Person. Damit auf schen Modell des Kapitalismus geweckt. Dabei hören zu sollen – das empfände ich vergaß sie nicht zu erwähnen, dass er auch als eher als Drohung.“ akademischer Lehrer eine prägende Figur für nicht wenige der Anwesenden war. Dass sein eige Wolfgang Streeck ner akademischer Werdegang mit der Emeritierung keineswegs abgeschlossen sein wird, machte schließlich noch einmal seine Vorgängerin Renate Mayntz deutlich. Sie erinnerte sich und die Zuhörer an die Wünsche, die sie Wolfgang Streeck zu seinem sechzigsten Geburtstag auf den Weg gegeben hatte: Ruhiger solle er werden. Nun, acht Jahre später, stellte sie fest: Gut, dass er es nicht geworden ist. Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. Wahrscheinlich wird er so bleiben. Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit. 119 Mehr informationen zur Emeritierung Zum Weiterlesen und Wiederentdecken KITSCHELT, H. & STREECK, W.: From Stability STREECK, W.: Gekaufte Zeit: Die vertagte to Stagnation: Germany at the Beginning Krise des demokratischen Kapitalismus. of the Twenty-first Century. In: dies. (Hg.), Suhrkamp, Berlin 2013. Germany: Beyond the Stable State. Frank Cass, London 2004, 1–34. STREECK, W.: Von der Gesellschaftssteuerung zur sozialen Kontrolle: Rückblick auf ein STREECK, W.: German Capitalism: Does halbes Jahrhundert Soziologie in Theorie und It Exist? Can It Survive? In: Crouch, C. & Praxis. Blätter für deutsche und internatio- Streeck, W. (Hg.), Political Economy of nale Politik, 2015(1), 63–80 (2015). Modern Capitalism: Mapping Convergence and Diversity. Sage, London 1997, 33–54. STREECK, W.: Beneficial Constraints: On the Economic Limits of Rational Voluntarism. In: Hollingsworth, J. R. & Boyer, R. (Hg.), Contemporary Capitalism: The Embeddedness of Institutions. Cambridge University Press, Cambridge 1997, 197–219. Auszug aus dem Bericht „Dynamisch. Ruhelos. Risikobereit: Zur Emeritierung von Wolfgang Streeck“ von Lukas Haffert und Daniel Mertens. Der Beitrag erschien erstmals in „Gesellschaftsforschung 2|14“ (Dezember 2014). >http://tinyurl.com/emeritierung-ws Podcasts der Abschiedsvorlesung von Wolfgang Streeck und der Laudatio von Kathleen Thelen >http://tinyurl.com/AbschVorlWS-Podcast >http://tinyurl.com/LaudatioWSThelen-Podcast „Ein vernünftiger Linker“ – Rainer Hank portraitiert Wolfgang Streeck in der FAS >http://tinyurl.com/fas-okt14-ws 120 Emeritierung Daten und Fakten Ausgewählte Veröffentlichungen 2013 bis 2014 MPIfG Bücher Afonso, A.: Social Concertation in Times of Austerity: European Integration and the Politics of Labour Market Reforms in Austria and Switzerland. Amsterdam University Press, Amsterdam 2013, 258 S. Akyel, D.: Die Ökono misierung der Pietät: Der Wandel des Bestattungs markts in Deutschland. Campus, Frankfurt a.M. 2013, 239 S. Beckert, J.: Erben in der Leistungsgesellschaft. Campus, Frankfurt a.M. 2013, 246 S. Beckert, J. und C. Musselin (Hg.): Constructing Quality: The Classification of Goods in Markets. Oxford University Press, Oxford 2013, 368 S. Clift, B. und C. Woll (Hg.): Economic Patriotism in Open Economies. Routledge, London 2013, 160 S. Dobusch, L., P. Mader Klas, G. und P. Mader und S. Quack (Hg.): (Hg.): Rendite machen und Governance across Borders: Transnational Fields and Transversal Themes. epubli, Berlin 2013, 367 S. Gutes tun? Mikrokredite und die Folgen neoliberaler Entwicklungspolitik. Campus, Frankfurt a.M. 2014, 217 S. Dolata, U.: The Transfor mative Capacity of New Technologies: A Theory of Sociotechnical Change. Routledge, London 2013, 140 S. Mehrtens, P.: Staatsschul den und Staatstätigkeit: Zur Transformation der politi schen Ökonomie Schwedens. Campus, Frankfurt a.M. 2014, 297 S. Gerlach, P.: Der Wert Schäfer, A. und W. der Arbeitskraft: Bewer tungsinstrumente und Auswahlpraktiken im Arbeitsmarkt für Ingenieure. Springer VS, Berlin 2014, 284 S. Kammer, A.: Die Politische Ökonomie der Umverteilung: Finanzpolitische Einkom mensumverteilung in entwi ckelten Demokratien. Nomos, Baden-Baden 2013, 259 S. In „Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demokratischen Kapitalismus“ führt Wolfgang Streeck seine Frankfurter Adorno-Vorlesungen aus dem Jahre 2012 fort. Er legt die Wurzeln der gegenwärtigen Finanz-, Fiskal- und Wirtschaftskrise frei, indem er sie als Moment der langen neoliberalen Transformation des Nachkriegskapitalismus beschreibt, die bereits in den 1970er-Jahren begann und bis heute andauert. In dem 2013 erschienenen Werk fragt Streeck nach den Aussichten für eine Wiederherstellung sozialer und wirtschaftlicher Stabilität. Das Buch, das inzwischen in fünf weiteren Sprachen erschienen ist, hat in den Sozialwissenschaften wie auch in der öffentlichen Diskussion hohe Aufmerksamkeit gefunden – in Deutschland und Europa ebenso wie in Nord- und Südamerika. Ausgewählte Veröffentlichungen 2013 bis 2014 Streeck (Hg.): Politics in the Age of Austerity. Polity Press, Cambridge 2013, 240 S. Seikel, D.: Der Kampf um öffentlich-rechtliche Ban ken: Wie die Europäische Kommission Liberalisierung durchsetzt. Campus, Frankfurt a.M. 2013, 259 S. Streeck, W.: Buying Time: The Delayed Crisis of Democratic Capitalism. (Translated by P. Camiller.) Verso Books, New York 2014, 192 S. Streeck, W.: Gekaufte Zeit: Die vertagte Krise des demo kratischen Kapitalismus. Suhrkamp, Berlin 2013, 271 S. ten Brink, T.: Chinas Kapi talismus: Entstehung, Verlauf, Paradoxien. Campus, Frankfurt a.M. 2013, 372 S. Werner, B.: Der Streit um das VW-Gesetz: Wie Europäische Kommission und Europäischer Gerichts hof die Unternehmenskon trolle liberalisieren. Campus, Frankfurt a.M. 2013, 223 S. 121 Weitere Veröffentlichungen Die Auswahl der Veröffentlichungen für dieses Jahrbuch spiegelt die thematische Breite der Forschung des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung wider. Eine Übersicht über alle Veröffentlichungen finden Sie unter mpifg.de > Publikationen. Akyel, D.: Qualification under Moral Constraints: The Funeral Purchase as a Problem of Valuation. In: Constructing Quality: The Classification of Goods in Markets. (Hg.) J. Beckert und C. Musselin. Oxford University Press, Oxford 2013, 223–244. Akyel, D.: Ökonomisierung und moralischer Wandel: Die Ausweitung von Markt beziehungen als Prozess der moralischen Bewertung von Gütern. MPIfG Discussion Paper 14/13. MPI für Gesellschaftsforschung, Köln 2014, 23 S. Akyel, D. und J. Beckert: Pietät und Profit: Kultureller Wandel und Marktentsteh ung am Beispiel des Bestat tungsmarktes. Kölner Zeit schrift für Soziologie und Sozialpsychologie 66, 3, 425–444 (2014). Aspers, P. und S. 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Noch ist das aus lizenzrechtlichen Gründen nicht in allen Fällen möglich. MPIfG Discussion Papers. PDF-Versionen der Discussion Papers des MPIfG stehen kostenfrei zum Download zur Verfügung. Ausgewählte Veröffentlichungen 2013 bis 2014 127 Serricchio, F., M. Tsakatika und L. Quaglia: Euroscepticism and the Global Financial Crisis. Journal of Common Market Studies 51, 1, 51–64 (2013). Steinmo, S., I. E. Bayram und A. DeWit: The Bumble Bee and the Chrysanthemum: Comparing Sweden and Japan’s Responses to Financial Crisis. Japan Focus 12, 16/1, o. S. (2014). Streeck, W.: Vom DM-Nationalismus zum Euro-Patriotismus? Eine Replik auf Jürgen Habermas. Blätter für deutsche und internationale Politik 58, 9, 75–92 (2013). Streeck, W.: How Will Capitalism End? New Left Review 87, 35–64 (2014). Streeck, W.: The Politics of Public Debt: Neoliberalism, Capitalist Development and the Restructuring of the State. German Economic Review 15, 1, 143–165 (2014). Streeck, W. und L. Elsässer: Monetary Disunion: The Domestic Politics of Euroland. MPIfG Discussion Paper 14/17. MPI für Gesellschaftsforschung, Köln 2014, 24 S. Streeck, W. und D. Mertens: Public Finance and the Decline of State Capacity in Democratic Capitalism. In: Politics in the Age of Austerity. (Hg.) A. Schäfer und W. Streeck. Polity Press, Cambridge 2013, 25–58. ten Brink, T.: Wirtschaftsregulierung in China: Möglichkeiten und Grenzen staatlicher Steuerungskapazitäten in einem nicht-liberalen Kapitalismus. Der moderne Staat 6, 1, 65–84 (2013). 128 ten Brink, T.: Strukturelle Dilemmata des langen Wirtschaftsaufschwungs in China. In: Die großen Schwellenländer: Ursachen und Folgen ihres Aufstiegs in der Weltwirtschaft. (Hg.) A. Nölke, C. May und S. Claar. Springer VS, Wiesbaden 2014, 119–132. ten Brink, T. und A. Nölke: Staatskapitalismus 3.0. Der moderne Staat 6, 1, 21–32 (2013). Thelen, K. A.: Varieties of Liberalization and the New Politics of Social Solidarity. 