Die Vision des Presidente
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Die Vision des Presidente
Stadion-Porträt Alle Fotos: Stadionwelt Das Estadio Santiago Bernabéu: Beeindruckender Kessel für 80.000 Zuschauer Die Vision des Presidente Reals Patron Santiago Bernabéu träumte einst von einem Stadion, das immer wieder den Bedürfnissen seines Vereins angepasst werden könnte. Doch dies gelang nicht immer. D er erste Eindruck? Ein bisschen enttäuschend. Man erstarrt keineswegs in Ehrfurcht, wenn man nach dem Aufstieg aus der gleichnamigen Metrostation vor dem Estadio Santiago Bernabéu steht. Das also soll unter all den reinen Fußballstadien Europas das drittgrößte sein, die legendäre Spielstätte von Real Madrid? Man hätte ein imposanteres Bauwerk erwartet, insbesondere ein höheres als diesen Betonklotz, der sich dort im Norden der spanischen Hauptstadt am Paseo della Castellana, einer der Hauptverkehrsachsen, zwischen die Häuser gequetscht hat. Doch es soll die einzige Enttäuschung sein, und sie soll sehr schnell veriegen. Hinter Eingang 31 wartet eine kurze Treppe. Etwa 25 Stufen geht es hinauf, dem Lärm und dem Flutlicht entgegen, dann steht man inmitten der Nordkurve. Und zwar wirklich mittendrin. Im mittleren Rang, auf halber Höhe. Tief unten, viel niedriger als erwartet, fordert Real 92 die Gäste von Olympique Lyon zum Duell in der Champions League. Die Lage des Spielfelds erklärt die anfängliche Enttäuschung, denn die wahre Größe des Santiago Bernabéu kann man nur in seinem Inneren erfassen, von außen wirkt das Bauwerk schon allein deswegen kleiner, weil der komplette Unterrang unterhalb des Straßenniveaus liegt. Schon fast 60 Jahre rollt der Ball inzwischen über dieses Spielfeld im Souterrain. 1944 kaufte Real unter Präsident Vier Türme erschließen den Oberrang Bernabéu das Grundstück und begann mit dem Bau eines für damalige Verhältnisse sensationellen Stadions. 75.342 Zuschauer fasste es zunächst auf zwei Rängen. Santiago Bernabéu als sein geistiger Vater indes hatte die neue Sportstätte mit Weitsicht planen lassen, mit Optionen auf weitere Vergrößerungen. Erstmals 1953 und wiederholt in den Folgejahren machte Real von dieser Möglichkeit Gebrauch. Dem Patron dankte der Verein 1955 mit einer besonderen Geste: Seit einem halben Jahrhundert trägt das Stadion den Namen des Visionärs. In jene Zeit elen auch die höchsten Zuschauerzahlen. Dank einer Erweiterung der Haupttribüne konnten ab 1954 bis zu 120.000 überwiegend stehende Zuschauer die Spiele verfolgen. Diese Zahl sank aufgrund von Komfortverbesserungen im Vorfeld der WM 1982 auf 90.000, 1992 allerdings schoss dank eines gewaltigen, steilen Oberrangs nicht nur das Stadion, sondern auch seine Kapazität mit 106.500 wieder in Schwindel erreStadionwelt Februar/März 2006 Stadion-Porträt gende Höhen. Durch die Umwandlung in einen komfortablen All-Seater blieben sechs Jahre später 77.500 Plätze übrig. Seit 2000 arbeitet Real unter Präsident Florentino Perez einen neuen Masterplan ab. Nicht die Steigerung der Kapazität auf gut 80.000 Plätze ist das eigentliche Ziel, sondern, wie der Verein in seinen Businessplänen mitteilt, die komplette Vermarktung des Stadions. Mit dem Bau neuer VIP-Logen, Restaurants, Fanshops und des Museums sollte sich das Stadion in eine täglich nutzbare, protable Veranstaltungsstätte umwandeln. Nicht nur beim Fußball voll Logen aller Art, bunt gemischt Der Umbau ist inzwischen fast abgeschlossen. Als vorläug letzter Mosaikstein entsteht hinter der neuen Haupttribüne ein Vorgebäude, das auch in den Katakomben mehr Platz schaffen soll. Wo heute noch Büros und Medienarbeitsräume liegen, könnten in Kürze weitere, großzügigere Tagungs- und VIP-Räumlichkeiten entstehen. Denn die Nachfrage besteht auch außerhalb der Spieltage. Im letzten Dezember, berichtet Stadiondirektor Luis Garcés Cascajero, konnte das Estadio Santiago