Festrede - Fakultäten der Humboldt

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Festrede - Fakultäten der Humboldt
Erdmut Wizisla
„empört euch der himmel ist blau“
Rede zur Absolventenfeier der Philosophischen Fakultät II der HumboldtUniversität zu Berlin am 10. Juli 2013
Sehr geehrte Frau Dekanin, liebe Kolleginnen und Kollegen,
liebe Eltern, Geschwister, Verwandte und Freunde der heute hier zu Ehrenden,
liebe Absolventinnen und Absolventen!
Sie haben es geschafft. Ein kleiner Schritt für die Menschheit, aber ein riesiger Sprung für
jede und jeden von Ihnen. Die Humboldt-Universität zu Berlin hat Ihnen einen
akademischen Grad verliehen. Darauf dürfen Sie stolz sein. Ob Sie diese Alma Mater nun
verlassen oder hier einen weiteren Studiengang anschließen: In jedem Fall begeben Sie
sich ins Offene, Sie betreten einen unbekannten Raum. Möge er Gutes für Sie
bereithalten. Ich schließe mich gern den Glückwünschen unserer Dekanin an.
Ihre Abschlussarbeit sollten Sie ordentlich zur Seite legen. Die wollen Sie vielleicht
später Ihren Enkeln zeigen, wenn an den Universitäten ganz andere Dinge als Seminarund Magisterarbeiten verlangt werden. Vorlesungsmitschriften können, wenn Sie die
Metallteile entfernt haben, in die blaue Tonne. Selbst wenn Sie im Fach bleiben: Sie
werden sich den gleichen Stoff beim nächsten Mal anders aneignen. Lehrbücher, die nur
Lehrbücher und sonst nichts waren, haben Sie schon auf eBay vertickt, oder Sie sollten
es machen, ehe das alle tun und die Preise sinken.
Werfen Sie ab, woran Sie schwer getragen haben. Neues kann beginnen. Plötzlich
wird dir klar, was du die ganze Zeit vergessen hattest zu tun. Du schmeckst, riechst,
fühlst wieder, du hörst Musik, die du schon lange kennst, völlig neu. Und Du willst über
Filme reden, bis die Nacht vorbei ist. Du lebst wieder.
Der Himmel ist blau. Damit ist eines meiner beiden Stichwörter schon gefallen. Sie
haben sich diese Jahreszeit verdient, und Sie werden sie jetzt anders erleben. Und Sie
sind vielleicht bereit, etwas Wunderbares über den Sommer zu hören – ein kleines Stück
aus einem Brief von Franz Kafka, der beinahe Germanistik studiert hätte, an Max Brod
von Ende August 1904:
„Es ist sehr leicht, am Anfang des Sommers lustig zu sein. Man hat ein lebhaftes
Herz, einen leidlichen Gang und ist dem künftigen Leben ziemlich geneigt. Man erwartet
Orientalisch-Merkwürdiges und leugnet es wieder mit komischer Verbeugung und mit
baumelnder Rede, welches bewegte Spiel behaglich und zitternd macht. Man sitzt im
durcheinandergeworfenen Bettzeug und schaut auf die Uhr. Sie zeigt den späten
Vormittag. Wir aber malen den Abend mit gut gedämpften Farben und Fernsichten, die
sich ausdehnen. Und wir reiben unsere Hände vor Freude rot, weil unser Schatten lang
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und so schön abendlich wird. Wir schmücken uns in der innern Hoffnung, dass der
Schmuck unsere Natur werden wird. Und wenn man uns nach unserem beabsichtigten
Leben fragt, so gewöhnen wir uns im Frühjahr eine ausgebreitete Handbewegung als
Antwort an, die nach einer Weile sinkend wird, als sei es so lächerlich unnötig, sichere
Dinge zu beschwören.“
Knapp zwei Jahre später, im Juni 1906, wurde Franz Kafka von der „k. k.
deutschen Karl-Ferdinands-Universität zu Prag“ – übrigens ohne eine Dissertation
geschrieben zu haben – zum Doktor der Rechte promoviert.