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Soziale Milieus und regionale Unterschiede der Geburtenzahlen: Eine Mixed-Methods-Analyse zum aktuellen Einfluss regionaler sozialer Milieus auf Geburtenraten in Deutschland“ Veröffentlichung in der Schriftenreihe des MPIfG bei Campus für Frühjahr 2016 geplant. Timur Ergen Dr. rer. pol., 14. Oktober 2014 Universität zu Köln Dissertation: „Große Hoff nungen und instabile Ordnungen: Politische Ökonomie der Photovoltaik industrie“ Veröffentlichung in der Schriftenreihe des MPIfG bei Campus für Herbst 2015 geplant. Stéphane Guittet Docteur en Science Politique, 5. Dezember 2013 Sciences Po, Paris Dissertation: „Reforming Financial Regulation after the Global Financial Crisis: The Case of Over-thecounter Derivative Market Regulation“ Lukas Haffert Dr. rer. pol., 11. Juli 2014 Universität zu Köln Dissertation: „Freiheit von Promotionen und Habilitationen 2013 bis 2014 Schulden – Freiheit zur Gestaltung? Die politische Ökonomie von Haushalts überschüssen“ Veröffentlichung in der Schriftenreihe des MPIfG bei Campus für Herbst 2015 geplant. Azer Kiliç Dr. rer. pol., 15. Juli 2013 Universität zu Köln und Boğaziçi University, Istanbul Dissertation: „Identity, Interest, and Politics: The Rise of Kurdish Associational Activism and the Contestation of the State in Turkey“ Online veröffentlicht von der Universität zu Köln: http:// kups.ub.uni-koeln.de/5393 Sebastian Kohl Dr. rer. pol., 25. Juni 2014 Universität zu Köln und Sciences Po, Paris (CotutelleVerfahren) Dissertation: „Homeowner Nations or Nations of Tenants: How Historical Institutions in Urban Politics, Housing Finance and Construction Set Germany, France and the US on Different Housing Paths“ Philip Mehrtens Dr. rer. pol., 18. Juni 2013 Universität zu Köln Dissertation: „Staatsschul den und Staatstätigkeit: Zur Transformation der politi schen Ökonomie Schwedens“ Buch: Staatsschulden und Staatstätigkeit: Zur Transformation der politischen Ökonomie Schwedens. Campus, Frankfurt a.M. 2014, 297 S. Daniel Mertens Dr. rer. pol., 25. Juni 2014 Universität zu Köln Dissertation: „Privatver schuldung in Deutschland: Institutionalistische und vergleichende Perspektiven auf die Finanzialisierung privater Haushalte“ Veröffentlichung in der Schriftenreihe des MPIfG bei Campus für Herbst 2015 geplant. 129 André Vereta Nahoum Doctor of Sociology, 25. Oktober 2013 Universidade de São Paulo Dissertation: „Selling ‚Cultures‘: The Traffic of Cultural Representations from the Yawanawa“ Online veröffentlicht von der Universidade de São Paulo: http://www.teses.usp.br/ teses/disponiveis/8/8132/ tde-15012014-102023/pt-br. php Sara Weckemann Dr. rer. pol., 16. Juni 2014 Universität zu Köln Dissertation: „Viele Kinder, keine Arbeit: Mutterschaft als Anerkennungshoffnung und warum der Traum zerbrechlich ist“ It’s been an inspiring, emotional, challenging, transformative time. Doktorand aus Deutschland Promotionsfeier 2014: Barbara Fulda, Lukas Haffert, Sarah Berens, Daniel Mertens, Sara Weckemann, Sebastian Kohl und Timur Ergen (v. l.). Habilitation Armin Schäfer Venia legendi in Politikwis senschaft, 30. April 2014 Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg, Fachbereich Politikwissenschaft Habilitationsschrift: „Der Verlust politischer Gleichheit: Demokratie im Zeitalter wirtschaftlicher Liberalisierung“ Buch: Der Verlust politischer Gleichheit: Warum die sinkende Wahlbeteiligung der Demokratie schadet. Campus, Frankfurt a.M. 2015, 333 S. 130 ARMIN SCHÄFER ist seit Oktober 2014 Professor für Politikwissenschaft mit dem Schwerpunkt „Inter national Vergleichende Politische Ökonomie“ an der Universität Osnabrück. Seine Forschungs schwerpunkte liegen an der Schnittstelle von ver gleichender Politischer Ökonomie, empirischer Demokratieforschung und politischer Theorie. Studie zur sinkenden Wahlbeteiligung in Deutsch land. Seit Jahren sinkt die Wahlbeteiligung in Deutschland. Doch was steht hinter diesem Trend, und was bedeutet er für die Demokratie? In seiner auch in der öffentlichen Diskussion vielbeachteten Studie zeigt Armin Schäfer, dass wachsende soziale Ungleichheit zu einer Verringerung der Wahlbeteiligung führt: Sozial benachteiligte Grup pen bleiben in großer Zahl der Wahlurne fern. Die Unterschiede in der Wahlbeteiligung waren in der Geschichte der Bundesrepublik nie so groß wie heute. Aktuelle Reformmaßnahmen, die die Partizipationsmöglichkeiten ausweiten, verringern entgegen optimistischen Erwartungen die Beteili gungskluft nicht, sondern vergrößern sie sogar. Mehr unter tinyurl.com/schaefer-wahlen. Daten und Fakten Preise und Ehrungen 2013 bis 2014 Josef Hien Matias E. Margulis Stipendium der A.SK University Achievement Academic Prize Foundation Award for Research in Kooperation mit dem Wissenschaftszentrum für Sozialforschung Berlin (WZB, 2013) 2013 der University of Azer Kiliç Northern British Columbia für herausragende Forschungsarbeit eines Fakultätsangehörigen Zweijähriges Postdoc- Matias E. Margulis Stipendium an der Koç Insight Grant 2013–2016 Universität, Istanbul, des AXA Research Fund für ihr Forschungsprojekt „Civil Society Organizations in Conflict Situations: The Turkish-Kurdish Case“ (2013–2015) des Social Sciences and Humanities Research Council of Canada (SSHRC) zusammen mit Projekt leiter Dave Connell für ein Forschungsprojekt zum Wandel der Bedeutung der Landwirtschaft in Kanada an der University of Northern British Columbia Kathleen Thelen Ehrendoktorwürde der Freien Universität Amsterdam für ihre Arbeit im Bereich der politischinstitutionellen Analyse von Politikwechseln Kathleen Thelen erhält die Ehrendoktorwürde der FU Amsterdam Aufsatzpreise Sigrid Quack und Mark Lutter Armin Schäfer gregor Zons Leonhard Dobusch Advisory Board Award Zeitschriftenpreis 2014 des 2014 des Fachbeirats des Zeitschriftenpreis 2013 des Peter Mair Prize 2013 des European Consortium for Political Research (ECPR) für den Aufsatz „The Programmatic Profile of Niche Parties“ in Party Politics (2013) Philip Mader Michael A. McCarthy 1. Preis in der Kategorie Lobende Erwähnung Vereins der Freunde und Ehemaligen des MPIfG für den Aufsatz „Framing Standards, Mobilizing Users: Copyright versus Fair Use in Transnational Regulation“ in Review of International Political Economy (2013) MPIfG für den Aufsatz „Is There a Closure Penalty? Cohesive Network Structures, Diversity, and Gender Inequalities in Career Advancement“ , MPIfG Discussion Paper 13/9 (2013) Vereins der Freunde und Ehemaligen des MPIfG für den Aufsatz „Beeinflusst die sinkende Wahlbeteiligung das Wahlergebnis? Eine Analyse kleinräumiger Wahldaten in deutschen Großstädten“ in Politische Vierteljahresschrift (2012) Dissertationspreise Sebastian Kohl Dissertationspreis 2014 der Deutsch-Französischen Hochschule (DFH) für die Arbeit „Homeowner Nations or Nations of Tenants? How Historical Institutions in Urban Politics, Housing Finance and Construction Set Germany, France and the US on Different Housing Paths“ Philipp Korom Dissertationspreis 2013 der Österreichischen Gesell schaft für Soziologie (ÖGS) für die Arbeit „Business Elites and the New Austro-Capitalism: Elite Profiles and Interlocking Directorates“ Damien Krichewsky Prix de Thèse 2013 des International Network for Research on Organizations and Sustainable Develop ment (RIODD) für die Arbeit „Corporate Social Responsibility: A MetaEmbedding of Firms – An Analysis of the Indian Case“ Preise und Ehrungen 2013 bis 2014 Sozialwissenschaften des beim Thomas A. Kochan Deutschen Studienpreises & Stephen R. Sleigh Best 2013 der Körber-Stiftung für Dissertation Award der Labor and Employment Relations Association für die Arbeit „Privatizing the Golden Years: Power and Politics in American Pensions, 1935–1990“ die Arbeit „Financialising Poverty: The Transnational Political Economy of Micro finance’s Rise and Crises“ Philip Mader Otto-Hahn-Medaille 2013 der Max-Planck-Gesellschaft für die Arbeit „Financialising Poverty: The Transnational Political Economy of Micro finance’s Rise and Crises“ 131 Magisterarbeitspreis Jiska Gojowczyk Lobende Erwähnung in der Kategorie „Wissenschaftspreis – Freiheit und Verantwortung“ 2013 der Hanns-Lilje-Stiftung, Hannover, für die Arbeit „Umweltmanagement im kirchlichen Kontext: Die Initiative ‚Der grüne Hahn‘ in den evangelischen Kirchen Deutschlands“ Für seine Dissertation „Financializing Poverty: The Trans national Political Economy of Microfinance’s Rise and Crises“ wurde Philip Mader mit zwei renommierten Preisen ausgezeichnet. Von der Max-Planck-Gesellschaft (MPG) erhielt er die Otto-Hahn-Medaille für herausra gende Leistungen junger Wissenschaftler. Von der Körber-Stiftung erhielt Mader für seine Arbeit den mit 30.000 Euro dotierten ersten Preis in der Kategorie Sozialwissenschaften des Deutschen Studienpreises 2013. Die Körber-Stiftung zeichnet Dissertationen aus, die eine hohe wissenschaftliche Qualität haben und deren Erkenntnisse von besonderer gesellschaftlicher Bedeutung sind. In seiner Dissertationsschrift behandelt Mader Fragen von Legitimität und Organisation in mikrofinanzierten Wasser- und Sanitärprojekten. Er kommt darin zu dem Schluss, dass Mikrofinanz nicht Armut abschafft, sondern eher ausnutzt und festigt. 