Semiotische Maschinen - Hu
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Semiotische Maschinen - Hu
Rico Hartmann Humboldt-Universität zu Berlin Philosophische Fakultät III Institut für Kunst- und Kulturwissenschaft Seminar für Medienwissenschaft Prof. Wolfgang Ernst 53 507 Medientheorie als Diagrammatik. Operative Notationen, Symbole, Schaltungen WS 2010/11 Semiotische Maschinen Zur Diagrammatik von Charles Sanders Peirce Rico Hartmann MTSG Medienwissenschaft, Hauptstudium Matrikelnr.: 503029 [email protected] Inhalt Einleitung....................................................................................................................................................3 1 Logische Maschinen...............................................................................................................................5 1.1 Die logischen Partituren von Peirce und Marquand................................................................5 1.2 Die logischen Partituren Turings und von Neumanns............................................................9 2 Diagrammatic Reasoning....................................................................................................................14 2.1 Diagrammatic turn.......................................................................................................................16 2.2 Historische und systematische Einordnung von Peirce's diagrammatischem Denken....20 2.2.1 Die Antike als Ausgangspunkt..........................................................................................20 2.2.2 Schematische und geometrische Figuren bei Kant.......................................................22 2.2.3 Zeichensystem von Peirce ................................................................................................25 2.3 Semiose .........................................................................................................................................28 Fazit............................................................................................................................................................29 Literatur.....................................................................................................................................................31 Abbildungen.............................................................................................................................................33 2 Einleitung »All necessary reasoning without exception is diagrammatic. « C.S. Peirce: CP 5.162 Semiotik, die Charles Sanders Peirce maßgeblich mitbegründete, wurde lange Zeit einer technischen Medientheorie gegenübergestellt, weil man trotz der unterschiedlichen semiotischen Schulen im Allgemeinen davon ausgeht, dass hier die Interpretation der Zeichensemantik entscheidend ist. “Der grundlegende semiotische Akt besteht also nicht in der Erzeugung von Zeichen, sondern in der Erfassung eines Sinnes.” 1 Demnach wird zwar von einem übertragenden, performativen Vollzug ausgegangen, nicht von gegebenen Zeichen, jedoch lässt die Botschaft den Träger, das Signal scheinbar ebenso verschwinden wie den Kanal2. Das Hervorbringen logischer Zeichen und ihre maschinelle Implementierung scheint Peirce's Entwicklung eines phänomenologisch-pragmatischen Ansatzes so nicht mitzudenken. Die Ursachen für diese einseitige Lesart sind ungewiss, es lässt sich aber vermuten, dass die schwierige Quellenlage im Fall Peirce mitverantwortlich ist. Die umfangreichen Collected Papers3 ermöglichten zwar einen ersten systematischen Einblick in sein unüberschaubares Werk, erst spätere Veröffentlichungen zeigten aber, dass das gesamte Denken von Peirce und mithin die gesamte Semiotik mehr als bisher angenommen einer mathematischen und auch materialistischen Logik und Epistemologie4 verbunden ist. In einem in The New Elements of Mathematics5 im Anschluss an einen Aufsatz namens Logic Machines veröffentlichten Diagramm aus einem Brief von 1886, in dem Peirce wohl “erstmals in der Geschichte überhaupt einen logischen Schaltkreis entwirft” 6, wird das Prinzip einer maschinellen Zeichenverarbeitung und -übertragung aufgezeichnet. Damit beschrieb Peirce die mögliche Anwendung der Booleschen Logik auf elektrische Schaltungen bereits über 50 Jahre 1 2 3 4 5 6 Volli 2002, 13. Vgl. das auf Peirce aufbauende Kommunikationsmodell von Roman Jacobson. (CP) Im Folgenden werden für die Literatur von Peirce Kürzel verwendet, vgl. Literaturverzeichnis. Vgl. Klaus 1963. (NEM). Schäffner 2007, 313. 3 vor Claude Shannon. Dessen Symbolic analysis of relay and switching circuit 7 wurde für die Schaltalgebra berühmt, die seither von der Booleschen Algebra kaum noch unterschieden wird und dafür, ein Wegbereiter heutiger Computer zu sein. Hierin wird erwähnt, was bereits Peirce zeigte: dass Schaltungen nicht nur symbolisch steuerbar, sondern auch umgekehrt mathematische Funktionen elektrisch veränderbar sind.8 Diesem Vorgehen, logische Annahmen mit schematischen Maschinenoperationen umzusetzen, folgen auch die anderen beiden mitentscheidenden Konzepte der Funktionsprinzipien moderner Rechenmaschinen, Turings Papiermaschine9 und von Neumanns EDVAC-Entwurf.10 Es scheint vielleicht erstaunlich, dass gerade in von Neumanns Hardware-Bauplan lediglich das Prinzip der Verschaltung logischer Einheiten symbolisch entworfen und im Verfahren des “zigzagging”11 beobachtet und geprüft wird. Aber First Draft deutet es bereits an: Es geht nicht um die endgültige und genaue Architektur der physikalischen Einzelteile, sondern vorerst darum, “[to] deal with the structure of a very high speed automatic digital computing system, and in particular with its logical control.”12 Das Prinzip der logischen Maschine wird in einem Gedankenkonzept in Figures zweidimensional zum Laufen gebracht, so dass sie so ähnlich dreidimensional gebaut werden kann. Zwischen imaginärer und realer Maschine wird dabei nicht unterschieden, auf die strukturelle Logik der Bauteile wird wie auf die Richtigkeit ihrer Berechnungen aus Zeichennotationen geschlossen: “The device may recognize the most frequent malfunctions automatically, indicate their presence and location by externally visible signs, and then stop.” 13 Dieses Verfahren von Neumanns, Turings und Shannons, eine logische Annahme symbolisch zu konstruieren, mit dem Konstrukt zu kalkulieren und die Ergebnisse zu beobachten, ist nichts anderes als das, was im Kern der Semiotik von Peirce als diagrammatic reasoning steht: der Gedanke, dass jede vernünftige Schlussfolgerung auf die Konstruktion und Beobachtung von Diagrammen zurückgeführt werden kann.14 Dieser These wird im Folgenden nachgegangen. 7 8 9 10 11 12 13 14 Shannon 1938. Vgl. Schäffner 2007, 325. Turing 1937. Von Neumann 1945. Ebd., (3.2) 4. Ebd., (1.1) 1, kursiv im Original. Ebd., (1.4) 1. Bauer/Ernst 2010, Einleitung. 4 1 Logische Maschinen 1.1 Die logischen Partituren von Peirce und Marquand Peirce antwortet in einem Brief auf den Entwurf einer New Logical Machine seines ehemaligen Studenten Allan Marquand, dass die Maschine in der Lage sein müsse, “to perform 4 operations”: 1. Entwicklung von Ausdrücken (a, b, c etc.) aus Zeichenketten und Syntaxregeln , 2. Vereinfachung der Ausdrücke, 3. Multiplikation mit Polynomen (wie bei Babbages Differential Engine, dort dienen diese allerdings hauptsächlich der Berechnung tabellarischer Funktionen), 4. Addition. Diese elementaren Grundoperationen könnten laut Peirce als Ausgangspunkt dienen, “to make a machine for really very difficult mathematical problems. […] I think electricity would be the best thing to rely on.” 15 Um diese Annahme überprüfen zu können, wird ein Schaltkreis in zwei Versionen aufgezeichnet (Fig. 1: Reihen-, Fig. 2: Parallelschaltung) mit jeweils drei arithmetischen Schaltelementen: A, B, C. Abb. 1: Diagramme für einen logischen Schaltkreis aus einem Brief von C.S. Peirce an A. Marquand Für die maschinelle Symbolverarbeitung wird also von Peirce bereits Elektrotechnik vorgeschlagen, obwohl bis dato selbst Babbages visionäre, schematische Entwürfe einer Mechanik für seine “mathematical engines” noch ungebaut und somit in ihrer physikalischen 15 Peirce 1887, in: NEM IV, 632. 