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Jahrbuch 2009/2010 | Feufel, Markus; Gigerenzer, Gerd | W ie informiert ist die europäische Öffentlichkeit über
den Nutzen der Früherkennung von Brust- und Prostatakrebs?
Wie informiert ist die europäische Öffentlichkeit über den Nutzen
der Früherkennung von Brust- und Prostatakrebs?
Public Knowledge of Benefits of Breast and Prostate Cancer
Screening in Europe
Feufel, Markus; Gigerenzer, Gerd
Max-Planck-Institut für Bildungsforschung, Berlin
Korrespondierender Autor
E-Mail: [email protected]
Zusammenfassung
W issenschaftler
Bildungsforschung
des
Harding
Zentrums
untersuchten,
w ie
gut
für
Risikokompetenz
die
europäische
am
Berliner
Öffentlichkeit
Max-Planck-Institut
über
den
Nutzen
für
der
Krebsfrüherkennung informiert ist. An der Studie nahmen mehr als 10.000 Bürgerinnen und Bürger aus neun
europäischen Ländern teil. Die Ergebnisse verblüffen: Die Europäer erw eisen sich als mangelhaft informierte
Optimisten in Sachen Früherkennung.
Summary
Researchers of the Harding Center for Risk Literacy at the Max Planck Institute for Human Development in
Berlin asked more than 10,000 individuals in nine European countries about their know ledge of the benefits of
early detection screening for cancer. It turns out that Europeans are poorly informed optimists w hen it comes
to early detection screening.
Das Arzt-Patienten-Verhältnis hat in den letzten Jahrzehnten einen substanziellen Wandel erlebt. Vor den
1950er-Jahren w ar dies ein sehr einseitiges Verhältnis, in dem der Arzt fast ausschließlich alleine entschied
und versuchte, potenziell negative Information vom Patienten fernzuhalten. Heute hingegen legen viele
Patientinnen und Patienten nicht nur großen Wert darauf, mit in die Entscheidung einbezogen zu w erden,
sondern haben auch das Anrecht, von medizinischer Seite über die Vor- und Nachteile einer medizinischen
Behandlung aufgeklärt zu w erden (Berufsverordnung deutscher Ärzte §8: Aufklärungspflicht). In Deutschland
hat das Bundesministerium für Gesundheit die
Stärkung der Patientensouveränität zum „nationalen
Gesundheitsziel“ erklärt. Aber sind die Bürgerinnen und Bürger in Deutschland und Europa w irklich
ausreichend informiert, um kompetent entscheiden zu können?
In Ländern mit modernen Gesundheitssystemen müssen Frauen und Männer zum Beispiel entscheiden, ob sie
an regelmäßigen Untersuchungen zur Früherkennung von Brust- oder Prostatakrebs teilnehmen möchten. Da
diese Untersuchungen mit Risiken, w ie zum Beispiel Überbehandlung, verbunden sind, müssen Patienten den
potenziellen Nutzen dieser Untersuchungen kennen, um angemessene Entscheidungen treffen zu können.
Idealerw eise sollten Ärzte, Informationsbroschüren und andere Informationsquellen Patienten helfen, den
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Nutzen solcher Untersuchungen richtig einzuschätzen. Jedoch zeigen Umfragen, dass zum Beispiel 56 Prozent
der
deutschen
Frauen
fälschlicherw eise
der
Meinung
sind,
dass
Brustkrebs
durch
Früherkennungsuntersuchungen (Mammografie) verhindert w erden kann [1].
Eine Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung erfasste, w as Bürger in neun europäischen
Ländern über den Nutzen der Krebsfrüherkennung w issen [2]. Die Studie beantw ortete zw ei Fragen:
1. Schätzen Frauen den Nutzen der Mammografie und Männer jenen des prostataspezifischen Antigen-Tests (PSATest) realistisch ein?