132 Aus Maders Dissertationsprojekt entstand 2013 die Idee zur Fachtagung „Drei Jahrzehnte neoliberale Entwicklungspolitik und Mikrofinanz: Eine Bilanz“. Experten aus Wissenschaft, Entwicklungsorganisationen, Genossenschaftswesen und Medien trafen sich zu einer kritischen Bestandsaufnahme der Mikrofinanzindustrie im Kontext der globalen Entwicklungspolitik sowie der andauernden Krise des Kapitalismus. Die Tagung wurde gemeinsam von Philip Mader und Gerhard Klas, Journalist in Residence am MPIfG, organisiert. Die Tagungsbeiträge erschienen 2014 im Sammelband „Rendite machen und Gutes tun? Mikrokredite und die Folgen neoliberaler Entwicklungspolitik“ (Campus). Daten und Fakten Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am MPIfG 2013 bis 2014 Dominic Akyel Jens Beckert Wissenschaftlicher Mitarbei ter (Dr. rer. pol., Soziologie, 2012, Universität zu Köln): Markt- und Wirtschafts forschung; quantitative und qualitative Datenanalyse; Wirtschaftssoziologie; Reli gionssoziologie; Demografie Direktor (Dr. phil., Sozio logie, 1996, Freie Uni versität Berlin; habil., Soziologie, 2003, Freie Universität Berlin): soziale Einbettung der Wirtschaft, insbesondere anhand der Untersuchung von Märkten; Organisationssoziologie; Soziologie der Erbschaft; soziologische Theorie Ana Carolina Alfinito Vieira Doktorandin, IMPRS-SPCE (Master, Public Policy, 2012, Hertie School of Gover nance, Berlin): politische Ökologie; globale und transnationale Governance; Kommodifizierungsprozes se; institutioneller Wandel Annina T. ASSmann Doktorandin, IMPRSSPCE (MSc, Soziologie, 2011, Universität zu Köln): Familiensoziologie; Demografie; Bedingungen und Folgen flexibler Arbeitsmärkte; quantitative empirische Sozial- und Wirtschaftsforschung Ismail Emre Bayram Postdoc-Stipendiat (PhD, Politikwissenschaft, 2014, European University Institute, Florenz): politi sche Ökonomie; Politik feldanalyse; vergleichende Politikwissenschaft; Finanz märkte; Finanzkrisen; Woh nungswesen Ana Carolina Alfinito Vieira Chiara Benassi Postdoc-Stipendiatin (PhD, Employment Relations and Organizational Behavior, 2014, London School of Economics and Political Science): vergleichende Arbeitsbeziehungen; vergleichende politische Ökonomie; berufliche Qualifikationen und Fähigkeiten; Zeitarbeit; Gewerkschaftsstrategien Sarah Berens Doktorandin, IMPRS-SPCE, Universität zu Köln (Dr. rer. pol., Politikwissenschaft, 2013, Universität zu Köln): vergleichende poli tische Ökonomie; Ein kommensungleichheit; Sozialpolitik; Umverteilung; Präferenzen für Sozialaus gaben geschichte; Unternehmens geschichte; Kapitalismus theorien Benjamin Braun Postdoc-Stipendiat (PhD, Politikwissenschaft, 2014, University of Warwick und Université Libre de Bruxelles): internationale politische Ökonomie; Wirtschaftssoziologe; Zentralbanken und Geldpolitik; Erwartungs management; Finanziali sierung Helen Callaghan Wissenschaftliche Mitarbei terin (PhD, Politikwis senschaft, 2006, North western University): ver gleichende politische Öko nomie; europäische Integra tion; Corporate Governance; Präferenzbildung in Parteien und Interessengruppen; Veränderungen von Eigen tumsstrukturen in Unter nehmen und ihre Auswir kungen auf die Politik Betsy Carter Postdoc-Stipendiatin (PhD, moderne Globalgeschichte, 2010, Princeton University): Globalisierung; Global Governance; Wirtschafts Postdoc-Stipendiatin (PhD, Politikwissenschaft, 2012, University of California, Berkeley): vergleichende politische Ökonomie; Wirt schaftssoziologie; Regulie rungspolitik; historische Institutionenforschung; Wertschöpfungspolitik; Aufbau und Absicherung von Sektoren mit hoher Wertschöpfung Sarah Berens Benjamin Braun Carolyn Biltoft Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am MPIfG 2013 bis 2014 Colin Crouch Auswärtiges Wissenschaft liches Mitglied (Dr. phil., Soziologie, 1975, Nuffield College, Oxford University; Emeritus Professor, Uni versity of Warwick): Gesellschaftsstrukturen in Europa mit besonderem Schwerpunkt auf Arbeits markt, Gender und Familie; Wirtschaftssoziologie; neoinstitutionalistische Analyse; lokale Wirtschaftsentwick lung und die Reform öffentlicher Dienste Matías Dewey Wissenschaftlicher Mit arbeiter (PhD, Politikwis senschaft, 2008, Universität Rostock): illegale Märkte; informelle Institutionen; Sozialtheorie; qualitative Sozialforschung; lateinamerikanische Studien Arne DreSSler Doktorand, IMPRSSPCE (Diplom-Sozialwirt, Soziologie, 2008, GeorgAugust-Universität Göttingen): Soziologie der Märkte, des Geldes und des Konsums; Sozialtheorie; Historische Soziologie sozialwissenschaftlicher Methoden; Logiken sozialwissenschaftlichen Forschens; Ethnografie Betsy Carter 133 Lea Elsässer Barbara Fulda Doktorandin (MSc, Economics, 2013, Universität zu Köln): politische Ökonomie; Staatsfinanzen; soziale Ungleichheit; europäische Integration Postdoc-Stipendiatin (Dr. rer. pol., Soziologie, 2014, Universität zu Köln): Fami liensoziologie; Bildungsso ziologie; Wirtschaftssoziolo gie; Stadtsoziologie; Raum soziologie; Demografie; vergleichende Forschung; quantitative und qualitative Forschungsmethoden Nina Engwicht Doktorandin, IMPRS-SPCE (MA, Politikwissenschaft, 2011, Universität Potsdam): illegale Märkte in (Post-) Konfliktgesellschaften; Friedens- und Konfliktforschung; Transitional Justice Timur Ergen Wissenschaftlicher Mitar beiter (Dr. rer. pol., Sozial wissenschaften, 2014, Universität zu Köln): Wirt schaftssoziologie; historische Methoden; industrielle Organisation; soziologische Theorie Irina España Doktorandin, IMPRS-SPCE (MSc, Volkswirtschaftslehre, 2010, Universidad de los Andes, Bogotá): Wirtschaftsgeschichte; Institutionentheorie; Regionalentwicklung Marion Fourcade Assoziierte Wissenschaftlerin und Ko-Direktorin am MaxPo (PhD, Soziologie, 2000, Harvard University; Professorin, Soziologie, University of California, Berkeley): vergleichende Soziologie; Kenntnisse und Praxis der Ökonomie und Politik im internationalen Vergleich; soziale Ontologie der Klassifikation; Berufssoziologie 134 Lea Elsässer Felipe González Martin Höpner Marina Hübner Olivier Godechot Assoziierter Wissenschaftler und Ko-Direktor am MaxPo (PhD, Soziologie, 2004, Con servatoire national des arts et métiers – CNAM, Paris; habil., Soziologie, 2013, Sciences Po, Paris): Finanz wesen; Löhne; Personal beschaffung; Arbeitsmärkte; Netzwerke; Ungleichheit; Arbeit; Frankreich; USA; Europäische Union Jiska Gojowczyk Doktorandin, IMPRSSPCE (Magistra Artium, Soziologie, 2012, Universität zu Köln): Umweltsoziologie; Institutionenanalyse; Organisationssoziologie; Kultur und Kognition Felipe González Doktorand, IMPRS-SPCE (Licenciatura/BA, Soziologie, 2007, Universidad Alberto Hurtado, Santiago de Chile): Marktsoziologie; Soziologie des Geldes; Studien der Finanz- und Kreditmärkte Lukas Haffert Doktorand, IMPRS-SPCE (Dr. rer. pol., Politikwissen schaft, 2014, Universität zu Köln): Staatsverschuldung; Wirtschaftsgeschichte; Institutionentheorie Josef Hien Postdoc-Stipendiat (PhD, Politikwissenschaft, 2012, European University Institute, Florenz): politische Ökonomie; Ideengeschichte; Institutionentheorie; politische Repräsentation; Interaktion von Ideologien, Interessen und Institutionen Martin Höpner Lisa Kastner Forschungsgruppenleiter (Dr. phil., Politikwissen schaft, 2002, FernUniversität Hagen; habil., Politikwissen schaft, 2007, Universität zu Köln): vergleichende politische Ökonomie; vergleichende Politikwissenschaft; Europäisierung; institutioneller Wandel; industrielle Beziehungen; Corporate Governance Doktorandin, Sciences