Die fabelhafte Welt der Amelie

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Die fabelhafte Welt der Amelie
Die fabelhafte Welt der Amelie
Teils Scope Frankreich 2001 Produktion: Victoires/Tapioca Films/ France 3 Cinema/MMC Independent/Sofica
Sofinergie 5 Produzentin: Claudie Ossard Regie: Jean-Pierre Jeunet Buch: Guillaume Laurant, Jean-Pierre Jeunet
Kamera: Bruno Delbonnel Musik: Yann Tiersen
Schnitt: Celine Kelepikis Darsteller: Audrey Tautou (Amelie Poulain), Mathieu Kassovitz (Nino Quincampoix),
Rufus (Raphael Poulain, Amelies Vater), Yolande Moreau (Concierge Madeleine Wallace). Artus de Penguern
(Hipolito, Schriftsteller), Urbain Cancelier (Collignon, Kaufmann), Maurice Benichou (Bretodeau), Claude Perron
(Eva), Michel Robin (Vater Collignon)
Länge: 122 Min. FSK: ab 6; f Verleih: Prokino
Die Orte sind liebevoll ausgesucht, die Sets fantasievoll gestaltet, die Computeranimationen mit Bedacht
eingesetzt und das Personal skurril gezeichnet. In Jean-Pierre Jeunets „Die fabelhafte Welt der Amelie" wimmelt
es von wundervollen Bildern, und es fällt schwer, eine Schlüsselszene auszumachen, die normalerweise das Davor
und das Danach in einem Film erschließt. Nach 122 Filmminuten verlässt man das Kino in Gedanken an die
wunderschönen Kulleraugen der 23-jährigen Audrey Tautou („Schöne Venus", fd 34 173), deren Ponyfrisur ein
wenig an ein französisches Schlagersternchen erinnert. Vergeblich versucht man die fabelhaften Bilder
einzuordnen. Jean-Pierre Jeunet entfacht einen wahren Bildersturm, der seinesgleichen sucht.
Kaum auszudenken, wie Emily Watson („Breaking the Waves" fd 32 145), die ursprünglich für die Rolle der
Amelie vorgesehen war, als naive Pariser Kellnerin gewirkt hätte. Das Drehbuch schrieb Jean-Pierre Jeunet der
Britin gewissermaßen auf den Leib. Doch Emily Watson sagte in letzter Sekunde ab. So kam Audrey Tautou zu
der Rolle. Tatsächlich entspricht die äußere Erscheinung der Französin der „corporate identity", dem „Look" des
Films viel mehr als die für ihre natürliche Ausstrahlung bekannte Britin.
Amelie arbeitet in einer kleinen Bar im Pariser Stadtteil Montmartre. Sie spricht kaum und verbringt die meiste
Zeit ihrer Freizeit träumend, was mit ihrer schwierigen Kindheit zusammenhängt, die einige aufschlussreiche
Rückblenden skizzieren. Der Vater, ein Arzt, sprach mit seiner Tochter nur, wenn er das Kind mit dem Stethoskop
untersuchte. Die Mutter fand vorzeitig ein kurioses Ende. Das Drehbuch ist voll gestopft mit Ideen, die locker für
drei Filme gereicht hätten. Da macht ein Gartenzwerg mit Postkarten von einer Weltreise Furore. Eine
Parallelmontage zerstückelt einen bedeutsamen Augenblick. Da wölbt sich auf einer Cafehausterrasse ein
Tischtuch im Wind und versetzt die zurückgelassenen Weingläser in einen magischen Tanz, da rechnet ein Mann
die Kosten für eine Bestattung zusammen, da trifft in einer pseudowissenschaftlichen Großaufnahme ein Sperma
auf eine Eizelle, und eine Off-Stimme erklärt, dass all das im Moment von Amelies Zeugung geschah. Zu Amelies
fabelhafter Welt gehört natürlich auch ein Liebesabenteuer, das hier allerdings zur schönsten Nebensache der Welt
mutiert, in Gestalt von Mathieu Kassovitz als Nino Quincampoix. Als Amelie eine alte Blechdose mit Spielsachen
findet, verhilft sie einem Mann auf der Straße, dem Besitzer der Schachtel, zu sentimentalen Gefühlsregungen,
und entwickelt sich zu einer guten Fee. So führt sie eine Angestellte aus ihrer Bar mit einem Stammkunden
zusammen und spielt dem Gemüsehändler, der seinen Gehilfen schlecht behandelt, üble Streiche. „Z" für Zorro
malt die für Sekundenschnelle als Mantel- und Degenheldin Verkleidete an die Tür ihres Opfers.