Es war kein leichter Weg dorthin. Wir werfen einen kurzen Blick darauf, weil Kafka
etwas über Studierende gesagt hat, das ich mir mit Ihnen gemeinsam ansehen will. Denn
eine Schwellensituation wie Ihre ist doch nicht nur offen für Rückschau und Ausblick in
eigener Sache, sondern sie lädt auch zum Vergleich ein. Durch das Abitur war Kafka nach
eigenem Bekunden „wirklich schon zum Teil nur durch Schwindel“ gekommen. Von der
Idee, Germanistik zu studieren, wandte er sich enttäuscht ab; „Germanistik“, rief er ihr
nach, „in der Hölle soll sie braten“. Kafka fand sich nicht gerade glücklich in die
Arbeitswelt hinein: Eine „eigentliche Freiheit der Berufswahl gab es für mich nicht“,
notierte er, „ich wußte: … es handelt sich also darum, einen Beruf zu finden, der mir …
diese Gleichgültigkeit am ehesten erlaubt. Also war Jus das Selbstverständliche“ –
gemeint ist die Juristerei, also Jura.
Im Herbst 1905 begannen für Kafka jene „paar Monate vor den Prüfungen, in
denen ich mich unter reichlicher Mitnahme der Nerven geistig förmlich von Holzmehl
nährte, das mir überdies von tausend Mäulern vorgekaut war“. „Kein Mitleid“ wollte er,
wenn er zu lernen hatte: „es ist so schön Überflüssiges für schön Überflüssiges“.
Wie eine Zusammenfassung von Kafkas Universitäten liest sich ein bitterer Satz
aus den Hochzeitsvorbereitungen auf dem Lande: „Soweit ich es erfahren habe, arbeitet
man sowohl in der Schule als auch zu Hause darauf hin, die Eigentümlichkeit zu
verwischen.“
Da muss es doch verblüffen, wenn wir eine spätere Äußerung dieses Franz Kafka
lesen. Sie stammt vom 30. Juli 1916, zehn Jahre, nachdem Kafka die Universität
verlassen hatte, ist gerichtet an Felice Bauer, mit der er gerade zum zweiten Male verlobt
war, und sie betrifft die Frage, wer sich im Umkreis des Jüdischen Volksheims in Berlin
um die Kinder ostjüdische Kriegsflüchtlinge kümmern solle. Die Hilfe war anfangs von
Studierenden organisiert worden, und über die sagt Kafka etwas Bemerkenswertes:
Studentinnen und Studenten seien „die durchschnittlich selbstlosesten, entschlossensten,
unruhigsten, verlangendsten, eifrigsten, unabhängigsten, weitsichtigsten Menschen“.
Hatte der Rückblick die Erinnerung in milderes Licht getaucht? Oder wusste Kafka,
dass das Elend der Schul- und Studienjahre dem eigentlichen, von ihm so hoch
geschätzten Charakter der Studierenden nichts ausmachen konnte? Ich nehme den Satz
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als eine Art Wünschelrute, und gehe mit ihr ein paar Schritte in die Vergangenheit, um
sie dann suchend auf andere Studierende und auch auf Sie zu richten.
Zunächst
eine
hochgestimmten
persönliche
Epitheta
Abschweifung.
irgendeine
Ich
Gültigkeit
habe
für
mich
meine
gefragt,
ob
diese
Kommilitoninnen
und
Kommilitonen von vor fast drei Jahrzehnten haben. Die Antwort fällt ambivalent aus:
Gewiss
waren
wir
nicht
die
selbstlosesten,
entschlossensten,
unruhigsten,
verlangendsten, eifrigsten, unabhängigsten, weitsichtigsten Studentinnen und Studenten.
