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Die „endlose Leidrede der Melancholie“ –
Zyklische Struktur und spätromantischer Weltschmerz
in der „Winterreise“
Magisterarbeit
im Studiengang
MAGISTER ARTIUM
der
Friedrich-Alexander-Universität
Erlangen - Nürnberg
in der Philosophischen Fakultät II
(Sprach- und Literaturwissenschaften)
Betreuerin:
Prof. Dr. Christine Lubkoll
vorgelegt von:
Julia Hartel
aus
Pegnitz
Erlangen, im August 2005
2
Inhaltsverzeichnis
Einleitung………………………………………………………………………...……...4
1. Melancholie-Diskurse von der Antike bis zur Gegenwart………………......……....9
1. 1 Der Melancholie-Diskurs in Medizin und Psychoanalyse……………………10
1. 1. 1 Die „melancholia“ der Antike……………………………………………11
1. 1. 2 Pathologisierung der Melancholie im 18. Jahrhundert…………..……...12
1. 1. 3 Melancholie und Psychoanalyse…………………………………...…….13
1. 1. 3. 1 Sigmund Freud…………………………………………………13
1. 1. 3. 2 Julia Kristeva…………………………………………………...14
1. 1. 3. 3 Moderne psychoanalytische Melancholiekonzepte…………….14
1. 2 Melancholie und Theologie: Die Todsünde „acedia“ im Mittelalter….…….15
1. 3 Melancholie und Mythologie: Der Saturn-Kult…………………………...….17
1. 4 Melancholie und Soziologie………………………………………………….....18
1. 4. 1 Robert Burtons Melancholieverbot………………………………………18
1. 4. 2 Die Melancholie des Adels im 17. Jahrhundert………………...………..19
1. 4. 3 Bürgerliche Melancholie, Weltschmerz und Hypochondrie
im 18. Jahrhundert………………………………...……………………..20
1. 4. 4 Melancholie und Aufklärung……………………………………………..22
1. 5 Melancholie und Philosophie…………………………………………..………24
1. 5. 1 Melancholiereflexionen bei Pseudo-Aristoteles………................……….24
1. 5. 2 Melancholie in der Renaissance: Marsilio Ficino…………………….…26
1. 5. 3 Philosophische Begründung der Melancholie bei Denis Diderot..............27
1. 5. 4 Melancholie und Anthropologie.................................................................27
1. 5. 5 Melancholie und literarische Erfahrungsseelenkunde...............................28
1. 5. 6 Walter Benjamin.........................................................................................29
1. 6 Melancholie und Literatur..................................................................................29
1. 6. 1 „Wonne der Wehmut“: Die Empfindsamkeit.............................................29
1. 6. 2 Die europäische Weltschmerz-Bewegung um 1800....................................31
1. 6. 3 Melancholie und Romantik.........................................................................34
2. Das Wandern: Melancholie-Symptom und -heilmittel.............................................36
3. Wilhelm Müller und Franz Schubert – zwei „Weltschmerzler“?.............................40
3. 1 Wilhelm Müller....................................................................................................40
3. 2 Franz Schubert...................................................................................................44
4. Der Gedicht- bzw. Liederzyklus: Entwicklung und Merkmale.................................50
4. 1 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Gedichtzyklus...........................50
4. 2 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Liederzyklus.............................55
4. 3 Zu überprüfende zyklische Merkmale der „Winterreise“............................59
3
5. Die „Winterreise“.......................................................................................................60
5. 1 Entstehungsgeschichte der Dichtung.................................................................60
5. 2 Entstehungsgeschichte der Komposition...........................................................61
5. 3 Die zyklischen Merkmale der Dichtung............................................................62
5. 3. 1 Linearität....................................................................................................62
5. 3. 2 Kohärenz.....................................................................................................65
5. 3. 2. 1 Die formale Anlage der Gedichte................................................65
5. 3. 2. 2 Kohärenzstiftende Motive...........................................................66
5. 3. 2. 2. 1 Traurigkeit und Schmerz..........................................69
5. 3. 2. 2. 2 Orientierungslosigkeit und Unruhe..........................76
5. 3. 2. 2. 3 Einsamkeit und Menschenverachtung......................77
5. 3. 2. 2. 4 Einbildungskraft.......................................................79
5. 3. 2. 2. 5 Desillusionierung......................................................82
5. 3. 2. 2. 6 Todessehnsucht.........................................................85
5. 3. 2. 2. 7 Nihilismus.................................................................88
5. 3. 3 Mittelpunktsbezogenheit: thematisches Zentrum Wanderschaft...............90
5. 3. 4 Geschlossenheit.........................................................................................91
5. 4 Die zyklischen Merkmale der Komposition......................................................95
5. 4. 1 Linearität...................................................................................................96
5. 4. 2 Kohärenz....................................................................................................99
5. 4. 2. 1 Die formale Anlage der Lieder...................................................99
5. 4. 2. 2 Bezüge zwischen den Liedern....................................................99
5. 4. 3 Mittelpunktsbezogenheit..........................................................................102
5. 4. 4 Geschlossenheit.......................................................................................105
5. 5 „Beschönigt ist nichts, aber alles ist schön.“ – Die Melancholie
in der Komposition...........................................................................................107
5. 5. 1 Tonartencharakteristik............................................................................111
5. 5. 2 Rhythmik..................................................................................................114
5. 5. 3 Harmonik.................................................................................................115
5. 5. 4 Melodik....................................................................................................118
5. 5. 5 Tongeschlechter.......................................................................................119
Zusammenfassung und Ausblick.................................................................................121
Literaturverzeichnis......................................................................................................125
Wahrheitsgemäße Erklärung.......................................................................................136
Lebenslauf der Verfasserin..........................................................................................137
4
Einleitung
„Schubert wurde durch einige Zeit düster gestimmt und schien
angegriffen. Auf meine Frage, was in ihm vorgehe, sagte er nur,
„nun, ihr werdet es bald hören und begreifen.“ Eines Tages sagte er
zu mir, „komme heute zu Schober, ich werde euch einen Zyklus
schauerlicher Lieder vorsingen. Ich bin begierig zu sehen, was ihr
dazu sagt. Sie haben mich mehr angegriffen, als dieses je bei anderen
Liedern der Fall war.“ Er sang uns nun mit bewegter Stimme die
ganze „Winterreise“ durch. Wir waren über die düstere Stimmung
dieser Lieder ganz verblüfft, und Schober sagte, es habe ihm nur ein
Lied, „Der Lindenbaum“, gefallen. Schubert sagte hierauf nur, „mir
gefallen diese Lieder mehr als alle, und sie werden euch auch noch
gefallen“; und er hatte recht, bald waren wir begeistert von dem
Eindruck der wehmütigen Lieder, die Vogl meisterhaft vortrug.“1
Diese Erinnerung Josef von Spauns an den Eindruck, den die „Winterreise“ anfangs
auf ihn und einige andere Freunde Franz Schuberts machte, sagt etwas sehr
Wesentliches über dieses Werk aus. Es ist „schauerlich“, „düster“ und „wehmütig“ –
kurz: melancholisch. Dies gilt für den Text des Werkes aus der Feder Wilhelm Müllers
gleichermaßen wie für den Liederzyklus, also die vertonte Version, auf die sich obiges
Zitat bezieht. Zu behaupten, dass sich hierüber seit der Entstehungszeit des Werks alle
Rezipienten einig sind, stellt wohl keine Übertreibung dar. Andererseits existiert keine
Analyse des Zyklus, in der einmal explizit untersucht worden wäre, woran diese
Behauptung festzumachen sei. Meist bleibt es hier bei der recht vagen Feststellung,
dass die Gedichte bzw. Lieder der „Winterreise“ melancholisch seien.2 Konkrete
Belege für die Melancholie des Werks oder gar eine umfassend begründete Einordnung
desselben in den Melancholie-Diskurs liegen bislang noch nicht vor. Bosse und
Neumeyer3 und auch Braungart und Dürr4 befassen sich ansatzweise mit dieser Frage,
in der möglichen Ausführlichkeit wird das Problem jedoch auch hier nicht behandelt.
Diese Lücke möchte die vorliegende Arbeit zu schließen versuchen.
Hierzu erfolgt im ersten Kapitel ein Abriss des Melancholie-Diskurses von der Antike
bis zur Gegenwart, der in den verschiedensten Disziplinen (der Medizin, der Theologie,
der Literatur u.a.) vonstatten geht, um schließlich eine genauere Aussage darüber
treffen zu können, was unter der bislang unscharf bestimmten „Melancholie der
1
VON SPAUN, Josef: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert (1858). In: Schubert. Die
Erinnerungen seiner Freunde. Gesammelt und hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Wiesbaden 1983, S. 160 f.
22
Vgl. z.B.: COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles. Interpretations and Texts. Chapel
Hill 1970, S. 48.
3
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön. Musensohn und Wanderlied um
1800. Bd. 35 der Rombach Wissenschaft-Reihe Litterae. Hrsg. von Gerhard NEUMANN und Günter
SCHNITZLER. Freiburg im Breisgau 1995, insb. S. 122 ff.
4
BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert. Von Musikern, Dichtern und
Liebhabern. Eine Anthologie. Hrsg. von Georg BRAUNGART und Walther DÜRR. Stuttgart 1996, S. 7-37.
5
‚Winterreise’“ konkret zu verstehen sei. Besonders in diesem Kapitel muss aus
Gründen der Länge auf einige Aspekte verzichtet werden, die auch überaus interessant
wären: So werden etwa die Melancholie-Reflexionen der Frankfurter Schule bis auf
diejenigen Walter Benjamins weggelassen (letzterer bezieht sich besonders stark auf
den historischen Melancholie-Diskurs).5 Nietzsche und Schopenhauer müssen hier
ebenfalls unberücksichtigt bleiben; Kierkegaard wird nur ganz kurz angetippt.
Mit dem Themenkomplex Melancholie ist auch das darauf folgende Kapitel verknüpft,
das sich mit dem Zusammenhang von Melancholie und Wandern bzw. Reisen
beschäftigt; ebenso soll das Kapitel über die beiden Künstler Müller und Schubert bzw.
deren
weltanschaulichen
Hintergrund
Wesentliches
zur
Beantwortung
der
Fragestellung leisten. Besonders zur Biographie Wilhelm Müllers existiert aufgrund
des verstärkten Forschungsinteresses der letzten Jahrzehnte eine beachtliche Menge an
Sekundärliteratur, die in diesem Rahmen natürlich nicht in vollem Umfang verarbeitet
werden kann. Als grundlegend wird hier die immer noch einschlägige Monographie
von Cecilia Baumann6 betrachtet. Ansonsten werden in erster Linie diejenigen
Forschungsarbeiten und Quellen herangezogen, die für die spezielle Fragestellung des
Kapitels relevant sind. Die dort entwickelten Ergebnisse werden auch bei der
Betrachtung der Texte der „Winterreise“ noch einmal aufgegriffen und z.T. vertieft.