5 Funktionstüchtigkeit ungeprüft sind. Für Peirce ist demnach nicht entscheidend, mit welcher Technik die Maschinen letztendlich laufen, sondern dass sie bereits als Logical Machines die “absurde” Möglichkeit vorführen, wie er in einem gleichnamigen Artikel im American Journal of Psychology schreibt, dass bisher dem menschlichen Denken überlassene mathematische Aufgaben technologisch gelöst werden können. Das logische Prinzip, etwa der Wortmaschine in Swifts Gullivers Reisen, “performiert” bereits menschliches “reasoning”, so Peirce: “The intention is to ridicule the Organon of Aristotle [...] by showing the absurdity of supposing, that any 'instrument' can do the work of the mind. Yet the logical machines of Jevons and Marquand are mills into which the premises are fed and which turn out the conclusions […]. The numerous mathematical engines, [...] from Webb's adder up to Babbage's analytical engine (which was designed though never constructed) are also machines that perform reasoning of no simple kind. Precisely how much of the buisiness of thinking a machine could possibly made to perform, and what part of it must be left for the living mind, is a question not without conceivable practical importance; the study of it can at any rate not fail to throw needed light on the nature of the reasoning process.”16 Wird der natürliche Prozess des Denkens in logische Maschinen implementiert, wird der Geist studierbar, sei es in Babbages Analytical Engine, Webbs Adder, Jevons Logischem Piano (bei dem man mit dem Keyboard Prämissen schaltet) oder eben in Marquands Entwurf der New Logical Machine. An den Apparaten lässt sich also auch das epistemische Leitmotiv der Epoche ablesen: Logisches Denken ist im 19. Jahrhundert noch von antiken Syllogismen aus Aristoteles' Organon dominiert. Es werden begriffslogisch Argumente auf ihre Gültigkeit untersucht, indem geprüft wird, welche Konklusionen aus gegebenen Prämissen gezogen werden können. Die syllogistischen, deterministischen Argumente bestehen aus genau 2 Prämissen und einer Konklusion. Erst im 20. Jahrhundert werden kompliziertere, aussagenlogische Schlüsse automatisiert. Die Kybernetik wird in dieser Abhängigkeitsänderung von Ein- und Ausgängen den Übergang von der trivialen zur nicht-trivialen Maschine sehen, indem das klassische Erkennen durch einfache Beobachtung eines bekannten Beobachteten durch das transklassische Weltverständnis abgelöst wird, das Beobachten und Prüfen unsicherer Annahmen und damit das Beobachten des Beobachtens selbst. Peirce steht bereits auf der Schwelle dieses Übergangs. Die eingesetzten Variablen A, B, C bzw. a, b, c (Kleinbuchstaben können wie bei Jevons Negationen sein), die Marquand in seiner Maschine laut Peirce 16 NEM IV, 625. 6 vereinfachen soll, stehen für Begriffe. Die Reihenschaltung stellt die Konjunktion A∗B bzw. eine boolesche AND-Schaltung dar, A∧ B , die Parallelschaltung eine Disjunktion bzw. OR-Schaltung, A∨ B . An dieser Stelle muss betont werden, dass sich Peirce's gesamte Semiotik logisch versteht und umgekehrt seine Logik semiotisch17 und von Boole ausgeht. Die von Peirce eingeführten Notationen zur Aussagen- und Prädikatenlogik sind noch heute in der Informatik im Einsatz, etwa die eingeführten Operatoren NAND und NOR (Peirce-Operator), sowie die Wahrheitstabellen für diese Operatoren. Peirce demonstriert also in den Schaltkreisdiagrammen eine maschinelle Prüfung verknüpfter, begriffslogischer Sätze. Marquand beschreibt das Verfahren seiner Maschinenlogik so, dass über die verschiedenen Schalter und Tasten nacheinander beliebig viele Prämissen eingegeben und gespeichert werden, bis man die Ergebnisse über Armaturenzeiger inspizieren und feststellen kann, welche Konklusion mit den eingegebenen Prämissen konsistent ist. Seine Bezeichnung der Prämissen setzt sich aus allgemeinen und peirceschen Symbolen zusammen, wie etwa A + B C.18 Es ist bis heute unklar, was genau von Peirce übernommen oder angeregt wurde. Fakt ist, dass die logische Maschine sowohl auf eine beliebige Anzahl verarbeitbarer Terme erweiterbar, als auch elektrisch umsetzbar sein sollte, aufbauend auf eine nun verbesserte mechanische Version eines Entwurfes von 1881 in Verbindung mit extra gedruckten logischen Diagrammen: “During the year 1881 I constructed a logical machine somewhat similar to the well known machine of Prof. Jevons, and printed logical diagrams for problems involving as many as ten terms. This earlier instrument and the logical diagrams formed the basis of the machine illustrated on the accompanying plate.”19 In Marquands Nachlass wurde dann das Diagramm einer elektromagnetischen Maschine gefunden, das wohl von Peirce zumindest mitentworfen wurde.20 Dargestellt wird eine Maschine, die algorithmisch Deduktionen performiert mittels Klassen von bis zu vier Termen. 17 “Logic [...] is […] only another name for semiotic ({sémeiötiké}), the [...] formal doctrine of signs.” (CP 2.227). 18 “The sign is used by Mr. C.S. Peirce for the general sign of inference. A B means, if A, then B. Viewed in the light of class extension it means the class A is included in the class B. The sign of addition is here used in the non-exclusive sense; thus A + Bmeans either A or B, or both.” (Marquand 1885, 20). 19 Ebd., 18. 20 Vgl. Ketner 1984. 7 Auf der Originalzeichnung soll weiterhin stehen, dass man die logischen Operationen mit “all the [logical] combinations [being] visible”21 beginnt. “These logical combinations, each four letters in length, would be matched to the electromagnets according to the grid of exhaustive possibilities implicit in the lettering on the diagram, were uppercase and lowercase letters represent the truth and falsity, respectively, of each of four terms. The 'visible combinations' would look like this: ABCD ABCd ABcD ABcd AbCD AbCd AbcD Abcd aBCD aBCd aBcD aBcd abCD abCd abcD abcd”22 Werden die logischen Operationen dieses Diagramms umgesetzt mit vier Basiskomponenten Elektromagneten, Circuit keys für die Prämissen, ein Operation switch und eine Stromversorgungseinheit aus zwei Batterien - , sieht die semiotische Maschine so aus: Abb. 2: Diagramm von A. Marquand/C.S. Peirce zur elektromagnetischen Umsetzung einer Logischen Maschine 21 Zitiert nach Stewart 1997, 97. 22 Ebd. 8 Ob die Zeichnung nun von Marquand oder Peirce oder beiden ist und ob sie 1887 oder etwas früher oder später entstand, das sind medienhistorische Fragen, Fragen der Quellenlage und Schriftanalyse, denen an dieser Stelle nicht nachgegangen werden kann und soll. Die medienarchäologische Bedeutung liegt vielmehr darin, dass in den Zeichenanordnungen vorgeführt wird, dass deduktives Denken in Maschinen implementiert werden kann und dass dieser Denkvollzug darstellbar ist. Syllogistik wird an die Anschauung gekoppelt. Gedanken werden in diesen Bauplänen nicht einfach gesagt, sondern nachvollziehbar gezeigt. Und eine Abfolge von graphischen, symbolischen oder sonstigen Ikons ist wiederum eine Konstruktion, die Denkvorgänge nicht nur darstellt, “sondern deren unmittelbaren Vollzug selbst bildet. Das Bild des Denkens ist das Denken.”23 Die Performation einer Maschine bewirkt auch ihre logische Operation, ergo bildet das Diagramm einer Maschine diese nicht nur ab, es ist eine logische Maschine. Die Zeichnung auf das Medium Papier bietet die Möglichkeit, das Denken zu prüfen oder eben, kybernetisch gesprochen, das Beobachten zu beobachten. Denken ist für Peirce kein interner, mentaler Zustand, weil es in seiner Phänomenologie des Denkens keine cartesische Trennung von Materie und Bewusstsein gibt: Denken ist sichtbare Materie in Bewegung. Jeder Gedanke wird in einen anderen übersetzt bzw. mit einem anderen verbunden. Es gibt für Peirce kein Denken außerhalb von Zeichen24, damit ist alles Denken beobachtbar und “Ikonizität ist die bevorzugte Modalität dieser kognitiven Signifikanz”.25 Die ikonische Operativität entsteht im Prozess der Veranschaulichung der Hypothese, dass menschliches Denken technologisch gelöst werden kann, mit der Papiermaschine ebenso wie mit der elektrischen Maschine - so wie es später Shannon, Turing oder auch von Neumann ausreiften. 