Po, Paris (MA, European Studies, 2011, University of Bath): internationale und vergleichende politische Ökonomie; Finanzmärkte; Regulierung; Verbraucher schutz im Finanzmarkt; Lobbying; transnationale Zivilgesellschaft Marina Hübner Doktorandin, IMPRS-SPCE, Universität zu Köln (MA, Politikwissenschaft, 2014, Otto-Friedrich-Universität Bamberg): internationale und vergleichende poli tische Ökonomie; Finanz marktregulierung; Staaten als Finanzmarktakteure Annette Hübschle Doktorandin, IMPRS-SPCE (MPhil, Kriminologie und Strafrecht, 2010, University of Cape Town): illegale und informelle Märkte; organisierte Kriminalität; Verknüpfung von organisierter Kriminalität mit Terrorismus Torsten Kathke Postdoc-Stipendiat (Dr. phil., Amerikanische Kulturgeschichte, 2013, Ludwig-MaximiliansUniversität München): Kulturgeschichte; Ideen geschichte; Zeitgeschichte; USA im 19. und 20. Jahr hundert; transnationale und transatlantische Geschichte Azer Kiliç Postdoc-Stipendiatin (Dr. rer. pol., Politikwissenschaft, 2013, Universität zu Köln und Boğaziçi University, Istanbul): Sozialpolitik; organisierte Interessen; Gender, Ethnizität, Klasse, Staatsbürgerschaft Daten und Fakten I enjoyed the warm and friendly atmosphere as much as the numerous intellectual resources and stimulations which make this Institute so unique. Postdoc-Stipendiat aus Westeuropa Philipp korom Mark Lutter Renate Mayntz Forschungsgruppenleiter (Dr. rer. pol., Soziologie, 2009, Universität DuisburgEssen): Wirtschafts- und Marktsoziologie; Sozial strukturanalyse und soziale Ungleichheit; politische Soziologie; Organisationssoziologie; statistische Modellierung; Umfrageforschung; Soziologie der Diffusion Emeritierte Direktorin und Gründungsdirektorin (Dr. phil., Soziologie, 1953, Freie Universität Berlin; habil., Soziologie, 1957, Freie Universität Berlin): Gesellschaftstheorie; politische Steuerung, Politikentwicklung und Implementation; Technikentwicklung, Wissenschaftsentwicklung, Wissenschaft und Politik; transnationale Strukturen und transnationale Regelungsversuche Aleksandra Maatsch AleKSandra Maatsch Daniel Monninger Sebastian Kohl Damien Krichewsky Postdoc-Stipendiat (Dr. rer. pol., Sozialwissenschaften, 2014, Universität zu Köln und Sciences Po, Paris): Wirtschaftssoziologie; Woh nungsmärkte; politische Ökonomie; Sozialphiloso phie; Philosophie der Sozial wissenschaften Postdoc-Stipendiat (PhD, Soziologie, 2012, Sciences Po, Paris): Wirt schaftssoziologie; politische Ökonomie; Organisations soziologie; Theorie sozialer Systeme; Corporate Social Responsibility; Indien; globaler Kapitalismus; soziale Bewegungen Philipp Korom Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Dr. rer. soc. oec., Soziologie, 2011, KarlFranzens-Universität Graz): Vermögensungleichheit; Wirtschaftssoziologie; Soziologie der Eliten/ Intellektuellen; soziale Netzwerkanalyse Doktorand, IMPRS-SPCE (Diplom, Politikwissenschaft, 2011, Otto-Friedrich-Uni versität Bamberg): Wirt schaftssoziologie; Organisa tionstheorie; Soziologie des Rechts; soziale Netzwerk analyse Lothar Krempel Ariane Leendertz Wissenschaftlicher Mitarbeiter (Dr. sc. pol., Politikwissenschaft, 1984, Universität Duisburg; habil., Soziologie mit Schwerpunkt empirische Sozialforschung, 2003, Universität DuisburgEssen): Netzwerkanalyse; dynamische Modellierung; Organisationsverflechtun gen; Visualisierung sozialer Strukturen Forschungsgruppenleiterin (Dr. phil., Neuere Geschich te, 2006, Eberhard Karls Universität Tübingen): US-amerikanische und deutsche Geschichte des zwanzigsten Jahrhunderts; Geschichte der transatlantischen Beziehungen; Wissenschaftsgeschichte; neue Ideengeschichte Markus Lang Postdoc-Stipendiatin (PhD, Politikwissenschaft, 2009, Universität Bremen): ökonomische Governance in Europa; nationale Parlamente in der EU; demokratische Steuerung wirtschaftlicher Integration; europäischer Integrationsprozess; Staatsbürgerschaft; Migration und Integration Michael McCarthy Postdoc-Stipendiat (PhD, Soziologie, 2013, New York University): politische Soziologie; Arbeiterbewe gungen, soziale Bewegun gen; politische Ökonomie; Sozialpolitik; historisch-vergleichende Methoden Aldo Madariaga Philip Mehrtens Doktorand, IMPRS-SPCE (MA, Politikwissenschaft, 2011, Central European University, Budapest): vergleichende politische Ökonomie; Entwicklungs modelle; Sozialpolitik und Ungleichheit; soziologische Theorie Wissenschaftlicher Mitarbei ter (Dr. rer. pol., Politikwis senschaft, 2013, Universität zu Köln): vergleichende politische Ökonomie; Wohl fahrtsstaatsforschung; Fis kalpolitik; Methoden der empirischen Sozialfor schung; Wahlverhalten und Politik in Deutschland Philip Mader Wissenschaftlicher Mitar beiter (Dr. rer. pol., Sozialwissenschaft, 2012, Universität zu Köln): Wirtschaftsentwicklung und Zivilgesellschaft; Einbettung von Märkten; Mikrofinanzierung und institutioneller Wandel Matias E. Margulis Postdoc-Stipendiat (PhD, Internationale Beziehungen, 2011, McMaster University, Hamilton): globale und transnationale Governance; internationale politische Ökonomie; nichtstaatliche Akteure; Ernährung und Landwirtschaft; internationaler Handel; Menschenrechte Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am MPIfG 2013 bis 2014 Daniel Mertens Postdoc-Stipendiat (Dr. rer. pol., Politikwissenschaft, 2014, Universität zu Köln): politische Öko nomie; Staatsfinanzen; Arbeitsbeziehungen; politische Theorie Daniel Monninger Doktorand, IMPRS-SPCE (Magister Artium, Neuere Geschichte, 2014, PhilippsUniversität Marburg): Zeitgeschichte; Wissens geschichte; Ideengeschichte; Geschichte von Energie; Geschichtstheorie 135 Dennis Mwaura Virginia Kimey Pflücke Aidan Regan Sascha Münnich Thomas Paster Filippo Reale Karlijn Roex Wissenschaftlicher Mitar beiter (Dr. rer. pol., Sozio logie, 2009, Universität zu Köln): Institutionentheorie; Einbettung von Marktbe ziehungen; Arbeitsmarkt und Sozialpolitik; verstehende Soziologie; politische Ökonomie; qualitative und interpretative Methoden Wissenschaftlicher Mitarbei ter (PhD, Politikwissen schaft, 2009, European Uni versity Institute, Florenz): vergleichende politische Ökonomie; vergleichende Wohlfahrtsstaatsforschung; industrielle Beziehungen; Wirtschaftsverbände Doktorand, IMPRS-SPCE, Universität zu Köln (MA, Soziologie, 2011, Universität Hamburg): vergleichende Institutionenforschung; politische Ökonomie; institutioneller Wandel Doktorandin, IMPRS-SPCE (MSc, Soziologie, 2014, Uni versity of Oxford): Soziologie der Diffusion; Normen; wirtschaftliche Ungleichheit; öffentliche Meinung zu Sozialwesen und Güterver teilung; Arbeitsmotivation Dennis Mwaura Doktorandin, IMPRS-SPCE, Universität zu Köln (MA, Soziologie, 2013, Universität Leipzig): Arbeitssoziologie; Gendersoziologie; histori sche und qualitative Metho den der Sozialforschung Doktorand, IMPRS-SPCE (Master, Public Policy, 2014, Hertie School of Governance, Berlin): politische und technische Konstitution von Märkten; soziologische Theorie; Mikrostruktur von Märkten; Risikoregulierung; politische Theorie; Gender; temporale Dynamiken; transnationale demokratische Innovationen Sidonie Naulin Postdoc-Stipendiatin (PhD, Soziologie, 2012, Université Paris-Sorbonne): Wirt schaftssoziologie; Markt soziologie; Medienwissen schaften; Arbeits- und Berufssoziologie; Kultur; Gastronomie und Konsum 136 Sidonie Naulin Virginia Kimey Pflücke Sigrid Quack Assoziierte Forschungsgrup penleiterin (Dr. phil., Sozio logie, 1992, Freie Universität Berlin; habil., Soziologie, 2007, Freie Universität Berlin): Globalisierung und grenzüberschreitende Insti tutionenbildung; Entstehung transnationaler Regulierung; Rechtsnormen und Regulie rungsstandards; Experten und Normsetzung; interna tional vergleichende Wirt schafts- und Organisations soziologie Aidan Regan Postdoc-Stipendiat (PhD, Public Policy, 2012, University College Dublin): vergleichende politische Ökonomie; europäische Integration; Krise der Eurozone; Arbeitsbeziehungen; Lohnkoordination; Irland und Südeuropa; kausale Prozessanalyse Armin Schäfer Wissenschaftlicher Mitar beiter (Dr. rer. pol., Poli tikwissenschaft, 2004, Universität Bremen; habil., Politikwissenschaft, 2014, Ruprecht-Karls-Universität Heidelberg): Demokratie und soziale Ungleichheit; politische Ökonomie; europäische Integration; Parteien Isabella Reichert Fritz W. Scharpf Doktorandin (Diplom, Betriebswirtschaftslehre, 2011, Technische Universität München; Honors Degree, Digital Technology Manage