Aber wir waren auch nicht selbstsüchtig, faul, kurzsichtig, wie manche uns sahen, oder
unentschlossen, still, wunschlos, abhängig, wie sie uns vielleicht sogar haben wollten.
Und dann sehe ich mich plötzlich an einem Novembermorgen des Jahres 1983, ich
kam zwei Monate später, klopfenden Herzens in das Gebäude Universitätsstraße 3b
gehen, wo eigentlich die Philosophen saßen. Ich hatte keine Ahnung, dass ein geflügeltes
Wort die Hausnummer 3b als inoffizielle sarkastische Ehrung für drei abtrünnige
Absolventen der Sektion Philosophie umgedeutet hatte: Wolf Biermann, ausgebürgert,
Rudolf Bahro, inhaftiert und abgeschoben wegen seiner DDR-kritischen Schrift Die
Alternative, und Jurek Becker, im Westen lebend, weil seine jüngsten Bücher nicht in der
DDR erscheinen konnten.
Optisch vertrat der Professor, dessen Seminar mein erstes war, die politische
Gegenseite der drei B’s. Peter Müller war Sektionsdirektor, und er hatte das Aussehen
eines Parteisekretärs. Ich weiß nicht, ob Sie wissen, wie ein Parteisekretär aussah. Es
war eine gewisse Uniformiertheit, zu der eine akzentuierte Brille gehörte, wie man sie
heute wieder häufiger sieht; bei Müller war sie mit flaschendicken Gläsern ausgestattet.
Seinen Haarschnitt würde man Bürste nennen, sie saß ohne Gel, drei Zentimeter
aufrecht, der Nacken war babyhaft glatt rasiert, leicht feist. Müller trug einen
Rollkragenpullover und ein braun-beige kariertes Jackett. Innerhalb von Sekunden hatte
er bei mir seinen Stempel weg; so etwas roch man doch förmlich. Aber dann kamen,
vorgetragen von einer heiseren, von Hüsteln unterbrochenen, eher hohen Stimme,
Fragen, die genau, bohrend und verblüffend klug waren. Es ging um Goethes Werther.
Lauernd wie ein Tiger ging Müller hin und her, aber wenn das Gespräch in Gang kam,
entspannte er sich und wurde zunehmend heiterer. Was für eine Fähigkeit, Texte zu
lesen und über das Gelesene zu sprechen! Da öffnete sich eine Welt. Der Kontrast
zwischen Habitus und Haltung hätte nicht schärfer sein können.
Vor der sogenannten Müller-Prüfung hatten wir schlotternde Angst. Sie galt – wie
Barbara Gollmer sagte – als Gang in die Höhle des Löwen. Wenn es jedoch gelang, die
Angst in Energie bei der Vorbereitung umzuwandeln, erwies sie sich als grundlos, weil
das Wichtigste, Lesen und Verstehen lernen, erreicht war. Dass solches möglich war,
verdanke ich neben Peter Müller vor allem und insbesondere Peter Wruck, Inge Diersen,
Klaus Hermsdorf und Wolfgang Heise.
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Wir konnten Peter Müller sogar zu einem Seminar in einer Wohnung überreden.
Das Thema waren Walter Benjamins Thesen „Über den Begriff der Geschichte“, die
gewiss nicht zum Kanon kritischen Denkens in der DDR gehörten. Müller war hellwach,
souverän und neugierig zugleich, und damit verlieh er dem doch eher privaten
Unternehmen eine gewisse universitäre Würde.
Das war wohl auch für ihn eine Gradwanderung. Einmal wurde ich in sein
Direktorenzimmer einbestellt. Aus einem an mich gerichteten Westpaket hatte man die
Brecht-Biographie von Klaus Völker konfisziert. Als Müller mir erklären musste, warum
der Zoll das Buch weggenommen hatte, passte anscheinend kein Blatt Papier zwischen
ihn und den Akt der Beschlagnahme. Aber am Ende des Gesprächs bot er mir an, sich
dafür einzusetzen, dass ich dieses und andere Bücher mit einem sogenannten
„Giftschein“ in der Staatsbibliothek lesen könne, was vor dem Hintergrund des Erörterten
wie eine Auszeichnung wirkte.