Die Melancholie, die aufgrund dieser Untersuchungen als für die „Winterreise“
bestimmend herausgearbeitet wurde, soll sodann sowohl auf textlicher wie auch auf
musikalischer Ebene konkret nachgewiesen werden.7 Hierbei geht es in der Dichtung
vor allem um die Darstellung bestimmter kohärenzstiftender Motive, die ich als
„Melancholie-Motive“ bezeichne, da sie durchweg aus dem traditionellen MelancholieDiskurs stammen. Bezüglich der Komposition soll die Frage erörtert werden, mit Hilfe
welcher musikalischer Mittel die Melancholie der „Winterreise“ zum Ausdruck
gebracht wird.
Ein anderer Schwerpunkt dieser Arbeit liegt auf der Betrachtung der zyklischen Anlage
von Musik und Text. Zu diesem Thema liegen zwar schon weitaus mehr Publikationen
vor8 (zu nennen wären u.a. Ludwig Stoffels´ Abhandlung „Die Winterreise. Müllers
5
Zu den anderen Vertretern der Frankfurter Schule und deren Verbindungen zur Melancholie vgl.
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie. Eine Herausforderung philosophischer Reflexion.
München 1996, S. 156 ff.
6
BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles: His Life and Works.
Pennsylvania State University, USA 1981.
7
Es ist durchaus möglich, den Text der „Winterreise“ losgelöst von der Komposition zu betrachten
(umgekehrt ist dies natürlich nicht denkbar). Man muss schließlich berücksichtigen, dass das Werk zuerst
als Gedichtzyklus veröffentlicht und erst später vertont wird.
8
Budde behauptet dennoch, dass diese Frage bislang selten gestellt worden sei (vgl. BUDDE, Elmar:
Schuberts Liederzyklen. Ein musikalischer Werkführer. München 2003, S. 9).
6
Dichtung in Schuberts Vertonung“9, Christiane Wittkops Beitrag „Polyphonie und
Kohärenz“10, die sich ausschließlich mit der Dichtung auseinandersetzt11, oder auch
Elmar Buddes eben zitierter Band „Schuberts Liederzyklen“, in der die Vertonung im
Vordergrund steht12). Doch dass die Melancholie der „Winterreise“ in verschiedener
Hinsicht in der zyklischen Struktur des Werks ihren Ausdruck findet, scheint bisher
noch niemand festgestellt zu haben. Wenn der Zyklus also auf mehrere zyklische
Kriterien hin analysiert wird – auch hier werden Dichtung und Vertonung betrachtet –,
dann wird dabei auch immer auf die jeweiligen Verbindungen zum MelancholieDiskurs Bezug genommen. Zur Entwicklung der zu überprüfenden Kriterien und zur
Möglichkeit einer Einordnung der „Winterreise“ in die Geschichte des Gedicht- bzw.
Liederzyklus wird ein eigenes Kapitel diesem Themenkomplex gewidmet sein. Hierbei
wird sich zeigen, dass zyklische Dichtung gerade in der Epoche der Romantik eine
äußerst wichtige und verbreitete Gattung darstellt: Da die Romantiker nämlich die
Unmöglichkeit ihres Bestrebens erkennen müssen, das „Ganze“ zu erfassen, versuchen
sie zumindest die Annäherung daran durch kleine „Teile“. Der Behauptung ClausMichael Orts im alten „Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte“, man könne
z.B. aus der Tatsache, dass in dieser Zeit „Gedichtzyklen [...] nur sehr selten explizit
als solche überschrieben“ seien, schließen, „wie wenig im 19. Jh. Zykl. D. ausdrücklich
und als solche reflektiert worden“ sei13, kann also nicht zugestimmt werden. Dies mag
vielleicht für den Begriff „Zyklus“ gelten – nicht jedoch für die Gattung an sich. Ein
anderer Einwand könnte lauten, der Zyklusbegriff sei in dieser Zeit noch nicht so
streng wie z.B. in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts (da man etwa Zyklen selten
als Ganzes zur Aufführung bringt, sondern häufiger einzelne Teile herauslöst und in
Konzerten mit anderen Programmpunkten kombiniert14). Man würde hier also dem
Zyklus Eigenschaften unterstellen, die der Dichter gar nicht gekannt und somit nicht
beabsichtigt haben könne. Dagegen wäre jedoch mit Joachim Müller einzuwenden,
dass ein Zyklus auch dann als solcher angesehen werden kann, wenn rückwirkend
9
STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung. Bd. 48 der
Orpheus-Schriftenreihe zu Grundfragen der Musik. Hrsg. von Martin VOGEL. Bonn 1987.
10
WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz. Wilhelm Müllers Gedichtzyklus „Die Winterreise“.
Stuttgart 1994.
11
Wittkop widmet sich auch der Untersuchung von Motiven in der „Winterreise“, sie erkennt sogar
einige Motive, die sich mit meinen Melancholie-Motiven überschneiden, doch sie benennt sie nicht als
solche und nimmt auch sonst keinen Bezug auf den Melancholie-Diskurs.
12
Vgl. Anmerkung 8.
13
ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklische Dichtung“. In: Reallexikon der deutschen Literaturgeschichte.
Hrsg. von Klaus KANZOG und Achim MASSER. Berlin und New York 19842, Bd. 4, S. 1106.
14
Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 9.
7
Kriterien bei ihm feststellbar sind, die für zyklische Dichtung als konstitutiv erkannt
werden können.15
Zur Entwicklung der zu überprüfenden zyklischen Kriterien lehne ich mich an eben
diesen Aufsatz Joachim Müllers an, indem ich mich wie er sozusagen an der
Etymologie des Wortes „Zyklus“ orientiere, d.h. die Eigenschaften eines Kreises auf
den Zyklus zu übertragen versuche. Dies geschieht in der Absicht, der ursprünglichen
Bedeutung der Gattungsbezeichnung möglichst nahe zu kommen; und wiederum muss
Claus-Michael Ort widersprochen werden, der Müllers Vorgehensweise zur Herleitung
der Zykluskriterien beinah als etwas einfältig darstellt.16
Was bei der Textanalyse übrigens aus Gründen der Begrenzung unterbleiben muss,
sind ausführlichere Sprach- und Formanalysen; da motivische, d.h. inhaltliche Bezüge
zwischen den Texten im Vordergrund stehen, erscheint dies in diesem Zusammenhang
aber auch verzichtbar. Von der großen Anzahl an Forschungsarbeiten zur
„Winterreise“, die sich allerdings in den meisten Fällen eher allgemein mit Fragen des
Wort-Ton-Verhältnisses oder eben mit Text und Vertonung separat auseinandersetzen,
werden hier in erster Linie diejenigen Beiträge eingehender mit einbezogen, die am
ehesten etwas zu meiner spezifischen Fragestellung – also zur zyklischen Struktur und
zur motivisch-thematischen Gestaltung der „Winterreise“ – beitragen.
Insgesamt kann diese Abhandlung im Grunde als „interdisziplinär“ bezeichnet werden,
da sie sich auf kultur-, literatur- und musikwissenschaftlichem Terrain bewegt. Der
Schwerpunkt liegt aber auf der Betrachtung des Verhältnisses von Text und Musik der
„Winterreise“; es wird also im wesentlichen ein komparatistisches Verfahren zugrunde
gelegt. Hierbei muss man sich mit der nicht immer unproblematischen Tatsache
arrangieren, dass Literatur und Musik verschiedene Betrachtungsweisen erfordern:
Während sich zum Beispiel die Melancholie auf textlicher Ebene relativ eindeutig
belegen lässt – es sind hier, wie gesagt, eindeutige Melancholie-Motive zu finden –,
kann dies in der Vertonung oft nur an dem Eindruck oder den Gefühlen festgemacht
werden, die bestimmte kompositorische Strategien, die Schubert zum Teil in
Anlehnung an entsprechende Traditionen verwendet, im Hörer erwecken (ein Wechsel
von Dur nach Moll etwa wird aufgrund bestimmter Hörgewohnheiten zumeist, jedoch
auch wiederum nicht zwingend, als Verdunkelung der Stimmung empfunden). Zudem,
so formuliert Schmid Noerr, „stoßen wir beim Versuch, Musik zu ‚verstehen’, auf
15
Vgl. MÜLLER, Joachim: Das zyklische Prinzip in der Lyrik. In: Germanisch-romanische Monatsschrift.
Hrsg. von Dr. H. SCHRÖDER und F. R. SCHRÖDER. 20. Jahrgang, Heft I/2 (Jan./Feb. 1932). Heidelberg
1932, S. 6. Müller bezieht sich in diesem Kontext speziell auf Shakespeare-Sonette; das Argument ist
aber durchaus auch verallgemeinerbar.
16
Vgl. ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklische Dichtung“. In: Reallexikon der deutschen
Literaturgeschichte, S. 1107 f.
8
einen ihr allein eigenen Kern von ‚Bedeutung’, der sich nicht auf den wie immer
gearteten Kontext ihres kommunikativen Gebrauchs reduzieren läßt. Die Musik setzt
ihrer Projektion auf sprachlich bestimmbare Inhalte, und seien sie noch so
ungegenständlich, einen prinzipiell unauflösbaren Widerstand entgegen. Mit diesem
Widerstand, ja dieser Eigendynamik der Musikalität muß jede Interpretation rechnen
[...]“.17 Dieser Widerstand lässt sich dadurch erklären, dass Musik „zu ihrem
unwesentlichsten Teil auf der Nachbildung sinnlicher Gegebenheiten beruht“; sie ist
eine „gegenstandslose“ Kunst.18 Die Ideen, die sie vermittelt, sind nicht eindeutig zu
definieren. Andererseits kann Musik „die namenlosen Stimmungen“ ausdrücken, zu
deren Bestimmung man in der Sprache immer Situationen beschreiben muss, in denen
diese Stimmungen dann aufkommen können.19
Es geht bei der Betrachtung der Komposition übrigens, um auch dies von vornherein
klar zu machen, nicht um genaue Analysen, also um Feinstrukturen des Werks, sondern
eher um das Aufzeigen von Gesamttendenzen, das zugegebenermaßen in gewisser
Weise nicht zuletzt wegen des beschränkten Rahmens zum Teil auch laienhaft bleiben
muss.