1.2 Die logischen Partituren Turings und von Neumanns Turing beschreibt den Digitalcomputer als eine Maschine, die zwar kontinuierlich läuft, aber die man sich diskret vorstellen kann, weil eben physikalisch gesehen mit variablen Spannungen operiert wird, mathematisch gesehen dahinter jedoch eine 0 oder 1 steckt. Die logische Maschine operiert gemäß Turing nach einem simplen, aufzeichenbaren EVA-Prinzip von 23 Krämer 2009/10, o.S.. 24 CP 5.265. 25 Krämer 2009/10, o.S.. 9 Signalen, das mit zwei Tabellen auf Papier gebracht werden kann. Die internen physikalischen Komponenten und Verarbeitungsmechanismen (Rad, Hebel, Lampen etc.) der exemplarischen Maschine sind für ihn sekundär. Es zählen die sichtbaren Input- (i) und Outputsignale (o) und dass die möglichen Verarbeitungszustände (q) endlich, ergo berechenbar sind: The internal state at any moment is determined by the last state and input signal according to the table The output signals, the only externally visible indication of the internal state (the light) are described by the table This example is typical of discrete-state machines. They can be described by such tables provided they have only a finite number of possible states. 26 Wohlgemerkt genügen Turing zwei Funktionsdiagramme zur Darstellung der diskreten Maschine, weil für ihn die logische Zeichenverarbeitung entscheidend ist, die Maschine selbst ist eine black box. Die Zeichen sind bei der Eingabe Symbole, werden bei der Verarbeitung in Signale gewandelt und sind als Output “the only externally visible indication of the internal state”, kurz: Indizes. Insofern macht zwar erst die Elektrisierung die Papiermaschine von der symbolischen zur indexikalischen, wie Turing aber feststellt, agiert die semiotische Maschine (ihr Speicher) nicht anders als der menschliche Computer mit Zettel und Stift: “The computer includes a store corresponding to the paper used by a human computer. It must be possible to write into the store any one of the combinations of symbols which might have been written on the paper.” 27 26 Turing 1950, 439ff. 27 Ebd. 10 Ob das Medium also Papier oder Strom ist, ist in der logischen Maschine weniger eine Frage des Funktionsprinzips der Zeichenverarbeitung, als eine Frage der Zeichendifferenzierung: Die Papiermaschine, sei es die Tabelle oder der Schaltplan, arbeitet mit Symbolen, die die Operativität indizieren, aber nicht der “existenziellen Befehlskraft des Index” der elektrischen Maschine unterliegen, in welcher der “epistemische[...] Status der Logik”28 verkörpert wird. Genau an dieser Wirkmacht indexikalischer Elektrizität setzt von Neumanns EDVAC-Entwurf an. Nicht umsonst nennt Turing den Draft “the definitive source for understanding the nature and design of a general-purpose digital computer.”29 Die logische Maschine wird heir nicht als black box reiner Verarbeitung logischer Zeichen betrachtet, sondern stellt den ersten Bauplan des Hardwaredesigns dar. Weil aber auch diese white box im Grunde nur logisch funktioniert, kann die Maschine wiederum graphisch zusammengebaut und “performiert” werden. “Elektrische Graphen”30 bilden wie schon in Shannons Entwurf der Implementierung boolescher Algebra das Hauptzeichen der “Partituren” 31 von Neumanns. Bense hatte entsprechend im Sinne von Peirce erkannt, dass Graphen Diagramme sind, “die in der Hauptsache aus ‘Punkten’ und ‘Linien’, die bestimmte dieser Punkte verbinden, bestehen. Sie beschreiben damit bereits eine frühe Form dessen, was wir heute ‘Netzwerke’ nennen.” 32 Bei Shannon und von Neumann sind hiermit noch keine externen Verschaltungen eines Rechners gemeint, sondern die “drawings” von Verbindungen interner “networks of E-elements”. Die graphischen “figures” bilden für von Neumann “block symbols” der Bauteile. Deren “simple Strukturen” würden genauso einfach in den Schaltkreisen von Elektronenröhren funktionieren und, wie man beobachten könne, aufeinander aufbauen: “7.2 In the following discussions we will draw various networks of E-elements, to perform various functions. These drawings will also be used to define block symbols. […] 6.4 An E-element receives the stimuli of its antecedents across excitatory synapses: , or inhibitory synapses: . […] they give a greater flexibility in putting together simple structures, and they can all be realized by vacuum tube circuits of the same complexity. It should be observed that [...] these elements can be 28 Schäffner 2007, 323. 29 Alan M. Turing: Proposal for the Pilot ACE, Zitiert nach einer Paraphrasierung von Michael D. Godfrey: Introduction to “The First Draft Report on the EDVAC” by John von Neumann, in: von Neumann 1945. 30 Schäffner 2007, 315. 31 Hagen 1997, 33ff. 32 Bense 1975, 60f. 11 built up from each other. Thus Figure 2. is clearly equivalent to [...] to the network of […] We conclude by observing that in planning networks of E-elements, all backtracks of stimuli along the connecting lines must be avoided.”33 Mit diesem “conclude by observing” lässt sich das Konzept des gesamten Bauplanes beschreiben. “As a draft document merely reflecting his current thoughts […]”34, geht es von Neumann im Sinne von Peirce's Diagrammatik um eine Visualisierung seines geistigen Entwurfs. Das Reasoning funktioniert wie die Maschine mittels trial-and-error-Verarbeitung sichtbarer Zeichen. Weiterhin müsse eine gewisse Genauigkeit in der Umsetzung be(ob)achtet werden und tabellarische Ableitung sollen die bessere Funktionswertanalyse ermöglichen als ihre algebraische Kalkulation, so von Neumann in seiner schrittweisen Anleitung: “1.4 […] The device may recognize the most frequent malfunctions automatically, indicate their presence and location by externally visible signs, and then stop. Under certain conditions it might even carry out the necessary correction automatically and continue. […] 2.1 […] analyzing the functioning of the contemplated device [...], 2.2 […] It must be observed, however, that while this principle as such is probably sound, the specific way in which it is realized requires close scrutiny. […] 2.4 [...] it may nevertheless be simpler and quicker to obtain their [specific functions] values from a fixed tabulation, than to compute them […]”35 Diese Operationsabfolge – Bearbeiten, Darstellen, Beobachten, Analysieren, Korrigieren – ist nichts anderes als das Prinzip des diagrammatischen Beweises. Relationen einer Figur werden zunächst nach bestimmten (mathematischen) Vorschriften konstruiert, um daraus weitere Relationen abzuleiten. Signifikant dabei ist, dass von Neumann der gesamte technische Entwurf, v.a. die Speicherprogrammierung, zugeschrieben wird. Sein Verdienst liegt jedoch 33 Von Neumann 1945, 10f. 34 Univ. of Pennsylvania Library 2012. 35 Von Neumann 1945, 1f. 12 weniger in der technischen Entwicklung der EDVAC, die sich größtenteils aus der ENIAC ergab36, sondern in der Kalkulation des technologischen Designs. Und auch dieses ist eine detaillierte Schlussfolgerung aus einer älteren Vorlage von Mauchly. Abb.3: EDVAC-Diagramm von Mauchly Von Neumanns diagrammatischer Schluss folgt also selbst einem Diagramm. Die offenbar logische Wirkkraft der materiellen Operation steckt in der Möglichkeit der Konfiguration und Rekonfiguration37 der diagrammatischen Strukturen und stellt diese dem Kalkül näher als der Skizze. In der ikonischen Ähnlichkeit liegt durchaus etwas Genaues. Das Diagramm wird somit zu einem Medium der Anschaulichkeit, das nicht der bloßen Wissensvermittlung dient, sondern Erkenntnispotential innehat. Die Möglichkeit des logischen Schlussfolgerns macht das Diagramm nicht nur zum Medium des Wissens, sondern zum Medium des Denkens38. 