Bernabéu an einem ein- zigen Tag über 6.000 Gäste begrüßen – zu den diversen Weihnachtsfeiern, die von Firmen in den Logen und Lokalen der Sportstätte abgehalten wurden. Und auch die 30.000 Besucher, die sich am 29. September 2002 einfanden, waren nicht wegen König Fußball im Stadion der „Königlichen“. Vielmehr verfolgten sie den Zieleinlauf der letzten Etappe der spanischen Radrundfahrt Vuelta, eines Einzelzeitfahrens, das zu Ehren des 100 Jahre zuvor gegründeten Fußballklubs in dessen Stadion endete. Stadionwelt Februar/März 2006 Platten auf dem Rasen ließen das Santiago Bernabéu an diesem Tag zum Radstadion werden. „Schauen wir uns den Innenraum lieber jetzt gleich an, ehe die ersten Touren beginnen.“ Cascajeros beruichen Lebensraum prägt ein Gezeitenrhythmus, der das Stadion jäh mit Scharen Neugieriger utet – und es ebenso rasch wieder sich selbst und dem Dienstpersonal überlässt. Der Morgen ist die beste Zeit für ungestörte Besichtigungen, denn schon bald wird der Lärm Einzug im Bernabéu halten, spätestens, wenn die ersten Schulklassen durch seine Gänge wimmeln. 1.500 bis 2.000 Touristen folgen täglich dem vorgegeben Weg, der sich zwischen den blauen Sitzschalen des Unterrangs hindurchschlängelt, den Ehrengast- und Pressebereich, die Gästekabine und das Vereinsmuseum passiert und natürlich im Real-Megastore endet. An Spieltagen können es auch 5.000 bis 6.000 Besucher werden. Heute, am Tag nach dem Spiel gegen Lyon, ist die Besucherzahl überschaubar, die Geräuschkulisse schwillt gegen Mittag dennoch an: Mit Laubbläsern bewaffnet, treiben Dutzende von Reinigungskräften die Abfälle des Vorabends durch die � 93 Stadion-Porträt „Das Stadion lebt“ Interview mit Luis Garcés Cascajero, Stadionmanager von Real Madrid Stadionwelt: Señor Cascajero, mit der Fertigstellung der neuen Haupttribüne vor zwei Jahren schien der Umbau des Estadio Santiago Bernabéu abgeschlossen. Doch schon kursieren Skizzen, die das Stadion mit einer Komplettüberdachung zeigen. Cascajero: Das Stadion lebt. Es ist eine sich ständig verändernde Welt, in der es immer etwas zu tun geben wird. Aber die Pläne mit der geschlossenen Dachfläche sind nur ein Gedankenspiel, das wir auf keinen Fall kurzfristig verfolgen werden. Stadionwelt: Möglicherweise auch, weil der Verein mittelfristig einen Auszug aus dem Bernabéu-Stadion erwägt? Cascajero: Über diese Option haben wir in den 70er Jahren sehr ernsthaft nachgedacht, uns letztlich jedoch für den Ausbau des Bernabéu entschieden. Zwar spekuliert die Presse immer wieder über einen Neubau vor den Toren der Stadt, aber wir beteiligen uns nicht an diesen Überlegungen. Stadionwelt: Bereitet Ihnen die Lage mitten in der Stadt nicht manchmal Sorge? Cascajero: Unsere Fans haben damit kein Problem, daher haben auch wir keines. Die öffentliche Verkehrsanbindung funktioniert gut, ohnehin kommen die wenigsten Besucher mit dem Auto. Zudem planen wir den Bau zweier Tiefgaragen, sodass sich die Situation noch einmal verbessern wird. Stadionwelt: Wie kommt der Rasen mit den hohen, engen Tribünen zurecht? Cascajero: Das ist ein riesiges Problem, wohl das größte, das Real Madrid hat. Wir haben es bis vor einigen Jahren mit einem gemischten Natur- und Kunstrasen versucht, doch ohne Erfolg. Noch heute liegt der alte Kunstrasen in einigen Zentimetern Tiefe unter dem Spielfeld. Wir haben rund um das Stadion Tore mit Luftlöchern eingebaut, um etwas Wind im Stadion zu haben. Und wir schauen sehr genau hin, wie sich die Technik mit künstlichem Sonnenlicht entwickelt. Wir werden das Problem angehen. Stadionwelt: Ist das Dach über der Gegengeraden deswegen beweglich, damit der Rasen mehr Sonnenlicht erhält? Cascajero: Nein, das hat andere Gründe. Dieses Dach wurde nachträglich über die bestehende Konstruktion gebaut und war in der ursprünglichen Statik nicht vorgesehen. Wir fahren es nur selten aus, um die Hebelkräfte gering zu halten. Zudem ist die zusätzliche Dachfläche sehr windanfällig und darf nur bis zu einer Windgeschwindigkeit von maximal 28 Knoten genutzt werden. 