Potenzstörungen des Mannes

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Potenzstörungen des Mannes
Potenzstörungen des Mannes
von Hans Heinrich Jörgensen
Die schnöde und peinliche Impotenz hat ein neues Kleid
bekommen. Sie ist jetzt als "erektile Dysfunktion" gesellschaftsfähig
geworden und hat Eingang in die ärztliche Praxis gefunden.
Um der Arterhaltung willen ist der Geschlechtstrieb nach dem
Selbsterhaltungstrieb wohl der stärkste, beim Manne rund um den
Kalender, bei der Frau den kurzen Fruchtbarkeitsphasen
entsprechend zyklisch.
Die mit dem Vollzug verbundene Lust und Freude hat sich vom
eigentlichen Zweck verselbständigt, was auch weithin anerkannt
und akzeptiert ist. Um Zweck und Freude gleichermaßen erfüllen zu
können, bedarf es der Erektion. Mit einem geschickten Trick schafft
es die Natur, bei verzögertem venösen Rückfluss die Arterien im
Penisbereich zu öffnen, wodurch sich die Schwellkörper prall mit
Blut füllen.
Der Penis wird hart und steif, kann ins weibliche Genitale
eindringen, bis nach der Ejakulation fast schlagartig das Blut
abfließt. Das ganze wird nervlich gesteuert durch die
Erektionszentren im Kreuzbeinbereich der Wirbelsäule und mitten
in der Prostata sowie durch das Ejakulationszentrum in der
Lendenwirbelsäule. Noch viel mehr aber durch die
Emotionszentrale im Zwischenhirn und durch die Psyche.
Überall in diesem Schaltkreis können Verletzungen körperlicher und
psychischer Art diesen Regelkreis stören, wobei die zentrale
Störung bei weitem überwiegt.
Nicht erst, seit die Pharmazie entdeckt hat, wie man mit einem
zweckentfremdeten Herzmittel die Penisarterien öffnen kann,
setzen wir alle Hoffnungen auf diese rein symptomatische periphere
Gefäßerweiterung, statt uns den eigentlichen Ursachen
zuzuwenden. Dabei ist bekannt, dass die berühmte blaue Pille
wirkungslos bleibt, wenn nicht eine erotische Signalwirkung hinzu
kommt.
Offenbar spielt die Menschheit auf diesem Klavier der
Signalgebung seit Angedenken, denn ob die prähistorischen
ausgegrabenen Figuren denn nun "Fruchtbarkeitsgöttinnen"
darstellen sollten oder der Anregung dienten ist schwer zu
unterscheiden.
Im Normalfall sollte die Anregung allein, auch ohne blaue Pille,
genügen eine erwartungsvolle Erektion zu bewirken.
Anregungsreize können über alle fünf Sinne wahrgenommen
werden, wobei erfahrungsgemäß den visuellen Reizen die größte
Bedeutung zukommt. Die Großväter der heutigen Großväter
wurden schon heiß, wenn sie unter dem Reifrock nur den Knöchel
der Angebeteten erblicken durften, die Väter begnügten sich mit
dem Knie, und seit der Ära der nichts mehr verhüllenden Titelseiten
weicht die Entkleidung der viel versprechenden Verhüllung.
Die Accessoires bedienen sich dabei gern der einstigen
Entkleidungsstationen als aufgepepptes Stilelement. Es ist nichts
Anrüchiges, sich solcher Stimulanzien zu bedienen, setzt aber
Einvernehmen voraus. Am Rande sei gewarnt: Manch unreifes
Küken kokettiert selbst in der Straßenmode offensiv mit solchen
Signalen, ohne zu bedenken, welche gefährlichen
Missverständnisse das auslösen kann.
Apropos Einvernehmen: Überall wo professionell Sexualberatung
betrieben wird, stehen nicht die Potenzprobleme des Mannes im
Vordergrund, sondern die Frage, wie der Partnerin mehr Lust
verschafft werden kann.
Natürlich nicht ganz uneigennützig, denn nichts stimuliert den Mann
mehr, als das Entgegenkommen und die Bereitschaftssignale der
Frau. Lässt man dann aber die Partnerin auf halbem Weg zum Ziel
allein zurück und dreht sich schnarchend auf die andere Seite (It‘s
not fair, von Lilly Allen) , darf man sich nicht wundern, wenn
irgendwann der Schlager ertönt "Heute Abend hab' ich Kopfweh…"
Wo aber liegen die Potenzprobleme des Mannes? Überhaupt keine
Erektion möglich, keine Ejakulation, ungenügende Erektion
hinsichtlich Stärke oder Dauer, oder auch nur die Sorge darum, weil
sich die Erwartungshaltung an den Stammtischprahlereien der
Kollegen orientiert? Alle Störungen werden erst zum Problem,
unabhängig von der Ursache, wenn es zum Missverhältnis kommt
zwischen dem "ich möchte" - seltener "sie möchte" - und dem "ich
kann".