36 Hagen 1997, 33ff. 37 Bauer/Ernst 2010, Einleitung. 38 Vgl. Ernst 2010/11, o.S. 13 2 Diagrammatic Reasoning Diagrammatisches Schlussfolgern im Sinne von Peirce entsteht durch den (re-)konfigurativen Prozess der Zeichenvisualisierung als Mittler zwischen Anschauung und Denken. Schlussfolgern ist für Peirce immer ein Stück weit logisches, mathematisches Kalkül im diagrammatischen Operationsraum zwischen mentalen und materialen Bildern, zwischen Sinn und Sinnlichem.39 Alles logische Denken geschieht für Peirce diagrammatisch: "The first things I found out were that all mathematical reasoning is diagrammatic and that all necessary reasoning is mathematical reasoning, no matter how simple it may be. By diagrammatic reasoning, I mean reasoning which constructs a diagram according to a precept expressed in general terms, performs experiments upon this diagram, notes their results, assures itself that similar experiments performed upon any diagram constructed according to the same precept would have the same results, and expresses this in general terms. This was a discovery of no little importance, showing, as it does, that all knowledge without exception comes from observation." 40 Ein wesentliches Merkmal des diagrammatic reasoning ist, dass es nicht nur an deduktive Beobachtung gebunden ist, sondern auch an die Abduktion. Es gibt für Peirce drei elementare Arten des Reasoning: abduction, deduction, induction 41, die den stufenweisen Erkenntnisprozesses bilden. Der hervorbringenden, hypothetischen Abduktion folgt die deduktive Ableitung von Vorhersagen aus der Hypothese und schließlich die Induktion als Verifizierung der Vorannahmen. Dieser doubt-belief-Prozess wird so oft iteriert, bis aus der Hypothese eine feste Überzeugung gewonnen bzw. eine Gesetzmäßigkeit formuliert und aus dieser wiederum Erkenntnis deduziert werden kann. Ähnlich definiert Peirce diagrammatic reasoning als einen Dreisschritt: “(a) constructing a representation, (b) experimenting with it, (c) observing the results”.42 Diese kreative Schrittfolge ist verbunden mit den Konzepten hypostatic abstraction, theorematic deduction, und theoric transformation. Das abstrakte Hervorbringen eines Diagramms steht auf der Ebene der Abduktion und das ist für Peirce die einzige erkenntniserweiternde Operation: “Abduction is the process of forming an explanatory hypothesis. It is the only logical operation which introduces any new idea; for induction does 39 40 41 42 Krämer 2011. NEM IV, 47f. + CP 5.148. CP 8.209. NEM IV 47f. 14 nothing but determine a value, and deduction merely evolves the necessary consequences of a pure hypothesis.”43 In der abduktiven Abstraktion wird ein sprachliches Theorem konstruiert: “A theorem, as I shall use the word, is an inference obtained by constructing a diagram according to a general precept, and after modifying it as ingenuity may dictate, observing in it certain relations, and showing that they must subsist in every case, retranslating the proposition into general terms.” 44 In der experimentellen, theorematischen Beobachtung werden also Begriffe notwendig deduziert. “A Necessary Deduction is a method of producing Dicent Symbols by the study of a diagram. It is either Corollarial or Theorematic.”45 Trotzdem ist ein Theorem nicht notwendigerweise wahr, deshalb ist der induktive Schritt zur Allgemeingültigkeit der Aussage wichtig. Während theorematic von theorem zu kommen scheint, referiert theoric für Peirce zum Griechischen θεωρία (qewría, also theoria, ursprünglich: Anschauung). Er übersetzt diesen Begriff als “the power of looking at facts from a novel point of view”.46 Theorische Transformation oder ein theoric step bedeutet damit weniger reine Theorie, als ein Perspektivwechsel mit praktischer bzw. pragmatischer Konsequenz. Die selbe Repräsentation wird so gesehen, dass neue Interpretationshorizonte eröffnet werden. Abduktion als “perfectly definite logical form” setzt an der Konklusion an: “(P1) “The surprising fact, C, is observed;” (P2) “But if A were true, C would be a matter of course,” (C) “Hence, there is reason to suspect that A is true” 47. Peirce meint allerdings: “A cannot be abductively inferred ... until its entire content is already present” in der zweiten Prämisse. Das bedeutet, dass im Unklaren bleibt, wie man die Hypothese A entwickelt. Eine neue Hypothese kann nicht durch logical inference entstehen. “The first emergence of this new element into consciousness must be regarded as a perceptive 43 44 45 46 47 CP 5.171. NEM IV, 300-324. CP 4.613ff. MS 318: CSP 50 = ISP 42. CP 5.189. 15 judgment”48. Diagrammatische Abduktion ist also eine - quasi schematische - Perzeption. Das Wahrgenommene Perzept wird vom Wahrnehmungsurteil unterschieden. Erst nachdem eine neue Hypothese entstanden ist, kann man eine Verbindung herstellen von “this perception with other elements”49 mittels besagter logical form. Zum Verständnis dessen und zur Einordnung der Annahme, dass alles Wissen aus schlussfolgernder Beobachtung logischer Diagrammzeichen entsteht, sind einige grundlegende Konzepte der Semiotik und Diagrammatik von Peirce wesentlich: die epistemische, historische und systematische Einordnung seines bildlichen Denkens, sowie das Konzept der Semiose. 2.1 Diagrammatic turn Die zentrale Idee des diagrammatic reasoning entspringt dem Gedanken der Schwierigkeiten bei dem Versuch, etwas zu repräsentieren, das man über etwas annimmt. Sprachliche Repräsentation bringt syntaktische und semantische Beschränkungen mit sich, während im bildlichen Konstrukt eine scheinbar unbegrenzte Offenheit liegt – wowohl im kreativen Hervorbringen des Unbekannten, also auch im deduktiven Interpretieren distinktiver Beobachtung. Wenn Peirce das ikonische Diagramm in das Zentrum seiner Semiotik stellt, geht es ihm jedoch nicht darum, einen iconic turn auszurufen. Sein Konzept des diagrammatic reasoning geht über einen Paradigmenwechsel transdisziplinärer Wissensgebiete hin zur Bildlichkeit hinaus, denn es geht um das Denken selbst. Peirce stellt das Diagramm gegen Humboldts Ansicht der Sprache als “Medium des Denkens”50 auf, wenn er sagt: “I do not think I ever reflect in words: I employ visual diagrams […].”51 Die implizite antike Bildidee hinter allem Seienden dient diagrammatisch dazu, die Sprache und die gesamte Wahrnehmung der Welt auf ihre phänomenologischen Voraussetzungen zu prüfen. Diagramme können die apriorischen Strukturen des Ontologischen explizit machen.52 Trotzdem sind Diagramme keine einfachen Bilder. Diagramme sind immer icons oder schematic images53, können aber auch 48 49 50 51 52 53 CP 5.192. Ebd. Wilhelm Humboldt, zitiert nach Magnus 2010. Vgl. a. Fußnote 38. MS 619. Vgl. Stjernfelt 2007. NEM IV 300-324. 