94 Reihen des Fußballtempels. Inmitten des Radaus erläutert Cascajero die jüngsten Baumaßnahmen, die eher der Qualität als der Quantität der Plätze dienten und die Wirklichkeit des Stadions allmählich wieder seinem Anspruch annäherten. Und der ist hoch. Auch ist Understatement nicht die Sache der „Königlichen“ und ihrer Arena. So reklamierte der Verein vor Jahren für sich, „das einzige 9-Sterne-Stadion der Welt“ zu besitzen. Die UEFA jedoch interessierte sich wenig für diese Selbsteinschätzung. Seit dem Finale des Europapokals der Landesmeister 1980 – der Hamburger SV unterlag Nottingham Forest mit 0:1 – vergab der europäische Fußballverband kein großes Spiel mehr in den Norden der spanischen Hauptstadt. Der lange Weg zur Perfektion Dies ist wohl in der Tatsache begründet, dass Real über Jahre zwar viel Geld in die Größe der Arena (sowie in den exquisiten Mannschaftskader) investiert hat, die Ausstattung jedoch vernachlässigte. Die Blamage im Halbnale der Champions League 1997/98, als ein einknickender Zaun das an ihm befestigte Tornetz und damit das gesamte Tor umriss, war bezeichnend für ein Stadion, das zwar über mehr Plätze verfügte als fast jedes andere des Kontinents, seine besten Jahre aber erkennbar hinter sich hatte. Das Santiago Bernabéu wurde bis heute nicht in die Qualitätsskala der UEFA eingegliedert, eine Zuteilung von fünf Sternen scheint inzwischen jedoch nur eine Frage der Zeit. Hierbei dürften auch die 15.000 bislang noch unüberdachten Plätze nicht stören, zumal der Verein auch die Option einer Komplett- überdachung zumindest theoretisch durchspielt. Das Einzige, was dann zur perfekten Arena möglicherweise noch fehlen könnte, wäre ein bisschen mehr Platz im Stadionumfeld. Aber man hat das Beste aus der beengten Situation gemacht und ein ungewöhnliches Zutrittssystem entwickelt: 60 Eingänge hat das Stadion, schon auf der Straße muss man die passende „Puerta“ nden, nur hier gestattet die elektronische Zugangskontrolle die Passage. Jenseits der Drehkreuze herrscht ein System der kurzen Wege; oft sind es nur wenige Meter von der Straße in den Block. Es sei denn, man hat einen Platz im Oberrang. Dieser ist über vier runde Betontürme in den Ecken des Stadions erreichbar, wo Treppen, Rolltreppen und Rampen die Gäste in die Höhe leiten. Doch so unübersichtlich das System der Ein- und Ausgänge, der Treppenhäuser und Fahrstühle auf den ersten Blick auch erscheinen mag, es ist hoch efzient. Als am 12. Dezember 2004 beim Spiel gegen San Sebastian eine Bombendrohung einging, konnten sämtliche 75.000 Besucher binnen nur sechs Minuten evakuiert werden. Fast 45 Grad steile Oberränge Die Drohung erwies sich als falscher Alarm, zum Glück auch für die Nachbarschaft, denn das Santiago Bernabéu steht mitten in der Stadt. So konsequent wie in kaum einem anderen Stadion wurde der zur Verfügung stehende Raum ausgereizt – nicht nur nach außen, denn die Oberränge ragen deutlich über die Straße, sondern auch im Stadion. Weit schieben sich der Mittel- und der Oberrang über die dar- Zusatzdach: bei Sturm untauglich Dachtragwerk über dem steilen Oberrang Zugang zum Oberrang Stadionwelt Februar/März 2006 Stadion-Porträt unter liegenden Plätze, viele Quadratmeter des teuren Madrider Baugrunds konnten durch das Überlappen der Tribünen gleich mehrfach genutzt werden. Konsequenz dieser Bauweise ist ein unglaublich steiler Oberrang. Nur durch einen Neigungswinkel von fast 45 Grad vermochten die Architekten zu gewährleisten, dass die Zuschauer auch von den günstigs-ten Plätzen aus das komplette Spielfeld überblikken können. Zudem haben die Plätze hoch oben unter dem Dach einen besonderen Reiz: Sie bieten neben der alpinistischen Grenzerfahrung beim Anstieg