Zur Zitierweise wäre schließlich noch zu sagen, dass hier zwischen den Gedichttexten
Müllers und dem von Schubert vertonten Text unterschieden wird: Die Gedichte
werden nach der Müller-Gesamtausgabe20 zitiert, angegeben werden bei der ersten
Erwähnung der Gedichte jeweils Gedichtnummer, Seiten- und ggf. Zeilenzahl, ab der
zweiten Erwähnung nur noch die Zeilenzahl in Klammern hinter den Zitaten. Der von
Schubert an manchen Stellen veränderte Text wird nach der für diese Arbeit
verwendeten Notenausgabe21 zitiert. Als Belege für die besprochenen Lieder werden
ebenfalls beim ersten Mal jeweils Nummer, Seiten- und ggf. Taktzahl, ab dem zweiten
Mal nur noch die Taktzahl in Klammern hinter die Zitate gesetzt. Einzig beim Titel
wird keine Unterscheidung getroffen: Abgesehen davon, dass der Zyklus bei Wilhelm
Müller eigentlich „Die Winterreise“ heißt und erst Franz Schubert den Artikel streicht,
17
SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund. Eine Interpretation des Liedes „Gute
Nacht“ aus dem Zyklus „Winterreise“ von Franz Schubert und Wilhelm Müller. Zum Verstehen von
Musik und Sprache. In: Zur Idee einer psychoanalytischen Sozialforschung. Dimensionen szenischen
Verstehens. Alfred Lorenzer zum 65. Geburtstag. Hrsg. von Jürgen BELGRAD u.a. Frankfurt/Main 1987,
S. 373 f.
18
Ebd., S. 374.
19
Ebd., S. 375.
20
MÜLLER, Wilhelm: Die Winterreise. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Hrsg. von MariaVerena LEISTNER. Band I: Gedichte I. Berlin 1994, S. 170-186.
21
SCHUBERT, Franz: Winterreise op. 89. In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der
Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie IV: Lieder. Bd. 4, Teil a. Vorgelegt von Walther DÜRR.
Kassel u.a. 1979, S. 110-191.
9
wird in dieser Arbeit der Einfachheit halber immer nur von der „Winterreise“
gesprochen, auch wenn vom Text die Rede ist.
1. Melancholie-Diskurse von der Antike bis zur Gegenwart
Wenn von der These ausgegangen wird, dass die „Winterreise“ von Melancholie
geprägt ist, dann stellt sich zunächst die grundsätzliche Frage, was Melancholie denn
überhaupt sei. Heute bezeichnet der Begriff oft schlicht eine „traurige Stimmung“, doch
entspricht dies auch der Melancholie, die in der „Winterreise“ transportiert wird? Und
woran lässt sich die Behauptung, die „Winterreise“ sei melancholisch, im Detail
festmachen? Es erscheint sinnvoll, einen Überblick darüber zu geben, wie das
Phänomen Melancholie in der Geschichte gedeutet und erklärt wurde. Hierbei wird sich
zeigen, dass es im Lauf der Zeit eine Vielzahl von unterschiedlichen Bedeutungen und
Konnotationen besaß – und dass bis heute keine vollständige Definition des Phänomens
erfolgen konnte. Dieser Abriss von Melancholie-Diskursen soll also einerseits
transparent machen, welche Vorstellungen von Melancholie zur Entstehungszeit der
„Winterreise“ kursieren, und andererseits auch das Verständnis der auf die Melancholie
anspielenden Motive, die in der „Winterreise“ auftauchen, erleichtern.
Das Phänomen Melancholie, das in der menschlichen Realität wohl schon so lange
existiert,
wie
es
Menschen
gibt,
wird
im
Lauf
der
Jahrhunderte
zum
Reflexionsgegenstand der verschiedensten Disziplinen, und besonders in der Literatur
stellt es „ein dauerhaft attraktives Thema und Motiv“ dar.22 Medizin, Theologie,
Philosophie, Literatur und Soziologie beschäftigen sich mit der Melancholie wohl vor
allem, um eine Antwort darauf zu finden, wie sie zu erklären und wie mit ihr
umzugehen sei. Dabei ist es wichtig zu beachten, dass diese eigentlich theoretischen
Melancholie-Diskurse in manchen Phasen wiederum Einfluss auf die gesellschaftliche
Realität haben. Dies gilt z.B. für das 18. Jahrhundert, in der Melancholie-Reflexionen in
der Literatur tatsächliche „Melancholie-Fälle“ in der Gesellschaft hervorrufen.
Natürlich spielen hierbei auch fast immer äußere Entwicklungen, wie etwa die Politik,
eine Rolle.23
22
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte und Textfiguration.
Stuttgart und Weimar 1997, S. 1.
23
Diese These vertritt auch Mattenklott, indem er behauptet, dass Melancholie nur scheinbar grundlos
auftrete; in Wahrheit sei sie doch immer auf (sozial-)geschichtliche Entwicklungen zurückzuführen (vgl.
MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang. Stuttgart 1968, S. 10 f.).
10
Auffällig ist die Tatsache, dass die Melancholie von Anfang an und zu allen Zeiten als
ambivalentes Phänomen charakterisiert wird, dass man ihm also positive wie negative
Merkmale zuschreibt.24
Was ich an dieser Stelle auch schon vorweg nehmen möchte, ist der Hinweis darauf,
dass es zahlreiche Begriffe gibt, die z.T. mit dem Begriff „Melancholie“ synonym
verwendet werden. Werner Nesbeda unterscheidet hier die Begriffe „Schwermut“,
„Trübsinn“, „Wehmut“, „Weltschmerz“ und später „Misanthropie“, „Hypochondrie“
etc., die ihm zufolge zwar alle nicht ganz genau das Gleiche bezeichnen wie
„Melancholie“, aber dennoch in gewisser Weise mit ihr in Zusammenhang stehen.25
Einzig der Begriff „Schwermut“ kann als vollwertiges Synonym der Melancholie
betrachtet werden.26
Die „Stationen“, die ich bei meinem Durchgang durch den Melancholie-Diskurs
ansteuere, habe ich deshalb gewählt, weil die meisten von ihnen immer bemüht werden,
wenn es um Melancholie geht, und weil sie auch selbst immer wieder aufeinander
Bezug nehmen. Man kann sagen, dass über die Jahrhunderte hinweg quasi eine
„virtuelle Diskussion“ über Melancholie stattfindet; der Melancholie-Diskurs zeichnet
sich also durch ein „ausgeprägte[s] Traditionsbewußtsein“ aus.27
1. 1 Der Melancholie-Diskurs in Medizin und Psychoanalyse
Mit der Melancholie als medizinischem Phänomen und vor allem den jeweils aktuellen
Behandlungsmethoden befasst sich Jean Starobinski in seiner „Geschichte der
Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900“.28 Er weist hier darauf hin, dass
das Wort „Melancholie“ sei dem fünften vorchristlichen Jahrhundert von Ärzten benutzt
werde, dass es jedoch immer sehr verschiedene Erscheinungen bezeichne.29 Denn
während etwa in der Antike mit „Melancholie“ noch das Vorherrschen des schwarzen
Gallensaftes gemeint ist, wird das Wort auch in der aufkommenden Psychoanalyse
gebräuchlich und meint hier die Krankheit der Depression. Interessant ist aber, dass sich
die unterschiedlichen Bedeutungen von Melancholie nicht ablösen, sondern vielmehr
nebeneinander bestehen bleiben, selbst wenn sie sich z.T. widersprechen. „Neu
24
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik. Studien zur deutschen Romantik (Diss.). München
1991, S. 140.
25
Vgl. ebd., S. 16 ff. und 22 ff.
26
Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik. Frankfurt/Main 1984, S. 13.
27
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 196. Die Beschäftigung der bildenden
Kunst mit der Melancholie (v.a. Albrecht Dürers Stich „Melencolia I“ von 1514) kann leider in diesem
Rahmen nicht untersucht werden (vgl. hierzu: KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz:
Saturn und Melancholie. Studien zur Geschichte der Naturphilosophie und Medizin, der Religion und der
Kunst. Frankfurt/Main 1990, S. 406-522). Der Bezug zur Musik wird weiter unten hergestellt.
28
STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900. Basel 1960.
29
Vgl. ebd., S. 9.
11
auftauchende Bedeutungen verdrängen die alten nicht, kurz, es handelt sich nicht um
einen Verfalls- und Verwandlungsprozeß, sondern um ein sich parallel vollziehendes
Fortleben.“30
1. 1. 1 Die „melancholia“ der Antike
Ihre Wurzeln hat die Beschäftigung mit der Melancholie, wie gesagt, in der Antike. Hier
kommt nämlich die so genannte „Humoralpathologie“ auf, die „Viersäftelehre“, die im
vor ca. zweieinhalbtausend Jahren entstandenen „Corpus Hippocraticum“ entwickelt
wird und in die das Wort „melancholia“ um 400 v. Chr. Eingang findet. In der Schrift
„Von der Natur des Menschen“, die vermutlich von Polybos, dem Schwiegersohn des
Hippokrates, stammt, trägt dieser als erster die Lehre von der Vierzahl der Säfte, der
„humores“, im menschlichen Körper vor: Hier seien außer der „melancholia“, also des
„schwarzen Gallensaftes“, noch das Blut („sanguis“), der Schleim („phlegma“) und die
gelbe Galle („cholera“) vorhanden31 – heute ist bekannt, dass von diesen vier Säften
gerade der schwarze Gallensaft nicht existiert.
Doch der Humoralpathologie zufolge lassen sich aus der Ausgewogenheit („Eukrasie“)
bzw. dem Ungleichgewicht („Dyskrasie“) dieser Säfte Krankheiten, aber auch
Verhaltensweisen und Charaktereigenschaften des Menschen erklären.32 „Die vier Säfte
sind also insofern Ursache von Krankheit und Gesundheit, als ihre richtige Mischung
Gesundheit bedeutet, das Überwiegen oder der Mangel des einen oder des anderen
Stoffes aber die Krankheit bedingt.“33 Traurigkeit oder, modern gesprochen, depressive
Verstimmungen eines Menschen, führt man auf das Vorherrschen des schwarzen
Gallensaftes gegenüber den anderen Säften zurück.
