Topologie – Golf von Neapel Typologie – Stadt
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Topologie – Golf von Neapel Typologie – Stadt
Neapel Topologie – Golf von Neapel Typologie – Stadt und Villa Tektonik – Bogen, Gewölbe, Kuppel Seminarreise Frühlingssemester 2008 ETH Zürich Departement Architektur Architektur und Konstruktion Prof. Andrea Deplazes Inhaltsverzeichnis 1 Reiseprogramm Napoli – Stadtentwicklung 2 6 Einführung Die Zeit der Griechen und Römer Unterirdisches Neapel Capri – Villa Jovis Capri – Casa Malaparte Sorrent Pompeji Vesuv Ercolaneum Movimento Moderno 18 33 45 54 72 100 103 118 120 126 Literaturverzeichnis Teilnehmerliste 145 147 Unterkunft Hotel Nettuno Via Sedile Di Porto, 9 Napoli – 80134 Tel. 0039 081 5510193 www.albergonettuno.com Programm 2 Samstag, 26. April 2008 21.00 h Treffpunkt HB Zürich 21.27 h Abfahrt von Zürich Anreise und Übernachtung im Zug Sonntag, 27. April 2008 09.12 h Ankunft Rom, umsteigen 10.45 h Abfahrt von Rom 12.12 h Ankunft in Neapel Transfer von Stazione Centrale, Piazza Garibaldi, zum Hotel Nettuno Hotelzimmer beziehen Spaziergang bis Piazza Duca D‘Aosta, Stazione Toledo Fahrt mit dem Funicolare auf den Vomero Erster Blick auf die Stadt vom Castel S. Elmo Montag, 28. April 2008 Zeit der Griechen und Römer Phlegräische Felder: Parco archeologico di Cuma, Bacoli, Pozzuoli – Cuma: Antro della Sybilla – Baia: Piscina Mirabilis – Pozzuoli: Serapeum, Amphitheater Dienstag, 29. April 2008 Unterirdisches Neapel – San Lorenzo Maggiore, gotische Kirche, darunter griechisch-römischer Markt, Via Tribunali, 316 – Napoli sotterranea, Piazza San Gaetano, 68 – Chiesa e Catacombe di San Gennaro, Via di Capodimonte – Chiesa e Catacombe San Gaudioso, Piazza Sanità – Chiesa e Catacombe di San Severo alla Sanità Piazzetta San Severo a Capodimonte, 81 Programm 3 Mittwoch, 30. April 2008 Capri und Sorrent Fahrt mit dem Schiff Capri – Villa Jovis, Casa Malaparte Sorrent – die Stadt Donnerstag, 1. Mai 2008 Pompeji Fahrt mit der Circumvesuviana, Regianalbahn Besichtigung: Parco archeologico di Pompeji Freitag, 2. Mai 2008 Vesuv Fahrt mit der Circumvesuviana, Regianalbahn Wanderung auf dem Vesuv Besichtigung: Parco archeologico di Ercolaneum Samstag, 3. Mai 2008 Neapel, Rückreise Besichtigung: Villa Oro Nachmittag zur freien Verfügung 19.00 h Hotel Nettuno, Auschecken 20.00 h Stazione Centrale, Piazza Garibaldi Treffpunkt vor dem Gleis unseres Zuges 20.36 h Abfahrt von Neapel Rückreise und Übernachtung im Zug Sonntag, 4. Mai 2008 Rückreise 07.15 h Ankunft in Mailand, umsteigen 08.25 h Abfahrt von Mailand 12.51 h Ankunft in Zürich 4 Napoli – ein Schauspiel Der Architekt, Maler und Kunstschriftsteller Karl Friedrich Schinkel (1781–1841) brach – nach seiner Ausbildung und ersten Tätigkeit in Berlin – am 1. Mai 1803 nach Italien auf und kam über Prag, Wien und Triest im August nach Venedig und Anfang Oktober nach Rom. Ende April 1804 ging er nach Süditalien, war am 3. Mai in Neapel, bereiste im Mai und Juni Sizilien, war Anfang Juli wieder in Neapel und brach im September von Rom zur Rückreise auf. Im Oktober war er in Genua, Ende November in Paris und Ende Februar 1805 wieder in Berlin. Durch die Vermittlung Wilhelm von Humboldts, den er in Rom kennen gelernt hatte, wurde Schinkel 1810 Oberbauassessor und 1815 Geheimer Oberbaurat. Seit 1816 schuf er die berühmten Bauwerke in Berlin im Auftrag der preussischen Regierung. 1824 reiste er nochmals nach Italien, war am 2. August in Mailand und erreichte über Genua, Pisa und Florenz am 27. August Rom. Von dort ging Schinkel nach Neapel, kehrte im September zurück und verliess Rom am 24. Oktober. Mitte November war er in Venedig und am 22. November in München. An Valentin Rose, Neapel, den 3. Mai 1804 Wertester Cousin. Das Ziel der Reise liegt nahe vor mir, der Gedanke an die Verlassung so vieler Schönheiten bangt nirgends mehr als in dem Lande, das man mit Recht für Europens schönstes 5 hält. Seit mehreren Wochen geniesse ich die Milde von Capuas Fluren, die selbst den starken Hannibal bezähmte, dass er des Ruhms vergass, des langen Krieges Glück wollusttrunken scheuchte. Wäre es möglich, Sie auf eine Stunde den Anblick aus meiner Wohnung geniessen zu lassen. Die Loge vor dem Zimmer ragt weit hinaus ins Meer, dass, wenn es stürmt, ich hier ein kaltes Bad geniesse; ist warmer Sonnenschein, so gibt ein vorgestrecktes Dach, von kleinen Säulchen unterstützt, mir süsse Kühlung, und ich blicke ins weite Meer, an dessen Küste links Vesuv den Feuerschlund erhebt, indessen harmlos ihn am Fusse die Orte Portici, Resina, weissen Pünktchen gleich, umziehn. Die lange, hochgetürmte Küste von Salerno und Sorrent zieht hinter ihm sich in den Horizont des Meers, aus dessen Mitte kühn die Felseninsel Capri steigt. Rechts lehnt am Vorgebirg die Stadt und streckt einen Damm und ein Kastell ins Meer. Gehe ich in das Gewühl der Stadt, so bietet sich ein neues Schauspiel dar, das man in jedem anderen Ort vergeblich sucht. Paris und London müssen weit in dem Tumult der Gassen den Rang Neapel räumen. Denken Sie sich in dem Raum, der nicht grösser ist als der, auf dem Berlin gebaut, die Anzahl von fast einer Million Seelen, wovon der grösste Teil sein ganzes Leben auf der Strasse treibt, dort handelt, wohnt und schläft, der jede Handlung durch die höchste Lebhaftigkeit, durch beständigen Frohsinn bezeichnet, dem das öffentliche Leben einen Nationalcharakter gibt, der sich in jeder Miene, in jedem Gestus in einem Grade zeigt, dass der, der eingeweiht, von fern den Sinn der Unterredung schon durch Miene und Gestus errät. Schneller Fassungsgeist leuchtet aus jeder Unternehmung, Gefühl fürs Schöne zeigt sich auf allen Gassen, nicht selten hört man in einem Kreis von Lazzari den aufmerksamen Ohren Gesänge Tassos oder Dantes klingen, oft sammelt abends eine gut gespielte Zither ein weites Auditorium von allen Klassen, das oft durch «bravo» den Künstler ermuntert, ihm die Freude zu verlängern. An öffentlicher Pracht vielleicht nicht weniger erhält Neapel vor allen den ersten Platz. Man sieht an Feiertagen auf den Promenaden des Corso mehr als zweitausend Karossen von zwei bis zu 8 Pferden, reich bis zur Verschwendung und mit Bedienten überladen. (Bernd Haufe: Deutsche Briefe aus Italien. Von Winckelmann bis Gregorovius. 3. Aufl. Leipzig: Koehler & Amelang 1987. S. 140ff.) Napoli – Stadtentwicklung 6 Napoli – Stadtentwicklung 7 Napoli – Stadtentwicklung Plan um 1790 8 Napoli – Stadtentwicklung Plan von heute 9 Napoli – Stadtentwicklung Stadttore in griechischer Zeit, Schema der griechischen Stadtbefestigung (5. Jh. v. Chr.) 10 Napoli – Stadtentwicklung 11 Antikes Neapel, Römische Stadtanlage (5.Jh. n.Chr.) Napoli – Stadtentwicklung 12 Neapel unter den Herzögen (763-1139) Überlagerung der Stadtbefestigung des 11. Jh. mit dem Stadtgrundriss des 19. Jahrhunderts Napoli – Stadtentwicklung 13 Neapel unter den Herzögen (763-1139) Schema der Stadtbefestigung im 11. Jh. Napoli – Stadtentwicklung 14 Stadtmauer der Aragonesen, Ostseite (1442–1500) Bestehende Reste der spätmittelalterlichen Verteidigungsmauer im Osten der Stadt Napoli – Stadtentwicklung 15 Neapel unter den Vizekönigen, Schema der Stadtmauer (1504–1707) 16 17 Einführung Die von Festungen eingeschlossene Stadt Auf der hier abgebildeten Vedute erkennen wir neben der basisbildenden Topographie bereits alle, sowohl das antike als auch das neuzeitliche Neapel, bestimmenden städtebaulichen Elemente: im Osten ein grosser dicht bebauter Komplex, der von fünf Hauptstrassen parallel in Ost-West-Richtung durchzogen wird; am Südwestende dieser antiken Neapolis ein kleiner Naturhafen und im Anschluss daran, weiter nach Westen, schon ganz ausserhalb des griechischen Siedlungskernes, eine tief ins Meer vorstossende künstliche Mole; weiter nach Westen, ebenfalls am Meer gelegen, eine städtebauliche Einheit aus Castel Nuovo (Maschio Angioino), Leuchtturm, Arsenal und königlicher Residenz (Reggia). Von der Reggia nach Westen weitergehend folgt die auffälligste Formation des Küstenverlaufes mit der weit ins Meer kragenden Klippe (gr. Megaris), auf der sich Castel dell‘Ovo auftürmt, dem landeinwärts anschliessenden steilen Hügel von Pizzofalcone und weiter landeinwärts dem ganz Neapel dominierenden Vomero-Berg mit der Kartause S. Martino und dem Castel S. Elmo. Schliesslich, ganz im Westen, bereits ausserhalb des neuzeitlichen Mauerringes, an einer sanft geschwungenen Bucht eine lockere Bebauung mit vielen Grünanlagen, offensichtlich ein Villen- und 18 Residenzviertel, die heutige Riviera di Chiaia mit Villa Communale. Die Vedute von 1621 zeigt aber über die unbestreitbaren Fakten der Topographie und der städtischen Bebauung hinaus Strukturen, die anderen Städten wie Genua und Venedig fast gänzlich fehlen. Der kundige Kartenleser erkennt unschwer eine Reihe von Kastellen und Befestigungsanlagen. Deren Lage ist bezeichnend. Es fällt auf, dass im gesamten Altstadtbereich, also dem Siedlungsraum direkt auf der antiken Neapolis, solche Wehranlagen fehlen. Die Stadt selbst besitzt zu ihrem eigenen Schutz lediglich ihren mehrfach erweiterten Mauerring. Ganz im Osten, am Ende des ursprünglichen decumanus maximus, wo in der Antike die Porta Capuana die Mauer unterbrach, steht seit dem 12. Jahrhundert das Castel Capuano. Auf der anderen Seite der Altstadt, in respektierlicher Distanz, die drei das Stadtbild bestimmenden Burganlagen Castel Nuovo, Castel dell‘Ovo und Castel S. Elmo. Natürlich sollten diese Kastelle sowohl die jeweils Herrschenden als auch die Bevölkerung schützen. Aber aus der topographischen Anordnung dieser Wehranlagen lässt sich leicht der Verdacht ableiten, dass die Erbauer dieser Kastelle sich nicht nur gegen Angriffe von aussen, vom Meer her, zu schützen hatten, sondern durchaus auch gegen die eigenen Untertanen, das Volk von Neapel. Und dazu war nur allzu oft Anlass ge- geben. Das Stadtbild zeigt somit etwas auch vom Verhältnis ihrer Einwohner zueinander, schreibt etwas von der Dichotomie der neapolitanischen Geschichte seit dem hohen Mittelalter, genauer seit 1139. Es ist dies die allseits zitierte Fremdherrschaft in abwechselnd langer Folge: Normannen, Staufer, Anjous, Aragonesen, spanische Habsburger, österreichische Habsburger und Bourbonen. Neapel ist, wer möchte dies der Stadt abstreiten, einzigartig, nicht nur im Guten, in jeder Hinsicht. Mehr als jede andere Stadt ist Neapel eine Stadt der Gegensätze. Neapelkenner behaupten, man könne die Stadt nur hassen oder lieben. Dies mag zutreffen für den, der gezwungen ist, dort zu wohnen. Für den eher flüchtigen Reisenden stellt sich das Problem weniger existentiell. Dem, der Neapel hasst, ist die Stadt die chaotischste, lärmendste, schmutzigste und stinkendste der Welt, bewohnt von Teufeln, Müssiggängern, Faulenzern, Dieben und Verbrechern; dem, der Neapel liebt, ist sie die schönste, reichste, lebendigste, demokratischste, bewohnt von quirligen, erfinderischen, studierten und liebenswürdigen Menschen. De Crescenzo: «Wenn in der UNO nur Neapolitaner sässen, da würde es bestimmt nirgends mehr einen Krieg geben, und die Waffenfabriken müssten sich damit begnügen Knallfrösche und Stinkbomben für Silvester herzustellen.» Wehe dem, der sich da spontan und einseitig entscheiden wollte! […] Einführung Neapel ist eine apokalyptische Stadt, die mehr als jede andere von Krieg, Pestilenz, Tod und Hunger heimgesucht wird. Paradies und Hölle werden in Neapel gleichzeitig manifest. Nur um einige jüngere Daten ins Gedächtnis zu rufen: Krieg und Pest im Januar 1528 und nur zehn Jahre später der Ausbruch des Monte Nuovo. Dem Erdbeben und Vesuvausbruch des Jahres 1631 folgte 1654 die schrecklichste Pest, die jemals ein Gemeinwesen heimgesucht hat. Von ca. 450 000 Einwohnern erlagen der Seuche über zwei Drittel der Bevölkerung, das sind geschätzte 350 000 Menschen. […] Krieg und Pest gingen auch Hand in Hand gegen Ende des letzten Weltkriegs. Kaum hatten sich die Neapolitaner aus völlig eigener Kraft der Nazibesatzung entledigt (le quattro giornate), als am 1. Oktober, gleichzeitig mit dem Einzug der Alliierten, die Pest ausbrach. Knapp ein halbes Jahr später meldete sich zu allem Unglück auch noch der Vesuv. Die letzte Choleraepidemie (1974) liegt gerade anderthalb Jahrzehnte zurück, und sie wurde gefolgt von dem schrecklichen Erdbeben am 23. November 1980, dessen Spuren noch heute das Stadtbild zeichnen. Das Bild von Neapel und den Neapolitanern wird im allgemeinen geprägt von Vorurteilen und Gemeinplätzen, die schier unaustilgbar sind. So erscheint es als höchst widersprüchlich, dass ausgerechnet die chaotischen und unregierbaren Neapolitaner 19 Plan von Lafrery, 1621 Einführung von einem tiefen Gefühl für Ordnung und Gerechtigkeit gelenkt werden. Von Anfang an lebte die Stadt im Bewusstsein der Gemeinschaft, und die Kraft der «iura civitatis» blieb ungebrochen auch in Perioden der sog. Fremdherrschaft. Die Rechtsschule Neapels hatte schon lange vor der Einrichtung der ersten Staatsuniversität Europas durch Friedrich II. von Hohenstaufen (1224) einen guten Namen. Die Gleichheit aller Bürger vor dem Gesetz und die Bewahrung der antiken republikanischen Einrichtungen waren ein ungebrochenes Grundanliegen der Stadt seit Anbeginn ihres Bestehens. «Neapel erzeugt aus sich selbst Gesetze wie Zuchtaustern Perlen», bestätigt der gut instruierte Franzose Daudy. Italiens Bürokratie ist eine Erfindung der Neapolitaner. Noch heute beherbergt Neapel die grösste Anzahl von Rechtsanwälten und Notaren in seinen Mauern. Die Geschichte Neapels ist genau besehen der unerschütterliche, Jahrtausende alte Kampf um und für die Bürgerrechte, mochte der Gegner S. P. Q. R. (Rom), Hl. Stuhl, Haus Hauteville oder Bourbon heissen. Benedetto Croce (1866–1952), der grosse neapolitanische Historiker und Philosoph, hat gerade diese Tugend als die herausragende und bestimmende seines Volkes hervorgehoben. Ein zweites Klischee, die Neapolitaner betreffend, ist die immer wieder unterstellte Gräzität. Neapel sei die griechischste aller Griechenstädte der 20 Magna Graecia. Worin diese allerdings bestehen soll, wird nirgendwo präzisiert. Man fragt sich schon, warum ausgerechnet das moderne Parthenope griechischer als beispielsweise Syrakus oder Tarent sein soll. Das Etikett wird sogar noch problematischer aus ethnisch-völkischer Sicht, ja geradezu absurd. Den Neapolitanern ausgesprochene Gräzität zu unterstellen, heisst doch, ihnen ihr Ureigenstes, nämlich ihre völlig einzigartige Identität als Neapolitaner, rauben. Schliesslich geistert noch ein drittes Firmenschild durch die Literatur, nämlich das der politischen Uneigenständigkeit, das der jahrhundertelangen Unterdrückung durch Fremdherrschaften. Doch wie bei der unterstellten Gräzität muss auch in dieser Frage die Spreu vom Weizen getrennt, differenziert und ausgesondert werden. Mag oberes Etikett im gewissen Umfange für die Zeit von 1139 bis 1860 zutreffen, so wird dennoch bei genauerer Betrachtung die Einschätzung der Unterdrückung recht fragil. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont 1990. S. 68 – 71.) Einführung 21 Die sich im Kern stets erneuernde Stadt Kein anderes Stadtbild Italiens präsentiert in solcher Vitalität und Gleichzeitigkeit Tradition und Neuerungsdrang wie das Panorama von Neapel. Sein vulkanischer Boden scheint nichts auf Dauer beherbergen zu wollen – die Stadt am Golf ist seit jeher in ständiger Umwälzung. Dabei ist aber das Raster, auf dem sich die urbanen Entwicklungen labyrinthisch verzweigen, kurzfristig behaupten und dann fast gänzlich wieder verschwinden, so alt wie die älteste Gründung der Stadt am legendären Grab der Sirene Parthenope. Bis heute ist der Nukleus von Neapels Altstadt griechisch, hat sich der «Neapolis-Plan» aus dem Ende des 5. Jahrhunderts in seinen grundlegenden Zügen erhalten. Auf einem leicht erhöhten, seitlich gut befestigten Plateau, dessen Oberfläche leicht geneigt ist, dass das reinigende Regenwasser abfliessen kann, orientiert sich das Strassennetz so, dass es geringfügig von der Nordrichtung abweicht, um die Stadt auf diese Weise wirkungsvoll vor den heftigsten Winden zu schützen. Der Grundriss folgt mit seinem System von drei ost-westlich verlaufenden Strassen und zwanzig in nord-südlicher Richtung angelegten Gassen jenen Gesetzen der Stadtbaukunst, die Hippodamos von Milet der organisch-funktionalen Ordnung von Verkehrswegen und Grundstücken beim Quartieri Spagnoli, erbaut von 1550-er bis in die 1630-er Jahre Einführung Wiederaufbau von Milet (von 479 v. Chr. an) zugrundelegte. Diese urbanistischen Neuerungen des klassischen Griechenland fanden auf italischem Boden in Nea-pel ihre prominenteste Umsetzung. Die decumani wurden dabei nicht breiter als sechs Meter angelegt und auf drei beschränkt, um die schlechte Luft (mal aria) aus der Stadt fernzuhalten. Rechtwinklig werden sie geschnitten von circa zwanzig cardines, die ihrerseits vier Meter nicht überschreiten. An diesem Grundriss lässt sich freilich eine der ältesten Eigentümlichkeiten Neapels kaum ablesen. Das historische Zentrum war nämlich in fünf grosse seggi oder sedili gegliedert, die nicht mit den äusseren Begrenzungslinien einzelner Quartiere übereinstimmten. Diese seggi stellten Standesvertretungen nach dem demokratischen Vorbild der griechischen Bruderschaften dar und waren bis zu ihrer Auflösung 1799 als kommunale Selbstverwaltungsorgane der Bürgerschaft in Funktion. Keine der zahllosen Fremdherrschaften über die Golfstadt hat je diese für Italien ganz singuläre Form der Stadtverwaltung brechen können; sie erklärt auch, weshalb es über die Jahrhunderte keinem der Könige von Neapel gelungen ist, den historischen Kern der Stadt zu «besetzen». Er besitzt keinen grossen Platz, der das geschäftige Treiben seiner Bürger gebündelt hätte, und das religiöse Zentrum der Stadt lag, zusammen 22 mit den gesamtstädtischen Verwaltungsorganen, städtebaulich kaum her ausgehoben, an der Stelle der einstigen Agora, dann des römischen Forums, wo sich heute die mittelalterliche Basilika von San Lorenzo erhebt. Zu den frühesten Konservatoren dieses antiken Strassennetzes zählt Friedrich II. Er liess den wiederholt geschleiften Mauerring erneuern, innerhalb dessen dann die auf die Staufer folgenden Anjou (von 1266 an) den Stadtraum mit bedeutenden Sakralbauten überzogen, die bis heute die Silhouette Neapels mitbestimmen: namentlich San Domenico, San Lorenzo und das gotische «Pantheon» der süditalienischen Franzosen, Santa Chiara. Ihren Herrschersitz freilich nahmen die Besatzer ausserhalb der Mauern. Von 1279 an entstand am Hafen der «Maschio Angioino» (später: Castel Nuovo), seither – geschleift, neu errichtet und baulich fortwährend verändert – der Stützpunkt sämtlicher Herrscher über Neapel. In seiner unmittelbaren Nachbarschaft entfaltete sich unter den Anjou kurzfristig ein prachtvolles höfisches Leben, strikt abgegrenzt von der Altstadt und seiner selbstbewussten Bürgerschaft. Hoch über der Stadt errichtete Robert der Weise um 1329 das Castel S. Elmo, wie die auf dem südlichen Ausläufer des Pizzofalcone erbaute normannische Felsenburg Castel dell’Ovo ein weiteres eindrucksvolles Zeugnis der Unverletzlichkeit von Neapels antikem Stadtgefüge, das die Trutzburgen seiner fremden Herrscher geradezu scheu umstehen. Erst unter den spanischen Vizekönigen veränderte sich das Stadtbild grundlegend. Die von 1504 an herrschenden Spanier siedelten ihre mitgebrachten Landsleute auf den bis dahin unberührten Hängen westlich der Stadt unterhalb des Vomero-Gipfels in jenen quartieri spagnoli an, die Neapel, wenn auch nicht sprengten, so doch fortan in alle Himmelsrichtungen expandieren liessen. Der folgenreichste Stadtplaner unter ihnen, Vizekönig Don Pedro Alvarez de Toledo, verlieh der neuen Stadtstruktur durch den Mitte des 16. Jahrhunderts angelegten, nach ihm benannten Strassenzug der Via Toledo (heute allgemein: Via Roma) eine neue Ausrichtung, die vom Hafen und damit vom Schloss aus den Norden erschloss und dabei die Altstadt nur streifte. Zugleich schuf er die Voraussetzungen dafür, dass sich die zweite Bucht Neapels, die Chiaia und andere umliegende Gegenden, zu rasch prosperierenden Stadtteilen und Vororten entwickelten. Das antike Strassengeflecht wurde dabei über die alte Begrenzung hinaus fortgeführt: der decumanus inferior (heute: Via San Biagio dei Librai) wurde in die neuen Stadtviertel hinein verlängert, so dass der treffend auch «Spaccanapoli» (von spaccare, spalten) genannte Einführung Strassenzug in einer Länge von nahezu zwei Kilometern das Neapel der Griechen mit dem der spanischen Habsburger verband und so erstmals und folgenreich die historisch gewachsenen Grenzen überwand. Das Machtzentrum am Hafen, Castel Nuovo, vergrösserten die Vizekönige in unmittelbarer Nachbarschaft um den weitläufigen Palazzo Reale; im Norden entstand mit dem Palazzo degli Studi, dem heutigen Archäologischen Nationalmuseum, ein weiteres imposantes Baudenkmal der spanischen Herrschaft. Die von 1734 an in Neapel bestimmenden Bourbonen bereicherten die Stadt erstmals um öffentliche Bauten; dem königlichen Palast wurde das Real Teatro San Carlo angegliedert, und, vorn historischen Zentrum noch weiter entfernt, entstand auf den Höhen von Miradois das Jagdschloss von Capodimonte, in dem bald schon die spektakulären Funde der vesuvianischen Grabungen gesammelt wurden, die, später in den ehemaligen Palazzo degli Studi verbracht, den Grundstock des heutigen Nationalmuseums bilden. Die Via Toledo unterbrachen die aufgeklärten Monarchen mit zwei monumentalen Platzanlagen: in Höhe des antiken Zentrums mit dem Foro Carolino (heute: Piazza Dante) und an ihrem Ausgangspunkt, vor dem Schloss, mit dem Foro Ferdinandeo (heute: Piazza del Plebiscito). Entlang der Uferstrasse des Chiaia-Viertels entwickelte sich die prachtvolle Villa Reale (heute: Villa Comunale), mit jenem 1787 von 23 Goethe bewunderten Spaziergang, der seither zum legendären Posilipp führt. Nach der 1860 erfolgten Vereinigung Neapels, mit dem italienischen Königreich bestimmten zunehmend Verkehr und Industrie die Stadtentwicklung; breite Corsi umgehen seither das in seiner Substanz intakt gebliebene Zentrum, in dein sich freilich die Strukturen Lind der Bauschmuck der Häuser dem wechselnden, meist fremdbestimmten Kunstgeschmack anpassten. Doch erst die erheblichen Zerstörungen des Zweiten Weltkriegs und jüngste Erdbebenschädcn, die durch die örtlichen Denkmalbehörden nicht immer behoben werden konnten, haben zu ungehemmter Bau- und Bodenspekulation, zum Verlust traditionsreicher und vertrauter Panoramen Lind schliesslich zur Ver-elendung der historischen Bausubstanz Neapels geführt. Sein buchstäblich über Jahrtausende gewachsener, immer wieder verjüngter Kern scheint, manche lobenswerte Restaurierung ausgenommen, dem gänzlichen Verfall und also dem Wegfall aus der Geschichte anheimgegeben Neapolitanischer Bautradition freilich entspricht es, dass sich am Fusse des Vesuv immer neue städtische Dimensionen erschliessen lassen. Derzeit entsteht, unmittelbar an den Hauptbahnhof angrenzend eines der aufwendigsten Neubauprojekte, das in solchem Ausmass und in solcher Nähe zum historischen Kern der Stadt, wohl in keiner anderen italienischen Metropole vorstellbar wäre. Unter Beteiligung namhafter Architekten, so des Japaners Kenzo Tange, wird dort ein neues centro direzionale gebaut, das städtische und regionale Ämter aufnehmen wird. Abermals verlagert sich die administrative Baukultur Neapels, nun von Westen nach Osten, vom Castel Nuovo in Richtung Vesuv. Der Kern von «Nea polis», der «neuen Stadt», wird auch hieraus innovative Impulse beziehen. Für einige Zeit wird der High-Tech-Glanz der kühnen neuen Fassaden auch die schattigen decumani und cardines bescheinen, und wieder werden wir, um es mit dem besten Kenner und grössten Liebhaber von Neapels vitaler Baugeschichte, Christof Thoenes, zu sagen, «den Neapolitaner durch die Jahrhunderte damit beschäftigt (sehen), sein Stadtbild umzudekorieren: eine ungeheure Freilichtbühne, auf der das Alte obsolet, das Neue provisorisch wirkt und nur der alles überstrahlenden Natur des Golfes Dauer zukommt.» (Andreas Beyer: Die Stadt, der Golf und der Berg. In: Merian 46. Jg. 1993 Heft 9, S. 118f.) Einführung 24 Piazza del Plebiscito Baugeschichte Neapels monumentalster und zentraler Platz vor dem Palazzo Reale bietet gleichzeitig ein Stück typischer Lokalgeschichte. Die Idee Alfons‘ von Aragon, seinen Einzug in die neue Residenzstadt gebührend feierlich mit einem pompösen Triumphzug zu gestalten, war in Neapel auf fruchtbaren Boden gefallen. Das ursprüngliche Triumphtor, durch das Alfons im Februar 1443 in Neapel einzog, war gewiss ein Monument aus ephemerem Material, zur einmaligen Verwendung gedacht. Erst später ist die Idee der Verewigung dieses Monuments in kostbarem Marmor entstanden. Im 17. und 18. Jahrhundert hat die Errichtung solcher Wegwerf-architektur, die ausschliesslich zur festlichen Dekoration eines einmaligen Festes oder Staatsaktes diente, eine grosse Tradition in der Sirenenstadt entwickelt. Bedeutende Künstler, wie z. B. Fanzago oder Sanfelice, waren mit dem Entwurf solcher Architekturdekorationen beschäftigt. Gegen Ende des Ancien Regimes war diese Tradition barocker Theatralik noch durchaus lebendig, z. B. 1799 bei der ersten Rückkehr Ferdinands IV. aus Sizilien, dann 1806 und 1808 jeweils beim Einzug von Joseph Bonaparte bzw. Joachim Murat. Letzterer hatte daran so grossen Gefallen, dass er beschloss, das Gelände vor dem Palazzo Reale in Piazza del Plebiscito – Blick auf S. Francesco di Paolo ein festliches Kleid zu hüllen, und zwar diesmal in einem dauerhaften Material. Ein eigens dafür ausgeschriebener Wettbewerb wurde von den Architekten Laperuta und de Sumone gewonnen. Das neue Foro Murat sollte die Gestalt eines grossen halbkreis-förmigen Platzes erhalten, der von einer durchgehenden Kolonnade, einer grossen Gedächtniskirche und zwei seitlichen Palazzi gerahmt würde. Die Vorbilder für Kolonnade (Petersplatz) und Gedächtniskirche (Pantheon) standen natürlich in Rom. Mit Dekret vom 28. Februar 1809 verfügte Murat die Enteignung der anrainenden Bewohner inklusive des Klosters S. Francesco di Paola, und 1810 begann die Demolierung der im Wege stehenden Bauten. Nach der Vertreibung von Murat blieben die begonnenen Bauarbeiten (Teile der Kolonnade) zunächst liegen, doch der als Ferdinand 1., König beider Sizilien, zurückgekehrte Ferdinand IV. fand an der Idee seines Vorgängers Gefallen und liess das Projekt als Foro Ferdinandeo weiterführen. Mit geringfügig geänderten Plänen des Architekten P. Bianchi wurde die Kirche S. Francesco di Paola schliesslich 1846 fertiggestellt, bis heute Neapels wichtigster Beitrag zur klassizistischen Architektur. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont 1990. S. 194f.) Einführung 25 Palazzo Reale Im Antrittsjahr des neuen Vizekönigs de Castro, Graf von Lemos, hatte König Philipp III. von Spanien einen Staatsbesuch seiner italienischen Besitzungen angekündigt. Dies gab dem Grafen von Lemos den willkommenen Vorwand für den Bau einer grosszügigen und moderneren Residenz, wie sie der in Renaissancetradition im letzten Regierungsjahr von Don Pedro de Toledo (1553) von Ferdinand Manilo errichtete Palazzo Vecchio darstellte. Den Auftrag für den Neubau erhielt der seit 1595 als oberster Baumeister des Vizekönigreiches bestätigte Domenico Fontana. Dieser durchdachte das Problem einer grosszügigen und repräsentativen Königsresidenz völlig neu und schuf mit dem Nuovo Palazzo Reale die erste fürstliche Residenz des Absolutismus. Baubeginn war bereits im Jahre 1600. Hinter einer breitausschwingenden dreigeschossigen Fassade mit 21 Fensterachsen verbergen sich verschiedene Raumkomplexe, die sich um drei ungleich grosse rechteckig Höfe gruppieren. Das Sockelgeschoss war vollständig von einem Arkadenportikus, gerahmt von einer strengen dorischen Pilasterordnung, durchbrochen. Lediglich die beiden Achsen an den Ecken waren geschlossen. Als gewichtigster Teil ergab sich im Inneren der nördlich gelegene 5x5-achsige Ehrenhof, voll- Domenico Fontana: Palazzo Reale Fassade um 1595 ständig umgeben von einem zweigeschossigen Portikus. Die königliche Hauskapelle lag in der Achse des Eingangs. Natürlich zog sich die vollständige Fertigstellung des gesamten Bauvorhabens bis zum Ende der Bourbonenherrschaft hin. Doch konnte der Vizekönig bereits 1602 wesentliche Teile des Piano Reale beziehen. Zwischen 1611 und 1613 waren Giovan Battista Caracciolo («il Battistello»), Giovanni Balducci und Belisario Corenzio mit der Ausmalung einiger Säle beschäftigt (Säle IV, VII und IX noch erhalten). Gegen Ende der zwanziger Jahre waren die Flügel um den Ehrenhof voll benutzbar und die Fassade praktisch abgeschlossen. Zwischen 1637 und 1644 errichtete F. A. Picchiatti den Ostflügel und die Hofkapelle, für deren malerische Ausstattung Charles Mellin, Giovanni Lanfranco und Jusepe Ribera Fresken bzw. Bilder beisteuerten. Unter Vizekönig de Guevara, Graf von Onate wurde nach Zeichnungen von B. A. Gisolfi Einführung das enge Treppenhaus des Fontana in ein wahrhaft fürstliches Treppenhaus umgestaltet; laut Montesquieu »die schönste Treppe Europas«. Cosimo Fanzago schuf für den Hauptaltar der Schlosskapelle seine berühmte Statue der «Immacolata» (heute im Museo Nazionale di Capodimonte). An der Südecke, zum Largo di Palazzo (heute Piazza del Plebiscito) gerichtet, kam die gigantische Zeusbüste aus Cumae zur Aufstellung, weswegen die damalige Via Guzman im Volksmund den Namen «Calata del Gigante» annahm. Drei Brunnen, darunter die Fontana Medina, schmückten die Umgebung des Palastes, der zum neuen herrscherlichen Zentrum der Stadt wurde. Der Platz davor geriet zur Bühne für Staatszeremonien, Militärparaden, Turnierspiele und wichtige politische Ereignisse. Eine neue Phase, verbunden mit neuen Funktionen (Galleria der Farnesesammlung, Bibliothek, Sitz der Akademie der Wissenschaften usw.) erlebte die Reggia unter den Bourbonen. Die bekanntesten Maler des Settecento wie Solimena, De Mura, Rossi und D. A. Vaccaro wurden mit der Verschönerung und Modernisierung beauftragt. Im ersten Regierungsjahr von Karl von Bourbon musste Sanfelice einen neuen Trakt in Richtung Castel Nuovo für den Majordomus des Palastes errichten. Die neu gegründete Porzellanfabrik musste bis zu ihrem Umzug nach Capodimonte im Palazzo Reale untergebracht werden. Die königliche Hofdru- 26 ckerei mit der revolutionären Druckerpresse von Raimondo di Sangro fand ihren Platz, und Luigi Vanvitelli, der neue Hofarchitekt, musste aus statischen Gründen die Hälfte der Portikusöffnungen der Fassade schliessen. 1769 verwandelte Fuga die grosse Palastaula in ein Hoftheater. Im Franzosenjahrzehnt, unter König Murat, wurde die Gestaltung des grossen Platzes vor dem Schloss in Angriff genommen. Der bekannte klassizistische Bildhauer Canova erhielt den Auftrag für ein Reiterstandbild Napoleons. Wegen eines Brandes von 1837 erfuhr der Palast eine letzte bedeutende Umwandlung: Umbau der Kapelle, neuer Festsaal, südlicher Flügel mit hängenden Gärten und Belvedere im zweiten Obergeschoss. Nebenbei wurde bei dieser Gelegenheit der bis dahin noch stehende Palazzo Vecchio abgerissen und statt dessen der Flügel, der heute den Palast mit dem Teatro San Carlo verbindet, errichtet. Der wichtigste Beitrag des für diese Arbeiten zuständigen Architekten Genovese bestand in der Neugestaltung des grossen Treppenhauses. Nach der Vertreibung der Bourbonen verlor der Palast seine Funktion als königliche Residenz. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont 1990. S. 190–194.) Einführung Galleria Umberto I. Die Galleria Umberto I. wurde von 1887 bis 1891 von den Architekten Rocco, Curri und Di Mauro erbaut; die Glasverkuppelung konstruierte Boubée. In Typus und Anlage folgte diese Galleria der 1865 bis 1867 entstandenen Mailänder Galleria Vittorio Emanuele II: zwei sich rechtwinklig schneidende mit Glastonnen überwölbte Gänge mit zentraler Glaskuppel über der Kreuzung. Die Ecken der Vierung sind in Breite der Gänge abgeschrägt, so dass ein gleichseitiges Oktogon als zentraler Platz entsteht. Die zeitgenössische Kritik hat an der späten neapolitanischen Lösung viel herumgemäkelt, doch eines wird aus heutiger Sicht klarer erkennbar: Gegen die Jahrhundertmitte wird die ursprüngliche Idee einer überdachten Ladenstrasse zugunsten repräsentativer Architekturen verdrängt. Schon die Namensgebung verrät Trend und neuen Stilwillen: Galerie de la Reine in Brüssel (1847), Kaisergalerie in Berlin, Victoria Arcade in Manchester und Galleria Vittorio Emanuele II. in Mailand. Die gläserne Eindachung galt ursprünglich nicht als Teil der Architektur. Noch bei der Kuppel in Mailand ist der Versuch zu erkennen, durch möglichst grosse Glasflächen die Konstruktion selbst nicht dominant werden zu lassen. Gerade die enger gesetzten und zahlreicheren Querringe der Kuppel von Neapel hatte die Bauästhetik der Zeitgenos- 27 sen verletzt. Doch dass diese Lösung nicht aus technischer Unreife resultierte, geht aus zwei wesentlichen Abweichungen vom Mailänder Vorbild hervor. Die Abmessungen der Galerien, 195 x 105 m in Mailand und 147 x 122 m in Neapel, zeigen im letzteren Falle eine stärkere Angleichung der Ganglängen. Bei etwa gleicher Gangbreite der Galerie erhält das Neapler Oktogon eine zentralere Rolle. Schliesslich ruht die Kuppel (57 m Scheitelhöhe!) über den Gebäudetrakten auf durchglasten Schildbögen, was ihr einerseits eine grössere Schwerelosigkeit verleiht und andererseits die Kuppel als solche, und zwar als bewusst gewähltes Architekturmotiv, stärker akzentuiert. Hier ist wirklich, was in früheren Galeriebauten nicht angestrebt war, ein von einem Glasdach überwölbter Zentralraum bewusst gestaltet worden, ganz in der Tradition der neapolitanischen Tendenz im Kirchenbau. In der Galleria Umberto ist tatsächlich mit den Baumaterialien des 19. Jahrhunderts (Glas und Eisen) eine «Kathedrale des Kommerzes» (Marx) errichtet worden, zum ersten und zum letzten Male. Gleichzeitig ist die Galleria Umberto die letzte monumentale Verwirklichung der überdeckten Ladenstrasse. Das Zeitalter der Flaneurs ist vorbei. Schon parallel zum Bau dieser Galerie setzt sich andernorts der natürliche Nachfahr dieser Ladenstrassen als Bauform durch, das grosse Warenhaus. Galleria Umberto I. – Innenansicht um 1890 Einführung Teatro San Carlo Das Teatro San Carlo, an der Rückseite des Königspalastes von Neapel gelegen, weckt – nicht nur für Napoletaner – Assoziationen der verschiedensten Art. Wer einige Tage durch Neapel spaziert ist und diese Stadt liebgewonnen hat, der wird vielleicht entdeckt haben, dass die Gassen, die Obststände oder die Kapellen so etwas wie eine Bühne darstellen, auf der viele Theaterstücke gleichzeitig aufgeführt werden. Dabei spielt die Aktfolge keine Rolle, da ohnehin nach wenigen Handlungssequenzen eine dramatische Wendung, «una piccola catastropha», erreicht ist. Angesichts der musikalischen Ambitionen dieser Stadt müsste man sogar von «Napoli Operà» sprechen. Nun lässt sich in der Tat keine prächtigere und lebendigere Kulisse für die Inszenierung des Stehgreifspiels «Napoletanisches Leben» denken als das urbane Ambiente dieser Stadt. Für die Instrumentierung ist gesorgt, und an schönen Stimmen fehlt es bekanntlich nicht. Diese «Freiluft-Oper», in die alle Menschen einbezogen sind und wissentlich oder unwissentlich mitspielen, kann historisch tatsächlich lokalisiert werden. Es war die Volkskunst auf der Piazza, auf dem Largo di Castello, um die Mitte des 17. Jahrhunderts. Hier wurde auf dem Komödiantengerüst Theater gespielt. Unmittelbar daneben priesen 28 die Quacksalber, eben noch Handlungsträger in einem Schwank, ihre Kunst als «reale Lebenshilfe» an. Und der Verkäufer, den die Zuschauer als Schurken kennengelernt haben, versucht die aufgebrachte Menge durch Billigverkäufe zu trösten. Ist das Theater als komplexes und theoretisch fundiertes Artefakt zu den Zuschauern gekommen? In Neapel sicherlich nicht. Es war die Gasse, das innerstädtische Ambiente, das Themen und Motive vorgab: Bühne, Darsteller und Publikum organisierten sich selbst. Natürlich gab es parallel zu diesen spontanen Theaterfesten auch die höfischen Aufführungen im eigens für solche Zwecke errichteten Theateroder Opernhaus. Monteverdis «Incoronazione di Poppea» erlebte zwar seine Uraufführung 1642 in Venedig. Neun Jahre später aber wurde diese Oper in Neapel im Rahmen von glänzenden Feierlichkeiten präsentiert, hinter denen ganz Italien zurückstand. Opernglanz und Alltags-Schwank. Das napoletanische Komödiantentum scheint eine eigene musikalische und dramaturgische Linie hervorgebracht zu haben. Kein Wunder, dass angesichts solcher einzigartigen Konstellationen die Geburtsstunde der Opera buffa, des ins Musikalische umgesetzten Stegreifspiels, in Neapel geschlagen hat. Die Figuren, inspiriert von der älteren Commedia dell’ arte, tragen noch die traditionellen oder verwandte Namen wie Dottore oder Capitano. Einführung Harlekins Verkleidungen sind geblieben. Er spottet jetzt nicht mehr nur gegen die Mächtigen, sondern auch gegen die kleine Welt der Stadt. Cianello ist jetzt der Spassmacher. Seine Gefrässigkeit und Faulheit sind die typischen Eigenschaften des «Tedesco» Hans Wurst. Die Haushälterin bringt den Hagestolz unter den Pantoffel, und der Dottore sprengt Intrigen. Giovanni Battista Pergolesi wurde am 4. Januar 1710 in Jesi geboren. Er starb 26 Jahre später in Pozzuoli. Der angehende Musiker war Schüler des berühmten »Conservatorio dei Poveri» in Neapel. Der Ruhm Pergolesis kam zwar mit der Messe, die er im Auftrag der Stadt Neapel geschrieben hatte, zum wirklich populären «Star» aber wurde er durch seine Verdienste um die Opera buffa. Eine der am meisten gespielten Opern war «La serva padrona», («Die Magd als Herrin»), die am 28. August 1733 in der Stadt uraufgeführt wurde. Librettist war der damals in Neapel besonders begehrte Gennaro Antonio Federico. Natürlich spielt die Handlung in Neapel. Wie der Titel schon ankündigt, gelingt es der pfiffigen Haushälterin, ihren Herrn mit einer List, die sie zusammen mit dem Diener ausgeheckt hat, zu heiraten. Aber das ist eben nur das Thema. Das schillernde Lokalkolorit und die vielen kleinen Nebenhandlungen, die das Alltagsleben von Neapel beleuchten, machen den Charme der Oper aus. Kein Wunder, dass dieses Stück sogar für die 29 Entstehung der französischen Opéra comique stilbildend gewesen ist. Neapel hat Operngeschichte geschrieben. Neben Pergolesi, den Begrùnder der Opera buffa, tritt Alessandro Scarlatti (1659–1725), der Begründer der «Da-Capo-Arien». Er hat die Satztechnik ent- sprechend abgeändert, um dem virtuosen Moment der Solisten Rechnung zu tragen. Pergolesi starb ein Jahr vor dem Bau des Teatro San Carlo. Im Jahre 1737 legte König Karl III. den Grundstein zum Opernhaus. Innerhalb von nur acht Monaten war der Bau abgeschlossen. Am Einführung 4. November, dem Namenstag des Königs, fand die Eröffnungsfeier statt. Es wurde die Oper «Achille in Sciro» von Metastasio aufgeführt. Viele Werke von Rossini, Donizetti («Lucia di Lammermoor») und Bellini haben im Teatro San Carlo ihre Uraufführung erlebt. Übrigens war es der berühmte Impresario Domenico Barjaba, der – für Neapel so bezeichnend – vom Zirkusdirektor zum Operndirektor wechselte und viele Talente entdeckt und gefördert hat. So soll er z. B. Rossini verpflichtet haben, zwei Opern pro Jahr für das Teatro San Carlo zu komponieren. Auch Giuseppe Verdi weilte in dieser Stadt, mit der er sich allerdings nicht anfreunden konnte. Einmal waren es die Sänger, von denen er keine hohe Meinung hatte, dann der Stil der Inszenierungen und schliesslich ein Publikum, das ihn, den grossen Musiker, heute verdammte und morgen hochleben liess. Während seine Oper «Simone Boccanegra» gefeiert wurde, pfiff man seine «Alzira» aus. Ausserdem musste Verdi immer wieder gegen die «hochnotpeinliche Zensur» kämpfen, die, wie er sagte, Galgen aus den Opern vertreiben wollte, um sie im Lande aufzustellen. Einen Kampf gegen die Zensur aber konnte der grosse italienische Operndramatiker siegreich beenden. Nachdem die im Auftrag der Stadt Neapel komponierte Oper «Un Ballo in Maschera» von der Zensur verstümmelt wurde, ging Verdi vor Gericht, um die Aufführung, an die er vertraglich gebunden war, 30 zu verhindern. Seine Worte waren beeindruckend: «Ich frage schliesslich, ob in dem Drama der Zensur noch, wie in meinem, vorhanden ist: Der Titel? Nein. Der Dichter? Nein. Die Charaktere? Nein. Die Situation? Nein. Die Auslosung? Nein. Der Ball? Nein.» Verdi bekam Recht. Neapel indes war nun seiner Kunst nicht mehr würdig. Die Oper wurde, weniger scharf zensiert, später im Teatro Apollo in Rom uraufgeführt. Neben glänzenden kulturellen Ereignissen wurde im Teatro San Carlo aber auch ein dunkles Kapitel der italienischen Geschichte aufgeschlagen: 1922 feierte man hier den faschistischen Parteikongress und brach anschliessend zum «Marsch auf Rom» auf. (Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien. München: Artemis & Winkler 1993. S. 125.) 