Zu
lernen
war
also
zunächst
Misstrauen
gegen
die
erste,
oberflächliche
Wahrnehmung. Nicht immer half das. Es gab Lehrveranstaltungen, die man nur mit
einem gerüttelt Maß an Galgenhumor oder in perfekter Tarnung überstehen konnte – vor
allem die obligatorischen, weitgreifenden Politveranstaltungen, die sich ihrer Inhalte
offenbar so schämten, das sie sie hinter Abkürzungen versteckten: M/L, PolÖk und WiKo.
Das, denke ich, haben Sie schon einmal gehört: Marxismus/Leninismus, Politische
Ökonomie, Wissenschaftlicher Kommunismus. Manchmal befällt mich heute der Gedanke,
es wäre nicht verkehrt gewesen, dort etwas mehr zu investieren. Aber dann sehe ich die
leeren Gesichter der Dozenten vor mir und beeile mich, die grausigen Gespenster der
Vergangenheit zu verscheuchen. Immerhin schrieben eine Kommilitonin und ich eine
Seminararbeit über antagonistische – also: unauflösbare – Widersprüche im Sozialismus.
Sie führte zu Irritationen, weil es derlei doch nur im Kapitalismus geben durfte. Da wir
uns auf einen Aufsatz des Historikers Jürgen Kuczynski berufen hatten, konnten sie uns
den Schein nicht verwehren, auch wenn Kuczynskis Thesen ihnen nicht in den Kram
passten.
Die Kommilitonin war Annett Gröschner, die Schriftstellerin, die vor einem Jahr
hier die Absolventenrede hielt. Ihr Ausspruch schenkte mir den Titel zu dieser Rede:
„empört euch der himmel ist blau“. So heißt ein Gedichtband von Alfred Andersch, der
1977 bei Diogenes in Zürich und drei Jahre später gekürzt auch bei Aufbau in Ostberlin
erschienen war. Es war bei einem dieser aufgenötigten Arbeitseinsätze – die Erinnerung
macht ihn eher an einer Baustelle als an einem Erntelager fest. Jeder Handgriff wurde zur
Last, weil wir sahen, dass es nur darum ging, uns zu disziplinieren. Sinnfreies,
geisttötendes Tun. Hochwillkommen somit jede Pause und jede Unterbrechung, weil
Material oder Werkzeug fehlte, oder: weil es regnete. In einem solchen Moment fiel
dieser
Satz.
Annett
Gröschners
literarische
Fähigkeiten,
ihre
Kreativität
als
Dokumentaristin, aber eben auch ihre Begabung zum Wortwitz kann man mittlerweise in
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zahllosen, vielfach gerühmten Büchern und Essays nachlesen. Wir genossen also die
Unterbrechung, die der Regen uns beschert hatte. Als es sich wieder aufhellte und wir
somit keinen Grund mehr hatten, im Bauwagen zu verharren, sagte Annett trocken:
„Empört euch, der Himmel ist blau.“ Lustlos nahmen wir unsere Schippen und gingen ins
Freie. Aber das Elend schien, nun es literarisch gebrochen war, schon nicht mehr so
bodenlos.
Denke ich heute an meine Seminargruppe, überrascht mich das Ausmaß, in dem
es bei aller – zumeist doch politischen – Vorsicht Offenheit, Urteilssicherheit, ja sogar
Radikalität gab. Wenn man seit Jahren oder Jahrzehnten im Berufsleben steht und mit
Studierenden wenig zu tun hat, besteht die Gefahr, dass man Studierende unterschätzt:
sie für wenig informiert hält, für noch nicht geeignet, etwas zu beurteilen etc. Erinnert
man sich jedoch an das eigene Studium, fällt einem wieder ein, wie unmittelbar die
Wahrnehmung war. Dass sie nicht getrübt ist durch Konformismus und Subalternität,
nicht ermüdet von Verwaltungszwängen, Gehorsamspflicht, Dienstwegen, Diplomatie und
Karrieresucht. Studierende wissen alles, gerade weil sie in dieser fürs Leben einmaligen
Offenheit und programmatischen Lernbegierde sind.