Als für diesen Saft typisch wird seine Fähigkeit angesehen, sich extrem erhitzen bzw.
abkühlen zu können. So erklärt man es sich auch, dass die Betroffenen schlaff und
stumpfsinnig oder auch rasend bis zum Wahnsinn sein können.34
Gefestigt wird dieses Viererschema im zweiten Jh. n. Chr. noch durch den römischen
Arzt Claudius Galenus, der die Säfte in Analogie zu den vier Elementen und allen
anderen wichtigen Vierheiten – wie den Jahreszeiten oder den Lebensaltern – setzt,
wobei er die Auffassung vertritt, dass in jeder Jahreszeit und in jedem Lebensalter ein
anderer Saft vorherrschend sei (die „melancholia“ z.B. im Herbst bzw. im
30
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 39.
Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 32 f. Entstehen kann diese Theorie zum einen
aus der Lehre der Pythagoreer, die die Vierheit als perfekte Harmonie ansehen, sowie aus der
Naturphilosophie des Empedokles, der grundsätzlich eine Gemischtheit des Materiellen annimmt (vgl.
ebd., S. 33).
32
Vgl. ebd.
33
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 47.
34
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 21.
31
12
Mannesalter).35 Später wird dieses System noch um die Qualitäten Hitze, Kälte,
Feuchtigkeit und Trockenheit bzw. noch später durch deren Kombinationen (warmtrocken, warm-feucht, kalt-feucht, kalt-trocken) ergänzt.36 Der „melancholia“ wird die
Kombination „kalt-trocken“ zugeordnet.
Was im Lauf des Mittelalters auch noch zu Galens Schema hinzukommt, sind die vier
Temperamente: Der Sanguiniker, der Phlegmatiker, der Choleriker und der
Melancholiker werden als vier verschiedene psychologische Typen betrachtet. Dies
beruht auf der Annahme, dass die Säfte nicht nur physische, sondern vor allem
psychische Auswirkungen auf den Menschen hätten. Grundsätzlich bleiben aber Galens
Erkenntnisse bis ins 18. und 19. Jahrhundert erfolgreich.37
1. 1. 2 Pathologisierung der Melancholie im 18. Jahrhundert
Das Stigma der Krankheit haftet auch die folgenden Jahrhunderte hindurch fast immer
in irgendeiner Form an der Melancholie, wenn auch andere Bedeutungen hinzutreten.
Besonders interessant wird der medizinische Melancholie-Diskurs wieder im 18.
Jahrhundert, in dem sich in der Philosophie zwar eine Nobilitierung, parallel in der
Medizin aber eine Pathologisierung der Melancholie durchsetzt. Dies hat seinen Grund
in den teilweise polemischen Urteilen, die die Aufklärer über die Melancholie fällen
(hierauf wird jedoch weiter unten noch eingegangen). Melancholie wird mit
„Geistesstörungen“ gleichgesetzt, also als eine Form des Wahnsinns betrachtet.38
Mitverantwortlich für die Entstehung dieser neuen Idee ist der Franzose Anne-Charles
Lorry, der die Theorie aufstellt, dass es neben der durch die schwarze Galle bedingten
Humoralmelancholie (= „Melancholia adusta“) auch eine „nervöse Melancholie“ (=
„Melancholia nervosa“) gebe, die sich durch Verkrampfungszustände des Körpers
auszeichne.39 „Von jetzt an wird diese Krankheit als innerhalb des Nervensystems sich
abwickelnd angesehen: die Melancholie bleibt nun eine Erkrankung des sinnlich
reizbaren Seins.“40 Im Lauf des 18. Jahrhunderts setzt sich diese Überzeugung immer
mehr durch, so dass die Ideen der Humoralpathologie bald ihre Gültigkeit gänzlich
verlieren und nur noch die Nerven bzw. der Kopf als Ursache für die Entstehung von
Melancholie betrachtet werden.41 Bei Diagnose und Therapie werden nun übrigens auch
35
Vgl. KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 39.
Vgl. ebd., S. 44.
37
Vgl. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 27.
38
Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung. Melancholiker und ihre Kritiker in
Erfahrungsseelenkunde und Literatur des 18. Jahrhunderts. Stuttgart 1977, S. 60.
39
Vgl. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 51 f.
40
Ebd., S. 55.
41
Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 22 ff.
36
13
Veranlagung und soziales Umfeld der Patienten berücksichtigt42, doch paradoxerweise
wird die Schuld für die Erkrankung immer zuerst beim Patienten selbst vermutet.43
Vor allem dann, wenn die Therapie keine Wirkung zeigt, erfolgt ein Ausschluss des
Betroffenen aus der Gesellschaft (d.h. konkret: Er wird in ein Irrenhaus eingewiesen).44
Hierbei muss allerdings auch erwähnt werden, dass die angewendeten „Heilmethoden“
eher Foltermethoden gleichkommen (Behandlung mit Arsen, Schocktherapie und
Kastration sind hierfür nur wenige Beispiele).45
1. 1. 3 Melancholie und Psychoanalyse
Der Begriff der Melancholie kehrt auch in modernen psychoanalytischen Theorien
wieder, so etwa bei Sigmund Freud und Julia Kristeva.
1. 1. 3. 1 Sigmund Freud
Freuds Schrift „Trauer und Melancholie“ von 191746 wird von Martina WagnerEgelhaaf als „Basistext aller psychoanalytischen Melancholietheorie“ bezeichnet.47 Der
Verfasser erklärt hier die Entstehung von Melancholie in etwa folgendermaßen: Eine
Person verliert ein geliebtes Objekt oder erfährt eine Enttäuschung durch ein geliebtes
Objekt. Daraufhin zieht sie aber nicht, wie im Falle der Trauer, mit der Zeit ihre Libido
wieder von dem Objekt ab, sondern beginnt sich mit diesem zu identifizieren. Somit
richtet sich nun auch der Hass, der eigentlich dem Gegenüber aufgrund der erfahrenen
Kränkung gilt, gegen das eigene Ich. Hierin liegt auch der Grund dafür, dass sich
Melancholiker nach Freuds Aussage mit permanenten Selbstvorwürfen quälen. All dies
geschieht natürlich vollkommen unbewusst. Der Melancholiker selbst weiß nicht, was
er verloren hat. Ein besonders interessanter Aspekt, den Freud herausarbeitet, besteht in
der ausgeprägten Mitteilsamkeit des Melancholikers. Er kann nicht aufhören, seine
Klagen und Selbstvorwürfe ständig zu wiederholen. Hierbei empfindet er auch keinerlei
Scham vor den Zuhörern: „Man könnte am Melancholiker beinahe den gegenteiligen
Zug einer aufdringlichen Mitteilsamkeit hervorheben, die an der eigenen Bloßstellung
eine Befriedigung findet“.48
42
Vgl. ebd., S. 38.
Vgl. ebd., S. 41.
44
Vgl. ebd., S. 41 sowie S. 67 ff.
45
Vgl. ebd., S. 47 ff.
46
FREUD, Sigmund: Trauer und Melancholie. In: Ders.: Studienausgabe. Hrsg. von Alexander
MITSCHERLICH, Angela RICHARDS und James STRACHEY. Bd. III: Psychologie des Unbewußten.
Frankfurt/Main 1982, S. 193-212.
47
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 159.
48
FREUD, Sigmund: Trauer und Melancholie, S. 201.
43
14
1. 1. 3. 2 Julia Kristeva
Von Freuds Überlegungen geht auch die Literaturtheoretikerin und Psychoanalytikerin
Julia Kristeva aus, indem sie in ihrer Abhandlung „Black sun“49 ebenfalls eine
Verlusterfahrung als Hauptursache der Melancholie annimmt. Allerdings führt sie die
Schwermut nicht auf den Verlust eines konkreten „Objekts“ („Object“) zurück, sondern
ihrer Ansicht nach trauert der Melancholiker um ein abstraktes „Ding“ („Thing“)50,
etwas nicht Benennbares, das er im Moment seiner Geburt verloren hat: das Eins-Sein
mit der Mutter.51 Anstatt zu versuchen, diesen Verlust zu überwinden, klammert sich
nun der Melancholiker an seiner Traurigkeit als einer Art „Ersatzobjekt” fest: „For such
narcissistic depressed persons, sadness is really the sole object; more precisely it is a
substitue object they become attached to, an object they tame and cherish for lack of
another.”52 Man könnte hier also beinah von einer „Verlust-Lust” sprechen: Durch seine
Traurigkeit möchte der Melancholiker die Erinnerung an die Verlusterfahrung
unbedingt erhalten – was seine Melancholie natürlich wiederum fördert.
1. 1. 3. 3 Moderne psychoanalytische Melancholiekonzepte
In der modernen Psychoanalyse wird die Melancholie heute häufig als „zyklothyme“
oder auch „endogene Depression“ bezeichnet. Laut Wolfram Schmitt53 sind sich die
Psychiater zumeist einig bezüglich der Symptome dieser Erkrankung, nicht jedoch in
der Frage, „was Melancholie ist“. Sie zeichnet sich aus durch solche Merkmale wie „1.
Verstimmung 2. Vitalstörungen 3. Hemmung 4. Wahn 5. Suizidalität 6. körperliche
Störungen,
insbesondere
Biorhythmusstörungen“,
die
in
verschieden
starker
Ausprägung auftreten können.54 Doch über die tatsächlichen Ursachen der Melancholie
existieren lediglich Theorien, vom „biologisch-naturwissenschaftliche[n] Konzept“,
demzufolge die Melancholie manchen Menschen einfach in den Genen liegt55, über das
„rollentheoretische
Konzept“,
in
dem
die
Melancholie
auf
eine
„Übergewissenhaftigkeit“ des Betroffenen, d.h. eine zu starke Identifikation mit seiner
Rolle, zurückgeführt wird, bis hin zum Verständnis der Melancholie als Folge von
„Wahrnehmungsveränderungen“.56
49
Als
die
beiden
„für
das
heutige
KRISTEVA, Julia: Black Sun. Depression and Melancholia. New York 1989.
Ebd., S. 13.
51
Vgl. ebd., S. 27 ff.
52
Ebd., S. 12.
53
SCHMITT, Wolfram: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie. In: Schriften zur
Psychopathologie, Kunst und Literatur I: Melancholie in Literatur und Kunst. Hrsg. von Dietrich VON
ENGELHARDT u.a. Stuttgart 1990, S. 14-28.
54
Ebd., S. 14.
55
Ebd., S. 18.
56
Ebd., S. 19.