31 Die Zeit der Griechen und Römer 32 Die Zeit der Griechen und Römer Phlegräische Felder, Übersicht 1 2 3 4 5 6 7 8 9 Cuma: Antro della Sybilla Arco Felice Lago d’Averno Apollotempel Baia: Parco Archeologico Capo di Miseno Bacoli: Piscina Mirabilis Pozzuoli: Serapeum, Amphitheater Solfatara: Schwefelgrube 33 Die Zeit der Griechen und Römer 34 Die Phlegräischen Felder Bereits in der komplexen Welt der griechischen Mythologie hatten die Gestade des Golfs von Neapel einen festen Platz. Auf ihren frühen Entdeckungsfahrten kreuzten die sagenhaften Helden auch durch die tyrrhenischen Gewässer und beobachteten die unbekannten Gefilde wahrscheinlich mit gespannter Aufmerksamkeit. Die bizarre Kraterlandschaft mit der merkwürdigen Rauchentwicklung muss ihnen dabei besonders aufgefallen sein; aktive vulkanische Oberflächenformationen waren ihnen vermutlich fremd. Die aus der heissen Erde aufsteigenden Dämpfe schienen nichts Gutes zu verheissen. Hatten sie gar die Unterwelt erreicht, das Totenreich des Hades, wo in ihrer mythologischen Phantasie die Schatten der Toten herrschten? Jedenfalls kam den griechischen Heroen diese vulkanisch geprägte Golfküste gespenstisch und unmenschlich vor. Sie gaben ihr den Namen «brennende Erde», Campi flegrei, und machten sie zum Aufenthaltsort der Titanen, der finsteren Söhne und Töchter der Erdmutter Gäa. Den Eingang zur Unterwelt erkannten sie gar in dem dunklen Kratersee Lago d‘Averno, den kein Vogel lebend überqueren konnte, weil er vom sagenhaften Fluss der Unterwelt (Styx) gespeist wurde und giftige Dämpfe aufsteigen liess. Nach seinen Irrfahrten durch das Mittelmeer betrat der Pietro Fabris: I Campi Flegrei con lago di Agnano visti dai Camaldoli (1776) In: Nicola Spinosa: Vedute napoletane dal Quattrocento all’Ottocento. Napoli: Electa 1996. S. 102 Troja-Kämpfer Äneas hier erstmals italischen Boden, um von der Prophetin Sibylle sein Schicksal zu erfahren. Und aus den Homerischen Schriften erfahren wir, dass auch die Sirenen, diese unwiderstehlichen Fabelwesen, die nach der geglückten Durchfahrt des Odysseus den Tod fanden, an den sagenumwobenen Gestaden des Golfs beheimatet waren. (Michael Machatschek: Golf von Neapel. Erlangen: Michael Müller Verlag 1999. S. 14.) Die Zeit der Griechen und Römer Der Beginn der griechischen Westkolonisation Nach etwa einer Generation von Siedlern hatten sich die Pithekoussaner so in ihre neue italische Heimat eingelebt, dass sie daran gehen konnten, Filialen zu gründen. Auf dem Festland, praktisch noch im Blickfeld der Neuischitaner, lag eine ähnliche topographische Situation vor wie am Monte Vico, ein ins Meer hinausragender Felsvorsprung, gross genug, um darauf zu siedeln. Doch dieser Burgberg war im Gegensatz zum Monte Vico bereits bewohnt von Angehörigen der sog. «FossaKultur», in deren Gräbern Keramik der etruskischIazischen «Villanova?Kultur», illyrische Produkte und auch Importware aus Attika und Euböa gefunden wurden. Hier konnte man also nicht einfach dazwischen siedeln, hier musste mit Gewalt das Gebiet angeeignet werden. Es entstand die neue Form der Kolonie, mit einem militanten Führer aus der Adelsschicht der hippobotai von Chalkis. Die Kolonisten nannten ihre neue Stadt Kyme. Mit Kyrne beginnt das Kapitel der griechischen Westkolonisation. Der Grund für diese Auswanderung dürfte der Lelantinische Krieg gewesen sein, der auf Euböa zwischen Chalkis und Eritrea ausgebrochen war. Pithekoussai konnte die täglich sich mehrenden Flüchtlinge aus der Heimat nicht ernähren. Von Kyme bis Capua erstreckte sich 35 aber eine der fruchtbarsten Ebenen des italischen Stiefels. Die militärische Landnahme und die Organisation dieser strategischen Siedlungsform bedurften anderer gesellschaftlicher Strukturen als die Handelsniederlassung Pithekoussai. Synchron zur griechischen Kolonie entstand in Etrurien die befestigte Stadt als Gegenstück zur Polis. Ein neues Kapitel der Kulturgeschichte Italiens hatte mit der Gründung von Kyrne eingesetzt. Ähnlich wie an anderen Stellen der Phlegräischen Felder fällt es dem heutigen Besucher schwer, sich die ursprüngliche Topographie vor Augen zu führen. Der Burgberg, die Akropolis von Kyme, hatte aber, wie Luftaufnahmen deutlich machen, dieselben Vorzüge wie der Monte Vico. Die salzigen Wasser der ursprünglich viel ausgedehnteren Lagunenseen, Lago di Fusaro im Süden und Lago di Licola im Norden, umspülten tatsächlich den Fuss der Akropolis. Ersterer hiess bei den Römern noch Acherusia Palus (Sumpf des Unterweltflusses Acheron). Die Euböer wurden von Seefahrern und Händlern zu Ackerbauern. Die fruchtbare kampanische Ebene hatte auch in diesem Falle den Eindringling gewandelt zum sesshaften Besteller des Landes. Die Kymäer hatten offensichtlich auch sofort damit begonnen, um den Burgberg herum durch ein System von Gräben und Kanälen (fossa graeca) die Sümpfe zu regulieren und zu entwässern. Die kulturellen Konsequenzen dieses ersten Sesshaftwerdens griechischer Kolonisten auf dem Festland können gar nicht überschätzt werden. Noch in den homerischen Gesängen wird, wenn von italischen Gestaden die Rede ist, das Bild unterentwickelter Urweltlichkeit gezeichnet: Gigantomachie, Hexen (Circe), Zauberwesen (Sirenen), Menschenfresser (Poliphem), finstere Urmenschen (Kymmerer) usw. Die einheimische Bevölkerung erschien ihnen ungebildet und rückständig, ihre Sprache unverständlich, kurz: Barbaren. Der Same, der in Pithekoussai gelegt wurde, ging in Kyme zur vollsten Blüte auf. Von Kyme aus wurden am Stretto zur Kontrolle der Schifffahrtsverbindungen mit der Heimat die Kolonien von Messina (Zankle) und Reggio (Reghion) gegründet. Pithekoussai verfiel. Unter den Neuankömmlingen befanden sich Angehörige eines Stammes der Graioi oder Graikoi. Weil die Kymäer die ersten Griechen waren, mit denen die benachbarten Latiner engen Kontakt hatten, nannten sie alle anderen Hellenen nach ihnen Graeci, also Griechen. Der kulturelle Einfluss, Götterwelt, Tempelbau, Bestattungformen, Sprache, Kunst usw., nahm von Kyme aus seinen raschen Siegeszug, so dass später noch, als die Römer alle Griechenstädte längst ihrem Reich einverleibt hatten, eben diese sagen konnten: Graecia captaferum victorem coepit (das eroberte Griechenland besiegt den wilden Sieger). Die Zeit der Griechen und Römer Pozzuoli: Serapis Tempel 36 Die Zeit der Griechen und Römer 37 Pozzuoli: Amphitheater Die Zeit der Griechen und Römer Aus der frühesten Siedlungszeit von Kyme können wir nur wenig Konkretes rekonstruieren. Wiederum sind es Grabfunde, genauer die Nekropole von Licola (3 km nördlich der Akropolis), die uns von der Gegenwart von Menschen und ihren sozialen Verhältnissen Kunde geben. Eine Reihe von Gräbern, besonders das Grab 104, dieser Frühzeit von Kyrne belegt ganz deutlich die Existenz einer aristokratischen Oberschicht, es handelt sich dabei um den in Pithekoussai bislang vermissten Prototyp des Heroen- oder Fürstengrabes. An der Lagune von Licola lag auch der älteste Tempel der Göttermutter Hera in Kyme. Der älteste Tempel auf dem Burgberg war Apollo, dem Kultur- und Kolonisationsgott schlechthin, geweiht. Von hier aus ging alle Verehrung dieses Gottes bei Etruskern und Latinern aus. Zur eigentlichen Hauptstadt der Campania, Capua, bestanden engste Beziehungen. Doch da diese Inlandstadt bald unter etruskischen Einfluss geriet, waren Spannungen vorgezeichnet. Urteilt man nach den Grabbeigaben, so hat Kyme seine grösste Blütezeit im 6. Jahrhundert v. Chr. erlebt. Zur Griechenstadt gehörten weite Teile der fruchtbaren Ebene zwischen der Mündung des Liternus und Aversa. Auch das Anbaugebiet der berühmten Weine vom Berg Gaurus gehörte den Kymäern. Solch fruchtbarer Besitz gebiert Neider. Eine Allianz aus Tyrrhenern, Umbriern und Daumern versuchte 38 524 v. Chr., den strategisch günstigen Ankerplatz mit seinem fruchtbaren Umland mit Waffengewalt an sich zu bringen. Die schon erwähnten Gräben zur Regulierung der Sumpfwasser erwiesen sich dabei für den zahlenmässig überlegenen Gegner als verhängnisvolles Hindernis. Hinzu kam, dass die Kymäer gerade damals in den Reihen ihrer Aristokratie einen genialen Feldherrn besassen: Aristodemos. Dieser drängte anschliessend die Etrusker bis nach Latium zurück. Vielleicht durch seinen militärischen Erfolg verführt, schwang sich dieser Retter des Vaterlandes alsbald zum Tyrannen von Kyme auf. Auf seine Initiative hin entstand wahrscheinlich die Neubebauung der Akropolis mit den beiden spätarchaischen Tempeln zu Ehren der Hauptgötter der Kymäer, Zeus und Apollo. Deren Basen sind die ältesten archäologisch gesicherten Baureste von Kyme. Obwohl Aristodemos ständig im Krieg mit den Etruskern stand, verbanden ihn enge politische Beziehungen mit Tarquinius Superbus, dem letzten etruskischen König von Rom, der nach seiner Vertreibung (508 v. Chr.) im Jahr darauf in Kyme als Exilant starb. Dabei machte Tarquinius seinen politischen Freund Aristodemos zum Erben seiner königlichen Ansprüche auf Rom. Doch Kyme wurde nicht zum Erben Roms, vielmehr wurde letzteres in vielerlei Hinsicht zum Erben Kymes. Durch die Entmachtung der Etrusker in Kampanien und im südlichen Latium ermöglichte Kyme sowohl den Aufstieg Roms als auch das Vordringen der Samniten in die kampanische Ebene. Nach der Absetzung des Aristodemos erwies sich die zurückgebliebene, nun wieder demokratische Polis nicht mehr als widerstandsfähig genug, um den Gang der Entwicklung noch massgeblich zu beeinflussen. Als die Etrusker letztmals versuchten, mit ihrer Flotte verlorenes Terrain im Süden zurückzugewinnen, waren die Kymäer aus eigener Kraft zur Verteidigung ihrer Interessen nicht mehr fähig. Sie baten das mächtige Syrakus um Beistand. Der Seesieg Kymes 474 v. Chr. über die Etrusker war eigentlich ein Sieg Hierons I., der für ca. vier Jahre allein über den Golf von Neapel verfügte. Der Abzug der Syrakusaner brachte die Athener auf den Plan. Doch inzwischen hatten sich im Hinterland die verschiedenen Stämme der Samniten zu einer Art Nation zusammengeschlossen und zunächst Capua (424) und von dort aus drei Jahre später Kyme erobert. Das nun samnitische Kyme bedeutete aber nicht sofort den Untergang der griechischen Kultur. Zwar wurde die neue Sprache das Oskische, aber nun setzte die eigentliche Hellenisierung der Samniten ein, wie z. B. der Grabtholos der oskischen Familie der Heii aus dem 4. Jahrhundert v. Chr. beweist. Bereits im folgenden Jahrhundert im Rahmen der Samnitenkriege war Kyme als «civitas sine suffragio» (334) römisch geworden und hiess von nun ab Die Zeit der Griechen und Römer 39 1 Antro della Sibilla – 2 Cripta Romana – 3 Apollon-Tempel – 4 Jupiter-Tempel Die Zeit der Griechen und Römer «Cumae». Politisch und wirtschaftlich war Cumae so unbedeutend geworden, dass es mit Capua zusammengelegt wurde zur praefectura Capuam Cumana. 180 v. Chr. schliesslich baten die Cumaner aus Angst vor der entstehenden Konkurrenz von Pozzuoli den Senat von Rom, das Lateinische als offizielle Sprache einführen zu dürfen. Die folgende Geschichte Cumaes bis zur endgültigen Zerstörung Anfang 13. Jahrhunderts ist zu belanglos, als dass sie wiedergegeben zu werden verdiente. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont 1990. S. 38–41.) Antro della Sibilla Als bei den Ausgrabungen zwischen 1925 und 1930 eine hohe künstliche Grotte unter dem Burgberg freigelegt wurde (sog. Grotta romana), war das für die Ausgräber selbstverständlich die Grotte der Sibylle. 