Dazu
w urden
Teilnehmerinnen
und
Teilnehmer nach
dem Nutzen
in
Form der oft
kommunizierten
krebsspezifischen Sterblichkeitsreduktion (nicht nach der Reduktion der Gesamtkrebssterblichkeit) befragt.
2. Woher beziehen Bürger ihre Informationen?
In diesem Zusammenhang w urde auch untersucht, ob die Häufigkeit, mit der man Informationen von einer
bestimmten
Quelle
erhält,
das
Verständnis
des
tatsächlichen
Nutzens
der
betreffenden
Früherkennungsuntersuchung verbessert.
Für die Studie w urde eine repräsentative Gruppe von insgesamt 10.228 Personen aus acht EU-Ländern
(Deutschland, Frankreich, Großbritannien, Italien, Niederlande, Österreich, Polen und Spanien) und dem
europäischen Teil Russlands befragt. Die Daten w urden durch die Gesellschaft für Konsumforschung e.V. (GfK)
von September bis Dezember 2006 als Teil der europäischen Verbraucherstudie 2007 erhoben [3].
Wie viel wissen Frauen über den Nutzen des Mammografie-Screenings zur Früherkennung von
Brustkrebs?
Studien zeigen, dass ohne Mammografie etw a 5 von 1.000 Frauen an Brustkrebs sterben. Mit Mammografie
sterben etw a 4 von 1.000 Frauen an Brustkrebs. Die Reduktion der Brustkrebssterblichkeit durch Mammografie
entspricht folglich einer Brustkrebstoten w eniger auf je 1.000 Frauen mit regelmäßiger Mammografie (Abb. 1).
Insgesamt haben dies nur 1,5 Prozent der befragten Frauen richtig eingeschätzt. Dass Mammografien keinen
Einfluss auf die Brustkrebssterblichkeit haben, gaben 6,4 Prozent der Frauen an. Die große Mehrheit der
Frauen (etw a 92 Prozent) überschätzte den Nutzen um mindestens das Zehnfache oder konnte keine Antw ort
geben. In EU-Ländern (ohne Russland) w ar dieser Anteil noch höher (etw a 96 Prozent). In Russland hingegen,
w o Mammografietechnik nicht überall verfügbar ist, w ar die Anzahl derjenigen, die deren Nutzen überschätzt
haben, mit 82 Prozent am geringsten.
W isse nscha ftlich be stä tigte Za hle n zur Ste rblichk e itsre duk tion
durch re ge lm ä ßige Ma m m ogra fie [4].
© Ma x -P la nck -Institut für Bildungsforschung
Die größte Überschätzung w urde in Frankreich, den Niederlanden und Großbritannien beobachtet, w o mehr als
40 Prozent der Teilnehmerinnen schätzten, dass sich die Sterblichkeit um 100 bis 200 pro 1.000
Brustkrebstote reduziert. In diesen drei Ländern ist der Anteil der Frauen, die sich regelmäßig einer
Mammografie
unterziehen,
generell
hoch.
Interessant
ist
auch,
dass
in
der
Hauptzielgruppe
für
Brustkrebsfrüherkennung (Frauen zw ischen 50 und 69 Jahren) mehr Frauen den Nutzen überschätzt haben
als in der Gruppe der jüngeren Frauen. In allen Ländern (außer Russland) w ar bei den 50- bis 69-Jährigen der
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Anteil der Frauen, die den Nutzen richtig eingeschätzt haben, geringer als in allen anderen Altersgruppen.
Wie viel wissen Männer über den Nutzen von PSA-Tests zur Früherkennung von Prostatakrebs?
W isse nscha ftlich be stä tigte Za hle n zur Ste rblichk e itsre duk tion
durch re ge lm ä ßige P SA-Te sts, e rm itte lt durch e ine
e uropä ische und e ine US-a m e rik a nische Studie [5, 6]. Die
e uropä ische und die Studie in de n USA unte rsche ide n sich in
Be zug a uf die Unte rsuchungshä ufigk e it de r P roba nde n m it
P SA-Te sts (unge fä hr a lle 4 Ja hre für die 9 Ja hre da ue rnde
e uropä ische Studie und je de s Ja hr für die 6 Ja hre da ue rnde
Studie in de n USA).