50
15
Melancholieverständnis wohl grundlegenden Positionen“ bezeichnet Schmitt erstens
„die phänomenologisch deskriptiv-verstehende Richtung der Kurt-Schneider-Schule,
fortgeführt vor allem durch Weitbrecht“, und zweitens „die phänomenologischanthropologisch-daseinsanalytischen Ansätze, verbunden mit den Namen Minkowski,
Straus, v. Gelbsattel, Binswanger und Tellenbach“. Während das erste Konzept davon
ausgeht, dass die Melancholie „wesentlich eine emotionale Störung“ sei, geht es dem
zweiten Ansatz um den Versuch einer „Wesensbestimmung der Melancholie“, also um
die Frage, worin ihre grundlegende Ursache bestehen könne, aus der dann auch alle
Symptome ableitbar seien.57
1. 2 Melancholie und Theologie: Die Todsünde „acedia“ im Mittelalter
Mit dem Erstarken des Christentums im Mittelalter wird die Melancholie – wenn auch
unter einem anderen Namen, nämlich als „acedia“ (also „Trägheit“, genauer:
„Herzensträgheit“) bzw. „tristitia“ („Traurigkeit“) – von einer Krankheit zu einer der
Sieben Todsünden.58 Der Grund für diese Verschiebung liegt darin, dass die Kirche es
nicht akzeptieren kann und will, dass ein erlöster Christ, der sich über die Vergebung
seiner Sünden und auf ein Leben im Neuen Jerusalem freuen soll, Trägheit bzw.
Traurigkeit empfindet und sich ihr hingibt. Anders ausgedrückt: Wenn ein Mensch nicht
an sein Seelenheil glauben will, muss die Kirche als diejenige Instanz, die sich als
dessen Vermittlerin sieht, ein solches Verhalten natürlich als Sünde verurteilen.
Zugeordnet ist diese Form der Melancholie übrigens v.a. den Mönchen, weswegen sie
auch als „Mönchskrankheit“ bezeichnet wird.59
Die einzige Form von Trauer, die in dieser Zeit erlaubt, ja fast geboten ist, ist die Trauer
über die eigene Sündhaftigkeit sowie auch über die Sündhaftigkeit der Welt allgemein.
Diese Unterscheidung zwischen verschiedenen Arten von Traurigkeit geht auf eine
Passage im zweiten Brief des Paulus an die Korinther (2. Korinther 7, 10) zurück, in der
dieser zwischen „nützlicher, heilsbefördernder Traurigkeit“ (im Lateinischen: „tristitia
utilis, salutaris“) und „todbringender Traurigkeit“ („tristitia mortifera“) unterscheidet.60
57
Ebd., S. 20.
Vgl. zu diesem Abschnitt: LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 38 ff. Zu den Sieben
Todsünden gehören außerdem der Hochmut („superbia“), die Habsucht („avaritia“), die Wollust
(„luxuria“), der Zorn („ira“), die Völlerei („gula“) und der Neid („invidia“).
59
STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 35.
60
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 40. In einer modernen Lutherbibel lautet dieser
Vers: „Denn die Traurigkeit nach Gottes Willen wirkt zur Seligkeit eine Reue, die niemanden reut; die
Traurigkeit der Welt aber wirkt den Tod“ (Die Bibel. Nach der Übersetzung Martin LUTHERS. Bibeltext
in der revidierten Fassung von 1984. Hrsg. von der Evangelischen Kirche in Deutschland. Stuttgart 2000,
S. 210)
58
16
Diese Verteufelung der Melancholie wird auch in der Literatur verarbeitet, und zwar
auch und vor allem noch „in der protestantisch geprägten quasi-belletristischen
Teufelbücherliteratur im Gefolge des Lutherischen Teufelsglaubens [...]“, in der es für
jedes Laster einen personifizierten Teufel gibt (für die Melancholie ist dies der
„Melancholische Teuffel“).61
Im Lauf der Zeit verschwindet das „acedia“-Konzept allmählich aus dem Bewusstsein
und findet auch bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts keine Erwähnung mehr in
Lexika. Bei der Wiederentdeckung des Begriffs der „acedia“ (in Verbindung mit dem
„ennui“) in dieser Zeit ist allerdings ihre Sündendimension verblasst. Sie wird nun eher
als Vorform des Weltschmerzes aufgefasst, und besitzt eine mehr kulturpsychologische
denn moraltheologische Bedeutung.62
Ihren Negativ-Charakter verliert die Melancholie in der Theologie im Laufe der
Jahrhunderte aber nie. Sie wird hier immer abgelehnt, denn wer an ihr leidet, hat
offensichtlich kein Gottvertrauen und keinen Glauben an die Erlösung.63 Darauf, dass
auch noch die Theologie des 18. Jahrhunderts die Melancholie als Hybris verurteilt, da
der Melancholiker nicht bereit sei, die Gnade Gottes zu akzeptieren, sondern „die
Schuld an der schlechten Welt als seine persönliche“ ansehe, weist Mattenklott hin.64
In eine ähnliche Richtung gehen auch die Gedanken Søren Kierkegaards, der in seinem
„melancholiespezifischen Hauptwerk“65, das den Titel „Die Krankheit zum Tode“66
trägt, die Verzweiflung als „Sünde“ – eben als „Krankheit zum Tode“ – bezeichnet:
„Verzweiflung ist die Sünde“.67 Und ähnlich wie die mittelalterliche Kirche kritisiert er
die Unfähigkeit oder mangelnde Bereitschaft des melancholisch-verzweifelten
Menschen, an die Vergebung der Sünden durch Gottes Gnade zu glauben:
„Du sollst glauben“, hieß es in alten Tagen, kurz und gut, so nüchtern
wie möglich – jetzt ist es genial und ein Zeichen für eine tiefe Natur,
es nicht zu können. „Du sollst an die Vergebung der Sünden glauben“,
hieß es, und der einzige Kommentar zu diesem Text lautete: „Dir soll
ein Unglück geschehen, wenn du es nicht kannst; denn was man soll,
das kann man“ – jetzt ist es genial und ein Zeichen für eine tiefe
Natur, es nicht glauben zu können.68
Kurz: Für Kierkegaard ist es „Sünde, an der Vergebung der Sünden zu verzweifeln“.69
61
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 47.
Vgl. ebd., S. 52 ff.
63
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 140.
64
MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 33.
65
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 146.
66
KIERKEGAARD, Søren: Die Krankheit zum Tode. Aus dem Dänischen übersetzt und mit Anmerkungen
versehen von Gisela PERLET. Stuttgart 1997.
67
Ebd., S. 87.
68
Ebd., S. 132.
69
Ebd., S. 129.
62
17
1. 3 Melancholie und Mythologie: Der Saturn-Kult
Nicht nur in der antiken Medizin, sondern auch in der Mythologie dieser Zeit finden
sich Gedanken, die in den Melancholie-Diskursen der folgenden Jahrhunderte
weiterwirken. Hierzu gehört die Idee, die Melancholie mit dem Planeten Saturn in
Verbindung zu bringen.
Fast allen Schriftstellern des späteren Mittelalters und der Renaissance
galt es als unumstößliche Tatsache, daß die Melancholie, die
krankhafte wie die natürliche, in einer besonderen Beziehung zu
Saturn stehe und daß dieser „schuld habe“ an den unglücklichen
Eigenschaften und Schicksalen des Melancholikers.70
Diese Zuordnung der Melancholie zum Planeten Saturn ist bei arabischen Autoren des
9. Jahrhunderts belegbar, so etwa bei Abû Ma´šar.71 Sie hängt damit zusammen, dass
man glaubt, die Farbe Saturns sei schwarz und seine Natur sei kalt und trocken – was ja,
wie oben ausgeführt, den Eigenschaften der schwarzen Galle entspricht.72 Andererseits
richten sich die Charakteristika, die man den Planeten zuschreibt, aber auch nach dem,
was die Mythologie von den entsprechenden Gottheiten überliefert. Hierbei war im
Zuge der Hellenisierung der altlateinische Flurgott Saturn mit dem Gott Kronos (bzw.
Chronos) gleichgesetzt worden.73
Schon in den Quellen, aus denen die Saturnvorstellung der arabischen
Astrologie hervorgegangen ist, waren die Wesenszüge des uralten
lateinischen Flurgotts Saturnus zusammengeflossen mit denen des
Kronos, des von Zeus gestürzten und entmannten Sohns des Uranos,
sowie mit denen des Chronos, der schon im Altertum mit jenen beiden
gleichgesetzten Zeitgottheit.74
Kronos erscheint schon immer als extrem ambivalent, als Gott der Gegensätze. Er ist
der Gott der Ernte und des Goldenen Zeitalters, und zugleich grausam und
zurückgezogen. Durch diese Analogisierung Saturns mit Kronos und Chronos, die ja
beide verschiedene Eigenschaften in sich tragen, ist das vielschichtige Bild Saturns zu
erklären, das seinerseits wiederum auf die Melancholie übertragen wird.
Wie die Melancholie, so verleiht auch Saturn, jener Dämon der
Gegensätze, der Seele sowohl die Trägheit und den Stumpfsinn als
auch die Kraft der Intelligenz und der Kontemplation. Wie die
Melancholie bedroht auch er die ihm Unterworfenen, mögen sie noch
so erlauchte Geister sein, mit Schwermut oder gar Irrsinn.75
70
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 203.
Vgl. ebd., S. 203.
72
Vgl. ebd., S. 204.
73
Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 27.
74
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 210 f.
75
Ebd., S. 245.
71
18
Anliegen der Kirche ist es im Mittelalter natürlich, diesen Glauben an die Astrologie zu
bekämpfen. So werden sowohl der Saturn- als auch der Kronoskult in dieser Zeit
verdrängt.76
1. 4 Melancholie und Soziologie
1. 4. 1 Robert Burtons Melancholieverbot
In der Barockzeit wird die Melancholie „zum Signum einer ganzen Epoche“, was aus
den Auseinandersetzungen im politischen wie religiösen Bereich herrührt und auch
seine
Wurzeln
in
einem
zunehmenden
„Vertrauensverlust
in
die
göttliche
Heilsgewißheit“ hat.77 Eine Reaktion hierauf findet sich in der Vorrede zu Robert
Burtons “Anatomy of Melancholy”78, die im Jahre 1621 in erster Auflage erscheint
(fünf weitere Auflagen folgen). Im Hauptteil dieses Werkes definiert Burton die
Melancholie79, erläutert ihre verschiedenen Erscheinungsformen80 und analysiert ihre
Ursachen81, wobei er alle bis zu seiner Zeit aufgestellten Theorien mit in seine
Darstellung einbezieht.