ment, 2011, LudwigMaximilians-Universität München und Technische Universität München): Organisationsverhalten; Netzwerkanalyse; Markt intermediation; Kreativin dustrien Emeritierter Direktor (Dr. jur., Rechtswissenschaft, 1964, Albert-Ludwigs-Uni versität Freiburg; Professor, Politische Wissenschaft, 1968, Universität Konstanz): Demokratietheorie; Orga nisationsprobleme und Entscheidungsprozesse in der Ministerialverwaltung; Politikverflechtung im deutschen Föderalismus und in der Europäischen Union; politische Ökono mie von Inflation und Arbeitslosigkeit in West europa; vergleichende Untersuchungen zur politischen Ökonomie von Wohlfahrtsstaaten Stephan Paetz Inga Rademacher Arjan Reurink Doktorand, IMPRS-SPCE (MA, Sozialwissenschaften, 2013, Humboldt-Universität zu Berlin): Wirtschaftsso ziologie; Professionen; Insti tutionen und institutioneller Wandel; Organisationsfor schung; qualitative Metho den und Fallstudienfor schung Doktorandin, IMPRS-SPCE (Diplom, Politikwissenschaf ten, 2011, Goethe-Universi tät Frankfurt am Main): politische Ökonomie; vergleichende Wohlfahrtsstaats forschung; Steuerwettbe werb; Wahlbeteiligung und Umverteilung; quantitative Methoden in den Sozial wissenschaften Doktorand, IMPRS-SPCE (MA, Internationale Beziehungen, 2012, Universiteit van Amsterdam): internationale politische Ökonomie; Wirtschaftssoziologie; neue Märkte; Governance von Finanzmärkten; Finanz kriminalität Daten und Fakten Simone Schiller-Merkens Wolfgang Streeck André Vereta Nahoum Benjamin Werner Wissenschaftliche Mitar beiterin (Dr. rer. pol., Sozialwissenschaften, 2006, Universität zu Köln): Entstehung organisatorischer Felder; Einfluss sozialer Bewegungen auf Märkte; Prozesse und Mechanismen des institutionellen Wan dels; soziologischer Insti tutionalismus; Theorien sozialer Bewegungen; Wirt schaftssoziologie; Praxis theorien Emeritierter Direktor (Dr. phil., Soziologie, 1979, Goethe-Universität Frankfurt am Main; habil., Soziologie, 1986, Universität Bielefeld): politische Öko nomie des modernen Kapi talismus; institutioneller Wandel; Arbeitsmärkte und Arbeitsbeziehungen Doktorand, IMPRS-SPCE (Doctor, Soziologie, 2013, Universidade de São Paulo): Wirtschaftssoziologie; umstrittene Grenzen und Werte in Märkten; Kommodifizierungs prozesse; kulturabhängige Produktions- und Konsumsysteme; soziale Repräsentation von Natur und Kultur; Moderne Postdoc-Stipendiat (Dr. rer. pol., Politikwissenschaft, 2012, Universität zu Köln): Staatstheorie, politische Ökonomie, Liberalisie rungspolitik, europäische Integration Martin Seeliger Doktorand, IMPRS-SPCE (MA, Sozialwissenschaft, 2010, Ruhr-Universität Bochum): internationale Arbeitsbeziehungen; vergleichende politische Ökonomie; soziale Ungleichheit Marcin Serafin Doktorand (MA, Soziologie, 2011, Universität Warschau): Wirtschaftssoziologie; soziologische Theorie; Feldtheorie Alexander Spielau Doktorand, IMPRS-SPCE (Diplom, Politikwissen schaft, 2012, Freie Universi tät Berlin): vergleichende politische Ökonomie; Geldund Fiskalpolitik; regionale Wirtschaftsintegration; Finanzmarktkapitalismus Martin Seeliger Vani Sütcü Forschungsassistentin (MA, Internationale Beziehungen, 2010, Queen Mary Univer sity of London): Wirt schaftssoziologie; Gender Studies; internationale politische Ökonomie Kathleen Thelen Auswärtiges Wissenschaft liches Mitglied (PhD, Politikwissenschaft, 1987, University of California, Berkeley; Professor, Massachusetts Institute of Technology): vergleichende politische Wissenschaft; historischer Institutionalismus und Institutionentheorie; politische Ökonomie westlicher Demokratien; Arbeitsbeziehungen Christian Tribowski Doktorand (MA, Soziologie, 2011, RuhrUniversität Bochum): Wirtschafts- und Organi sationssoziologie; internationale politische Ökonomie; Kultursoziologie; soziologische Theorie; sozialwissenschaftliche Methoden und Netzwerkanalyse Christian Tribowski Sara Weckemann Postdoc-Stipendiatin (Dr. rer. pol., Soziologie, 2014, Universität zu Köln): Wandel der Familienver hältnisse; soziale Ungleich heit; Bedingungen und Folgen flexibler Arbeits märkte Annika Wederhake Doktorandin, IMPRSSPCE, Universität zu Köln (Magistra Artium, Verfassungs-, Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, 2012, Rheinische FriedrichWilhelms-Universität Bonn): vergleichende poli tische Ökonomie; historischer Institutionalismus; Bildungspolitik; Sozialpoli tik; Arbeitsbeziehungen Sara Weckemann Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am MPIfG 2013 bis 2014 Cornelia Woll Assoziierte Wissenschaft lerin und Ko-Direktorin am MaxPo (PhD, Politik wissenschaft, 2004, Sciences Po, Paris, und Universität zu Köln; habil., Politikwissenschaft, 2013, Universität Bremen): internationale und vergleichende politische Ökonomie; Finanz- und Handelspolitik; Interessenvermittlung und Lobbyarbeit; Europäische Union; Frankreich Gregor Zons Doktorand, IMPRS-SPCE, Universität zu Köln (Diplom, Volkswirtschaftslehre, 2010, Universität zu Köln): vergleichende Politikwissen schaft; politische Ökonomie; Parteienwettbewerb und neue politische Parteien Solomon George Zori Doktorand, IMPRS-SPCE, Universität zu Köln (Mba, Accountancy and Control, 2010, Universiteit van Amsterdam): internationale Rechnungslegung; Reformen transnationaler Rechnungslegungsstandards; institutioneller Wandel Gregor Zons 137 Wissenschaftliche Gäste am MPIfG 2013 bis 2014 Taner Akan Politikwissenschaftliche Ana lyse des Institutionensystems Kocaeli University, Türkei 14/01 Ismail Emre Bayram Die politische Ökonomie von privater Verschuldung und Hypothekenkrediten in modernen kapitalistischen Ökonomien Department of Political and Social Sciences, European University Institute, Florenz, Italien 13/01–13/09 Chiara Benassi Gewerkschaftsstrategien bei atypischen Beschäftigungs verhältnissen Department of Management, London School of Economics and Political Science, Großbritannien 13/01–13/03 Erik Bengtsson Die Profitklemme als Krise des demokratischen Kapita lismus: Die Politik steigender Gewinne Department of Economy and Society, Universität Göteborg, Schweden 13/09–13/10 Anthony Boanada-Fuchs Ordnungsdynamik von Märkten: Zusammenführung von Theorien der Ökonomie der Konventionen und der Marktsoziologie mit AkteurNetzwerk-Theorien Graduate Institute of Inter Ismail Emre Bayram 138 national and Development Studies, Genf, Schweiz 13/04–13/07 Pascal Braun Evaluationssysteme für den Führungskräftenachwuchs Sciences Po, Paris, Frankreich 14/01–14/06 Tom Chevalier Die institutionelle Struktu rierung des Übergangs zum Erwachsenwerden Sciences Po, Paris, Frankreich 14/04–14/06 Adel Daoud Auswirkungen der Finanz krise 2008 auf Kinderarmut Department of Sociology, Universität Göteborg, Schweden 13/09–15/01 Jürgen Feick Regierungsfähigkeit ange sichts moderner Informa tions- und Kommunikations techniken MPI für Gesellschaftsfor schung, Köln, Deutschland 12/05–13/01 Jeremy Ferwerda Auswirkungen der Dezen tralisierung auf den Wohl fahrtsstaat Department of Political Science, Massachusetts Institute of Technology, Cambridge, USA 13/01–13/12 Chiara Benassi Marco Hauptmeier Matthieu Hughes Institutionenbildung und die Entwicklung von Arbeits beziehungen in Deutschland, Spanien und den USA Cardiff Business School, Cardiff University, Groß britannien 13/11 Historische und institutionel le Entwicklung des deutschen Finanzsystems im 19. und 20. Jahrhundert Department of International Relations, University of Sussex, Brighton, Großbritannien 12/10–13/03 Michael Hochgeschwender Dokyun Kim Die Anpassung katholischer Immigranten an die Beson derheiten des amerikanischen Kapitalismus zwischen 1865 und der Großen Depression Amerika-Institut, Department für Anglistik und Amerikanistik, LudwigMaximilians-Universität, München, Deutschland 13/11–14/02 Die Verknüpfung von Steuer-, Sozial- und Finanzpolitik in Ostasien Soziologische Fakultät, Seoul National University, Republik Korea 14/02–14/12 Roman Hofreiter Die Soziologie der Märkte und die Dynamik zentral- und ost europäischer Kapitalismen Institute of Social and Cultural Studies, Matej Bel University, Banska Bystrica, Slowakei 14/11 Kristen Hopewell Machtverlagerung in der Weltwirtschaft: Der Aufstieg Brasiliens, Indiens und Chinas University of British Columbia-Okanagan, Kelowna, Kanada 12/12–13/07 Adel Daoud Daniel Kinderman Corporate Responsibility und die Krisen des demokratischen Kapitalismus Department of Political Science and International Relations, University