Wir richten im Allgemeinen unser Augenmerk zu sehr auf die
Nervenschaltstellen im unteren Bereich der Wirbelsäule anstatt auf
die Psyche. Selbst bei ernsten Wirbelsäulenverletzungen bis hin zur
Querschnittslähmung finden Erektionssignale oft immer noch ihren
Weg zu den Schwellkörpern. Schlimmer: noch heute (!) wird hier
und da von vernebelnden "Aufklärern" die Furcht vor
"Rückenmarksschwund" durch häufige Selbstbefriedigung in die
sensible Seele heranwachsender Knaben gepflanzt. Ebenso
ekklesiogene Neurosen mit der fatalen Verquickung von Sex und
Sünde.
Für das Maß der Erektion gibt es keinen "Referenzwert". Man muss
weder Länge noch Umfang mit dem Maßband aus Mutters
Nähkasten prüfen, auch für die Partnerin ist wichtiger, wie man
damit umgeht.
Kommt es zu einer vorzeitigen Ejakulation ist jede zusätzliche
Anregung, wie sie bei einer wirklich oder vermeintlich zu
schwachen Erektion helfen kann, natürlich fehl am Platze. Eine
solche Überreizung ist oft das Problem von Jünglingen oder
Wochenendpendlern. "Öfter mal" löst das Problem meist schnell,
gg.F. ein zweiter Anlauf in der gleichen Nacht. Tödlich für die
Potenz sind hingegen Spott und Vorwürfe.
Erotisierende Reize unterliegen, wie alle Reize, im Laufe der Zeit
der Abnutzung. Hinzu kommt, dass wir ja alle älter werden. Die
verführerische Figur der Zwanzigjährigen bekommt Falten und
andere Formen. Plötzlich entdeckt der potenzschwächelnde Mann,
dass die von der Ehefrau ausbleibende Signalwirkung bei der
Sekretärin wieder anschlägt. Es wird teuer, dieser Faszination
nachzugeben, bis hin zum Zugewinnausgleich. Und allzu schnell
erkennt "Mann", dass auch diese Abwechslung schnell an Reiz
verliert. Die Wechseljahre heißen nicht so, weil man dann die
Partnerin wechselt, besser sollte Abwechslung im Umgang
miteinander einkehren. Mal wieder einen Blumenstrauß, ein
Candlelight-Diner, ein neues Dessous oder ein Wiedersehen mit
dem Ort der ersten Liebe. Langeweile ist der Tod der Ehe.
Zunehmendes Alter muss nicht zwangsläufig zu Potenzproblemen
führen. Aber so wie das Gehör, die Sehkraft und Körperkraft
nachlässt, wird auch die Häufigkeit sexueller Begegnungen
weniger. Das Luther zugeschriebene Wochenmaß von "zween" ist
kein Referenzwert, und weniger Lust und Verlangen ist keine
Krankheit, für die man Medikamente schlucken müsste.
Apropos Medikamente, ich weiß, der Leser wartet neugierig auf
hilfreiche Empfehlungen. Aber wichtiger als potenzsteigernde
Medikamente sind zunächst jene, die das Gegenteil bewirken.
Manch "erektile Dysfunktion" löst sich in nichts auf, wenn
bestimmte, leider sehr häufig angewandte Pharmaka nicht mehr
nötig sind. Dazu zählen in erster Linie Beta-Rezeptorenhemmer
und sogenannte Antidepressiva, vor allem - schauen Sie auf den
Beipackzettel - Serotonin-re-uptake Hemmer (SSRI) und
trizyklische Psychopharmaka. Nun tritt aber die Potenzstörung
häufig gerade im Zusammenhang mit psychischen Problemen auf.
Der Versuch, mit Antidepressiva das Wechselspiel zwischen Potenz
und Seelenleben ins Gleichgewicht zu bringen, geht nach hinten los
und zementiert schließlich beide Probleme.
In der Fachliteratur und in Versandhausprospekten spiegelt sich die
jahrhundertelange Suche der Menschen nach Potenzverstärkern
wider. Yohimbin, Damiana, Ginseng, Spanische Fliege, Muira
puama und andere haben alle offenbar in der Tat einen gewissen
Effekt, in wirksamer Dosis jedoch nebenwirkungsreich und darum
verschreibungspflichtig, in Versandhausmitteln hoffnungslos
unterdosiert. Gefäßerweiterung, Hormonausschüttung oder -ersatz,
entzündliche Reizung der Harnröhre - so etwa klingen die
Angriffspunkte.
Die Schwellkörper-Auto-Injektions-Therapie (SKAT) mit
durchblutungssteigernden Substanzen, unmittelbar vor dem
Liebesakt selbst in den Penis injiziert, setzt heroischen Mut voraus
und ist sicherlich eher geeignet, den Liebesakt zu einer leidvollen
Pflichtübung zu degradieren, statt ihn freudvoll und beglückend ins
Bewusstsein zu pflanzen.