Eine „entscheidende Passage“ der Abhandlung stellt jedoch laut Lepenies die Vorrede
dar82, da sie eine Gesellschaftsutopie als Gegenentwurf zur in der Gesellschaft
herrschenden Melancholie enthält. Burtons Ansicht nach ist die Melancholie gerade im
England seiner Zeit extrem weit verbreitet. Dies führt er auf die Missstände im Staat
zurück:
Aber wo sich Unzufriedenheit, allgemeine Mißstände, Armut,
Barbarei, Bettlertum, Plagen, Kriege, Rebellionen, Aufruhe, Meuterei,
Zwietracht, Müßiggang, Ausschweifungen, Genußssucht breitmachen,
wo das Land brachliegt, wüst und von Mooren, Fenn und Einöden
durchsetzt, wo die Städte daniederliegen, verkommen und arm, und
die Dörfer entvölkert sind, wo die Menschen verwahrlost, schmutzig
und sittenlos leben, da herrschen notwendig Mißmut und Melancholie;
und ein solches Königreich, ein solches Land hat einen kranken
Körper und bedarf der Fürsorge und Reform.83
Ausgehend von dieser Charakterisierung entwirft Burton nun eine Gesellschaftsutopie
vom neuen England, dessen hervorstechendstes Merkmal Ordnung ist. Er beschreibt
einen „effizienten, auf reibungsloses Funktionieren haltenden, monarchischen, bis in
76
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 22.
WALTHER, Lutz: Einleitung. In: Melancholie. Hrsg. von Lutz WALTHER. Leipzig 1999, S. 21.
78
BURTON, Robert: Anatomie der Melancholie. Über die Allgegenwart der Schwermut, ihre Ursachen
und Symptome sowie die Kunst, es mit ihr auszuhalten. Übersetzt von Ulrich HORSTMANN nach der 6.,
verbesserten Originalauflage von 1651. Zürich und München 1991.
79
Vgl. ebd., S. 146 ff.
80
Vgl. ebd., S. 152 ff.
81
Vgl. ebd., S. 154 ff.
82
LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft. Frankfurt/Main 1969, S. 24.
83
BURTON, Robert: Anatomie der Melancholie, S. 84.
77
19
Einzelteile durchgeplanten Staat, der der Unordnung der Melancholie die perfektionierte
Ordnung entgegenhält [...]“.84 Burton schafft sich demnach den „Gegenentwurf zu
einem in Melancholie versunkenen Staat“.85 Damit geht auch automatisch ein
Melancholie-Verbot einher: Denn wo das Glück der Staatsbürger von oben her
festgelegt wird, ist der unglückliche Melancholiker ein Störfaktor.86
1. 4. 2 Die Melancholie des Adels im 17. Jahrhundert
Doch nicht nur in Gesellschaftsutopien finden sich Melancholie-Verbote. Auch am
absolutistischen Hof im Frankreich des 17. Jahrhunderts kann Melancholie nicht
geduldet werden, da sie Unzufriedenheit mit dem System suggerieren würde.87
Laut Lepenies ist die Melancholie des entmachteten Adels in dieser Zeit auf seine
Langeweile zurückzuführen, die wiederum aus der mangelnden Pflege des „sekundären
Ordnungssystems“ (z.B. der Etikette) durch den Herrscher – der übrigens als einziger
melancholisch sein darf – resultiert. Die Fronde, also der Widerstand gegen den König,
ist eine Reaktion hierauf: Der Adel versucht sich wieder mehr Gewicht zu geben. Doch
dieser Versuch scheitert; die resignierten Adeligen suchen sich deshalb eine andere
Möglichkeit, ihre Langeweile zu vertreiben und flüchten sich in den Salon – in der
Absicht, sich selbst ein sekundäres Ordnungssystem zu errichten. Ausschließlich dort ist
Melancholie gestattet; zudem kann die Langeweile, der „ennui“88, an diesem Ort
literarisch verarbeitet werden. „Die literarische Produktion der Salons ist verarbeitete
Langeweile.“89 Auch am Hof herrscht Langeweile, die jedoch, wie gesagt, nicht offen
gezeigt werden darf, da dies den Verdacht auf Rebellion erregen könnte. Als Versuch
der Kompensation erschafft der König die Etikette.
Erwächst also bei den Utopisten der Renaissance die Melancholie aus der
Unzufriedenheit über die herrschende Unordnung, so ist die Melancholie bei Hofe und
in den Salons durch die Langeweile begründet, die durch ein „Zuviel an Ordnung“
entsteht.90
84
LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 36.
Ebd., S. 31.
86
Vgl. ebd., S. 37.
87
Vgl. zu diesem Abschnitt: LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 50 ff.
88
Das Phänomen des „ennui“ entdeckt Roland Lambrecht auch in der Gegenwart wieder (vgl.
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 216 ff.). Seiner Meinung nach ist es sogar
charakteristisch für die moderne Wohlstandsgesellschaft, in der niemand Mangel leiden muss: Anstatt die
Abwesenheit physischer Nöte als Befreiung anzusehen und zu genießen, fühlt sich der moderne Mensch
gelangweilt, er vermisst die Herausforderung und empfindet so „Überdruß im Überfluß“ (ebd., S. 221).
89
LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 72.
90
Ebd., S. 69.
85
20
1. 4. 3 Bürgerliche Melancholie, Weltschmerz und Hypochondrie im 18. Jahrhundert
Im Deutschland des 18. Jahrhunderts entsteht ein Phänomen, das Lepenies als
„bürgerliche Melancholie“ bezeichnet. Diese ist kennzeichnend für eine bürgerliche
Gesellschaftsschicht, die ein gewisses Potenzial an Geld und Intelligenz mitbringt, und
trotzdem (noch) nicht politisch involviert ist, da der Adel sie nicht zum Zug kommen
lässt.91 Das Resultat ist die Melancholie der Bürger. Dieser von Lepenies behauptete
Zusammenhang von politischer Ohnmacht und der Entstehung der Melancholie in
dieser Schicht wurde von Hans-Jürgen Schings angezweifelt. Seiner Meinung nach ist
gerade das antimelancholische Selbstverständnis für die bürgerliche Aufklärung
kennzeichnend. Dass Langeweile und Melancholie in der bürgerlichen Schicht
thematisiert werden, ist für ihn eher ein Indiz für die moralische Opposition des
Bürgertums. „Sollte es eine ‚bürgerliche’ Melancholie geben, so gibt es auch eine nicht
weniger bürgerliche Kampfansage an die Melancholie“.92
Als Parallelbegriffe für diese „bürgerliche Melancholie“ nennt Lepenies übrigens die
Schlagwörter „Weltschmerz“ und „Hypochondrie“, „weil sie in der Zeit als synonym
gelten und nicht zuletzt daher jeder seine eigentümliche Färbung gewinnt“.93
Der Begriff „Weltschmerz“ war von Jean Paul geprägt worden und ursprünglich
bezogen auf die Empfindungen Gottes in Anbetracht des menschlichen Schicksals. Von
hier aus wird er aufgegriffen, um damit „eine in Deutschland etwa zwischen 1814 und
1840 vorherrschende pessimistische Geisteshaltung, gleichbedeutend [...] mit einer
inneren Zerrissenheit“94 zu beschreiben, die sich v.a. in der Literatur der Zeit
niederschlägt (hierauf wird weiter unten noch eingegangen). Ab etwa 1840 ist der
Begriff jedoch zunehmend negativ besetzt und wird eher abschätzig gebraucht.95
„Melancholie“, „ennui“, „mal du siècle“, „Byronismus“ und „noia“ werden als
Synonyme für den Begriff „Hypochondrie“ gebraucht.96 In England spricht man vom
„Spleen“.97
Die Hypochondrie wird zu dieser Zeit als harmlosere Ausprägung der Krankheit
Melancholie betrachtet. „Der Hypochondrist ist der Melancholiker im Diminutiv.“
Worunter er leidet, das sind die Folgen von Langeweile und Überspanntheit, und „nicht
91
Ebd., S. 79 f.
SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 224.
93
Ebd., S. 86.
94
NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 20.
95
Vgl. ebd.
96
Vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen. Weltschmerz und VerWeltlichung. In: Neues Handbuch der Literaturwissenschaft. Hrsg. von Klaus VON SEE. Bd. 15:
Europäische Romantik II. Hrsg. von Klaus HEITMANN. Wiesbaden 1982, S. 57.
97
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 13.
92
21
jedermann kann es sich leisten, hypochondrisch zu sein, nicht z.B. die Bauern.“98 Das
Phänomen greift vielmehr unter Bürgern und Gelehrten um sich, gehört dort fast „zum
guten empfindsamen Ton“.99 Dass es sich ziemlich weit verbreiten kann, liegt wohl vor
allem daran, dass so viel darüber diskutiert und geschrieben wird: „Die Hypochondrie
ist nicht zuletzt ein Produkt ihrer medialen Verbreitung“.100 Sie ist die Modekrankheit
des 18. Jahrhunderts.101 Als weibliches Pendant zur Hypochondrie gilt übrigens die
Hysterie.102
Die Auswirkungen des Weltschmerzes hingegen erweisen sich als weniger harmlos.
Sengle
weist
darauf
hin,
dass
durch
dieses
Phänomen
eine
regelrechte
„Selbstmordepidemie“ ausgelöst werde: „Die verschiedensten und absonderlichsten
Motive können zum Selbstmord führen; er ist aus einem tragischen Einzelfall zu einer
Massenerscheinung geworden“.103 Die Gründe für den Weltschmerz sind sozialer,
wirtschaftlicher, politischer und geistiger Natur. Zum einen herrscht allgemeine
Frustration aufgrund der mangelnden nationalen Einheit nach dem Zusammenbruch des
preußischen Reiches 1806.104 Man strebt politische Freiheiten an, die angesichts der
bestehenden Machtverhältnisse entweder unerreichbar sind oder neu etabliert werden,
wo man nach einer Revolution bereits auf Besserung gehofft hatte. Diese politische
Desillusionierung kann „dem Weltschmerz nur zusätzlichen Auftrieb geben“.105
Hinzu kommt eine „akute soziale und wirtschaftliche Krise“, die Deutschland in dieser
Zeit beutelt106: Das Land ist arm, die Agrarkrise löst Hungersnöte aus.107
Auch die gesellschaftliche „Kollektivierung“ und „Nivellierung“, die Sengle erkennt,
begünstigen den Weltschmerz der Epoche. Gemeint sind Tendenzen, die die Interessen
des
Individuum
„Verbürgerung,
zugunsten
der
Demokratisierung,
Gesellschaft
zurücktreten
Technisierung
oder
lassen,
wie
Industrialisierung,
etwa
[...]
karitatives Vereinswesen oder frühsozialistische Selbsthilfe [...]“.108
Laut Sengle ist die Schwermut im Deutschland dieser Zeit aber letztlich in einer
religiösen Problematik begründet. Mit dem Zunehmen der wissenschaftlichen
Erkenntnisse werden das christliche Weltbild wie auch die Existenz Gottes überhaupt
98
SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 49.
