Moderne Lyrik

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Moderne Lyrik
Rudolf Steiner
MODERNE LYRIK
Erstveröffentlichung in: Magazin für Literatur 1898, 67. Jg., Nr. 31 u.
1899, 68. Jg., Nr. 15 (GA 32, S. 444-447)
I
Lieber Leser und liebe Leserin, ich finde nicht Worte, Euch zu
schildern den Eindruck, den mir die Dichtungen gemacht
haben, die mir heute ins Haus geflogen kamen. Höret den
Dichtet selber:
«Jahr auf Jahr...
Im Park
necke ich die jungen Mädchen,
die erröten nicht mehr, lächeln nicht mehr.
Machen kein böses Gesicht!
Schweigen nur, seh'n an mir vorbei.
Verschränken die Arme.
Fern verhalt
schwatzendes Glück.
Hier,
wo mir die Liebste um den Hals fiel,
laut
Liebe schluchzte schweigt der rote Mund einer Blume.
Es ward still um mich. Unter der Erde stürzt meiner Mutter Sarg
zusammen!»
Und habt Ihr noch nicht genug, lieber Leser und liebe Leserin,
lege ich Euch noch eine zweite Probe vor:
«Heut' früh sang ich drei Liebeslieder
über den schmelzenden Schnee
in die weiche Luft.
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Mittags war ich so hungrig;
fast fielen mir die Träume in die Erbsen. Ich stopfte.
Jetzt scheint der Mond.
Aus meinem Herzen
schreien dreihundert Kater.»
Doch jetzt bringe ich keine Probe mehr. Ich habe Euch zu lieb,
lieber Leser und liebe Leserin. Aber ich musste Euch doch
berichten von dem neuesten Bändchen Lyrik «Neues Leben»
von Georg Stolzenberg, soeben erschienen in Berlin bei Johann
Sassenbach. Solltet Ihr glauben, es sei auf eine Konkurrenz mit
dem «Kladderadatsch» abgesehen, der so manche heitere
Stilprobe in seiner «Korrespondenz der Redaktion» bringt, so
irrt Ihr Euch. Es handelt sich wirklich und wahrhaftig um ernstgemeinte «moderne Lyrik», und das Büchlein ist keinem
Geringeren als Herrn Stolzenbergs «Freund» Arno Holz
gewidmet.
Herr Georg Stolzenberg hat mit seinem Singen die neue Lyrik
wirklich entdeckt. Am 7. Mai 1898 hat er das in der für
«Selbstanzeigen» so geeigneten «Zukunft» verkündet. Er erzählt,
dass er lange Jahre gesucht hat, um seine Empfindungen in die
geeignete Form bringen zu können. «Da las ich einige neueste
Gedichte von Arno Holz. Sofort, nachdem ich ihre Wesenheit
begriffen, war es mir klar, was die Entwicklung zu einer
wirklich zeitgemäßen Verskunst so lange aufgehalten hatte: der
dicke Wortwerg, den selbst diejenigen unserer Dichter, die
bereits längst über jeder Kritik stehen, fuderweise in ihre
Versgebäude stopfen mussten, damit es keine allzu großen
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Ritzen gab, der Zwang, den widerstrebenden Gedankenfaden
durch das jedesmalige Reimöhr zu zwirbeln, die Notwendigkeit,
das Wort beständig Tanzpas machen zu lassen. Mit der von
Arno Holz geschaffenen Technik, der, wie er dies selbst
ausdrückt, letzte Einfachheit das höchste Gesetz ist und der
möglichsten Natürlichkeit die intensivste Kunstform scheint,
beginnt heute die Lyrik gleichsam von neuem.» Und nun genug.
Die Prosa Stolzenbergs ist seiner «Poesie» würdig.
II
Die Lyrik treibt jetzt neue Blüten. Die Leitung dieser Zeitschrift
hat ihren Geschmack noch nicht so weit umreformiert, um sich
ein Urteil über diese neueste Kunstrichtung anzumaßen.
Deshalb legt sie, ohne jedes Urteil, den Lesern ein paar Proben
dieser neuesten Leistungen vor. Es wird aber vorher
ausdrücklich bemerkt, dass diese lyrischen Schöpfungen von
ihren Urhebern wahrhaft ernst gemeint sind.
Der Meister Arno Holz gehe voran. In seiner neuesten
Sammlung «Phantasus» (Berlin, Sassenbach. Zweites Heft 1899)
findet sich:
«In rote Fixsternwälder, die verbluten,
peitsch ich mein Flügelroß.
Durch!
Hinter zerfetzten Planetensystemen, hinter vergletscherten
hinter Wüsten aus Nacht und Nichts [Ursonnen, wachsen
schimmernd Neue Welten - Tritonen Crocushüten!»
*
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Nun die Schüler: Georg Stolzenberg, «Neues Leben» (Zweites
Heft. Berlin 1899):
«Frühlingswind
wühlt in den Röcken.
Alle Mädchen sind schön.
Sie kaufen sich kleine Veilchensträuße und lachen ohne Grund.
Ich
zwirble meinen schön gekräuselten
sich immer wieder sträubenden Maikaterbart!»
*
Robert Hess dichtet in seinen «Fabeln» (Berlin 1899):
«Metallisch glänzt der Abendhimmel unter dunklem Geäst
bläst ein Hirt. Noch springen munter die Zicklein.
Mücken tanzen.
Ein Schaf schaut in die untergehende Sonne.
Bäh!»
*
Rolf Wolfgang Martens «Befreite Flügel» (Berlin 1899)
enthalten:
«In Wasserstiefeln,
mit aufgekrempelten Ärmeln, streicht er durch die Urwälder.
Sein Blick
mißt die Mammutbäume.
Auf dem Gipfel des Gaurisankar baut er sich stolz ein Schloß.
Dort zecht er mit Ramses, Timur und Alexander dem Großen.
Befangen
nahe ich mich und zeige ihm ein buntes, schimmerndes
Entrüstet [Wiesenblümchen
schmeißt er mich die Treppe runter!»