16 Anteile an anderen Zeichenformen wie sprachlichen oder mathematischen Symbolen oder Indizes haben. Diagrammatisches Denken ist nicht nichtsprachlich, sondern vor- oder übersprachlich. Das Grammatische geht im Diagrammatischen ebenso auf, wie das Mathematische. Mathematische Diagramme meinen bei Peirce sowohl geometrische, als auch algebraische: “Geometrical figures are diagrams of the inherential kind, while algebraical formulae are diagrams of the imputations kind.” 54 Diagramme umfassen potentiell das gesamte semiotische Spektrum. Gleichungen lassen sich demnach im Ganzen als icons verstehen55, etwa a + b = c, weil die Verhältnisse zwischen den Elementen bildlich angezeigt werden, bestehen aber im Einzelnen aus Symbolen wie Operanden (Buchstaben oder Zahlen) und Operatoren, oder aus Indizes wie mengenanzeigenden Buchstaben, Pfeilen, Klammern etc. Bereits logische Symbole bekommen bei Peirce eine graphematische Ikonizität: “ [means] A and B are true at the same quasi-instant. […] 'Some A is not some B.' Given the premisses 'Some A is B' and 'Some C is not B', they can be written “56 Entsprechend dieser Schriftbildlichkeit spielen Existential Graphs, kurz: Graphen, eine besondere Rolle im semiotischen System. Graphische Legizeichen, wie Flecke, Punkten, Linien, Cuts (in sich zurücklaufende Linien, Einkreisungen), oszillieren wie Diagramme zwischen ikonischem, logischem und indexikalischem Charakter. Den Stellenwert einer Graphentheorie, die Peirce mitentwickelte, für seine Semiotik schätzt Bense wie folgt ein: Peirce “versteht die Semiotik als ein System, das zugleich als deskriptive Theorie triadisch-trichotomischer Zeichenrelationen, als deskriptive Theorie diagrammatischer ‘Existential-Graphs’ und als formale Theorie der ‘universellen Algebra der Relationen’ entwickelt werden könne.”57 Peirce geht es also auch darum, die graphische Notation als Ersatz der algebraischen aufzustellen, wenn er das Diagramm definiert als “a representamen which is predominantly an icon of relations [that] should be carried out upon a perfectly consistent system of 54 55 56 57 POM, Introduction, xxix. CP 2.279. CP 4.385ff. Bense 1981, 131f. 17 representation”58. Logische Graphen spielen als eine spezifische Form der Diagramme eine Schlüsselrolle zur Formalisierung der Semiotik und haben entsprechend besonderes hypothetisches Potential. Sie konstruieren Bilder des Denkens auf einem assertion sheet, denn die Eintragung eines Graphen auf dem Papier konstituiert für Peirce die Behauptung seiner Wahrheit. Eine Leerstelle bzw. ein leeres Blatt, dessen Existenz in der Abwesenheit eines eingetragenen Graphen besteht, ist dabei selbst ein Graph. 59 Der Graphismus des Denkens liegt darin, dass der Umgang mit Graphen eine Essenz des Denkens bildet. Eine mit Graphen markierbare Blattfläche, eine Tafel ist daher ein originärer Ort verzeichneter Gedanken. Die Behauptung ist keine bloße Aussage, sondern ein Aufzeigen von Relationen, vom Übergang eines Gedankens in den nächsten, eine Struktur zwischen Objekten. Graphismus ist außerdem nicht nur eine Kulturtechnik, sich Zweidimensionales in dreidimensionaler Operation vorzustellen, sondern auch umgekehrt, Körper bzw. Netze in das Flächige zurückzuführen. “Denn es ist erst die Linie, die aus einer Oberfläche eine Fläche der Inskription werden lässt. Das Medium des Graphischen im Wechselspiel von Punkt, Strich und Fläche bildet somit das Herz der Diagrammatik. Es schlägt im Takt einer Erkenntniskraft der Linie.” 60 Graphen sind also das Grundelement des von Diagrammen in verschiedensten Zeichenformen durchzogenen Denkens. Peirce's diagrammatic turn, wenn man es so nennen will, lässt sich als epistemologische Ergründung einer Weise des Denkens verstehen, die mit Heidegger61 gesprochen das Weltbild als das Substanzielle hinter den Erscheinungen meint: nicht ein Bild von der Welt, vielmehr die Welt als Bild. Ein Diagramm ist nicht ein einfaches Image oder eine bildsprachliche Metapher einer Objektbezeichnung, sondern die Notation relationaler Strukturen, die im Vor-stellen etwas her-stellen. Neben der Epistemologie steckt demnach auch die von Peirce begründete Pragmatik in seiner Diagrammatik. Es geht nicht nur um die Visualisierung durch Diagramme, sondern um den operativen und explorativen Umgang mit ihnen, um die Verbindung von Anschauung 58 59 60 61 CP 4.418. CP 4.395ff. Krämer 2011. Heidegger 1977, 87f. 18 und Schlussfolgerung.62 Diagramme werden so zu einem entbergenden, ikonotechnischen Ge-stell des Denkens, das Anteile an symbolischer und indexikalischer Zeichensprache haben kann. Das Diagramm ist gewissermaßen selbst das Medium der Sprache, indem es ihr vorausgeht und zwischen den Symbolen selbst und zwischen ihnen und der Welt sinnhaft vermittelt. Denn an sich ist die “Sprache kein Medium, durch das wir hindurchschauen; sie vermittelt nicht zwischen uns und der Welt.” Für Davidson sehen wir vielmehr “die Welt genauso wenig durch die Sprache, wie wir die Welt durch unsere Augen sehen. Wir gucken nicht durch unsere Augen, sondern mit ihnen.”63 Das ikonische Diagramm dagegen - so steckt es schon in der Vorsilbe dia - hat diese Dimension des Durchgehenden,64 des Mittlers, indem eine Ähnlichkeit zum Objekt besteht bzw. hergestellt wird, aber auch zum zugrundeliegenden Schema. Man sieht durch das Diagramme hindurch in konzeptuelle Schemata im Sinne Kants: “Peirce hat als erster die diagrammatologische Bedeutung von Kants Schematismus erkannt. Kants [...] synthetische Urteile a priori haben das Fundament ihrer Notwendigkeit in konzeptuell‐ diagrammatischer Anschauung und Operation.” 65 Durch das Konkrete sieht man das Allgemeine, aber auch das Exakte der Implementierung. Diagramme sind immer auf einer Fläche notierte Schematisierungen, sie sind immer eingeschrieben in ein Material. Die hier konkretisierte Abstraktion lässt sowohl die Zufälligkeit des Denkschemas erblicken als auch das Logische. Sieht man in einem gezeichneten Graph einen mathematischen, spielt die konkrete Darstellung selbst aber zuerst keine Rolle, sondern macht das Denken anschaubar. Das Diagramm ist ein Schema des Denkens.66 Und dieses schematische Diagramm ist für Peirce, im Anschluss an Kant, immer ein Zeitbild: “Kant holds that all the general metaphysical conceptions applicable to experience are capable of being represented as in a diagram, by means of the image of time. Such diagrams he calls 'schemata.' The schema of the possible he makes to be the figure of anything at any instant. The schema of necessity is the figure of anything lasting through all time.” 67 62 63 64 65 66 67 Krämer 2011. Davidson 2008, 211. Eigene Kursivsetzung. Ernst 2010/11, o.S. Krämer 2009/10, o.S. Ebd. CP 2.385. 19 Diagramme sind in diesem Sinne immer Zeitmedien, in Denkschemata wie auch in Graphen: “[...] in our system of graphs, we shall be obliged still further to introduce the idea of time[...]. hypothetical propositions, unlike categoricals, essentially involve the idea of time. When this is eliminated from the assertion, they relate only to two possibilities, what always is and what never is.“68 Die aktuale Zeitlichkeit von Diagrammen ist eine Frage der phänomenologischen Kategorisierung. Erkenntniskategorien sind, wie syllogistische Schlüsse, nacheinander, kontinuierlich angelegt. Innerhalb der Kategorien, von der Ebene der Möglichkeit bis hin zur Notwendigkeit, gibt es jedoch Diskontinuitäten und Gleichzeitigkeiten. Diagramme lassen demnach beide Darstellungen zu, ganz so, wie es Babbage im Entwurf seiner Analytical Engine demonstrierte: “Alle 'gleichzeitigen und aufeinanderfolgenden Bewegungen, die 'jedes bewegliche Teil der Maschine zu jedem Zeitpunkt tat', sollen mit seinem Plan auf einen Blick sichtbar werden.”69 Ikonische Zeichenkonstitution findet nicht nur im topologischen Raum, sondern auch, entgegen Lessing70, in einem Zeitraum statt. Diagramme sind Zeitereignisse und Zeitfolgen, die die aisthetische Differenz zur Sprache unterwandern. 2.2 Historische und systematische Einordnung von Peirce's diagrammatischem Denken Peirce's Konzept des diagrammatic reasoning baut, über Kant, auf den logischen Idealismus der Antike auf. Im Zusammendenken schematischer und geometrischer Diagramme mit Logik wird der unsichtbare Geist des animal symbolicum (Cassirer) zu einem aufzeichenbaren Denkapparat (Freud), dessen Symbolverarbeitungsmechanismen Bilder vorausgehen. 2.2.1 Die Antike als Ausgangspunkt Bereits die griechische Mathematik beruhte auf der Anschauung. Vor der pythagoreischen Mathematik des Begrifflichen wurde nur geglaubt, was geometrisch darstellbar ist. Platons Menon ist eine der diagrammatischen Urszenen, mit der die Differenz von Wahrnehmbarem 68 CP 4.523. 