1932 jedoch wurde ein anderer 131,5 in langer, ca. 5 m hoher und 2,4 m breiter Gang mit archaisch anmutendem trapezoidalem Querschnitt entdeckt. Für Amedeo Maiuri war dies nun unzweifelhaft die Grotte der Sibylle. Wer bzw. was aber war diese Sibylle? Sibylle ist Name einer sagenhaften Frau, die in Mar- 40 pessos bei Troja lebte; sie weihte sich dem Dienste des Apollon, der ihr die Gabe der Weissagung verlieh. Sie soll ihre Orakel in Rätselform ausgedrückt und sie auf Blättern niedergeschrieben haben. Aufgrund des Ruhmes, den sie erwarb, wurde ihr Name bald zur Gattungsbezeichnung, und viele Orte rühmten sich einer Sibylle. Am berühmtesten waren die Sibyllen von Erythrai, Libyen und Cumae in Kampanien. Ihre Wahrsagungen fanden sich auf Schriftrollen aufgezeichnet im Tempel deponiert. Der Sibylle von Cumae, Deïphobe, versprach einmal Apollon alles, was sie wollte, wenn sie seine Geliebte würde. Sie willigte ein und verlangte so viele Lebensjahre, wie ein Kehrichthaufen Staubkörner enthielt; die Zahl belief sich auf tausend. Leider hatte sie nicht zugleich auch um ewige Jugend gebeten; und da sie ApolIon trotzdem verschmäht hatte, hörte sie nicht auf, zu altern. Schliesslich war sie so alt, dass sie, völlig eingeschrumpft, in einer von der Höhlendecke herabhängenden Flasche hockte, und wenn ihre Kinder sie nach ihren Wünschen fragten, sagte sie nur: «Ich will sterben.» Ob aber jemals in vorhellenischer oder noch in archaischer Zeit überhaupt ein Kult der Sibylle in Cumae existierte, gilt als nicht gesichert. Für das 7. Jahrhundert v. Chr. ist inschriftlich nur ein HeraOrakel bezeugt: Hera als Göttin der Fruchtbarkeit und des Todes. Die Zeit der Griechen und Römer Antro della Sibilla 41 Die Zeit der Griechen und Römer Castello di Baia 42 Piscina Mirabilis: Grundriss Die Zeit der Griechen und Römer Piscina Mirabilis Diese größte Zisterne des Römischen Reiches ist das interessanteste Denkmal der Phlegräischen Felder. Der Behälter sollte die Flotte mit Süßwasser versorgen. Er ist über 70 m lang und ca. 30 m breit. Das Wasser hat man aus den immerhin 68 km entfernten Monti Irpini bei Avellino herangeführt. Die Wasserleitung versorgte nicht nur Misenum, sondern das gesamte Gebiet von Neapel. Zwei Treppen führen in das Innere und überraschen den Besucher mit einer phantastischen Architektur: Zwölf Reihen von je vier kreuzförmigen Pfeilern, die durch Bögen untereinander verbunden sind, tragen das Tonnengewölbe. Das Innere ist mit Signinum verkleidet, einer Mischung aus Kalk, Pozzulanerde und Backsteinsplittern. An der Westwand hat sich der Zufluß befunden. Man vermutet, daß auf dem Dach Schöpfräder montiert waren, um Wasser zu entnehmen. Das mittlere Querschiff war das Klärbecken. Sein Niveau ist etwas tiefer und leicht geneigt. An seinem unteren Ende befand sich eine Abflußöffnung. Das Becken dürfte 12 000 m³ Wasser gefaßt haben. (Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien München: Artemis & Winkler 1993. S. 144–146.) 43 44 7 4 3 6 2 1 5 Unterirdisches Neapel Paolo di Caterina: Napoli Sotterranea – Un iti-nerario del sottosuolo partenopeo riferimento «Le cavità sotterranee e Napoli» Unterirdisches Neapel 45 46 16 8 Paolo di Caterina: Napoli Sotterranea – Un iti-nerario del sottosuolo partenopeo riferimento «Le cavità sotterranee e Napoli» 10 9 12 11 15 14 13 Unterirdisches Neapel Unterirdisches Neapel 47 Unterirdisches Neapel 48 Unterirdisches Neapel San Lorenzo Maggiore gotische Kirche darunter griechisch-römischer Markt Via Tribunali, 316 081 454 948 Napoli sotterranea Tuffsteinhöhlen Piazza San Gaetano, 68 081 296 944 Chiesa e Catacombe di San Gennaro Via di Capodimonte 081 741 10 71 Chiesa e Catacombe San Gaudioso Piazza Sanità Hinter dem Hauptaltar der Kirche Santa Maria alla Sanità (17. Jahrhundert) befindet sich der Zugang 081 544 13 05 Chiesa e Catacombe di San Severo alla Sanità Piazzetta San Severo a Capodimonte, 81 081 544 13 05 49 Der napolitanische Tuff Die Wege der unterirdischen Stadt sind faszinierend. Es handelt sich um ein zweites Neapel unterirdisch parallel zur Stadt an der Oberfläche. Zwischen den griechisch-römischen Resten und Katakomben, Höhlen und Zisternen, Brunnen und natürliche wie auch künstliche enge Durchgänge, führen ungezählte geheime Wege über viele Kilometer von einem Ende der Stadt zum anderen. Über tausende von Jahren wurde der grosse Block aus Tuffstein, auf dem die Stadt ruht, bearbeitet. Die ersten Werke fingen vor ca. 5000 Jahren an, fast prähistorisch. Vor ca. 2000 Jahren fingen erst die Griechen und dann auch die Römer an, in grosssem Stil den Tuffstein zu bearbeiten. Auf der einen Seite gruben sie aus grösseren Tiefen , um Acquedukte, Friedhöfe und unterirdische Gänge zu bauen, auf der anderen Seite benutzten sie das Baumaterial für Umgebungsmauern, Tempel und Häuser für die Bewohner. Später gruben die Christen im Fels, um Schutz vor religiösen Verfolgern zu finden. In der Renaissance blühte die Stadt geradezu auf. In der gleichen Grösse des Gebäudes überirdisch entstand eine Höhle unterirdisch, da das erworbene Material für den Bau des Gebäudes verwendet wurde. Der gelbe Tuffstein ist ein ausgezeichnetes Baumaterial und wird «tufo napoletano» genannt. Die unterirdische Stadt Vom Meer bis zu den Hügeln kann der Tourist seine Ausflüge in der Unterwelt machen. Beeindruckend sind die Unterkünfte aus der Zeit des 2. Weltkrieges, die in dem meanderartigen Labyrinth des antiken Acquedukts entstanden. Die antiken Wasserwege, die durch enge Schläuche, Treppen und unzählige Rampen führen, wurden zu Sicherheitswegen. Die Zisternen wurden mit elektrischem Licht versorgt. Sie wurden mit Notbetten und mit Not-toiletten ausgestattet. So fanden Tausende in den ehemaligen antiken Wasserbecken Schutz vor den Bomben. Einer der Zugänge zur Unterwelt befindet sich in via Tribunali neben der Kirche San Paolo Maggiore in piazza San Gaetano. Die Führung dauert etwa zwei Stunden. 150 Stufen führen in die Welt 30–40 Meter unter dem Strassenniveau der via Anticaglia bis San Gregorio Armeno. Über ca. 10 000 m2 breitet sich ein Netz von engen Gängen und Zisternen des antiken römischen Acquedukts. Das Wasser wurde von der Quelle des Serino hineingeleitet, um der Stadt Wasser zu jeder Zeit zu sichern. Jedes Gebäude hatte seinen Brunnen, der wiederum eine Verbindung durch enge Gassen, gegraben in dem Tuffstein, bis zu den grossen Wasser-Sammelbecken hatte. Faszinierend ist dieser Ausflug in die Antike bis hin zu den Dramen des 2. Weltkrieges. Unterirdisches Neapel 50 Ein weiterer Zugang führt in via S. Anna di Palazzo unter die Quartieri Spagnoli. Eine Wendeltreppe führt ca. 40 Meter unter die Erde. In einem Areal von engen Gängen und Durchgängen über etwa 3000 qm fanden mehr oder weniger 4000 Menschen Zuflucht während des 2. Weltkrieges. Auch hier wurde der Gebrauch der antiken Zisternen für die Bedürfnisse der Zeit verändert. Man findet Keramik-Isolatoren der elektrischen Anlage, Ecken für die «Toiletten», in den Tuffstein gehauene Bänke und Sitze und unzählige Grafitti, die über die Geschehnisse dieser schwierigen Zeit berichten. Katakomben «Napoli sotterranea» bedeutet nicht nur antike Acquedukte und griechsch-römische Ausgrabungen, sondern auch unterirdische Gräber und Katakomben aus frühchristlicher Zeit. Versteckte Orte einer vergangenen Zeit, Ausdruck eines einzigartigen architektonischen, künstlerischen und geistlichen Vermögens. Hauptsächlich im östlichen Teil der Stadt befinden sich sehr viele Katakomben, die zwischen dem 2. und dem 9. Jahrhundert n. Chr. entstanden. Eine Zeit, in der sich die Christen vor den römischen Milizen verstecken mussten. Nur in gut geschützten Orten konnten sie ihre Toten begraben, ihren christlichen Gebräuchen nachgehen und vor Verfolgern sicher sein. So sind in dem weichen Tuffstein wahre Labyrinthe San Lorenzo Maggiore Unterirdisches Neapel aus veschiedensten Formen entstanden: geometrische Muster, ge-löcherte Räume und Formen erdenklicher Art. Die Wände wurden mit Affresken verschiedener Stile geschmückt. Ausgrabungsstätte San Lorenzo Unter der Kathedrale San Lorenzo Maggiore der Franziskaner befindet sich weitläufig und in Schichten die Zeugen der griechisch-römischen Zeit. Hier geht man in Neapolis spazieren. In der antiken agorà, dem Hauptplatz der antiken griechischen Stadt. Später das Foro der Römer. Die Archeologen zeigen uns eine Welt der Vergangenheit. Der Eingang ist im Kreuzgang der Abtei aus dem 18. Jahrhundert. Eine Treppe führt hinunter durch die Zeiten der Geschichte. Zunächst finden sich Reste der mittelalterlichen Fürstenstadt. Hier im Sitz von San Lorenzo vereinigten sich im 7. Jahrhundert n. Chr. die Volksvertreter, gewählt zur Verwaltung der Justizangelegenheiten. Am Ende der Treppe angekommen werden wir um 2.500 Jahre zurückversetzt. Etwa 600 v. Chr. wurden die Hauptstrassen gebaut, die heutigen Strassen liegen genau darüber. Die Spuren der Karren sind deutlich sichtbar, ein Geschäft nach dem anderen, wie der Bäcker mit seinem Ofen in Kuppelform (wie heute noch in Gebrauch), die Wäscherei mit den Kanälen für den Ablauf des Wassers, das Aerarium mit dem Stadtschatz und den Spuren der Eisenbar- 51 ren und dem verstärkten Türrahmen, die Zisterne, der Criptoportico, der überdachte grosse Markt mit den langen Reihen von Verkaufstischen aus Stein und den Nischen für die Lagerung der Ware. Es handelt sich hier um das Zentrum der polis greca und genau darüber die piazza Gaetano, hier waren die wichtigsten Gebäude der Stadt Neapolis wie das grosse unbedachte Theater und das kleinere bedachte Theater, der Tempel der Dioscuri, heute in Kathedrale San Paolo Maggiore umgewandelt. Das Macellum oder der Lebensmittelmarkt befinden sich entlang unter dem rechteckigen Kreuzgang der Abtei, und in der Mitte des Hofs ein mit Mosaik gepflasterter Boden, dann der Tholos, ein kleiner runder Tempel mit vielfarbigem Marmor geschmückt. Catacombe di San Gennaro San Gennaro ist der sehr beliebte Stadtpatron. Überall in der Stadt findet man sein Bild . Der Kult um ihn ist auch heute noch sehr aktuell. Nicht nur der Dom auch die Katakomben, die sich auf dem Wege nach Capodimonte bei der Kirche Madre del Buon Consiglio befinden, sind ihm geweiht. Dort kann das älteste Portrait (5. Jahrhundert n. Chr.) von ihm betrachtet werden. Die Katakomben sind reich geschmückt mit Affresken. Schlichter sind die aus frühchristlicher Zeit Ende des 2. Jahrhunderts. Ursprünglich war an diesem Ort ein hoch- herrschaftliches Grab, das dann der christlichen Gemeinde geschenkt wurde, die dann eine Begrabungsstätte einrichtete. Der erste Stadtpatron Sant’Agrippina wurde hier bestattet. Catacombe di San Gaudioso Auch diese Katakomben sind mit sehr schönen Affresken geschmückt, die zu den wichtigsten vormittelalterlicher Zeit gerechnet werden. Hinter dem Hauptaltar der Kirche Santa Maria alla Sanità (17. Jahrhundert) befindet sich der Zugang. Einzig und auch berührend ist hier der Ritus. Die Toten wurden auf aus Stein gehauene Sitze gerichtet, die in der Mitte ein Loch haben. Darunter befand sich ein Gefäss, dass die sich auflösenden Teile des Körpers auffangen sollte. Erst wenn das Skelett übrig blieb, konnte die Beerdigung statt finden. Cimitero delle Fontanelle Makaber und beeindruckend ist die grösste und bekannteste Begräbnisstätte der Stadt. Ein sehr eigenartiger Ort voller einzelner Schädel und Knochen, aufgehäuft zu Bergen, die ganze Höhlen auffüllen. Diese Höhlen wurden erstmals im Jahre 1656 als Begräbnisstätte benutzt. Täglich starben 1500 Menschen an der Pest. Die Friedhöfe waren voll. An Plätzen und Strassen wurden Gräben ausgehoben. Am Ende der Epidemie wurden die namenlosen Toten eingemauert. So ging das Unterirdisches Neapel jahrhundertelang weiter bis laut napoleonischer Gesetze eine Auflösung verlangt wurde. Die Gebeine wurden in die Höhlen gebracht. Nach dem Volksritus musste der Ubergang vom Fegefeuer ins Paradies beschleunigt werden. So wurden die Totenschädel poliert und den Gebeinen Blumen und Lämpchen gebracht, mit Gebeten und Gesängen begleitet. Der Kult wurde von sehr vielen ausgeführt. Jeden Montag fuhr man zum Friedhof, um sich der Schädel zu widmen, als handelte es sich um die Seelen der eigenen Lieben. Bis in die fünfziger Jahre fuhr extra eine Strassenbahnlinie dort hin. Purgatorio ad Arco Der gleiche Glaube und der gleiche Ritus wie im Cimitero delle Fontanelle in der Kirche S. Maria delle Anime del Purgatorio ad Arco gegenüber dem charakteristischen mittelalterlichen Portico des palazzo d’Avalos in via Tribunali. Man erkennt sofort die vier Säulen mit den Gebeinen und dem Totenschädel darüber. Sie sind aus Bronze und auf Hochglanz poliert, weil die Gläubigen die Schädel berühren, um sich ihnen zu widmen. Im Volksmund wird daher auch die Kirche die «Kirche der Totenschädel» genannt. Innen befindet sich eine kleine Treppe, die zur unteren Kirche aus dem 17. Jahrhundert führt. Hier versammelten sich sowohl das einfache und abergläubische Volk als auch die 52 Adeligen zum Gebet für die unbekannten Seelen. Man zelebrierte mitunter bis zu 60 Messen am Tag und erhoffte sich dann kleine Gefallen und erfüllte Wünsche. Obwohl die Kirche solch einen Kult nicht erwünschte, so wurde er doch immer noch bis 1980 gepflegt. Die Kirche blieb von da an bis 1992 geschlossen. Griechisch-römische Reste In Neapel findet man an unterschiedlichen Orten noch die griechischen Mauern, die im 6. Jahr-hundert vor Christus gebaut wurden. Besonders gut sieht man sie in piazza Bellini zwischen Porta Alba und S. Pietro a Maiella. Grosse Tuffstein-Blöcke, sauber geformt und sorgfältig miteinander verkettet, zeigen sie bildlich einen Teil der Doppelmauer