Programmatisch – nämlich über den Grund zum Schreiben – wurde auch Alfred Andersch,
als er die Zeile „empört euch der himmel ist blau“ fand. Sie steht in dem mehrseitigen
Gedicht „andererseits“. Wenige Zeilen daraus:
[...]
andererseits
schreibe ich schon lange
nicht mehr nur
für mich
[...]
seit einiger zeit
weiß ich
daß ich
schreibend
für andere
schreibe
[...]
sogar den satz
der himmel ist blau
schreibe
ich doch nur
um anderen
mitzuteilen
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daß der himmel
blau ist
Der Autor erkennt, dass es damit nicht getan ist. Er begreift, dass „für menschen / zu
schreiben“ heißt, „gegen menschen schreiben / die andere menschen / unterdrücken /
foltern / töten“. Niemand solle sich also wundern, sagt er, „wenn ich von dem satz / der
himmel ist blau / [...] zu dem satz komme / empört euch“. Und er schreibt es sogar „in /
eine / zeile // empört euch der himmel ist blau“.
Hier wehrt sich einer, der die Kirschen der Freiheit geschmeckt hat, gegen
Ressortdenken und Verantwortungslosigkeit. Er will sich nicht zwischen dem Schönen und
dem Nützlichen entscheiden müssen. Protest und Genuss gehören für ihn zusammen.
Das Politische ist Teil des Lebens, und das gilt es zu ergreifen, auch im Text.
Sie sind gescheit genug zu wissen, dass aus einer solchen Haltung nicht
zwangsläufig gute Literatur entsteht. Und in der Tat vermag man die Texte von Alfred
Andersch – ich zögere, sie Gedichte zu nennen – in ihrer Erichfriedhaftigkeit nicht recht
ernstzunehmen. Aber dann gibt es hier und da Zeilen, deren Lektüre zumindest nicht
umsonst ist – etwa wenn einem ein anderer Marx begegnet als in unseren M/LSeminaren:
Marx
ihr sagt
er war
hochmütig
unduldsam
rechthaberisch
ja
er besaß
hohen mut
keine geduld
hatte recht
Oder ein Gedicht, das nur scheinbar ein bloßes Liebesgedicht ist:
Paris, 1. Mai 1977
sich an den händen fassen
die augen zumachen
und losrennen
daran
daß euch dieser wunsch überfällt
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erkennt ihr
die ankunft der liebe
dann
dürft ihr nicht zögern
faßt euch an den händen
macht die augen zu
rennt los
Leider scheint die Wendung „Empört euch“ im Veralten begriffen zu sein. Kürzlich machte
sie jedoch von sich reden. Und zwar durch das Manifest eines 93jährigen Mannes.
Stéphane Hessel, Sohn von Helen Grund und Franz Hessel, ehemaliger RésistanceKämpfer und später Diplomat, veröffentlichte 2010 unter dem Titel Indignez-vous! /
Empört euch! ein Manifest, das an Supermarktkassen in Frankreich wegging wie eine
Tageszeitung. Hessel, der vor einem halben Jahr verstorben ist, war ein distinguierter
Herr, dessen reizende Höflichkeit schon nicht mehr von dieser Welt schien.
Sehr von dieser Welt ist hingegen sein Pamphlet. Hessel empörte sich über eine
Gesellschaft, die Menschenrechte mit Füßen tritt, indem sie Zuwanderer in die Illegalität
drängt, über eine Gesellschaft, die es zulässt, dass die Schere zwischen Arm und Reich
sich immer weiter öffnet, dass bei steigenden Unternehmerprofiten Sozialleistungen
brüchig werden; er wendet sich gegen eine Gesellschaft, die nichts dagegen unternimmt,
dass Wohlhabende und Lobbyisten das Sagen in den Medien haben.