69 Schäffner 2007, 316 (zitiert wird Charles Babbage [1826] aus: Über eine Methode Maschinenabläufe als Zeichen auszudrücken). 70 Lessing unterscheidet Bilder als Raummedien des Gleichzeitigen von der Sprache als Zeitmedium des Sequentiellen. Vgl. Lessing 1766. 20 und Denkbarem durch einen reflexiven Umgang mit geometrischen Figuren respektive ihren eindimensionalen Elementen überbrückt und gezeigt werden sollte, dass Erkennen mit Sehen zusammenhängt. Entsprechendes gilt für das Liniengleichnis: “Mit Hilfe topologischer Beziehungen werden theoretische Aussagen metaphorisch verdeutlicht: Was in der Nähe der Urbilder/Formen ist, ist besser als dasjenige, was sich ferner von diesen befindet.” 71 Graphen und Diagramme dienten also nicht der Darstellung des Exakten, sondern machten Seinsverhältnisse oder unharmonische Zahlenverhältnisse metaphorisch bezeichenbar. Das spricht gegen alle Physik, weil dort das Denken messbar sein muss. Entsprechend ließ der antike Medienbegriff auch noch keine technologische Anwendung zu. Griechische Ikonizität konnte nicht in logische Maschinen implementiert werden wie bei Peirce, nicht in mechanische und natürlich längst nicht in elektrische. Den Griechen kam es noch nicht darauf an, was auf dem Bild ist, sondern dass das Bild verbildlichtes Denken ist. So konnten auch aus der Entdeckung des Sinus als Verhältnis von Kathede und Hypothenuse im Dreieck keine Sinuskurven gebildet werden, keine Schwingungen - es gab noch keine geometrische Verzeitlichung. Das hat das geometrische Diagramm vom schematischen unterschieden. Erst als Nikolaus von Oresme im 14. Jhd. mit der Darstellung von Geschwindigkeit und Beschleunigung fester Körper den Zeitverlauf in die Geometrie brachte, kam die Mathematik darauf, dass generell eine Variable abhängig von einer anderen ist: y = f(x). Nur wurden die geometrischen Zeitbilder noch nicht in logische Maschinen implementiert. Diagrammatisches Denken war noch nicht operativ. Die radikale Gegenposition zum antiken Stellenwert geometrischer Anschauung nahm im 19. Jhd., etwa zeitgleich zu Peirce, David Hilbert ein, der Geometrie aus dem Axiomensystem symbolischer Mathematik erklären wollte. In seinen Grundlagen der Geometrie72 finden sich kaum Bilder. Die Veranschaulichung ist für Hilbert irrelevant, es geht ihm nur um logische Ableitungen der Beweise, weil Mathematik stabil gegen unpräzise Ähnlichkeit sein müsse.73 Die gleiche Position vertrat Maxwell in seinem Gründungsdokument der Elektrodynamik, als er mit seinen Gleichungen nachweisen wollte, dass Faradays Kraftlinien nicht getraut werden kann. Die Wahrheit stecke nicht in den 71 Krämer 2009/10a, o.S. 72 Hilbert 1899. 73 Coy 2005/06, o.S. 21 mechanischen Abbildern als “Repräsentanten der magnetischen Kraft”, den “Linien”, “Erscheinungen”, “Curven”74, sondern in unanschaulichen, mathematischen Symbolen.75 Peirce dagegen schätzt Maxwells Mathematisierung der Elektrizität nur ökonomisch rationaler für ihr Studium ein als Faradays Ikonisierung, nicht notwendiger.76 Wenn Peirce die geometrischen, eigentlich unsinnlichen Formen, die hinter allem liegen, aus der Schattenwelt der Lebewesen in einen geistigen Prozess wandelt77 und an die Beweisführung bindet, führt er antike Bildlogik, mittelalterliche Verzeitlichung und moderne Berechenbarkeit zusammen. Aus retinaler Verführung wird logische Vorführung. Wenn Platons Form in die Sinne geholt wird, ist diese nicht mehr Gegenstück zur Substanz, sondern formalisiertes Denkmaterial. Peirce's Diagramm ist als Raum- und Zeitmedium ästhetikologisches78 Mittel der Beweisführung. 2.2.2 Schematische und geometrische Figuren bei Kant Peirce bezieht sich direkt auf Kants epistemische Konzepte des Schematismus und die kategorischen Urteile, die wiederum auf Aristoteles zurückgehen. “Vor dem Hintergrund der Bedeutung die Kant für Peirce gehabt hat, könnte man fast sagen, dass dessen semiotische Erkenntnistheorie einen Versuch darstellt, Kants Ansatz auf der Basis des Begriffs schematischen oder diagrammatischen Schließens neu zu formulieren.” 79 Wie Kant geht Peirce davon aus, dass man nicht die Dinge direkt hervorbringt und erkennt, sondern über das Zeichen, das zwischen dem Objekt und dem Wahrnehmungsurteil steht. Der Zugang zu den Objekten erfolgt immer durch die Abbildung eines schematischen Perzeptes. Die Kritik der reinen Vernunft lässt sich mit Peirce so deuten, dass Vernunft auf diagrammatischem Schlussfolgern beruht, sei es in schematischen oder geometrischen Figuren. Die Konstruktion eines Diagramms ist das Medium zwischen Performativität und Operativität, zwischen Denken und Ausführung. Kant hatte in der philosophischen Suche nach der Bewegung des Begriffs bereits den epistemischen Stellenwert der antiken Geometrie erkannt: 74 75 76 77 78 79 Faraday 1851, 38 und 1896, 298ff.. Vgl. Maxwell 1861. Vgl. CP 4.242. Krämer 2009/10a, o.S. Bauer/Ernst 2010, Einleitung. Hoffman 2005, 8. 22 “Dem ersten, der den gleichseitigen Triangel demonstrirte (er mag nun Thales oder wie man will geheißen haben), dem gieng ein Licht auf; denn er fand, daß er nicht dem, was er in der Figur sahe, aber auch dem bloßen Begriffe derselben nachspüren und gleichsam davon ihre Eigenschaften ablernen, sondern durch das, was er nach Begriffen selbst apriori hineindachte und darstellte (durch Construction) hervorbringen müsse, und daß er, um sicher etwas a priori zu wissen, er der Sache nichts beilegen müsse, als was aus dem notwendig folgte, was er seinem Begriffe gemäß selbst in sie gelegt hat.”80 Demnach ist das epistemologische Moment nicht erst im Reasoning aus dem Diagramm oder dem Begriff (des Dreiecks) gegeben, sondern bereits in dem, was beim Entwurf begrifflich in selbiges hineingedacht wird. Bereits das Hervorbringen der Konstruktion ist logisches Denken. Das Hervorbringen einer sprachlichen Repräsentation unterscheidet sich für Kant in seiner epistemischen Beschränkung vom erkenntnisoffenen bildlichen Konstrukt. Während der Philosoph aus dem Begriff des Triangels nicht dessen Winkelsumme schließen könne, weil sich aus den Begriffen von Linie, Winkel und Zahl keine Eigenschaften außerhalb der Begriffe ableiten lassen, würde eine geometrische Erschließung des Begriffes die Auflösung ergeben: “Allein der Geometer nehme diese Frage vor. Er fängt sofort davon an, einen Triangel zu construiren. Weil er weiß, daß zwey rechte Winkel zusammen gerade so viel austragen, als alle berührende Winkel, die aus einem Puncte auf einer geraden Linie gezogen werden können, zusammen, so verlängert er eine Seite seines Triangels, und bekommt zwey berührende Winkel, die zweyen rechten zusammen gleich sind. Nun theilet er den äußeren von diesen Winkeln, indem er eine Linie mit der gegenüberstehenden Seite des Triangels parallel zieht, und sieht, daß hier ein äußerer berührender Winkel entspringe, der einem inneren gleich ist, u.s.w. Er gelangt auf solche Weise durch eine Kette von Schlüssen, immer von der Anschauung geleitet, zur völlig einleuchtenden und zugleich allgemeinen Auflösung der Frage.”81 Für Peirce bedeutet diese geometrische Genauigkeit noch keine mathematische: “We have no reason to think that the sum of the three angles of a triangle is exactly equal to two right-angles. All that we can say is that the excess or defect is proportional to the area of the triangle […] but its exact value is unknown to us..” 82 Die geometrische Exaktheit bleibt also eine strukturelle, eine der Ähnlichkeit, aber sie ist genauer als die sprachliche. Sprachzeichen können weiterhin nichts Neues hervorbringen, denn sie bezeichnen ja immer ein schon Seiendes. Diese Begrenzung wird auch darin deutlich, dass arbiträre Sprachsymbole mit der 80 Kant 1828, Vorrede xii. 81 Ebd., 549f. 82 EP I, 242. 