of Dela ware, Newark/Delaware, USA 13/05–13/07 Damien Krichewsky Die Entwicklung der Beziehung von Unternehmen und Gesellschaft: Global Governance und Corporate Social Responsibility Centre de sociologie des organisations, Sciences Po, und Centre d’études de l’Inde et de l’Asie du Sud, École des hautes études en Sciences Sociales, Paris, Frankreich 13/10–13/11 Dokyun Kim Daten und Fakten I am convinced that some of the most interesting work in comparative political economy and economic sociology is being done here at this Institute. Gastwissenschaftler aus Nordamerika Philip Manow Olivier Pilmis Soziale Sicherung, kapi talistische Wirtschaft: Bismarck’scher Wohlfahrts staat und politische Ökono mie in Deutschland Zentrum für Sozialpolitik, Universität Bremen, Deutschland 13/01–13/03 Konjunkturprognosen und der Umgang mit Unsicher heit in der Wirtschaft Centre de sociologie des organisations, Paris, Frankreich 13/11–14/07 Maria Luisa Marinho Ungleichheit bei der Gesund heitsversorgung und soziales Kapital in Chile Department of Sociology, University of Warwick, Großbritannien 13/02–15/09 Guglielmo Meardi Staaten, Arbeitsbeziehungen und die Demokratie unter internationalem Druck Warwick Business School, University of Warwick, Großbritannien 13/10–13/12 Alfred Reckendrees Die „New Economy“ des industriellen Kapitalismus: Industrielle und institutionel le Revolution im Rheinland Centre for Business History, Department of Management, Politics and Philosophy, Copenhagen Business School, Dänemark 14/06–15/06 Raphael Reinke Die politische Ökonomie der Bankenpakete: Erklä rungen der Stabilisierungs maßnahmen während der Finanzkrise in den Jahren 2008 und 2009 Department of Politi cal and Social Sciences, Europäisches Hochschul institut, Florenz, Italien 13/01–13/09 May Zuleika Salao Ausbildung und Institutio nenbildung in der philippini schen Animationsindustrie Tri-College PhD Program in Philippine Studies, University of the Philippines, Quezon City, Metro Manila, Philippinen 13/01–14/05 Carl Sandberg Organisation und Identität bei globalen Arbeitsplätzen Department of Sociology, Universität Stockholm, Schweden 13/10–14/02 Stefan Svallfors Politik aus dem Hintergrund: Die Welt der professionellen Politikberatung Department of Sociology, Umeå University, Schweden, und Institute for Futures Studies, Stockholm, Schweden 14/10 Wei Tu Kollektive Arbeitskonflikte in China Renmin University of China, Peking, China 14/10–15/09 Ines Wagner Arbeitnehmerentsendung in der EU und die Konse quenzen für nationale Arbeitsmarktregulierungen Department of Global Economics and Management, University of Groningen, Niederlande 12/10–13/05 Scholars in Residence 2013 und 2014 Das MPIfG lädt jährlich einen führenden Wissenschaftler oder eine führende Wissenschaftlerin aus den Politik-, Wirtschafts- oder Sozialwissenschaften für drei bis sechs Monate an das Institut ein. Scholars in Residence verfolgen ein Forschungsprojekt, das thematisch an die Schwerpunkte der Forschung am MPIfG anschließt. Während ihrer Zeit am MPIfG bieten sie drei öffentliche Vorträge an. Francesco Boldizzoni Francesco Boldizzoni Patrick Le Galès Forschungsprofessor für CNRS-Forschungsdirektor Wirtschaftsgeschichte an der am Centre d’études europé- Universität Turin, Italien ennes, Sciences Po, Paris, Januar–März 2014 Frankreich Vortragsreihe März–Juni 2013 The Making and Breaking Vortragsreihe of Welfare States Governing Mobile Societies Patrick Le Galès Wissenschaftliche Gäste am MPIfG 2013 bis 2014 139 Organisation und Struktur des MPIfG Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist eines von zurzeit 82 Instituten der MaxPlanck-Gesellschaft zur Förderung der Wissenschaften e.V. (MPG). Die MPG ist eine unabhängige gemeinnützige Forschungsorganisation mit Sitz in München, die vorwiegend vom Bund und den Ländern finanziert wird. Max-Planck-Institute betreiben Grundlagenforschung in den Lebens-, Natur- und Geisteswissenschaften, vielfach auch interdisziplinär. Das MPIfG ist eines der sozialwissenschaftlichen Institute innerhalb der Geistes-, Sozial- und Humanwissenschaftlichen Sektion. Es erhält von der Max-Planck-Gesellschaft einen regulären jährlichen Haushalt (Ausgaben im Jahr 2014: 4,55 Millionen Euro). Das Institutsbudget deckt Personalkosten, Sachkosten, Investitionen, die Nachwuchsförderung und die Zusammenarbeit mit dem Ausland. Das Institut hat 31 Planstellen für wissenschaftliche und nichtwissenschaftliche Beschäftig te sowie Fördermittel für 32 Doktoranden und Postdoktoranden. Weitere Stellen werden über Sonderprogramme des Bundes, der EU und anderer Zuwendungsgeber sowie durch Projektmittel finanziert. Ende 2014 waren 42 Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut tätig. MPIfG 2014: Ausgaben und Personal 3 1 55,28 9 28* Ausgaben in % 2,31 12,93 13 29,48 2.518.238 € Sachausgaben 1.342.918 € Nachwuchsförderung 588.881 € Investitionen 105.347 € Stand 31. Dezember 2014 140 7 18 Personalausgaben Gesamt 25 Personal 4.555.384 € Direktoren Wissenschaftliche Mitarbeiter Doktoranden Postdoktoranden Gastwissenschaftler Studentische Hilfskräfte Nichtwissenschaftliche Angestellte* Auszubildende * 15 Voll- und 13 Teilzeitbeschäftigte Daten und Fakten Die International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRS-SPCE) strukturiert die Doktorandenausbildung am Institut und ist eine von sechzig IMPRS innerhalb der Max-Planck-Gesellschaft. Das vom MPIfG und der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftlichen Fakultät der Universität zu Köln gemeinsam getragene internationale Doktorandenprogramm fördert Nachwuchswissenschaftlerinnen und Nachwuchswissenschaftler aus den Disziplinen Wirtschaftssoziologie, vergleichende Politikwissenschaften, Wirtschaftsgeschichte und Organisationsforschung. Mit den internationalen Partnerinstitutionen Sciences Po (Paris), Northwestern University (Chicago), Columbia University (New York) und dem Europäischen Hochschulinstitut (Florenz) unterhält die IMPRS-SPCE Kooperationsbeziehungen. Zahlreiche inländische und ausländische Gastwissenschaftlerinnen und Gastwissenschaftler verbringen Forschungsaufenthalte von einem Monat bis zu einem Jahr am Institut. In den Jahren 2013 und 2014 kamen 40 Gäste aus Nordamerika, Westeuropa, China, den Philippinen, der Republik Korea, der Slowakei und der Türkei zu Forschungsaufenthalten an das MPIfG. Am Max Planck Sciences Po Center on Coping with Instability in Market Societies (MaxPo) in Paris entfalten sich ebenfalls vielfältige Möglichkeiten zur internationalen wissenschaft lichen Zusammenarbeit. Am MaxPo werden die Auswirkungen zunehmender Liberali sierung, technischen Fortschritts und kultureller Veränderungen auf westliche Industrie gesellschaften erforscht. Das Center, das von der Max-Planck-Gesellschaft und Sciences Po zu gleichen Teilen finanziert wird und zunächst auf fünf Jahre ausgelegt ist, ist ein innovatives Projekt deutsch-französischer Forschungskooperation in den Sozialwissenschaften. Das MPIfG wird von zwei Direktoren geleitet, die sich im zweijährlichen Turnus in der Geschäftsführung abwechseln. Seit 2005 ist Professor Jens Beckert Direktor am MPIfG. Wolfgang Streeck, Direktor am MPIfG seit 1995, wurde im Oktober 2014 emeritiert; eine Nachfolgeberufung ist geplant. Die Direktoren tragen für alle Entscheidungen über die wissenschaftlichen Belange des Instituts gemeinsam die Verantwortung. Jürgen Lautwein ist administrativer Geschäftsführer des MPIfG. Seit 2012 ist Dr. Ursula Trappe für die aka demische Koordination der IMPRS-SPCE und die Forschungskoordination am Institut verantwortlich. Max-Planck-Institute sind innerhalb eines von den Leitungsorganen der Max-Planck-Gesellschaft festgelegten Rahmens in der Auswahl und Durchführung ihrer Forschungsaufgaben frei. Der Fachbeirat des MPIfG, eine international besetzte, unabhängige wissenschaftliche lu ie rungs kommission, begutachtet alle drei Jahre die Forschungsarbeit und ihre Eva Ergebnisse und berät die Direktoren bei der Planung neuer Forschungsschwerpunkte. Das Kuratorium mit Vertretern aus Politik, Wirtschaft, Verbänden, Wissenschaft und den Medien, das einmal jährlich tagt, soll die Verbindung zu der an den Forschungen des MPIfG interessierten Öffentlichkeit fördern. Die Forschungsziele des Instituts werden in Institutsversammlungen zwischen Direktoren und wissenschaftlichen Mitarbeitern diskutiert. Daran nehmen auch Vertreter der Servicegruppen teil. Organisation und