Hessel zeigt sich überzeugt, dass die „Zukunft […] der Gewaltlosigkeit und der
Versöhnung der Kulturen“ gehört. „Mischt euch ein, empört euch!“, schreibt er. „Die
Verantwortlichen in Politik und Wirtschaft, die Intellektuellen, die ganze Gesellschaft
dürfen sich nicht kleinmachen und kleinkriegen lassen von der internationalen Diktatur
der Finanzmärkte, die es so weit gebracht hat, Frieden und Demokratie zu gefährden.“
Was gar nicht geht, ist Gleichgültigkeit. Hessel schreibt: „‚Ohne mich‘ ist das Schlimmste,
was man sich und der Welt antun kann.“
Es ist ein Testament. „Ich wünsche allen, jedem Einzelnen von euch einen Grund
zur Empörung“, rief Hessel aus. „Das ist kostbar. Wenn man sich über etwas empört, wie
mich der Naziwahn empört hat, wird man aktiv, stark und engagiert. Man verbindet sich
mit dem Strom der Geschichte“.
Wenn nicht alles täuscht, haben wir es bei den jetzt Studierenden zu tun mit einer
Generation, die sich nicht mehr alles gefallen lässt. Das ist im Augenblick vielleicht hier in
Deutschland nicht so unmittelbar zu spüren wie in Ägypten, Syrien, der Türkei, Brasilien
oder anderen Ländern. Die Protestierer auf der Puerta del Sol in Madrid, ihre
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griechischen, französischen und portugiesischen Kameraden ließen sich von Hessels
Aufruf inspirieren wie auch die Aktivisten der Occupy Bewegung.
Dass Hessels Manifest in Deutschland etwas im Sande verlaufen ist, mag daran
liegen, dass die kleine Schrift unvollständig wäre ohne Reaktionen ihrer Leser. Hessels
Ermunterung zum Protest bleibt leeres Pathos, wenn sie nicht auf die individuelle
Situation übertragen wird. Was dieses „Empört euch“ für jede und jeden von Ihnen
bedeuten kann, wissen Sie selbst jedoch sehr genau.
„Stay hungry! Stay foolish“, ermahnte Steve Jobs vor acht Jahren Absolventinnen
und Absolventen der Stanford University. Das klingt wie eine forsche Übersetzung von
Kafkas Adjektiven ins 21. Jahrhundert. Ich warne Sie: Meine letzten Sätze fallen jetzt
auch etwas appellartig aus. Halten Sie sich an Ratschläge, die Ihnen nicht sagen, was
richtig ist, sondern die Sie zu einer Haltung ermutigen. Lassen Sie sich nicht einfangen.
Wehren Sie sich, wenn man versucht, Ihre Eigentümlichkeit zu verwischen. Bleiben Sie
entschlossen, unruhig, verlangend und unabhängig. Lassen Sie sich nicht für dumm
verkaufen, widersprechen Sie, wenn man ihnen weismachen will, etwas sei alternativlos.
Hören Sie nicht auf zu träumen.
Sorgen Sie dafür, dass Sie auch am Ende des Sommers noch lustig sind.
Schmücken Sie sich in der inneren Hoffnung, dass der Schmuck Ihre Natur werden wird.
Empören Sie sich, wo es nötig ist. Aber vergessen Sie nicht, dass, wie Brecht es sagt,
auch der Zorn über das Unrecht die Stimme heiser macht. Denken Sie die Dinge
zusammen. Empören Sie sich, auch wenn der Himmel blau ist, aber vergessen Sie nicht,
den blauen Himmel zu genießen.
Ich wünsche Ihnen einen hellen, leichten – und lustigen Sommer.
© Erdmut Wizisla