23 Grammatik ein konventionelles System mit festem Zeichensatz bilden, das nur durch Neukombination erweitert Zeichenmöglichkeiten sui werden generis kann, eine wohingegen semiotische ikonische Offenheit Diagramme mit als unbestimmtem Rekonfigurationsspielraum besitzen. Diagramme sind die semiotische Realität83, die die Dinge überhaupt erst erkennbar machen, also hervorbringen, denn sie stellen der Wahrnehmung vorausgehende, apriorische Strukturen dar. Während ihr Gebrauch für Kant Mathematik und Philosophie unterscheidet, ist für Peirce alles Schlussfolgern diagrammatisch: “Kant is entirely right in saying that, in drawing those consequences, the mathematician uses what, in geometry, is called a 'construction', or in general a diagram, or visual array of characters or lines […], a precept furnished by the hypothesis. […] But Kant [...] fell into error in supposing that mathematical and philosophical necessary reasoning are distinguished by the circumstance that the former uses constructions. This is not true. All necessary reasoning whatsoever proceeds by constructions […].”84 Diese hervorbringende, hypothetische Erkenntnis diagrammatischer Konstruktionen leitet sich aus Kants Kategorientafel ab, die wiederum auf Aristoteles zurückgeht. Die Kategorien sind als apriorisch gegebene Werkzeuge vernünftigen Urteilens und Wahrnehmens zu verstehen. In dem Tafeldiagramm85 stellt Kant vier Kategoriengruppen der Erkenntnis auf, von denen Peirce die zwei hier vollständig dargestellten übernimmt. Die Funktionen der Kategorien (Quantität, [Qualität, Relation], Modalität) sind jeweils die Zusammenfassung einer Gruppe von drei Kategorien (Trias/Triade), bei denen sich jeweils der dritte Begriff aus den beiden ursprünglichen ableitet, also z.B. Allheit aus Einheit und Vielheit. Quantität (Qualität) (Relation) Modalität Einheit - - Möglichkeit Vielheit - - Dasein Allheit - - Notwendigkeit Abb. 4: Kategorientafel nach Kant 83 Vgl. Stjernfelt 2007. 84 CP 3.560. 85 Kant 1828, 78. 24 Peirce übernimmt auch Kants Definitionen der Kategorien: "'1. Was mit den formalen Bedingungen der Erfahrung (der Anschauung und den Begriffen nach) übereinkommt, ist möglich. 2. Was mit den materialen Bedingungen der Erfahrung zusammenhängt, ist wirklich. 3. Dessen Zusammenhang mit dem Wirklichen nach allgemeinen Bedingungen der Erfahrung bestimmt ist, ist (existirt) nothwendig' (Krit. d. reinen Vernunft, 1st ed., 219).”86 Entsprechend lässt sich ausgehend von Kant eine Tafel der peirceschen Zeichenklassen87 aufstellen. 2.2.3 Zeichensystem von Peirce Repräsentamen Objekt Interpretant (Zeichenträger ohne Bedeutung) (Zeicheninhalt, allgemeine Vorstellung des bezeichneten Gegenstandes) (Zeicheninterpretation, individuelle Offenheit der Zeichenbedeutung) Erstheit Qualizeichen Ikon Rhema (Ästhetik/ Wahrnehmung) - Möglichkeit Zeichenempfindung Zeichen ähnlich dem Objekt; Abbildung/ Image, DIAGRAMM, Metapher. (Tone) - Ähnlichkeit / Differenzialität Zweitheit Sinzeichen ZEICHEN einzelnes Zeichenobjekt (Wort) mit Interpretationsoffenheit (Term) Index (Ethik/ Emotion) Zeichenempfindung Zeichen gleich dem Dargestellten, mit Wirklichkeitsunmittelbarer /kausaler bzw. physikal. - Wirklichkeit bezug Ver-/Hinweis Dizent Zeichenbeziehung (Satz) mit Interpretationstatsache (Type) - Gleichheit (Proposition) Drittheit Legiszeichen Symbol Argument (Logik/ Konvention) mittelbare, Zeichen unähnlich dem Dargestellten, vereinbarte Zeichen durch Regeln festgelegt, z.B. GRAPH - Notwendigkeit (Token) - Unähnlichkeit / Gesetzmäßigkeit gesetzmäßige Zeichenbeziehung mit Interpretationsregel (Gleichung) Abb. 5: Zeichentafel nach Peirce, abgeleitet von Kants Kategorientafel 86 CP 2.385. 87 CP 2.223ff. 25 Diagramme werden also eingeordnet in die Kategorie der ästhetischen Möglichkeit. Dadurch unterscheiden sie sich als mathematische Schlussweise von purer Logik. Die Art des Zeichnens macht für Peirce den Unterschied zwischen einem Logiker und einem Mathematiker aus: “The one studies the science of drawing conclusions, the other the science which draws necessary conclusions. […] Mathematics is purely hypothetical: it produces nothing but conditional propositions. Logic, on the contrary, is categorical in its assertions.” 88 Im Gegensatz zu logischen kategorischen Behauptungen sind Diagramme als Qualizeichen rhematisch und damit weder wahr noch falsch. Erst die Beobachtung und Prüfung der hervorgebrachten Hypothese lässt exakte Schlüsse zu. Symbole können nur ausdrücken, was bereits notwendigerweise bekannt ist, Indizes können uns keine Einsicht in ihre Objektstruktur geben, das Hervorbringen von Ikons aber ermöglicht die hypothetische Abduktion. Diagramme verlangen kein tatsächliches Objekt wie Indizes, ihre Objekte brauchen nur die Ebene der logischen Möglichkeit als ontologische Basis, von der aus mathematisch geschlussfolgert werden kann. Trotzdem trügt die aus den verschiedenen Weisen des Zeichnens entstehende topologische Entfernung der ikonischen Möglichkeit zur Logik, denn Logik umfasst, weil sie nichts anderes als formale Semiotik ist, alle Kategorien und damit potentiell das gesamte semiotische Spektrum: “In a perfect system of logical notation signs of these several kinds must all be employed”.89 Alle Zeichen sind degeneriert von dieser Ebene. Entscheidend sind in diesem System von Zeichenvermischungen und -ableitungen die eigendynamischen Verbindungen zwischen den einzelnen Systemklassen, die aus dem Prozess der Zeichenkonstitution und der Eigenrealität der Zeichen entstehen. Wollte man diese Dynamik herausstellen, müsste das Verfahren des diagrammatical reasoning selbst, also die Entwicklung verschiedener Graphen und Gleichungsableitungen, auf die Matrix angewendet werden, so wie es etwa Bense machte.90 Man könnte fast sagen, dass Bense Peirce gegen Peirce las, als er im Versuch, dessen gesamte Semiotik graphisch und algebraisch zu formalisieren, die einzelnen Elemente nummerierte und mit verschiedensten Figuren wie Linien oder einem Möbiusband logisch erkundete. Die Zeichenklassen sind jedenfalls idealtypisch zu verstehen, weil einzelne 88 POM 33. 89 CP 3.363. 90 Bense 1987, 19-27. 26 Zeichen wie Diagramme immer auch Anteil an den anderen Klassen haben (können). Semiotik ist das dynamische System der Semiose, der Prozess der ständigen Zeichenkonstitution und -interpretation, der, im Diagramm gesehen, in alle Richtungen verläuft. Besonders das Diagramm kann geradezu synästhetisch sein, indem es sowohl visuell-räumliche wie auditorisch-zeitliche und taktil-räumliche Modalitäten umfasst. 91 Diagramme werden besonders durch ihre Nähe zur Zeichenmöglichkeit, frei nach McLuhan, zu cool media: Die ästhetische Ergänzungsleistung einer Skizze, so sehr sie auch kalkuliert sein mag, macht einen gesamten ästhetischen Einbezug möglich, erwirkt dadurch aber auch eine Unbestimmtheit der diagrammatischen Semiotizität: Existenzgraphen sind somit, auch wenn sie als Legizeichen gelten können, nur als Zeichen bestimmbar, wenn man die genaue Objekt- und Interpretantenebene des Zeichens bestimmt. Ein Zeichen hat bei Peirce nicht nur ein Objekt und einen Interpretant, sondern ein immediates Objekt (das Objekt wie es das Zeichen repräsentiert) und ein dynamisches Objekt (das reale Objekt), sowie ein immediaten Interpretant (Zeichenbedeutung), einen dynamischen Interpretant (aktualer Zeicheneffekt), einen finalen Interperetant (vom Zeichen repräsentiertes Verhältnis des Zeichens zum Objekt). Die Ikon-Index-Symbol-Unterscheidung hängt also ab vom Verhältnis des Zeichens zum dynamischen Objekt.92 Die zeitliche Bewegung im Zeichensystem, die Gesamtdynamik erzwingt diese Wandelbarkeit der Zeichen. Enstsprechend besteht ein ikonisches Diagramm-tone potentiell etwa aus tokens (Symbole wie Buchstaben und Operatoren, Graphen) und types wie Indizes (wie verbindungsanzeigenden Linien)93 - so wie es auch in der Matrix ersichtlich ist. Wenn in Diagrammen mathematische, abstrakte Kategorien gebildet werden, haben diese trotzdem Anteil an begriffslogischen Real-World-Kategorien und unterlaufen damit die Dichotomie zwischen Mentalität und Materialität der Zeichen. Außerdem wird in dem Diagramm das Potential der Zeitdarstellung aus der Position der Zeichen ersichtlich: Zwar trifft durchaus Lessings Ansicht der Darstellung der Juxtaposition durch die ikonischen Elemente zu, aber es wird auch die Serialität etwa der nacheinandergeordneten Kategorien, die diagrammatische Komposition deutlich. 