und dem Stadtbild von «Neapolis». Der Dombezirk Wo sich heute Neapels Dom erhebt, befand sich in griechisch-römischer Zeit ein östlich der Agora gelegener Tempelbezirk, der seit frühchristlicher Zeit zunehmend von Gebäuden des neuen Kultes okkupiert wurde. Der Dombezirk stellt Neapels bedeutendstes kunst- und kulturgeschichtliches Denkmal dar. Der Bezirk umfaßt: –den Dom selbst, als eines der bedeutendsten Bauwerke der Sakralkunst in früh-angiovinischer Zeit – S. Restituta, Neapels älteste Kirche – Baptisterium S. Giovanni in Fonte mit den schön- sten Mosaiken aus frühchristlicher Zeit –die Reste der sog. Stefania, zweite Bischofskirche unter Stephan I., um 500 erbaut –Cappella Minutolo mit den ältesten Grabmälern und Fresken unter florentinischem Einfluß –Succorpo (Krypta), ein Hauptwerk der Renais- sance Süditaliens –die Cappella del Tesoro di S. Gennaro, Hauptwerk des neapolitanischen Frühbarock und der Malerei in Neapel – den Bischofspalast aus verschiedenen Epochen –die Guglia S. Gennaro, die älteste barocke Guglia Neapels, von Fanzago entworfen San Gennaro – Duomo di Napoli 53 54 Capri – Villa Jovis Kaiserliche Residenz ausserhalb Roms Die Ruinen der Kaiservilla auf Capri erlauben uns eine plastische Vorstellung von der Pracht und den Ausmassen des einstmaligen Palastes, der elf Jahre lang das Zentrum des römischen Weltreiches war (26–37 n. Chr.). Das Gebäude wird Villa Jovis genannt, weil Historiker angenommen hatten, der Kaiser habe seine zwölf Villen auf Capri nach römischen Gottheiten benannt; diese Vermutung ist umstritten. Obwohl die Villa, die man besser einen Palast nennt, im Laufe der Jahrhunderte immer wieder geplündert und ausgeraubt, ja auch von einem Erdbeben verwüstet wurde, ist sie die am besten erhaltene römische Ruine Capris. Wir bekommen auch eine Ahnung von den früheren Ausmassen, wenn wir uns vergegenwärtigen, dass die umbaute Fläche der ausgegrabenen Gebäude ungefähr 7000 m2 beträgt. Der Grundriss ist einfach: Hat man den Eingang passiert, liegen rechts die fünf Baderäume. Zentrum des Baues sind vier grosse Zisternen, die das Regenwasser von den Dächern sammelten und mit komplizierten Leitungen mit den verschiedenen Räumen verbunden waren, mit den Bädern, mit dem Heizungsraum, wo das Wasser aufgewärmt wurde, oder mit der Küche. Vor den Zisternen, zur Meerseite hin, liegen die Staatsräume des Kaisers, dahinter die kaiserlichen Wohngemächer, zum Land zu lag die Küche, die durch Vorratskammern und Magazine von den Zisternen abgeteilt war. Auf der anderen Seite gerät die Vorstellungskraft des Besuchers in Schwierigkeiten, weil sich der gesamte Bau mit seinen verschiedenen Stockwerken und Terrassen über eine Höhendifferenz von ungefähr vierzig Metern erstreckt. Der Eingang liegt auf 297 Metern, die oberen Teile liegen auf gleicher Höhe wie die kleine Kirche Madonna del Soccorso, nämlich auf 334 Metern. Im Norden schliesslich liegt die über 90 Meter lange Loggia, von der aus man eine einmalige Aussicht auf den Golf von Neapel hat. In ihrem Ostteil beherbergt sie ein paar kleine Räume, man vermutet hier eine weitere Küche und vielleicht einen abgeschirmten Aufenthaltsraum für den Kaiser. Die Innenarchitektur des Palastes muss man sich ausserordentlich raffiniert vorzustellen. Da der Kaiser ein ungewöhnlich menschenscheuer Herrscher war, wurden eigene Treppenaufgänge für die Dienerschaft angelegt, damit sich Tiberius unbemerkt und unbeobachtet in seinem Palast bewegen konnte. Besonders gut erhalten sind die Korridore und Magazine im Keller des Palastes, sie sind aus Ziegeln gemauert. Selbstverständlich war die Villa einmal ausserordentlich prächtig ausgestaltet. Viel ist davon freilich nicht mehr zu sehen: einige Mosaikfussböden, ein paar Säulen. Einer der Mosaikfussböden liegt heute in Capris Kirche S. Stefano hinter dem Hochalter; ein Landschaftsrelief und zwei marmorne Brunneneinfassungen können Sie im Museum von Neapel besichtigen. Ganz sicherlich hat der Palast des Tiberius nicht so ausgesehen, wie ihn die romantische Rekonstruktion von Weichardt zeigt, er war kein Repräsentationsbau, sondern vielmehr eine auf Verteidigung ausgerichtete Anlage, vor allem zweckmässig. Archäologen vermuten, dass sich die kaiserlichen Wohnräume der Villa fast auf der Höhe der Terrasse der kleinen Kirche Madonna del Soccorso befanden. Sie waren vom übrigen Palast abgeschieden und wurden besonders streng bewacht. Zunächst betrat man einen Eingangsraum, der etwas höher liegt, danach folgten zwei Zimmer, von denen nur eines direkt mit dem Eingangsraum verbunden war. Selbst die spärlichen Mosaikreste, die heute noch vorhanden sind, verraten, dass es sich hier um Räume für eine hochgestellte Persönlichkeit handelte. Vor dem Eingangsraum lag eine Aussichtsterrasse, die nur für den Kaiser bestimmt war. Von seinen Räumen aus konnte der Kaiser sowohl die Loggia als auch die Repräsentations- und Administrationsräume erreichen. Vor dem Eingang zum Palast weist ein Schild auf den Salto di Tiberio, den Hinrichtungsfelsen. Hier sollen im Angesicht des Kaisers zum Tode Verurteilte hinabgestürzt worden sein. Legende oder Wahrheit – das wird sich nie mit letzter Klarheit feststellen lassen. (F. Ranft: Capri – Ischia. München: dtv 1990, S. 81–83.) Capri – Villa Jovis 55 Capri – Villa Jovis 56 Capri – Villa Jovis 57 Capri – Villa Jovis – Bauprogramm 58 Capri – Villa Jovis – Bauprogramm 59 Capri – Villa Jovis – Bauprogramm 60 Capri – Villa Jovis – Bauprogramm 61 62 Capri – Villa Jovis – Bauprogramm Pläne, Fotos, Artikel «Das Bauprogramm» aus: Clemens Krause «Villa Jovis: Die Residenz des Tiberius auf Capri» Verlag Philipp von Zabern, Mainz am Rhein, 2003 Capri – Villa Jovis – Bauprogramm 63 Capri – Villa Jovis 64 Capri – Villa Jovis 65 Capri – Villa Jovis 66 Capri – Villa Jovis 67 Capri – Villa Jovis 68 Capri – Villa Jovis 69 Capri – Villa Jovis 70 Capri – Villa Jovis 71 Capri – Casa Malaparte 72 Capri – Casa Malaparte 73 74 Capri – Casa Malaparte Chiesa dell’Annunziata, Lipari, Kupferstich 1894 Malaparte vor der Chiesa dell’Annunziata Capri – Casa Malaparte Rohbau, Juni 1940 75 Capri – Casa Malaparte 76 Capri – Casa Malaparte 77 Capri – Casa Malaparte 78 Capri – Casa Malaparte 79 Capri – Casa Malaparte 80 Capri – Casa Malaparte 81 Capri – Casa Malaparte 82 Capri – Casa Malaparte 83 Capri – Casa Malaparte 84 Capri – Casa Malaparte 85 Capri – Casa Malaparte 86 Capri – Casa Malaparte 87 Capri – Casa Malaparte 88 Capri – Casa Malaparte 89 Capri – Casa Malaparte 90 Capri – Casa Malaparte 91 Capri – Casa Malaparte 92 Capri – Casa Malaparte 93 Capri – Casa Malaparte 94 Capri – Casa Malaparte 95 Capri – Casa Malaparte 96 Capri – Casa Malaparte 97 Capri – Casa Malaparte 98 Capri – Casa Malaparte 99 Sorrent Die Stadt Die den Bergen kurz vorgelagerte Ebene, der Piano di Sorrento, besteht aus einer dicken Tuffschicht, die zum Meer hin wie ein gigantischer Aussichtsbalkon über dem Golf abrupt abbricht. Von sagenhaften Teleboern soll Sorrent einst gegründet worden sein. Dann sollen es wieder dorische Siedler von der Insel Lipara gewesen sein, die ihrerseits Sorrent gegründet hätten. Immerhin hatte Sorrent bis in die Spätantike eine vorwiegend griechisch sprechende Einwohnerschaft. Der Name Sorrent soll sich von dem der Sirenen her ableiten. Dies könnte sogar zutreffen. Für Strabon hiess die Spitze der Halbinsel noch Promuntorium Sirenum und der Bergrücken hinter Sorrent wurde Mons Sirenianus genannt. Die Stadt selbst hiess bei den Römern allerdings schon Surrentum und war nur als Oppidum geführt. In Gegensatz zu Stabiae und ganz nach dem Beispiel von Pompeji wurde dieses Oppidum nicht zerstört, sondern von Sulla und Augustus mit römischen Veteranen besiedelt und erhielt den Rang eines Municipiums. Seit Augusteischer Zeit war Surrentum beliebter Villenort. Die Villen lagen genau dort, wo seit dem 18. und 19. Jahrhundert die grossen Hotels entstanden sind, an der Nordseite der antiken Stadt, direkt über dem Abbruch der Tuffplatte. Durch Gänge, Stollen und Treppen waren diese Nobel- 100 wohnsitze mit dem darunter liegenden Strand verbunden. Auch Augustus besass in Sorrent eine kaiserliche Villa. Dort musste in den Jahren 5 bis 7 n. Chr. dessen Enkel Agrippa Postumus seine Zeit als Verbannter verbringen. Der Sitz der Augustusvilla wird heute unter der Piazza Vittoria und dem Hotel Sirena vermutet. Auch Agrippa, Nero und Antoninus Plus besassen am Ort eine Villa. Danach kam Surrentum aus der Mode. In den nachfolgenden wirren Jahrhunderten gelang es der schwer zugänglichen und deshalb leicht zu verteidigenden Hafenstadt, sich weitgehend unabhängig zu halten. Im 10. Jahrhundert gründete man nach dem Vorbild von Gaeta und Amalfi eine eigene Seerepublik, deren Ende erst Roger II. von Sizilien (1137) einläutete. Dazwischen bleibt nennenswert nur die Geburt von Torquato Tasso. Im 18. Jahrhundert waren es – wie an so vielen anderen Stellen des Mittelmeers – die sonnenhungrigen Engländer, die nach den Römern die klimatisch und landschaftlich privilegierte Lage von Sorrent für sich entdeckten. Andere Nordlichter folgten auf dem Fuss, allen voran waren es die Dichter, die den neuen Ruhm Sorrents sangen: Lord Byron, Stendhal, Gorki, Ibsen, Platen, Wagner oder Nietzsche sind glanzvolle Namen dieser schier unendlichen Kette. Goethe hatte den Sirenen noch widerstanden. Neuzeitlich sind auch die neuen Kulturpflanzen, anstelle von Olivenbaum und Weinstock nun die Agrumen, deren Anblick für Goethe so sprechend für Italien steht und die auch bis heute wesentlich mit zum Ruhm von Sorrent beigetragen haben: die Äpfel der Hesperiden der Alten, die Pomeranzen Goethes und die Zitronen und Orangen der Jetztzeit. […] Obwohl Sorrent auf griechisch-römischen Fundamenten steht und bei Bauarbeiten ständig neue Funde gemacht werden könnten […], legt man auf diese Schätze keinen Wert; ein Pompeji vor der Haustüre genügt, um dem Kult der Antike zu frönen. Sorrent setzt auf sein Ambiente und ist bisher damit recht gut gefahren, zum Wehklagen einiger dort vertretener Antikenliebhaber. Was soll’s? Das neue Otium ist wichtiger. Die Schätze der Natur, der ewige Reichtum Sorrents wird um so mehr gepflegt. Im Gegensatz zum nördlichen und östlichen Teil des Golfes hat sich die Sorrentiner Halbinsel wenigstens weitgehend ihren alten Charme bewahrt. (Rolf Legler: Der Golf von Neapel. Köln: DuMont 1990. S. 334–336.) Sorrent 1 Piazza Tasso – 2 Sedile Dominova – 3 SS. Filippo e Giacomo – 4 S. Antonio – 5 S. Maria delle Grazie – 6 S. Franceco – 7 Pal. Correale – 8 Griechisches Stadttor – 9 Römischer Bogen 101 102 Pompeji 103 Pompeji Pompeji (lateinisch Pompeii, italienisch Pompeï) war eine antike Stadt in Campanien, am Golf von Neapel gelegen, die wie Herculaneum und Stabiae beim Ausbruch des Vesuvs am 24. August 79 n. Chr. untergegangen ist. In seiner etwa siebenhundertjährigen Geschichte wurde Pompeji von Oskern, Samniten, Griechen, Etruskern und Römern bewohnt und geprägt. Bei einem gewaltigen Ausbruch des Vesuvs wurde die Stadt im Jahre 79 verschüttet, dabei nahezu perfekt konserviert und im Laufe der Zeit vergessen. Nach ihrer Wiederentdeckung im 18. Jahrhundert begann die zweite Geschichte der Stadt, in deren Verlauf Pompeji zu einem Meilenstein der Archäologie und zu einem Schlüssel der Erforschung der antiken Welt wurde. Pompeji, die wohl am besten erhaltene antike Stadtruine, wurde zu einem bekannten Begriff, der in der Neuzeit stark rezipiert wurde und auch in viele Lebensbereiche beeinflussend ausstrahlte. Pompeji liegt in der italienischen Landschaft Kampanien, am Fusse des Vesuvs, an der Mündung des Flusses Sarno in den Golf von Neapel. Die Stadt wurde auf einem durch frühere Ausbrüche entstandenen Lavaplateau angelegt, das im Süden und Teilen des Westens steil, zum Norden und Osten hin jedoch nur leicht abfiel. Rekonstruktionen haben ergeben, dass die Stadt in der Antike viel näher am Meer lag (zur Zeit 700 Meter entfernt) 104 als heute. Die Mündung des schiffbaren Sarno war offenbar durch Lagunen geschützt und diente schon früh griechischen und phönizischen Seeleuten als sicherer Hafen und Umschlagplatz für ihre Waren. Zudem war der Boden im Umland nicht zuletzt wegen der früheren Ausbrüche des Vesuvs sehr fruchtbar. Der Untergang Bereits mehrere Tage vor dem Ausbruch hatte es Vorzeichen für eine Aktivität des Vesuvs gegeben, weshalb ein Teil der Einwohner die Stadt vorsichtshalber schon verlassen hatte. Die Eruption schleuderte Unmengen von Asche, Lava und Gasen in die Atmosphäre. Diese Wolke wurde vom Wind über das Land in Richtung Pompeji getragen. Kurz nach Beginn des Ausbruchs begann es Bimsstein zu regnen. Dieser Bimsstein brachte zahllose Dächer zum Einsturz, blockierte die Türen und schloss die Bewohner der Stadt ein. Doch unter dem Bimssteinstaub befanden sich auch grössere Brocken, die mit hoher Geschwindigkeit auf die Erde prallten. Während einer kurzen Ruhepause verstürzte der Schlot. Die nächste Eruption räumte ihn wieder und die Gewalt des Ausbruchs nahm rasch zu. Der Schlot verstürzte erneut und wurde ein weiteres Mal geräumt. Das gasreiche Magma der Tiefe stieg im Schlot empor, wurde durch heftige Explosionen zerstäubt und in einer sich immer mehr steigernden Folge von starken Ascheneruptionen gefördert. Der