Struktur des MPIfG 141 Organisation und Struktur des MPIfG Kuratorium Fachbeirat DIREKTOREN FORSCHUNG ADMINISTRATION Administrative Geschäftsführung Forschungskoordination Servicegruppen Institutsversammlung Verwaltung Bibliothek EDV Redaktion/PR Sekretariate Forschungsbereiche Soziologie der Märkte Politische Ökonomie der europäischen Integration Transnationale Diffusion von Innovationen Ausschüsse Ökonomisierung des Sozialen und gesellschaftliche Komplexität Management Bibliothek Institutioneller Wandel im gegenwärtigen Kapitalismus EDV Grenzüberschreitende Institutionenbildung Publikationen Globale Strukturen und ihre Steuerung Internet Theorien und Methoden Weiterbildung IMPRS-SPCE Doktorandenprogramm Die funktionalen und organisatorischen Belange des Instituts werden in Ausschüssen behandelt. Die Ausschüsse sind den Arbeitsbereichen Bibliothek, EDV, Publikationen, Internet und Weiterbildung zugeordnet und setzen sich aus Wissenschaftlern und Mit arbeitern der Servicegruppen zusammen. Die Servicegruppen verfügen über ein hohes Maß an Autonomie bei der Organisation ihrer Aufgaben. Der geschäftsführende und der administrative Direktor, die IMPRS-Koordinatorin, die Servicegruppenleiter, die Aus schussvorsitzenden und der Vorsitzende des Betriebsrats kommen monatlich im Manage mentausschuss zusammen. Der Betriebsrat vertritt die Belange der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter gegenüber der Institutsleitung. Das MPIfG bietet Lehrstellen für die Ausbildungsberufe Kaufmann/-frau für Büro management und Fachinformatiker/-in für Systemintegration. 142 Daten und Fakten Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in den Servicegruppen Verwaltung EDV Jürgen Lautwein Bruno Egger (Leitung) (Administrativer Geschäftsführer) Markus Burtscheidt Renate Blödorn* Manuel Schüren Dirk Bloemen Susanne Schwarz-Esser Mai 2015 Ernst Braun* (Koordination Haustechnik und Arbeits REDAKTION UND ÖFFENTLICHKEITSARBEIT sicherheit) Christel Schommertz (Leitung) Gabi Breunig* Astrid Dünkelmann Heike Genzel Ian Edwards* Ruth Hanisch Cynthia Lehmann* Swetlana Schander Silvia Oster Petra Zimmermann* Thomas Pott Akademische Koordination der SEKRETARIATE IMPRS-SPCE und Petra Küchenmeister* (Koordination) Forschungskoordination Christine Claus* Ursula Trappe Christina Glasmacher* Philip Mehrtens (9/2014–9/2015) Claudia Werner* BIBLIOTHEK AUSZUBILDENDE Susanne Hilbring* (Leitung) Frederik Fuchs (Fachinformatiker Elke Bürger Systemintegration) Melanie Klaas* Tobias Heinrich (Fachinformatiker Cora Molloy* Systemintegration) Margarete Wybranietz (Kauffrau * Teilzeit Organisation und Struktur des MPIfG für Bürokommunikation) 143 MPIfG 2015 Leitung, Gremien und Verein der Freunde und Ehemaligen Direktor Jens Beckert Seit 2005 Direktor am MPIfG. Jens Beckert ist Experte auf dem Gebiet der Wirtschaftssoziologie. Im Rahmen von wirtschaftssoziologischen Fragestellungen konzentriert sich seine derzeitige Arbeit vor allem auf die Erforschung der Funktionsweise von Märkten aus soziologischer Perspektive. Schwerpunkte bilden die Rolle von Erwartungen im wirtschaftlichen Handeln, Prozesse der Marktentstehung, Wertbildungsprozesse auf Märkten sowie die soziale Einbettung der Wirtschaft. Er ist Mitglied der Fakultät für Wirtschafts- und Sozialwissenschaf ten der Universität zu Köln, Mitglied der Berlin-Brandenburgi schen Akademie der Wissenschaften (BBAW) und Mitheraus geber des European Journal of Sociology. Emeriti Renate Mayntz Gründungsdirektorin des MPIfG Direktorin von 1985 bis 1997 Fritz W. Scharpf Von 1986 bis 2003 Direktor am MPIfG Wolfgang Streeck Von 1995 bis 2014 Direktor am MPIfG Auswärtige Wissenschaftliche Mitglieder 144 Colin Crouch Kathleen Thelen Professor emeritus an der Warwick Business School, University of Warwick, Großbritannien Ford Professor of Political Science am Massachusetts Institute of Technology (MIT), Cambridge, USA Daten und Fakten Fachbeirat Der Fachbeirat berät die Direktoren am Institut insbesondere hinsichtlich des Forschungsprogramms und evaluiert die Forschungsarbeit des Instituts für den Präsidenten der Max-Planck-Gesellschaft. Die Mitglieder sind: Nicole W. Biggart Jonas Pontusson Professorin an der Graduate School of Management, University of California, Davis Professor am Département de science politique et relations internationales, Université de Genève Frank Dobbin David Stark Professor am Department of Sociology, Harvard University Professor am Department of Sociology, Columbia University Geoffrey M. Hodgson Philippe Steiner Professor an der Business School, University of Hertfordshire Professor der Groupe d’études des méthodes de l’analyse sociologique, Université Paris-Sorbonne Der Fachbeirat Des MPIfG. Philippe Steiner, Frank Dobbin, Nicole W. Biggart, Geoffrey M. Hodgson, Richard Swedberg (v. l.); nicht abgebildet: Jonas Pontusson, David Stark, Jörg Sydow. Richard Swedberg Jörg Sydow Professor am Department of Sociology, Cornell University, Ithaca Professor am ManagementDepartment, Freie Universität Berlin Kuratorium Das Kuratorium soll die Verbindung zu der an den Forschungen des MPIfG interessierten Öffentlichkeit fördern und die Institutsleitung in diesem Sinne beraten. Die folgenden Persönlichkeiten wurden auf Vorschlag der Institutsleitung vom Präsidenten der Max-PlanckGesellschaft in das Kuratorium berufen: Martin Börschel Prof. Dr. Michael Hüther Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen Direktor und Mitglied des Präsidiums des Instituts der deutschen Wirtschaft Köln e.V. Prof. Dr. Axel Freimuth Rektor der Universität zu Köln Dr. Rainer Hank Guido Kahlen Stadtdirektor der Stadt Köln Ressortleiter Wirtschaft und Finanzen bei der Frankfurter Allgemeinen Sonntagszeitung Arndt Klocke Reiner Hoffmann Vorsitzender des Deutschen Gewerkschaftsbunds Dr. Hermann H. Hollmann Köln MPIfG 2015 Mitglied des Landtags Nordrhein-Westfalen Das Kuratorium Des MPIfG. Reiner Hoffmann, Rolf Mützenich, Guido Kahlen, Arndt Klocke, Rainer Hank, Hermann H. Hollmann, Wolfgang Uellenberg-van Dawen, Beate Wieland, Peter Pauls, Andreas Kossiski, Helmut Stahl (v. l.); nicht abgebildet: Martin Börschel, Axel Freimuth, Michael Hüther, Norbert Röttgen. Peter Pauls Dr. Wolfgang Chefredakteur, Kölner Stadt-Anzeiger Uellenberg-van Dawen Vorsitzender der DGBRegion Köln-Bonn Dr. Norbert Röttgen Dr. Beate Wieland Mitglied des Bundestages Dr. Rolf Mützenich Helmut Stahl Mitglied des Bundestages Bonn Leiterin der Abteilung Forschung und Technologie im Ministerium für Inno vation, Wissenschaft und Forschung des Landes Nordrhein-Westfalen Andreas Kossiski Köln 145 Verein der Freunde und Ehemaligen des MPIfG Die Mitglieder des Vereins der Freunde und Ehemaligen Öffentlichkeit bei. Ein Schwerpunkt der Vereinstätigkeit des Max-Planck-Instituts für Gesellschaftsforschung tragen ist der seit 2008 jährlich stattfindende Institutstag des durch ihre ideellen und finanziellen Beiträge zur Erhaltung MPIfG, in dessen Rahmen auch der Zeitschriftenpreis des und Weiterentwicklung der Forschungsbedingungen am Vereins der Freunde und Ehemaligen verliehen wird. Die Institut bei. Ehemalige Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, Vereinsmitglieder sind natürliche und juristische Personen, Stipendiaten und Gäste unterstützen die Forschung am die sich der Zwecksetzung des Vereins verbunden füh- Institut über den eigenen Aufenthalt hinaus, Freunde des len. Der im Jahre 2002 gegründete Verein zählt heute MPIfG identifizieren sich mit seinen Aufgaben und Zielen. 104 Mitglieder. Sprecher des Vereinsvorstands ist Werner Aufgabe des Vereins ist, den Gedankenaustausch zwischen Eichhorst, Direktor für Arbeitsmarktpolitik Europa am Freunden und Ehemaligen des MPIfG zu fördern und Forschungsinstitut zur Zukunft der Arbeit (IZA) in Bonn. ihnen die Möglichkeit zu geben, untereinander und mit dem Institut in Verbindung zu bleiben. Der Verein fördert den Dialog mit interessierten gesellschaftlichen Gruppen Verein der Freunde und Ehemaligen des MPIfG im Internet > www.mpifg.de/friends und trägt zur Darstellung der Arbeit des Instituts in der Aus der Arbeit des Vereins Institutstage 2013 und 2014 und Preis der Alexander von Humboldt-Stiftung Wie verändern Märkte Gesellschaft heute? Reicht das Instrumentarium der Sozial- und Politikwissenschaft aus, um die gegenwärtige Situation zu erfassen? Dies waren die zentralen Fragen des Institutstags „Die sichtbare Hand des Marktes: Bürger, Kommunen und Staat als Akteure“ am 7. und 8. November 2013 mit rund neunzig Teilneh merinnen und Teilnehmern. Hanspeter Kriesi vom Euro päischen Hochschulinstitut in Florenz eröffnete die Tagung mit einem Vortrag über die politischen Folgen der Finanzkrise in Europa. Unter der Überschrift „All In! Die öffentliche Hand beim Pokerspiel“ diskutierten Dennis Spies und Christine Trampusch (beide Universität zu Köln) die Risiken öffentlicher Derivat- und Swap geschäfte. Annette Hübschle und Matías Dewey, Wissen schaftler der Forschungsgruppe „Illegale Märkte“ am MPIfG, präsentierten Erkenntnisse ihrer Feldforschungen über den illegalen Markt für Rhinozeroshorn und „La Salada“ in Buenos Aires (s. Beitrag ab Seite 15 in diesem Jahrbuch). In seinem Abschlussvortrag zeigte Stephan Leibfried (Universität Bremen), wie die Tendenz zur „Zerfaserung“ des Staates sich in der politikwissenschaftlichen Theoriediskussion reflektiert. 