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Die beste Schätzung des Nutzens der sogenannten PSA-Tests ist kein oder ein Prostatakrebstoter w eniger
unter 1.000 Männern, die sich dieser Untersuchung regelmäßig unterziehen. Unter den Männern haben nur 11
Prozent
die
ungefähre
Reduktion
der Prostatakrebssterblichkeit
durch
PSA-Tests
(0
bis
1
w eniger
Prostatakrebstote auf je 1.000 Männer mit regelmäßigem PSA Test, Abb. 2) richtig eingeschätzt. W ie bei den
Frauen hat die große Mehrheit (89 Prozent) den Nutzen überschätzt oder w usste keine Antw ort. In Frankreich,
Österreich, den Niederlanden, Spanien und Großbritannien überschätzten zw ischen 34 und 41 Prozent der
Männer den Nutzen von PSA-Tests auf 100 bis 200 w eniger Prostatakrebstote. Mit 77 Prozent w ar der
prozentuale Anteil von zu optimistischen Schätzungen in Russland am geringsten. Ähnlich w ie bei den Frauen
w ar bei den 50- bis 69-Jährigen der Anteil derjenigen, die den Nutzen von PSA-Tests richtig einschätzten, nicht
besser als für Männer insgesamt. Der Anteil an Männern, die (richtig) schätzten, dass entw eder ein oder kein
Leben gerettet w ird, sank von 11 Prozent in allen Altersgruppen auf 9 Prozent für Männer im Alter zw ischen 50
und 69 Jahren.
Sorgt mehr Information für eine bessere Einschätzung?
Die Antw ort ist nein. W ie oft Frauen in Deutschland, Frankreich, Großbritannien Österreich, Polen, Russland
und Spanien eine Quelle konsultierten, w ar für keine Informationsquelle mit einer besseren Einschätzung des
eigentlichen
Nutzens
korreliert.
Gesundheitsorganisationen
lesen
Im
Gegenteil,
oder
häufiger
deutsche
ihren
Frauen,
Hausarzt
oder
die
häufiger
ihren
Broschüren
Apotheker
von
konsultieren,
überschätzten den Nutzen von Früherkennung stärker als Frauen, die sich seltener über diese Quellen
informieren. Die einzigen Quellen, deren häufige Verw endung mit einer verbesserten Einschätzung des
Nutzens im Zusammenhang stand, w aren die Verbraucherberatung in den Niederlanden und Italien sow ie die
Patientenberatung und Selbsthilfegruppen in Italien.
Ähnliche Ergebnisse ergaben sich für den PSA-Test. Für österreichische, deutsche, niederländische, russische
und spanische Männer gab es keine einzige Informationsquelle, bei der eine größere Verw endungshäufigkeit
mit einer verbesserten Einschätzung des Nutzens der Prostatakrebsfrüherkennung einherging. Mit einer
verbesserten Einschätzung des Nutzens w aren lediglich Informationen von Krankenversicherungen in
Frankreich, Polen und Italien assoziiert sow ie Informationen aus dem Radio in Großbritannien.
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Wir brauchen transparente Informationen über den Nutzen der Krebsfrüherkennung
Diese Studie hat gezeigt, dass die Mehrheit der Bürger von neun europäischen Ländern den Nutzen von
Mammografie und PSA-Test nicht kennt, einschließlich der Frauen und Männer zw ischen 50 und 69 Jahren,
denen diese Untersuchungen oft empfohlen w erden. Um informierte und rationale Entscheidungen treffen zu
können, ist die adäquate Kenntnis des Nutzens jedoch unerlässlich. Für Bürger aus allen an dieser Studie
beteiligten Ländern w aren w eder die häufige Konsultation von Gesundheitsbroschüren noch häufige
Hausarztbesuche mit einem besseren Verständnis des Nutzens verbunden. Im Gegenteil: Der generelle Trend
w ar ein leicht positiver Zusammenhang zw ischen der Überschätzung des Nutzens dieser Verfahren und der
Konsultationshäufigkeit von Hausärzten sow ie dem Lesen von Gesundheitsbroschüren.