damit erreichte Höhepunkt des Ausbruchs war vermutlich von heftigen vulkanischen Beben begleitet. Gleichzeitig verwandelte ein wolkenbruchartiger Eruptionsregen auf dem Westhang des Vulkans grosse Aschemengen in Schlammströme. Durch den Auswurf enormer Massen pyroklastischen Materials waren der Schlot und der obere Teil der Magmakammer entleert worden, so dass das Dach der Magmakammer längs der Bruchlinien zusammensackte. Aus einer dieser Bruchlinien drang Magma bis zur Oberfläche und ergoss sich über das Sumpfgelände am Nordfuss des Monte Somma. Durch den Zusammensturz der Gipfelregion entstand ein Riesenkrater von 6 km Durchmesser, in dem sich in der Folgezeit der Kegel des heutigen Vesuvs bildete. Als sich der Vesuv nach seinem achtzehnstündigen Ausbruch wieder beruhigt hatte, waren die meisten Menschen in Pompeji bereits erstickt oder von herabfallendem Gestein erschlagen worden. Dennoch hatten einige die Katastrophe bis zu diesem Zeitpunkt überstanden. Die wenigen, die noch lebten, fielen aber nur kurze Zeit später Glutlawinen zum Opfer. Eines dieser Opfer war der berühmte römische Schriftsteller Plinius der Ältere, der, getrieben von naturwissenschaftlichem Pompeji 105 2 3 4 1 Besiedlungsphasen Pompejis 1 Siedlungsnucleus 2 Erste Erweiterungsphase 3 Zweite Erweiterungsphase 4 Letzte Erweiterungsphase Pompeji Interesse und dem Wunsch zu helfen, mit seiner Flotte (er war der Präfekt der römischen Flotte in Misenum) zum Ort der Katastrophe gefahren war. Vor Stabiae kam er in den Schwefeldämpfen um. Zeuge der Katastrophe war sein Neffe Plinius der Jüngere, der den Ablauf in erhaltenen Briefen detailgetreu schildert. Über 1500 Jahre lang lag die Stadt unter einer bis zu 25 Meter hohen Decke aus vulkanischer Asche und Bimsstein begraben. Neben Pompeji wurden auch weitere Ortschaften wie Herculaneum, Stabiae und Oplontis vollständig zerstört. Strassen, Verkehrsführung, Stadttore, Stadtmauer Noch heute kann man auf dem Plan Pompejis die Keimzelle (Siedlungsnukleus) der Stadt erkennen, die auf einem Lavaplateau in exponierter Stellung errichtet wurde. Den Umriss dieser ursprünglichen Siedlung im Südwesten der Stadt erkennt man anhand der Strassenführung, die anders als beim Rest der Stadt nicht geradlinig und in Form eines Rasters angelegt wurde. Spätere grosse Strassen, vor allem die Via dell’Abbondanza, wurden in das Altstadtgebiet fortgeführt, doch selbst bei diesen Arbeiten konnte man die Achsen nicht ganz geradlinig erweitern. Die systematische Anlage der Strassen ausserhalb der Altstadt lässt eine geplante Erschliessung des 106 neuen Siedlungsgebietes vermuten. In der Forschung ist umstritten, wann diese Anlage erfolgte. Neuere Untersuchungen geben Hinweise darauf, dass dies schon recht früh geschehen sein muss und dass im Zuge der Anlage des Strassensystems auch schon die Stadttore und die Stadtmauer geplant wurden. Bei genauer Betrachtung fällt auf, dass die Stadt Pompeji von fünf grossen Strassen durchzogen war. Trotz der geplanten Anlage des grössten Teiles der Stadt weichen weite Teile der Strassenführungen – vor allem im Nordwesten und Südosten – von der Ausrichtung der Nord-Süd-Achse der Stadt (Via Stabiana) ab. Die Strassenführung legt nahe, dass Bereiche nördlich der Altstadt schon im Laufe des 6. Jahrhunderts v. Chr. angelegt und partiell bebaut wurden. Die Erweiterung des Stadtgebietes über die Via Stabiana hinaus nach Osten erfolgte wohl nicht vor dem Ende des 4. Jahrhunderts. Auch hier gibt es zwei unterschiedliche Strassenführungen. Somit kann man auch hier davon ausgehen, dass die Siedlung nach Osten in zwei Schritten erfolgte. Anzumerken ist, dass die Strassen in erster Linie von Lasttieren und Lastträgern benutzt wurden. Für die normalen Fussgänger gab es auf den Hauptstrassen meist Fusswege. Trotz der tiefen Radspuren muss man annehmen, dass es keinen so regen Verkehr mit Fuhrwerken gab, wie man es sich vor allem früher vorgestellt hat. Die tiefen Radspuren haben sich über etwa 150 Jahre in den im Laufe des 1. Jahrhunderts v. Chr. gepflasterten Strassengrund gefressen. Fusswege gab es in Pompeji meist nur in den grossen Hauptstrassen. In den Nebenstrassen reichte die Bebauung im Regelfall bis an die Strasse, so dass sich der komplette Verkehr auf dieser abspielte. Bürgersteige waren auch keine öffentlichen Anlagen, sondern waren von den Anwohnern errichtet worden. Pompeji Hauptstrassen in Pompeji 1. Via Marinia 2. Via dell’Abondanza 3. Via di Porta Nocera 4. Via di Nola; 5. Via di Stabia 6. Via di Mercurio 7. Via del Foro 107 Pompeji 108 Pompeji 109 Pompeji Forum mit anliegenden Gebäuden 110 Pompeji 111 Therme Pompeji 112 Casa del Sacello Iliaco Casa dei Quadretti Teatrali Pompeji 113 Casa del Menandro Pompeji 114 Casa delle Nozze d‘Argento House VI 15.5 Pompeji 115 Casa di Loreio Tiburtino Pompeji 116 House VIII 2.14-16 Casa del Fauno Pompeji 117 Villa dei Misteri Vesuv Der Vesuv ist der einzige aktive Vulkan auf dem europäischen Festland. Er liegt am Golf von Neapel in der italienischen Region Kampanien, neun Kilometer von der Stadt Neapel entfernt. Der Berg ist heute 1281 m hoch. Er besteht aus den Resten eines früher wesentlich höheren, älteren Schichtvulkans, des Somma, dessen Spitze zu einer Caldera eingestürzt ist, und dem im Inneren des Einsturzbeckens neugebildeten Kegel des «eigentlichen» Vesuv. Die Aktivität des Vesuv löst wiederkehrende plinianische Eruptionen aus. Das typische Kennzeichen dieser explosiven Vulkanausbrüche ist das Aufsteigen einer kilometerhohen Eruptionssäule und der schnelle Ausstoss grosser Mengen vulkanischen Materials. Die grossen Vesuv-Ausbrüche sind zudem von pyroklastischen Strömen begleitet, die zu den gefährlichsten Formen des Vulkanismus zählen. Diesen Grossereignissen folgen aktive Phasen 118 mit Eruptionen vom Stromboli-Typ und effusiven Austritten von Lava. Der anschliessende Ruhezustand kann mehrere hundert Jahre andauern und endet mit einem erneuten grossen Ausbruch. Die Bezeichnung «plinianische Eruption» bezieht sich auf Plinius den Jüngeren. Der spätere römische Senator beobachtete und beschrieb den letzten Grossausbruch des Vesuv im Jahr 79 n. Chr, bei dem die antiken Städte Pompeji, Herculaneum und Stabiae verschüttet wurden. Die Vulkanologie verwendet heute den Begriff als allgemeines Klassifikationsmerkmal. Im 20. Jahrhundert brachen mehrere Vulkane in plinianischen Eruptionen aus, darunter der Mount St. Helens 1980 und der Pinatubo 1991. Der Vesuv war nach 79 n. Chr. jahrhundertelang aktiv. Seit dem letzten Ausbruch 1944 befindet er sich in einer Ruhephase. Vesuv 119 Herkulaneum – Ercolano Topographie und Geschichte Herculaneum war eine kleine befestigte Stadt, auf einer Anhöhe gelegen, die aus vulkanischer Asche bestand und sich zwischen 11 und 26 Meter Höhe über dem damaligen Meeresspiegel erstreckte. Das Hochplateau wurde von zwei Tälern mit Wasserläufen begrenzt. Die Stadt dominierte also das Gestade am Golf von Neapel, in zentraler Position und in allerschönster Panoramalage. So wird Herculaneum auch in der ersten Hälfte des 1. Jahrhundert v. Chr. in einem Fragment des Historikers Sisenna beschrieben. Er spricht auch von einem «zu jedem Zeitpunkt» sicheren Hafen. Dieser ist noch nicht aufgefunden worden, auch wenn im grossen und ganzen die antike Küstenlinie bestimmt und ausgegraben worden ist. Die topographische Lage ist vergleichbar mit der des antiken und des mittelalterlichen Sorrent. Über der Stadt erhebt sich der vulkanische Kegel des Vesuv. Er ist nur wenig höher als 1000 Meter, und es scheint, dass seine Gestalt sich kaum von jener vor dem Ausbruch im Jahre 79 n. Chr. unterscheidet; der Krater des Berges ist etwa 7 Kilometer entfernt. Das Stadtbild wurde bestimmt von fünf cardines, d. h. Hauptstrassen in nord-südlicher Richtung, die senkrecht zur Küstenlinie verliefen und von drei decumani, d. h. von Ost nach West führenden Strassen, gekreuzt wurden. Der oberste decumanus – der noch nicht ausgegraben worden ist – 120 müsste der wichtigen Verbindungsstrasse von Neapel nach Pompeji entsprechen. Die Stadt hat sich nicht weit darüber hinaus ausgedehnt, wie frühere Untersuchungen ergeben haben. […] Dionysios von Halikarnassos […] berichtet, dass die Stadt von Hercules gegründet worden sei, als er mit den Rindern, die Helios dem Giganten Geryon geschenkt hatte, aus Spanien zurückkam und den Golf von Neapel entlang reiste. Strabon, der Geograph aus der Zeit des Augustus, schreibt, dass die Geschichte der Stadt Analogien zu jener von Pompeji aufweise, dessen Hochebene bereits im 4. Jahrhundert v. Chr. von Mauern umgeben worden war. Er geht auch davon aus, dass es bereits in archaischer Zeit eine Besiedlung gegeben habe. In den letzten Jahren wurden an mehreren Stellen des ausgegrabenen Gebiets Tiefenbohrungen urchgeführt; keine der zahlreichen Proben hat allerdings keramisches Material zutage gebracht, dessen Datierung vor dem 4. Jahrhundert v. Chr. anzusetzen ist. Aus dieser Zeit stammt auch die regelmässige Anlage der Stadt mit der ursprünglichen Parzellierung, die sich auch in der Struktur der einzelnen Ausgrabungsstellen wiederfindet. Auf dieselbe Zeit geht auch der einzige bisher identifizierte Abschnitt der Festungsanlagen zurück. […] Zum Zeitpunkt des Vesuv-Ausbruchs hatte Herculaneum innerhalb des Mauerringes eine Grösse von etwa 20 Hektar, circa 4000 Menschen wohnten dort. Wie das nahe gelegene Pompeji geriet auch Herculaneum gegen Ende des 4. Jahrhunderts v.Chr. in den römischen Einflussbereich. Es wurde im Jahre 89 v. Chr., im Verlauf des Krieges der italischen Bundesgenossen gegen Rom (91–88 v. Chr.), von den Aufständischen unter einem ihrer Anführer Papius Mutilus besetzt, kurze Zeit später allerdings ohne grossen Widerstand von einem Legaten des Sulla zurückerobert. Im Unterschied zu den umliegenden Städten konnte Herculaneum damals den Status eines municipium aufrecht erhalten. […] [D]ie Bevölkerung hatte sich schnell latinisiert. Das municipium wurde nach römischem Vorbild von zwei Magistraten geführt, die ein Jahr lang im Amt waren, den duumviri. Bezeugt sind auch Ädilen, ein Quästor und ein munizipaler Priesterstand der flamines. Die zentrale Lage am Golf von Neapel und das bezaubernde Panorama liessen Herculaneum als äusserst attraktiven Wohnsitz erscheinen, vor allem seit Beginn des 2. Jahrhunderts v. Chr. und mehr noch seit der Mitte des 1. Jahrhunderts v. Chr., nachdem Pompejus die Piraten endgültig besiegt hatte. Damals kam in der römischen Aristokratie die Mode auf, sich grandiose Villen am Meer zu bauen – entlang der Küsten von Latium und Kampanien, einige der bedeutendsten jedoch an der Küste von Herculaneum. Der Golf von Nea- 121 Herkulaneum – Ercolano pel, so berichtet Strabon, habe zur Zeit von Kaiser Augustus «wie eine einzige Stadt» ausgesehen. Der Aufenthalt in Herculaneum wurde besonders Tuberkulosekranken empfohlen. Zur ausserordentlich günstigen klimatischen Lage kam ausserdem die Nähe Neapels, wo griechische Kultur, Sitten und Gebräuche weiterlebten und sich das Zentrum der philosophischen Schulen befand. Ausserdem lag Puteoli (heute Pozzuoli) nicht weit entfernt, ein grosser Hafen und Haupthandelsplatz für den Mittelmeerraum. Nicht zu vergessen das nahe Pompeji, die zweite wichtige Handelsstadt an der Mündung des Sarno. […] Die Neubautätigkeit in Herculaneum erreichte in der augusteischen Zeit ein eindrucksvolles Ausmass. Zu jener Zeit siedelte sich der aus Nocera gebürtige Senator Marcus Nomus Balbus in Herculaneum an; an ihn erinnert eine eindrucksvolle Zahl von Inschriften, die ihm und seiner Familie gewidmet sind. Er liess die monumentale Basilika mit angeschlossener Kurie erbauen und die Stadtmauern und deren Tore restaurieren. Er beteiligte sich am Bau der palaestra, einem riesigen Komplex, der die Erinnerung an die grandlosen Gymnasien von Neapel und Cumae wachrufen musste, und möglicherweise schenkte er der Stadt auch die Suburbanen Thermen. Die Bedeutung, die er in der Stadt hatte, wird auch durch die Namen zahlreicher Freigelassener bezeugt. Zur gleichen Zeit 122 wurde von dem fünf Jahre amtierenden duumvir L. Annius Mammianus Rufus das Theater erbaut und vom duumvir M. Spurius Rufus ein macellum, ein Markt für Lebensmittel […]. Der duumvir M. Remmius Rufus liess eine öffentliche Waage, eine halbrunde Sitzbank und eine öffentliche Uhr errichten, ausserdem entstanden die Forum-Thermen, daran angrenzend der öffentliche Kornspeicher, und zwar an der Kreuzung des unteren decumanus mit dem Cardo IV. Ferner wurde in dieser Zeit der Sitz der Augustalen (der für den Kaiserkult zuständigen Priester) errichtet, gegenüber davon die Portikus an der Südseite des Forums und ein Netz öffentlicher Brunnen, die an das unter Kaiser Augustus gebaute Aquädukt von Serino angebunden waren. Im Jahre 49 n. Chr. wurde […] der Platz des Forums auf monumentale Weise und unter reicher Verwendung von Marmor neugestaltet und zwar auf Kosten des reichen Augustalen L. Mammius Maximus. Er liess einen Zyklus von Bronzestatuen der kaiserlichen Familie aufstellen, der bis zum Ausbruch des Vesuv ständig auf den letzten Stand gebracht und renoviert wurde. Im Gegensatz zu Pompeji, wo die Marmor- und Bronzestatuen des Forums und des Theaters sofort nach dem Ausbruch geborgen