Ebd., S. 70.
100
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 148.
101
Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 89.
102
Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 70.
103
SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und
Revolution 1815-1848. Bd. I: Allgemeine Voraussetzungen, Richtungen, Darstellungsmittel. Stuttgart
1971, S. 5.
104
Vgl. ebd., S. 9.
105
Ebd., S. 57.
106
Ebd., S. 12.
107
Vgl. ebd., S. 14.
108
Ebd., S. 24.
99
22
immer stärker hinterfragt, und im Zuge dessen wachsen die Unsicherheit der Menschen
„bezüglich letzter Wert- und Sinnfragen“ und die Zweifel, ob überhaupt irgendetwas
wahr sei. Derartige Entwicklungen sind zwar nicht neu (bereits in der Renaissance
lassen sich solche Tendenzen der Säkularisierung im Bewusstsein des Menschen
feststellen), aber in der Restaurationszeit erreichen sie ihren bisherigen Höhepunkt.109
Ein durch den Verlust metaphysischer Werte bedingter, umfassender Nihilismus hält
Einzug in das Denken der Zeitgenossen und natürlich auch in die Literatur.110 „Was
man als vorromantischen und romantischen Weltschmerz anzusprechen gewöhnt ist,
offenbart sich somit als lediglich eine weitere Etappe in einer weit zurückreichenden,
langfristigen geistesgeschichtlichen Entwicklung“.111
Im Laufe des 19. Jahrhunderts geht der Weltschmerz durch Verdrängung in Gestalt von
äußerer Geschäftigkeit zurück.112 Im Fin de siècle bricht er aber wieder durch. Das Ende
des 19. Jahrhunderts ist gekennzeichnet durch den „destruktiven Weltschmerz der
‚Décadents’“.113
Wie schon der Adel des 17. Jahrhunderts versucht übrigens auch das Bürgertum des 18.
Jahrhunderts, seine Situation literarisch zu verarbeiten: Lepenies bezeichnet es als
auffallend, „wie die Melancholie sich hier in einer Klasse ausbreitet, die sich als Ort
ihrer Gesellschaftsflucht die Literatur auswählt“.114 Bemerkenswert ist hierbei die
Tatsache, dass die Melancholie, obwohl sie ja eigentlich eine ganze Klasse betrifft, in
der Literatur der Zeit als jeweils individuelles Phänomen dargestellt, d.h. auf die Psyche
des Individuums zurückgeführt wird.115 Eine Konsequenz aus dieser Melancholie der
Bürger ist deren Abwendung von der Welt. Es handelt sich dabei also um eine weltferne
Melancholie (anders als die weltnahe Melancholie des Adels im 17. Jahrhundert). Man
zieht sich zurück, in die Innerlichkeit einerseits, aber auch in die Natur, oder von der
Residenz weg in die Kleinstadt.116
1. 4. 4 Melancholie und Aufklärung
Wie oben schon angedeutet, erfährt die Melancholie im 18. Jahrhundert die
verschiedensten Neubewertungen. Aus Sicht der Aufklärung z.B. wird sie sehr negativ
beurteilt. So wie das Phänomen im Mittelalter der durch die Kirche vermittelten
Weltsicht und Lebensauffassung zuwider gelaufen war, so läuft sie jetzt dem
109
Ebd., S. 26.
Vgl. ebd., S. 28 ff.
111
HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 59.
112
Vgl. ebd., S. 81.
113
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 350.
114
LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 87.
115
Vgl. ebd., S. 88.
116
Vgl. ebd., S. 99 ff.
110
23
Gesellschaftskonzept der Aufklärung zuwider und wird infolgedessen von ihren
Verfechtern zum Teil radikal abgelehnt. Jene Gruppen, die die Ziele der Aufklärung
nicht anerkennen und die von ihren Anführern deshalb als Gegner betrachtet werden –
also die Religionisten, Schwärmer, Pietisten, Enthusiasten, Fanatiker etc. – werden als
Melancholiker angesehen.117 Der Begriff bekommt den Beigeschmack eines
Schimpfwortes für alles, was nicht aufklärerisch ist.118 Was die Aufklärer an diesen
Strömungen besonders kritisieren, sind deren Opposition zur Amtskirche und ihr
Trauergebot.119 Im Zuge dessen werden den Melancholikern auch sämtliche negativen
Charaktereigenschaften und Gewohnheiten zugeschrieben, die bei den Aufklärern
besonders verpönt sind, wie Geiz, Hass, Rachgier, Grausamkeit, Heimtücke und
Misanthropie; hinzu kommen Sorge, Furcht und Verzweiflung.120 Für die Aufklärer ist
„der misanthropische Melancholiker [...] eine einzige große Provokation der
Gesellschaft, die ihre ideale Selbstdarstellung in Begriffen wie Geselligkeit,
Menschenliebe, Zärtlichkeit, Freundschaft, Mitleid, Liebe, Gehorsam, Sparsamkeit zu
finden glaubt.“121 Laut Nesbeda werden dem Melancholiker offenbar grundsätzlich die
Untugenden zugeschrieben, die von der jeweiligen Gesellschaft am meisten abgelehnt
werden.122 Die Pietisten versuchen übrigens durchaus, sich und ihre „tristitia spiritualis“
zu verteidigen: Sie erklären ihrerseits die Rationalisten und Orthodoxen für
melancholisch und führen dies auf deren Weltlichkeit zurück. Auch aus ihrer Sicht hat
die Melancholie im Sinne einer „weltlichen Traurigkeit“ also einen negativen
Beigeschmack.123
Obwohl die Vorstellung vom „melancholischen Pietisten“ während des ganzen
Jahrhunderts ein Negativbild bleibt, wird durch dieses Schlagwort der „göttlichen
Trauer“ aber trotzdem schon der Boden für eine Nobilitierung der Melancholie
bereitet.124 Dies liegt auch nicht zuletzt in der Affinität der Melancholie zur
Empfindsamkeit begründet, auf die weiter unten noch eingegangen wird: „Die
Empfindsamkeitsbewegung hat wesentlich zur Verfeinerung und ‚sittlichen Erhebung’
der Melancholie beigetragen und die Umwertung zur ‚sanften Schwermut’
vorbereitet“.125
117
Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 73.
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 25.
119
Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 73 ff.
120
Vgl. ebd., S. 41 ff.
121
Ebd., S. 47.
122
Vgl. NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 23.
123
Vgl. ebd., S. 26.
124
Vgl. ebd., S. 27.
125
Ebd., S. 34.
118
24
1. 5 Melancholie und Philosophie
1. 5. 1 Melancholiereflexionen bei Pseudo-Aristoteles
Die nun schon mehrfach angesprochene Nobilitierung der Melancholie hat ihre Wurzeln
ebenfalls in der Antike, und zwar in den so genannten „Problemata physica“126. Dieses
Werk wurde lange Zeit Aristoteles zugeschrieben, in Wahrheit stammt es aber
wahrscheinlich von dessen Schwiegersohn Theophrast, weswegen in neuerer Zeit von
einem „Pseudo-Aristoteles“ als Verfasser gesprochen wird.127 Hier wird in das Kapitel
„Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft“ mit folgender Frage eingestiegen:
„Warum erweisen sich alle außergewöhnlichen Männer in Philosophie oder Politik oder
Dichtung oder in den Künsten als Melancholiker [...]?“.128
Die Grundlage des Werkes bildet das Denken der Humoralpathologie. Der Verfasser
unterscheidet zwischen tatsächlicher melancholischer Krankheit, die durch eine
vorübergehende Veränderung des schwarzen Gallensaftes entstehe, und zwischen der
Melancholie, die jenen Menschen von Natur aus eigen sei, bei denen dieser Saft
grundsätzlich über die anderen Säfte vorherrsche. Diese gleichsam angeborene
Melancholie mache die betreffenden Menschen zu ganz außergewöhnlichen, ja
hervorragenden Personen. Denn die schwarze Galle sei, wie verschiedene andere
Substanzen auch, charakterbildend, und bewirke dadurch die Außergewöhnlichkeit und
die
besonderen
Fähigkeiten
der
Melancholiker.
Allerdings
müsse
das
Mischungsverhältnis stimmen, damit ein Melancholiker wirklich als hervorragender
Mensch bezeichnet werden könne: „die Menge des melancholischen Saftes“ muss „groß
genug sein, um den Charakter über das Durchschnittsmaß zu erheben, aber auch nicht
so groß, daß sie ‚allzu tiefe’ Melancholie erzeugt und daß seine Temperatur ein
Mittelmaß zwischen ‚zu warm’ und ‚zu kalt’ zu halten hat.“129 Nur dann könne man von
einer genialen Veranlagung der Melancholiker sprechen. Denn eine kalte Mischung
verursache Depression, eine zu warme Mischung Tollheit.
Da es aber auch möglich ist, daß die Ungleichmäßigkeit gut gemischt
sein und sich in gewisser Weise richtig verhalten kann, und, wo es
nötig ist, unser Zustand wärmer und wieder kalt ist oder umgekehrt,
weil er (bestimmte Eigenschaften) im Übermaß besitzt, deshalb sind
alle Melancholiker außergewöhnlich, nicht infolge von Krankheit,
sondern infolge ihrer Naturanlage.130
126
ARISTOTELES: Was Klugheit, Verstand und Weisheit betrifft. Übersetzt von Hellmut FLASHAR. In:
Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Ernst GRUMACH. Bd. 19: Problemata physica.
Berlin 1962, XXX, 1 (S. 250-256).
127
Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 17.
128
ARISTOTELES: Problemata physica, S. 250.
129
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 79 f.
130
ARISTOTELES: Problemata physica, S. 256.