über die schmalen Treppen auch eine außergewöhnliche Perspektive. So steil wie in Madrid blickt man ansonsten allenfalls bei Computerspielen auf den Platz. Das Logenlabyrinth Als weitere Besonderheit offenbart sich beim Blick auf den Oberrang des Estadio Santiago Bernabéu die Tatsache, dass jeder Raum, jede Lücke in den Tribünen, jeder Quadratmeter mit Blick auf das Spielfeld inzwischen in VIP-Logen umfunktioniert wurde. Selbst unter mancher Treppe benden sich hinter Glasfronten Zuschauerplätze. Alle 241 dieser „Palcos“ sind auf Jahre ausverkauft, obendrein führt der Verein eine lange Warteliste. Doch die Chancen der hier Registrierten sind gering. Raum für zusätzliche Logen ist im Stadion nicht mehr auszumachen, mit den bestehenden 3.800 Plätzen scheint das VIP-Potenzial weitgehend ausgereizt. Bereits jetzt ziehen sich die Palcos auf insgesamt vier Ebenen von der Südkurve über die Gegentribüne nach Nor- Die Haupttribüne wurde vor zwei Jahren fertig gestellt Logen inmitten des Oberrangs den. Zwei durchgängige Reihen – hinter dem Unter- und hinter dem Mittelrang – werden ergänzt durch die improvisierten Minilogen des Oberrangs und eine weitere Galerie auf halber Höhe des mittleren Rangs. Nur die Haupttribüne, in den meisten anderen Stadien der Bereich mit der höchsten Dichte an VIP-Logen, bietet kaum Platz für die exklusiven Separees. Die wenigen jedoch haben es in sich, so der „Palco Presidencial“, die Ehrenloge, und die eigenen Räumlichkeiten des spanischen Königs. Flankiert wird die Haupttribüne von zwei Türmen, die das Dach tragen, Technikräume beherbergen und – man ahnt es schon – natürlich auch wieder zur Schaffung zusätzlicher, ungewöhnlicher Logen dienten. Auf drei Etagen sitzen hier hinter der riesigen Glasfront Gäste und Mitarbeiter besonders prominenter Firmen. Stadionwelt Februar/März 2006 Doch die jüngste Renovierung diente nicht nur dem Komfort der Reichen und Mächtigen. Im gesamten Stadion gibt es keine schlechten Plätze mehr. Sämtliche Sitzschalen des Unter- und des Mittelrangs wurden ausgetauscht, Heizstrahler am Dach und an den Unterseiten der Tribünenüberhänge reduzieren im mitunter strengen Madrider Winter die Erkältungsgefahr. Und für die Fangruppierung „Ultras Sur“ direkt hinter dem südlichen Tor wurde ein ganzer Block der Südkurve abgesenkt. Damit sie das Spiel im Stehen verfolgen können, ohne den hinter ihnen sitzenden Fans die Sicht zu versperren. Wahrscheinlich ist es neben der schieren Größe vor allem der Kontrast aus Luxus und Improvisation, aus Alt und Neu, der den tiefer gelegten Koloss am Paseo della Castellana zu einem der spannendsten Stadien der Welt macht. ��Matthias Ney 95 Stadion-Porträt Mixed Zone Daten & Fakten Estadio Santiago Bernabéu Kapazität: 80.354 Plätze Rekordbesuch: 124.000 Zuschauer (30. Mai 1957, Finale im Europapokal der Landesmeister: Real – AC Florenz 2:0) Baubeginn: 27. Oktober 1944 Eröffnung: 14. Dezember 1947 als Estadio Chamartín – gleicher Name wie das Vorgängerstadion am gleichen Ort. Real – Os Belenenses 3:1. 1955: Umbenennung in Estadio Santiago Bernabéu Kapazitäten/Umbauten: 1947: 75.342 Plätze auf zwei Rängen (Ausnahme: Die niedrige einrangige Haupttribüne im Osten) 1953/54: Vergrößerung der Haupttribüne, Ausweitung der Stehplatzbereiche (120.000 Plätze) 1981/82: Überdachung aller Tribünen außer Ost, Umzug der Haupttribüne von Ost nach West. Reduzierung der Stehplätze (90.000) 1990 – 92: Bau eines dritten Rangs auf allen Tribünen außer Ost (106.500) 1998: Umwandlung aller Stehplätze in Sitzplätze (77.500) 2002/03: Rückkehr der Haupttribüne auf die erweiterte und überdachte Ostseite (80.354) Trophäensammlung im Vereinsmuseum 96 Der (provisorische) Presseraum Kabine der Gastmannschaft Stadionwelt Februar/März 2006 Stadion-Porträt Der Ausgang der Gastmannschaft Stadionwelt Februar/März 2006 Restaurant „Puerta 57“ Loge in der Gegengeraden 97