In Brasilien wurde kürzlich eine Spinne entdeckt, deren Biss eine
vierstündige Erektion auslöst - bis schließlich der Tod eintritt Nicht
der der Spinne, sondern des Bissopfers. Gar so weit weg von
diesem Wirkprinzip sind Viagra® und Kollegen nicht. Diese
modernen Mittel gegen die erektile Dysfunktion haben eine lange
Geschichte:
1890, zu besten Kaiserzeiten, brachte die junge Firma Schering ihr
erstes "Medikament" auf den Markt, das "Verjüngungsmittel"
Piperazin, dessen Name sich gewiss nicht nur wegen der
chemischen Verwandtschaft vom Scharfmacher des schwarzen
Pfeffers, Piperin, ableitet. Nun war zu Kaisers Zeiten das
Scharfmachen sicher nicht weniger beliebt als heute, jedoch nicht
so ganz gesellschaftsfähig. Darum wurde Piperazin als
Verjüngungsmittel kein großes Geschäft, auch gegen die Gicht kam
es nicht recht zum Zuge - dafür konnte es sich aber dann als Mittel
gegen Darmparasiten über 100 Jahre durchsetzen. Wie immer
strickten findige Pharmazeuten aus den unvermeidlichen
Nebenwirkungen flugs neue Indikationen. So sind
Piperazinabkömmlinge als Partydroge "Popper" in der Diskoszene
weit verbreitet, und weil das ja dicht beieinander liegt bestehen
viele legale Psychopharmaka unterschiedlichster Zielrichtung
ebenfalls aus Piperazinabkömmlingen. Am Rande fiel eine gewisse
gefäßerweiternde und durchblutungsfördernde Wirkung auf, so
dass inzwischen auch etliche Herz- und Kreislaufmedikamente
Piperazinderivate sind.
Beim Experimentieren für ein neues Herzmedikament stellte man
fest, dass verschiedene Verbindungen am einen Organ mehr, am
anderen weniger die Adern öffneten, und schon war Sildenafil
geboren. Die Gefäßerweiterung kommt ähnlich wie bei der
tödlichen Spinne zustande: Stets entsteht im Stoffwechsel neben
dem unbrauchbaren Kohlendioxid auch Stickstoffmonoxid, ein
tödlich giftiges Erstickungsgas. Über eine Enzymkette schützt sich
der Körper vor dem Ersticken, indem sich die betroffenen Gefäße
erweitern und damit die Stickoxide verdünnen und abtransportieren.
Ein anders Enzym wiederum (PDE 5) bremst diese
Gefäßerweiterung auf das Notwendigste aus, wir würden sonst
ständig mit hochrotem Kopf, triefender Nase und niedrigem
Blutdruck herum laufen. Und weil das auch die typischen
Nebenwirkung von Viagra® und Kollegen sind, lässt sich daraus
deren Angriffspunkt ablesen: Sildenafil bremst die Bremse der
Gefäßerweiterung, PDE 5, wiederum aus, so dass die durch
Stickoxide ausgelöste Gefäßerweiterung etwas übers Ziel
hinausschießt - etwas(!) hoffentlich nur. Die Schwellung der
Nasenschleimhaut nehmen wir dann gerne in Kauf, um die
Schwellung der Schwellkörper zu genießen.
Gefährlich wird es allerdings, wenn gleichzeitig (3-Tage-Karenz)
andere Medikamente genommen werden, die ähnliche Wirkungen
haben, wie einige Asthmamittel oder Nitroglycerol, das wir als Spray
oder rote Zerbeißkapsel gegen die Angina pectoris einsetzen,
beides auch PDE 5-Hemmer. Leicht abgewandelt ist das übrigens
der Rohstoff, aus dem Dynamit gemacht wird. Damit kann der
Blutdruck bedrohlich in den Keller gehen.
Als Viagra® anfing, den Markt zu erobern, gab es heiße
Diskussionen um tödliche Zwischenfälle, die jedoch schnell
heruntergespielt wurden, weil die Kontraindikationen angeblich
nicht beachtete wurden. Mit Sicherheit gibt es da eine beträchtliche
Dunkelziffer, denn welche Gespielin wird nach dem süßen Tod Ihres
Partners schon die Peinlichkeit erhöhen, indem sie dem Notarzt die
Viagra-Packung auf den Tisch legt?
Aus gutem Grund sind Viagra® und die vergleichbaren Präparate
(Cialis®, Levitra®) in Deutschland verschreibungspflichtig, werden
aber nicht von der Krankenkasse bezahlt. Beim Bezug über
dubiose Internetanbieter muss man mit wirkungslosen oder
ungenau dosierten Fälschungen rechnen - falls die Lieferung nicht
schon vom Zoll beschlagnahmt wird.
Wenn mein Tenor sich eher kritisch als bejahend mit den modernen
Medikamenten gegen die erektile Dysfunktion auseinandersetzt,
dann ist das kein moralinsaures Antisex-Statement sondern eine
pharmakritische Nutzen-Risiko-Abwägung. Ich halte die Liebe und
das Lieben nicht für eine sportliche Hochleistungsdisziplin mit
Dopingbedarf, sondern für ein wunderbares Geschenk der
Gegenseitigkeit.