wurden, fanden die bourbonischen Archäologen die beiden Plätze in Herculaneum vollständig unberührt. Eindrucksvoll ist das Niveau der Dekoration, wenn man bedenkt, dass Hercula- neum nur ein Drittel der Fläche und der Einwohner der prosperierenden Nachbarstadt umfasste. Das kleine Territorium rund um Herculaneum war äusserst fruchtbar. Man konnte bis zu vier Mal im Jahr ernten, und es wurde Gemüse von hoher Qualität gezogen. Berühmt war vor allem der Anbau von Wein und Feigen. Bis auf eine Höhe von 250 Meter dürften Gutshöfe gestanden haben, auch wenn man bisher aufgrund der bis zu 25 Meter dicken vulkanischen Schicht nur wenige entdeckt hat. Dokumentiert sind auch Wälder und Viehweiden. Frühere Untersuchungen von gut erhaltenen Hölzern, die bei den Ausgrabungen der Stadt gefunden wurden, haben ergeben, dass sie teils aus der direkten Umgebung, dem südlichen Appenin, stammten, teils aus den Alpen importiert wurden, möglicherweise von den Küsten Liguriens und der Provence. Aber auch die Libanonzeder ist nachzuweisen. […] Unklar ist, wo das Gebiet von Herculaneum an jenes von Neapel und Nola angrenzte (möglicherweise reichte es bis Pollena). Im Osten hingegen dürfte es sich bis zur Peripherie von Torre Annunziata erstreckt haben, wo noch heute die Grenze zwischen der Diözese von Nola und jener von Neapel verläuft, zu der das Territorium des zerstörten Herculaneum gehörte. […] Der Ausbruch im Jahre 79 n. Chr. ist der erste, von dem es eine einzigartige literarische Quelle gibt: Herkulaneum – Ercolano zwei an den Historiker Tacitus gerichtete Briefe eines Augenzeugen der Eruption. Verfasst hat sie Plinius der jüngere, der Neffe des berühmten Naturforschers Plinius des Älteren. Letzterer war zu dieser Zeit Kommandant der römischen Militärflotte und fand bei dem Ausbruch am Strand von Stabiae den Tod. Plinius der jüngere befand sich in Misenum, circa 40 Kilometer vom Vulkan entfernt. Die ersten Erdstösse muss es wohl schon in der Nacht davor gegeben haben, denn in Herculaneum wurden einige Menschen tot auf ihren Betten gefunden, eine Folge der eingestürzten Dächer. Gegen 13 Uhr stand über dein Vesuv bereits eine 15 Kilometer hohe Säule in Form einer Schirmpinie, bestehend aus Gas und Auswurfmaterialien, und es begann in einem grossen Bereich südöstlich des Vulkans Lapilli zu regnen. Dieser Regen verschonte Herculaneum im wesentlichen, führte aber in Pompeji zum Einsturz von Gebäuden. Den Menschen aus Herculaneum stand deshalb einige Stunden lang ein Fluchtweg in Richtung Neapel offen, der aber vermutlich nur von wenigen genutzt wurde: Schliesslich hatte man in jener Zeit nur geringe, im Grunde überhaupt keine vulkanologischen Kenntnisse. In den folgenden Stunden wurde die Eruptionssäule immer höher und erreichte gegen Mitternacht eine Höhe von etwa 30 Kilometer. Zu diesem Zeitpunkt wurden aus dem Krater durchschnittlich 200 000 Tonnen Magmabrocken pro Sekunde 123 ausgestossen. Gegen 1 Uhr morgens, also am 25. September, brach die Säule abrupt zusammen und sackte auf eine Höhe von etwa 20 Kilometer ab. Dadurch wurde an der Basis der erste «pyroklastische surge» ausgelöst: Eine Wolke aus Gas und feiner Asche raste mit einer Geschwindigkeit von etwa 100 Stundenkilometern am südlichen Hang des Vulkans hinab und verursachte in Sekundenschnelle den Tod der Menschen in Herculaneum. Die Aktivität des Vulkans mit einer bis in die Stratosphäre reichenden Säule wurde in der Folge von fünf weiteren «pyroklastischen surges» unterbrochen; jene mit der grössten Zerstörungskraft kamen gegen 7 Uhr morgens und verursachten den Tod der Einwohner von Pompeji. (Mario Pagano: Herculaneum. Eine Kleinstadt am Golf von Neapel. In: Josef Mühlenbrock u. Dieter Richter (Hrsg.): Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum. Ausstellungskatalog. Mainz: Zabern 2005. S. 3–10.) Die Wiederentdeckung Das Wissen um die exakte topographische Lage des antiken Herculaneum, das im Jahre 79 n. Chr. von einer bis zu 25 Meter hohen Schicht vulkanischer Schlammmassen verschüttet worden war, auf der sich dann seit dem Mittelalter die Siedlung Resina ausbreitete (diese trägt erst seit 1969 den Namen «Ercolano»), war im Verlauf der Zeit verloren gegangen. […] Als eines Tages im Jahre 1710 ein gewisser Ambrogio Nucerino, bekannt unter dem Spitznamen «Enzechetta», anfing, einen Brunnen auszuheben, um seinen Gemüsegarten zu bewässern – eine bei den Bauern dieser Gegend übliche Praxis –, konnte er nicht ahnen, dass diese Pickelhiebe in die Geschichte eingehen würden untrennbar verbunden mit den Anfängen der Vesuv-Archäologie. Denn sein Brunnenschacht führte zur Bühne des Theaters von Herculaneum, wo der Bauer viele Fragmente aus hochwertigem Marmor fand. Diese gehörten, wie sich erst viel später herausstellte, zur Ausstattung des Bühnenhauses. Von dieser Entdeckung unterrichtete man Emanuel-Maurice von Lothringen, Prinz d’Elboeuf Der verbannte französische Adlige und Befehlshaber der österreichischen Armee, die seit 1707 in Neapel stationiert war, baute zu diesem Zeitpunkt seine Villa am Hafen von Granatello in Portici. Er erwarb das Areal um den Brunnen und liess circa neun Monate lang auf eigene Kosten Ausgrabungen mittels Stollen durchführen. Unter anderem wurden neun Statuen entdeckt, die er als Gunsterweis verschiedenen Herrschern seiner Zeit zum Geschenk machte. Seinem mächtigen Vetter, Prinz Eugen von Savoyen in Wien, schickte er jene Statuen, die in der wissenschaftlichen Literatur als die «Grosse» Herkulaneum – Ercolano und die zwei «Kleinen Herkulanerinnen» bekannt sind. Diese befinden sich heute in den Staatlichen Kunstsammlungen Dresden. Nach dem Tod von Prinz Eugen gelangten die drei Skulpturen an den Hof von August III., Kurfürst von Sachsen und König von Polen, dem Vater von Maria Amalia Christina, der Gattin des neapolitanischen Königs Karl III. von Bourbon. (Maria Paola Guidobaldi: Schatzgräber und Archäologen. Die Geschichte der Ausgrabungen von Herculaneum. In: Josef Mühlenbrock u. Dieter Richter [Hrsg.]: Verschüttet vom Vesuv. Die letzten Stunden von Herculaneum. Ausstellungskatalog. Mainz: Zabern 2005. S. 17.) 124 Das römische Wohnhaus Bereits ein kurzer Rundgang durch Herkulaneum zeigt, dass das römische Wohnhaus nach einem bestimmten, kaum variierten Grundschema aufgebaut ist. Je nach Grösse und Art der Ausstattung ergeben sich allerdings sehr unterschiedliche Gesamteindrücke. Die ersten städtischen Wohnhäuser wurden von Griechen in Süditalien und von Etruskern in Mittelitalien erbaut. Das Atriumhaus setzte sich im 4. Jahrhundert v. Chr. für ganz Italien durch. Hier wurden zum ersten Mal die praktischen Bedürfnisse eines Wohnhauses mit den konstruktiven Bedingungen der Holzbauweise in Einklang gebracht. Zentrum der Anlage ist das Atrium (2). Ursprünglich Standort des Herdes, wandelte es sich im Lauf der Zeit zur grossen, eleganten Säulenhalle, die ihr Licht durch eine viereckige Öffnung in der Decke erhielt. Das Regenwasser sammelte sich in einem unter dieser liegenden Becken (Impluvium). Das Atrium war innerhalb der Wohnung eine Art öffentlicher Raum, nicht nur im Sinne eines Empfangszimmers, sondern auch als Treffpunkt der Familie sowie als kühler, schattiger Ort in den heissen Sommermonaten. In der Regel sind ihm zwei zur Strasse hin offene Tabernae (Werkstatt oder Laden; 1) vorgelagert. Um das Atrium sind die Schlafräume (Cubicula; 5) und kleine Seitenflügel (Alae; 3 ) angeordnet. Vom Atrium gelangt man schliesslich in den Wohn- und Spei- seraum (Tablinum; 4) und von dort in den Garten (6). Weitere Zimmer und eine Küche ergänzen das Wohnhaus. Das altpompejanische Haus entspricht in seiner Anlage dem altrömischen Atriumhaus. Seine Dachführung ermöglicht eine abgestufte Raumhöhe und Lichtführung. Das Peristylhaus ist eine erste Erweiterung und Bereicherung des Atriumhauses: Wie beim Atriumhaus liegen auch hier die Nutzräume an der Strasse vor dem Atrium. Um das Atrium herum gruppieren sich Schlaf- und Essräume sowie die Empfangshalle. An den grossen Wohn- und Essraum in der Achse des Atriums schliessen sich weitere Speisezimmer (Trichnium; 9) an. Von dort gelangt man in das Peristyl (Säulenhalle im offenen Hof; 7). Im Peristylhaus mit seiner besonderen Betonung des Gartenteils als in die Architektur einbezogene Natur richtet sich das Leben der Bewohner gleichsam nach innen, da Fenster nach aussen hin fast völlig fehlen und alle Räume zum zentral liegenden Atrium oder dem Garten-Peristyl orientiert sind. Diese Zurückgezogenheit wird im Alltag durch das mediterrane Leben im Freien, auf den Strassen oder Plätzen relativiert. (Zusammengestellt nach: Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien. München: Artemis & Winkler 1993. S. 161–163. Klaus Janssen: Lebensstil und Wohnkultur – Häuser in Pompeji. In: Praxis Geschichte 14. Jg. (2002 Heft 3. S. 18–22.) Herkulaneum – Ercolano 125 Movimento Moderno Giuseppe Vaccaro und Gino Franzi: Palazzo delle Poste, 1928–1936 Piazza G. Matteotti 126 Movimento Moderno 127 Movimento Moderno 128 Movimento Moderno Giuseppe Vaccaro und Gino Franzi: Palazzo delle Poste, 1928–1936 Piazza G. Matteotti 129 Movimento Moderno 130 Movimento Moderno 131 Giuseppe Vaccaro (1. Ausbaustufe) und Gino Franzi (2. Ausbaustufe): Palazzo delle Poste, 1928–1936, Piazza G. Matteotti Movimento Moderno 132 Movimento Moderno Giuseppe Vaccaro (1. Ausbaustufe) und Gino Franzi (2. Ausbaustufe): Palazzo delle Poste, 1928–1936, Piazza G. Matteotti 133 Movimento Moderno 134 Movimento Moderno Luigi Cosenza: Mercato Ittico, Fischmarkt, 1929 135 Movimento Moderno Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky: Villa Oro, 1934–1937 via Orazio 27 136 Movimento Moderno 137 Movimento Moderno Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky: Villa in Positano, Wettbewerb für eine Idealvilla am Mittelmeer, 1937 138 Movimento Moderno Luigi Cosenza und Bernard Rudofsky: Villa Savarese, 1936–1942 via Scipione Capece 14 139 Movimento Moderno 140 Benedetto Gravagnulo «Movimento Moderno in Neapel: Die Architektur zwischen den Weltkriegen» Bauwelt 781, 1991 Übersetzung: Götz-Armin Joas Movimento Moderno 141 Movimento Moderno 142 Movimento Moderno 143 Mostra d’Oltremare, Masterplan, Marcelleo Canino, 1939–40 144 Literaturverzeichnis Professur für Geschichte des Städtebaus Prof. Dr. Vittorio Magnano Lampugnani Seminarreise: Neapel – Schichtungen einer Stadt Zürich: 2005 Bernd Haufe: Deutsche Briefe aus Italien Winckelmann bis Gregorovius. 3. Aufl. Leipzig: Koehler & Amelang,1987 J. B. Ward-Perkins: Cities of Ancient Greece and Italy New York: Braziller, 1974 Andreas Beyer: Die Stadt, der Golf und der Berg Merian 46. Jg. 1993 Heft 9 Rolf Legler: Der Golf von Neapel Köln: DuMont, 1990 Eva Gründel und Heinz Tomek: Golf von Neapel Köln: DuMont, 2000 Ehrenfried Kluckert: Neapel – Kampanien München: Artemis & Winkler, 1993 Nicola Spinosa: Vedute napoletane dal Quattrocento all’Ottocento Napoli: Electa, 1996 145 Paolo di Caterina: Napoli Sotterranea – Un itinerario del sottosuolo partenopeo riferimento «Le cavità sotterranee e Napoli» Milano: DOMUS n° 681, 1987 Josef Mühlenbrock und Dieter Richter: Verschüttet vom Vesuv Die letzten Stunden von Herculaneum Mainz am Rhein: Verlag Philipp von Zabern, 2005 F. Ranft: Capri – Ischia München: dtv, 1990 Benedetto Gravagnulo: Movimento Moderno in Neapel Die Architektur zwischen den Weltkriegen Bauwelt 781, 1991 Clemens Krause: Villa Jovis – Die Residenz des Tiberius auf Capri Mainz am Rhein: Verlag Philipp von Zabern, 2003 Marida Talamona: Casa Malaparte New York: Princeton Architectural Press, 1992 V. Savi: Orphic, surrealistic: Casa Malaparte in Capri and Adalberto Libera Milano: Lotus 60, Living in architecture, 1988 J. Bostik: The surveyed house Milano: Lotus 60, Living in architecture, 1988 Pelenope M. Allison: Pompeian Households http://www.stoa.org Maria Paola Guidobaldi: Schatzgräber und Archäologen. Die Geschichte der Ausgrabungen von Herculaneum Mainz am Rhein: Verlag Philipp von Zabern, 2005 146 Teilnehmerliste 147 Lehrstuhl für Architektur und Konstruktion Studierende Felix Ackerknecht Marcel Baumgartner Dawit Benti Dominik Herzog Pascal Hunkeler Andreas Kohne Raphael Kräutler Robert Lüder Ramon Arpagaus [email protected] Michèle Bär [email protected] David Dalsass [email protected] Bruno Felber [email protected] Isabel Gracia [email protected] Frida Grahn [email protected] Katrin Gurtner [email protected] Mira Habermann [email protected] Patrick Jäger [email protected] Mischa Jäggi [email protected] Alexander Kriegelsteiner [email protected] Hannes Mahlknecht [email protected] Augusta Meyer [email protected] Tinetta Rauch [email protected] Andrea Schregenberger [email protected] Fabian Schärer [email protected] Jan Wladyslaw Strumillo [email protected] Caspar Teichgräber [email protected] Florence Willi [email protected] Huibiao Wu [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] [email protected] 148 Impressum Herausgeber ETH Zürich Departement Architektur Architektur und Konstruktion Prof. Andrea Deplazes Wolfgang-Pauli-Strasse 15 CH-8093 Zürich www.deplazes.arch.ethz.ch Organisation und Redaktion Robert Lüder Text- und Bildnachweis Alle Rechte bei den Autoren und Verlegern Druck Reprozentrale ETH-Hönggerberg April 2008 149