91 CP 3.418. 92 CP 4.535f. 93 Tone, type, token: CP 4.537. 27 2.3 Semiose Ein letzter Punkt zum Verständnis der Diagrammatik von Peirce ist schon angeklungen, muss aber noch explizit gemacht werden: die Bewegung im Zeichensystem. Peirce versteht jedes Schlussfolgern aus Zeichen als Semiose bzw. Semiosis. Das bedeutet, die Bildung einer Zeichentrias ist nur ein vorübergehender Moment, denn jede interpretierte Vorstellung eines Objektes wird selbst wieder zum interpretierbaren Zeichen. Vorstellungen sind demnach einerseits Medien zwischen Bedeutung und Zeichenträger, Medien des anschaulichen Denkens, andererseits aber auch Denkgegenstände, da jede Vorstellung zum auslösenden Zeichen weiterer Vorstellungsprozesse werden kann. Peirce's Semiotik geht also nicht von gegebenen Zeichen aus, sondern vom performativen Vollzug der Zeichenkonstitution. Ein Zeichenträger stellt demnach einen Bezug zu einem Objekt her und wird schließlich interpretiert. Soll eine Zeichenbildung zustandekommen, müssen alle drei Ebenen einbezogen sein. Trotzdem wird die Zeichentrias aus Repräsentamen, Objekt und Interpretant gern analytisch aufgelöst und entweder nur auf einer Ebene betrachtet, vornehmlich auf Objektebene mit Ikon, Index, Symbol, oder auf Ebene des Interpretanten, denn “Nothing is a sign unless it is interpreted as a sign”94. Tatsächlich scheint diese Verkürzung auch in der diagrammatischen Interpretation der Semiotik von Peirce begründet zu sein. Peirce hat selbst kaum Diagramme zur Erläuterung seiner Zeichentheorie benutzt. Verbreitet hat sich die Lesart, die Trias der Zeichenkonstitution mit Graphen als Dreieck darzustellen95, was impliziert, dass eine alleinige Bindung zwischen zwei Ebenen unter Ausschluss der dritten möglich ist. Gerade der Interpretant stellt bei Peirce selbst jedoch nur ein syntaktische Information dar, die erneut interpretiert werden muss. Ein Zeichen ist keine natürlich vorhandene Entität, sondern wird erst in der “action” von “sign, its object, and its interpretant” 96 konstituiert. Im Mittelpunkt steht für Peirce nicht das Zeichen als solches, sondern die theoretisch endlose Operation der Zeichenkonstitution im Denken, die Semiose: “semiotics is the doctrine of the essential nature and 94 95 96 97 fundamental varieties of possible semiosis”. 97 Gerade durch die CP 2.172. Bense 1971. CP 5.484. CP 5.488. 28 Interpretantenabhängigkeit von Zeichen ist die Semiotik von Peirce kein starrer Akt der pragmatischen Interpretation einer bestimmten Objektsemantik, sondern ein operativer Vollzug, der das Denken als kommunikativen Akt dynamischer Zeichenübertragung beobachtbar macht. Beobachtbar wird ein Zeichen natürlich nur, wenn der Akt seiner endlosen Übertragung in einem idealen Zeichen aufgehoben oder logisch beendet und der dynamische Interpretant somit aufschreibbar wird. Der finale Interpretant, wie eben ein bestimmtes Diagramm, ist das ideale Resultat der Zeichenwirkung oder, wie bei Begriffen, logisches Konstrukt, das prinzipiell immer weiter interpretiert werden kann. Die Interpretationsoffenheit von Diagrammen begründet sich demzufolge nicht nur dadurch, dass die Eindeutigkeit des Wissens umgekehrt proportional zum Grad der Ikonizität verläuft, sondern auch im Prozess der Semiose, der den Prozess der abduktiven Produktion und deduktiven Beobachtung rekursiv unterläuft. Fazit In der Verfolgung der anfangs aufgestellten These, dass jede vernünftige Schlussfolgerung auf ein Beobachten von Beziehungen, auf Diagramme zurückgeführt werden kann und diese immer in einem Medium verortbar sind, ist spätestens zum Ende eines deutlich geworden: Jede epistemologische Diagrammatik agiert ihrerseits mit Diagrammen, unterläuft sich also selbst. Ohne einige Schautafeln hätte die Komplexität der Diagrammatik kaum dargestellt werden können, weil eben das Bildliche dem Sprachlichen vorausgeht. Art und Gegenstand der Beobachtung, Vorstellung und Darstellung, Ding und Medium sind hier nicht nur verbunden, sondern rekursiv verschachtelt. Jede Schlussfolgerung ist mit Peirce diagrammatisch, also muss jede Thesenausfaltung ein System der Diagrammatisierung bilden, durch das der Verlauf des Denkens mit einer gewissen Genauigkeit dargestellt wird. Was hier auf dem Papier geschehen ist, ist nichts anderes, als der Versuch, aus der Verbindung verschiedener Aussagen logische Schlüsse zu ziehen. Das entspricht der Struktur einer logischen Maschine, dem Prinzip implementierter Syllogistik, so wie sie Peirce erstmals in einen Schaltkreis baute. Dieses Verfahren, eine logische Annahme symbolisch zu konstruieren, mit dem Konstrukt zu kalkulieren und die Ergebnisse zu beobachten, hat Peirce im Kern 29 seiner Semiotik als diagrammatic reasoning erstmals theoretisch entwickelt. Praktisch ist es das, was Shannon, Turing und von Neumann ein halbes Jahrhundert später ausdifferenzierten und zum heutigen Computer machten. Dieses Operativwerden diagrammatischer Notationen ist ein Grundmerkmal technologischer Medien. Die praktische Elektrisierung des Diagrammatischen ist dasjenige, was Peirce zwar vom Prinzip her entwickelte und auf dem Papier zum Laufen brachte, was aber erst im 20. Jahrhundert physikalisch wurde. Peirce hat mit seiner Diagrammatik bereits die logischen Voraussetzungen dafür geschaffen: die temporale Operativität von Schaltkreisen, die Medien zu Zeitmaschinen werden lässt. Die Papiermaschine kann nur in der Zeit operativ werden, und diese Verzeitlichung physikalischer Ikonisierungen ist nicht nur eine Frage des Mathematisch-Logischen, sondern auch eine des Phänomenologischen, des Epistemologischen und des Ästhetikologischen. Das Schlussfolgern als solches bildet hier einen Regelkreis von Theorie und Praxis, Denken und Pragmatik. Das Handeln muss also selbst wieder geprüft werden, Diagramme dienen zuallererst dem Durchspielen von Optionen, bevor sie sich auf mathematische und naturwissenschaftliche Gesetze anwenden lassen und trotzdem liegt hierin bereits etwas Entropisches. Das Potential von Peirce's Diagrammatik liegt darin, dass Diagramme auf der abduktiven Ebene des Hervorbringens von etwas stehen, das im Moment der Konstruktion noch nicht denkbar war. Damit demonstriert das Ikon die Überraschung in der Übertragung. Die ästhetische Information wird zur Wahrscheinlichkeit. Im Wechsel von graphischer Aktion und Reaktion machen Diagramme dem Geist Dinge sichtbar, die man sonst nicht erkennen könnte, sie kosntruieren ein Weltbild. Diagrammatik ist damit auch ein Stück weit als instrumenteller Konstruktivismus verstehbar. Diagramme gehen dem Denken als Schema voraus, bilden es aber auch reflektiv ab. Die semiotische Vielfalt, die Diagramme einnehmen können, das ikonische Zeichen im Prozess der Semiose, unterläuft nicht nur die Bindung an Objekt und Vorstellung, Materialität und Mentalität, sondern auch die semiotische Kategorisierung. Diagramme pendeln zwischen Bild, Sprache, Zahl und Ton, zwischen Ikonisierung, Symbolisierung und Indizierung. Das Denken wird hier zu einer Bewegung des Verbindens, zu einem beobachtenden Vergleich von Ungleichem. Das Diagramm fixiert das Analogische im Logischen. 30 Literatur Bauer, Matthias / Ernst, Christoph (2010): Diagrammatik. Einführung in ein kultur- und medienwissenschaftliches Forschungsfeld. Transcript, Bielefeld. 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