Aus der vorliegenden Studie ist nicht direkt ersichtlich, w arum Frauen und Männer den Nutzen von
Früherkennungsuntersuchungen so stark überschätzen. Jedoch geben Studien zur Risikokommunikation [7]
Hinw eise auf potenzielle Ursachen und Lösungen. Auf der einen Seite w aren Ärzte neben Familie und
Freunden die meistgenannte Informationsquelle. Studien haben belegt, dass Ärzte oft selbst nicht über den
Nutzen von Früherkennung Bescheid w issen und damit möglicherw eise zur Fehlinformation der Bevölkerung
beitragen [7, 8].
Auf der anderen Seite haben Broschüren- und Medienanalysen gezeigt, dass medizinische Sachverhalte oft in
verw irrender Form dargestellt w erden [7]. Zum Beispiel ist gut belegt, dass sow ohl Patienten als auch Ärzte
Risiken besser einschätzen können, w enn diese als absolute Risikoreduktion (etw a von 5 auf 4 Krebstote von
1.000 untersuchten Personen) statt als relative Risikoreduktion (20 Prozent w eniger Krebstote) dargestellt
w erden. Die Studie des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung hat gezeigt, w ie w ichtig und notw endig
eine verbesserte Kommunikation des Nutzens (aber auch der Risiken) von medizinischen Untersuchungen ist.
Die in neun europäischen Ländern verfügbaren Informationsquellen sind bislang nicht geeignet, die
w issenschaftlichen Erkenntnisse auf verständliche Weise an die Bürgerinnen und Bürger zu vermitteln. Somit
sind die Voraussetzungen für informierte Entscheidungen durch informierte Patienten und Ärzte in Europa
bisher nicht vorhanden.
Originalveröffentlichungen
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Editor)Personenerw eiterungPublikationserw eiterungTeaser
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[1] I. Naß-Griegoleit, B. Schultz-Zehden, M. Klusendick, J. Diener, H. Schulte:
Studie belegt hohe Akzeptanz des Mammographie-Screenings bei Frauen: Ergebnisse der ersten
repräsentativen Studie in Deutschland.
Frauenarzt 50(6), 494–501 (2009).
[2] G. Gigerenzer, J. Mata, R. Frank:
Public knowledge of benefits of breast and prostate cancer screening in Europe.
Journal of the National Cancer Institute 101(17), 1216–1220 (2009).
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[3] GfK-Nürnberg e.V., R. Frank:
Health in Europe.
European Consumer Study 2007 [in German]. GfK-Nürnberg, Nürnberg 2007.
[4] P.C. Gøtzsche, M. Nielsen:
Screening for breast cancer with mammography.
Cochrane Database Syst Rev. 4 (2006): CD001877.
[5] F. H. Schröder, J. Hugosson, M. J. Roobol et al.:
Screening and prostate-cancer mortality in a randomized European study.
New England Journal of Medicine 360(13), 1320–1328 (2009).
[6] G. L. Andriole, R. L. Grubb, S. S. Buys et al.:
Mortality results from a randomized prostate cancer screening trial.
New England Journal of Medicine 360(3), 1310–1319 (2009).
[7] G. Gigerenzer, W. Gaissmaier, E. Kurz-Milcke, L. M. Schwartz, S. Woloshin:
Helping doctors and patients to make sense of health statistics.
Psychological Science in the Public Interest 8(2), 53–96 (2007).
[8] H. G. Welch:
Should I Be Tested for Cancer?
University of California Press, Berkeley, CA 2004.
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