Trotz solcher Einfälle ist das Personal nicht so skurril gezeichnet, wie man es aus Jeunets düsteren Filmen
„Delikatessen" (fd 29 487) und „Die Stadt der verlorenen Kinder" (fd 31468) kennt. In „Amelie" sind die
Charaktere unterschiedlich stark karikiert und sprühen nur so vor Lebensklugheit. Ein Nachbar beispielsweise, der
an der Glasknochenkrankheit leidet, hat seit über 20 Jahren die Wohnung nicht mehr verlassen und kopiert jedes
Jahr Renoirs „Das Frühstück der Ruderer". „Nutze deine Chancen", ermuntert er die einmal mehr verzagte
Amelie, „sonst vertrocknest du wie die Knochen meines Skeletts." Der arme Autor, der gelegentlich durchs
Viertel schleicht, gibt ebenfalls philosophisch gefärbte Ratschläge. Unter anderen den: „Das Leben ist eine Probe
für eine Aufführung, die niemals stattfindet." Trouvaillen dieser Art sind Jeunets Co- und Dialogautor Guillaume
Laurant zu verdanken. Jean-Pierre Jeunets Filme sind geprägt von ausgesprochener Künstlichkeit. Umso mehr
verwundert, dass er erstmals „on location" gedreht hat. Allerdings hat er Paris, die Stadt der Liebe, stark
geschminkt. Auf den Straßen wurden Autos weggeräumt, störende Plakate überklebt, und die digitale
Postproduktion hat Ecken und Kanten zurechtgebogen. In einer Rückblende, als Amelie als Kind einen
Fotoapparat geschenkt bekommt, nehmen die Wolken über Paris die Form von Teddybären und Hasen an. Solche
Effekte kommen reichlich zum Einsatz: Einmal zerfließt Amelie zu einer schwappenden Pfütze - vom
Liebeskummer bildlich weggespült.
„Die fabelhafte Welt der Amelie" ist ein Beispiel dafür, dass sich die deutsch- französische Freundschaft auf dem
Gebiet des Films stark verändert hat. Köln Ossendorf verzeichnet für den Film 23 Drehtage und die Filmstiftung
NRW eine Verleih- und Vertriebsförderung in Höhe von zwei Millionen Mark. In Deutschland sei dem Film ein
ähnlich großer Erfolg vergönnt wie in Frankreich. Jean-Pierre Jeunet wollte einen fröhlichen, heiteren Film
machen, der die Leute zum Träumen bringt und ihnen Vergnügen bereitet. Mit diesen turbulenten Bildermärchen
ist ihm das zweifelsfrei gelungen.
Cornelia Fleer
Eine schüchterne Kellnerin träumt sich fantasievoll durch den tristen Alltag im Pariser Stadtteil Montmartre. Eine
Schachtel mit alten Spielsachen inspiriert sie dazu, ihren Mitmenschen Gutes zu tun. Sie hilft Kollegen und
Nachbarn und findet wie nebenbei die Liebe. Das detailreich ausgestattete Märchen um eine ungewöhnliche Frau
zeigt Paris in verzauberter Gestalt. Dank des ideenreichen Drehbuchs und der exzellenten Dialoge wird das stark
stilisierte Bildfeuerwerk an keiner Stelle langweilig. Zusammengehalten wird das Ensemble der stark karikierten
Nebenfiguren durch die Ausstrahlung der jugendlichen Hauptdarstellerin. – Sehenswert ab 14.