146 Der Institutstag 2014 war ganz den Festveranstaltungen zur Emeritierung von Wolfgang Streeck gewidmet (s. Bericht ab Seite 115 in diesem Jahrbuch). Im Rahmen des wissenschaftlichen Kolloquiums „Politics and Society in Dynamic Capitalism“ diskutierten etwa einhundert Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus Europa und den USA Forschungsfragen aus den Arbeiten Wolfgang Streecks. Streeck selbst verabschiedete sich mit dem Vortrag „Gesellschaftssteuerung heute“ aus seiner Position als Institutsdirektor am MPIfG in Köln. 2014 hat das MPIfG erfolgreich am Wettbewerb „Forscher-Alumni-Strategien 2014“ teilgenommen. Die Fördergelder der Alexander von Humboldt-Stiftung in Höhe von rund 30.000 Euro wird das Institut einsetzen, um seinen Verein der Freunde und Ehemaligen als Plattform für die eigene Alumni-Arbeit stärker zu etablieren. Ziel der künftigen Alumni-Arbeit ist, ein Netzwerk von Forschern und Praktikern entstehen zu lassen, das einen lebendigen Diskurs über die am Institut erforschten Fragen fördert. Daten und Fakten Informationsmaterial und Kontakt Besuchen Sie www.mpifg.de und erfahren Sie mehr über >Aktuelles: Veranstaltungen, Audio-Podcasts, ausgewählte Forschungsthemen, Standpunkte, Forscherporträts und Interviews, Nachrichten, Ausschreibungen >Menschen: Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler am Institut >Themen und Ergebnisse: Forschungsprojekte und Publi kationsreihen >Service: Abonnement des Newsletters „Gesellschaftsfor schung“, Einladungen zu Vorträgen, Infos zu Neuerschei nungen, Zugang zum Bibliothekskatalog Ihre Fragen zum MPIfG beantworten wir gerne per E-Mail ([email protected]) oder telefonisch unter +49 221 2767-130 oder +49 221 2767-0. Adresse und Anreise Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung Paulstraße 3 | 50676 Köln Tel. 0221 27 67-0 Fax 0221 2767-555 www.mpifg.de | [email protected] Anreise: www.mpifg.de/institut/anreise_de.asp Geokoordinaten: 50.9267 6.95451 Mit „Gesellschaftsforschung“ informiert das MPIfG zweimal im Jahr mit anschaulichen Artikeln und Berichten über seine Forschungsprojekte und -ergebnisse, Publikationen und Veranstaltungen. Ein Schwerpunktthema liefert Hintergrund informationen aus der Forschung zu Themen der aktuellen öffentlichen Dis kussion. Alle Ausgaben finden Sie als PDF-Download unter www.mpifg.de/ newsletter. Dort können Sie „Gesell schaftsforschung“ als E-Mail-Newsletter oder als Printausgabe abonnieren. Themen der letzten Ausgaben: Politik und Legitimation, Illegale Märkte, Wie der Kapitalismus die Familie verändert, Fiktionalität und kapitalistische Dynamik Informationsmaterial und Kontakt 147 Das Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung ist eine Einrichtung der Spitzenforschung in den Sozialwissenschaften. Es betreibt anwendungsoffene Grund lagen forschung mit dem Ziel einer empirisch fundierten Theorie der sozialen und politischen Grundlagen moderner Wirtschaftsordnungen. Im Mit telpunkt steht die Untersuchung der Zusammenhänge zwischen sozialem, politischem und ökonomischem Handeln. Mit einem vornehmlich institutionellen Ansatz wird erforscht, wie Märkte und Wirtschaftsorganisationen in historischinstitutionelle, politische und kulturelle Zusammenhänge eingebettet sind, wie sie entstehen und wie sich ihre gesellschaftlichen Kontexte verändern. Das Institut schlägt eine Brücke zwischen Theorie und Politik und leistet einen Beitrag zur politischen Diskussion über zentrale Fragen moderner Gesellschaften. Zwei Direktoren leiten das MPIfG gemeinsam. Etwa sechzig wissenschaftliche Mitarbeiter, Doktoranden, Stipendiaten, Gastwissenschaftler und Projekt mit arbeiter sind in oft international zusammengesetzten Forscherteams am Institut tätig. Das MPIfG gehört zu einem weltweiten Netzwerk von Forschungs institutionen. Es kooperiert eng mit Instituten und Fachbereichen an der Sciences Po in Paris, der Northwestern University in Chicago, der Columbia University in New York und dem European University Institute in Florenz. Das MPIfG gehört zu den etwa achtzig Instituten der Max-Planck-Gesellschaft (MPG). Das MPIfG betreibt Nachwuchsförderung in der International Max Planck Research School on the Social and Political Constitution of the Economy (IMPRSSPCE). Die vom Institut gemeinsam mit der Universität zu Köln getragene internationale Doktorandenschule bietet ein in Deutschland einmaliges Doktoranden programm im Bereich der Wirtschaftssoziologie und der politischen Ökonomie. LA SALADA Die große Chance – An mehr als 7.800 Ständen verkaufen Händler auf dem Markt La Salada T-Shirts, Jeans, Jacken, Schuhe und Kindermode. Viele der angebotenen Waren sind Markenimitate. Ende 1980 als infor meller und illegaler Markt entstanden, ist La Salada seit 2001 ein Groß handelsmarkt, der sich in die argentinische Wirtschaft eingegliedert hat. Die Brücke über den stark verseuchten Riachuelo, der in den Rio de la Plata mündet, leitet die Menschen auf diesen Markt der großen Chancen. Zusammen mit der Fotografin Sarah Pabst hat sich MPIfGWissenschaftler Matías Dewey La Salada auch künstlerisch genähert. > Seite 19 MPIfG Jahrbuch 2015–2016 Herausgegeben vom Max-Planck-Institut für Gesellschaftsforschung © 2015 Redaktion Christel Schommertz Silvia Oster Gestaltung und Satz www.dk-copiloten.de Bildnachweis La Salada Project/Sarah Pabst Titel, 15, 16, 19, 20, 21 (oben); MPIfG/Matthias Jung 5, 18, 36, 72, 144 (oben und Mitte rechts), 145 (unten); MPIfG/Astrid Dünkelmann 9, 13, 21 (unten), 24 (unten), 27, 42, 48, 54, 60, 66, 80, 88, 96, 110, 112, 114 (oben und unten rechts), 117, 118, 123, 129, 130, 132 (oben), 133, 134, 135, 136, 137, 138, 139, 143 (oben links und Mitte, Mitte und unten), 144 (mittlere Spalte links und Mitte), 146 (links); MPIfG/Nina Engwicht 22, 23, 24 (oben); Reuters/David W. Cerny 25; picture alliance/ EPA/Andy Rain 29; picture alliance/Rainer Jensen 30; picture alliance/Sven Hoppe 33; ullstein Bild/ddp 37; picture alliance/EMPICS Sport/Harvey Georges 39; picture alliance/Arne Dedert 40; picture alliance/Tim Brakemeier 43; picture alliance/Scanpix Bildhuset/ Bengt Olof Olsson 49; AFP/Scanpix Bildhuset/ Bertil Ericson 52; ddp images/Michael Kappeler 55; picture alliance/Peter Kneffel 59; picture alliance/ ZB/Martin Schutt 61; picture alliance/Jan Haas 67; picture alliance/Karl-Josef Hildenbrand 68; picture alliance/ZB/Hendrik Schmidt 69; picture alliance/ Scanpix Bildhuset/Maria Annas 70; picture alliance/ ZB/Jens Kalaene 71; ullstein bild/CARO/Frank Sorge 73; Fürther Bündnis für Familien/Oswald Gebhardt 77; picture alliance/SZ Photo/Robert Haas 78; picture alliance/Matthias Schrader 79; picture alliance/ZB/ Ralf Hirschberger 81; AAP One Image/Stefan Postles 85; ullstein bild/vario images 89; ullstein bild/AKG 90; picture alliance/Revierfoto 95; picture alliance/ Wildlife/A. Mertiny 97; imago/Schöning 98; picture alliance/Frank Leonhardt 100; dominicfoto.de/ Dominic Akyel 102; Karl Eduard Biermann [Public domain]/Wikimedia Commons from Wikimedia Commons 103; picture alliance/Thomas Muncke 104; kragoART 105; Stephanie Lacombe 114 (oben links); MPIfG/Jens Beckert 114 (unten links); MPIfG/ Christoph Seelbach 115 (links), 119, 124, 146 (Mitte); MPIfG/Hardy Welsch 115 (rechts), 116, 145 (oben), 146 (rechts); Vrije Universiteit Amsterdam 131; Körber-Stiftung/David Ausserhofer 132 (unten); MPIfG/Elisabeth Zizka-Fuchs 143 (oben rechts); MPIfG/Jürgen Bauer 144 (unten links); MIT/Stuart Darsch 144 (unten rechts); MPIfG 147. Druck Heider Druck GmbH, Bergisch Gladbach MPIfG Jahrbuch 2015–2016 MPIfG Jahrbuch 2015–2016