25
Die Melancholie ist also ein ambivalentes Phänomen: Der melancholische Saft kann an
sich gesunde Menschen krank machen, wenn er zeitweilig zu stark vorherrscht, und er
kann gebürtige Melancholiker wahnsinnig machen, wenn er in zu großer Menge
vorhanden ist und die falsche Temperatur hat. Der Verfasser dieser Schrift „sucht
denjenigen Menschen zu begreifen und in gewisser Weise zu rechtfertigen, der groß ist,
weil seine Affekte über das Maß des Gewöhnlichen hinausgehen und weil er dennoch
stark genug ist, sie trotz ihres Übermaßes im Gleichgewicht zu halten [...].“131
Die hier stattfindende Nobilitierung der Melancholie wird von nun an immer neben der
negativen Bewertung derselben durch die Medizin existieren. Alle späteren Ansätze, in
denen eine Verbindung von Melancholie und Genie angenommen wird, fußen auf
diesen pseudo-aristotelischen Gedanken.132
In einer anderen Schrift des Aristoteles, nämlich in „De memoria et reminiscentia“133,
stellt dieser eine weitere Besonderheit der melancholischen Veranlagung heraus: die
ausgeprägte Fähigkeit zur – unwillkürlichen – Erinnerung. Dieses bezeichnende
Merkmal der Melancholiker führt Aristoteles darauf zurück, dass „Vorstellungen diese
besonders heftig bewegen“.134 Sie seien also weder Herr über ihre Erinnerungen noch
über ihre Imaginationen. Interessant ist, dass diese unkontrollierte Fähigkeit durchaus
ambivalent gesehen wird: Einerseits wird sie als kreativ eingestuft. Andererseits wird
aber auch eine Gefahr darin gesehen: Der Melancholiker kann sich in seinen
Imaginationen auch leicht verlieren, und somit „unter der Diskrepanz zwischen
Wirklichkeit und Vorstellung, Objekt und Bild, Bezeichnetem und Bezeichnendem in
besonders hohem Maße leiden“.135
Doch diese beiden Eigenschaften des Melancholikers, sein gutes Gedächtnis und seine
Einbildungskraft, ziehen sich laut Wagner-Egelhaaf durch alle Stationen des
Melancholiediskurses. „Gedächtnis/Erinnerung und Imagination/Einbildungskraft sind
die anthropologisch wie poetologisch reflektierten Quellen, in die das Paradigma des
Melancholikers in der Folge, d.h. über mehr als zweitausend Jahre hinweg, eingespannt
bleibt“.136
131
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 89.
Vgl. LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 27.
133
ARISTOTELES: De memoria et reminiscentia. Übersetzt und erläutert von R. A. H. KING. In:
Aristoteles. Werke in deutscher Übersetzung. Hrsg. von Hellmut FLASHAR. Bd. 14, Teil II: Parva
naturalia. Berlin 2004, 449b-453b (S. 13-20).
134
Ebd., 453a20 (S. 19).
135
LUBKOLL, Christine: „Mon esprit s´exile.“ Erinnern und Vergessen in melancholischen Gedichten der
Romantik. In: Sonderdruck aus: Erinnern und Vergessen in der europäischen Romantik. Hrsg. von Günter
OESTERLE. Würzburg 2001, S. 161.
136
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 36. Hierauf weist auch Mattenklott
hin: zum Gedächtnis vgl. MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 11;
zur Einbildungskraft vgl. ebd., S. 34 ff.
132
26
1. 5. 2 Melancholie in der Renaissance: Marsilio Ficino
Diese
„Vorstellung
des
hochbegabten
Melancholikers“
gerät
laut
Klibansky/Panofsky/Saxl „in den ersten zwölf Jahrhunderten nach Christus“ offenbar
„völlig in Vergessenheit“.137 Doch dann avanciert die Renaissance zur „goldene[n] Zeit
der Melancholie“.138 Das liegt nicht zuletzt am Einfluss des Neuplatonikers Marsilio
Ficino, der eine „der bedeutendsten Gestalten in der Geschichte des MelancholieProblems“ darstellt.139 Dieser betrachtet sich selbst als Melancholiker – er ist im
Zeichen Saturns geboren – und empfindet dies zunächst als „verhängnisvoll“.140 Doch
später ändert er seine Meinung: Der Neuplatonismus glaubt nicht mehr an die böse
Wirkung von Gestirnen, weswegen nun auch dem Planeten Saturn ein guter und
heilvoller Einfluss zugeschrieben wird.141 1489 veröffentlicht Ficino seine berühmte
Schrift „De vita libri tres“142 und plädiert darin – im Gefolge des Pseudo-Aristoteles und
gegen die Überzeugung des Mittelalters – für eine erneute Nobilitierung der
Melancholie, indem er sie als das typische Merkmal des Gelehrten beschreibt.143 Diese
Sichtweise setzt sich in der Frührenaissance auch allgemein durch. Ficino „zeigt, wie
man den günstigen Einfluß der Melancholie ausnützen und die Gefahren, die sich in
ihrem Gefolge zeigen, beschwören kann“.144 Die Melancholie wird hier nämlich
einerseits als göttliche Gabe bezeichnet, die Saturn seinen Kindern schenke145; dennoch
lässt Ficino die gefährliche Dimension der Melancholie nicht unbeachtet: „ihr können
Genie und Krankheit entspringen“.146 Damit die unheilvolle Seite der Melancholie nicht
die Oberhand gewinnen kann, muss der Betroffene also ganz bestimmte Maßnahmen
ergreifen: So gibt Ficino etwa konkrete Ratschläge für eine sinnvolle Ernährung147 und
empfiehlt auch die Einnahme von gewissen Medikamenten148. Dennoch wird die
Melancholie durch ihn „zum Lebensgefühl des modernen ‚homo litteratus’“.149
137
KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 126.
STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 42.
139
LEPENIES, Wolf: Melancholie und Gesellschaft, S. 218.
140
Ebd., S. 219.
141
Vgl. KLIBANSKY, Raymond / PANOFSKY, Erwin / SAXL, Fritz: Saturn und Melancholie, S. 236. Saturn
wird sogar so sehr glorifiziert, dass man ihn zum obersten Schutzpatron der „Platonischen Akademie“ in
Florenz ernennt (vgl. ebd., S. 393).
142
FICINO, Marsilio: Three Books on Life. Hrsg. von Carol V. KASKE und Johan R. CLARK. Binghamton
und New York 1989.
143
Vgl. ebd., Buch Eins, Kapitel III ff. (S. 113 ff.).
144
STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 42.
145
Vgl. FICINO, Marsilio: Three Books on Life, Kapitel VI, S. 123.
146
STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 82.
147
Vgl. FICINO, Marsilio: Three Books on Life, Kapitel X, S. 133 ff.
148
Vgl. ebd., Kapitel XIX ff. (S. 147 ff.).
149
VÖLKER, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum Melancholie-Problem in
der deutschen Lyrik von Hölty bis Benn. München 1978, S. 11.
138
27
1. 5. 3 Philosophische Begründung der Melancholie bei Denis Diderot
In der Philosophie des 18. Jahrhunderts nimmt der Ansatz Denis Diderots einen äußerst
wichtigen Platz ein, der in seinem für die ‚Encyclopédie’ verfassten Artikel
„mélancolie“150 diese alte Verknüpfung der Melancholie mit dem Genie-Gedanken,
zumindest indirekt, aufgreift. Er weist nämlich auf die Phantasie des Melancholikers
hin, die der Seele ein angenehmes Lebensgefühl bereite, und betont, dass die
Melancholie den Sinnenfreuden durchaus nicht abgeneigt sei, kurz: Er behauptet eine
„geistige, seelische und ästhetische Hypersensibilität“ des Melancholikers.151
Besonders interessant ist jedoch die allgemeine Begründung für die Melancholie, die
der Philosoph am Beginn des Artikels liefert: Für ihn ist sie eine Folge der
Wahrnehmung einer Diskrepanz zwischen den menschlichen Vorstellungen von
Vollkommenheit der eigenen Person sowie der Umgebung und der unvollkommenen
Realität.152 Dies kann einerseits anregend auf die Phantasie wirken, andererseits kann es
aber eben auch passieren, dass der Betroffene sich auf Wahnvorstellungen versteift.153
Mit dieser „Verbindung von ‚Mangelbewußtsein’ und ‚Fixierung’ weist Diderot schon
weit auf moderne psychoanalytische Melancholietheorien voraus“.154
1. 5. 4 Melancholie und Anthropologie
Die Anthropologie, also die Lehre vom Menschen, die in der Zeit der Aufklärung
aufkommt, wird schnell „zur sehr populären Basis der Melancholie-Lehre“155: Sie
beschäftigt sich intensiv mit den Zusammenhängen zwischen körperlichen und
seelischen Prozessen, also mit dem Komplex Gehirn – Nerven – Seele, wo man nun
auch die Ursachen für die Melancholie sucht.156 Das Melancholie-Thema zieht sich
durch sämtliche anthropologische Abhandlungen der Zeit – und wird dabei zumeist
kritisch beleuchtet, d.h. pathologisiert. Interessanterweise besitzt aber die Anthropologie
selbst durch ihren pathologischen Einschlag eine deutliche Affinität zur Melancholie.157
Das liegt vor allem an ihrem Prinzip der (Selbst-)beobachtung, das zur Melancholie
verleitet. Somit führt sie geradezu das Übel herbei, von dem sie befreien sollte.158
150
DIDEROT, Denis: Mélancolie. In: Ders.: Encyclopédie. Neufchastel 1765. Bd. 10, S. 307-311. Diderot
stellt hier die religiöse, nämlich durch Gewissensqualen bedingte, und die medizinische, d.h. krankhafte,
sich in wahnhaftem Verhalten äußernde Melancholie als zwei Sonderformen dieses Phänomens dar.
151
LUBKOLL, Christine: „Mon esprit s´exile“, S. 162.
152
Vgl. DIDEROT, Denis: Mélancolie, S. 307.
153
Vgl. ebd., S. 308.
154
LUBKOLL, Christine: „Mon esprit s´exile“, S. 162.
155
NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 49.
156
Vgl. ebd.
157
Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 11 f.
158
Vgl. ebd., S. 37.
28
Trotzdem ist sie „der Boden, aus dem die Geschichte der Melancholie neue Kraft
zieht“.159
Auch Immanuel Kant forscht auf dem Gebiet der Anthropologie und beschäftigt sich
somit automatisch mit der Melancholie. Der Ansatz der Pathologisierung dieses
Phänomens fehlt bei ihm nicht. Doch in erster Linie erfährt das Bild des Melancholikers
durch Kant eine Aufwertung. Er behauptet, dass der Melancholiker „vorzüglich ein
Gefühl für das Erhabene“ besitze160 und spricht ihm die Eigenschaft der Standhaftigkeit
zu.161 Der Melancholiker mache sich nicht vom Urteil anderer abhängig, lasse sich nicht
von den wechselnden Moden beeindrucken und zeichne sich durch treue Freundschaft
aus. Wahrhaftigkeit spiele für ihn eine große Rolle, er sei ernsthaft und beharrlich.162
Diese positive Schilderung hinterlässt natürlich in der Anthropologie (und auch in der
Literatur) der Zeit bei der Beurteilung der Melancholie ihre Spuren.163 Allerdings betont
Kant, dass die „Ausartung dieses Charakters“ zu Schwermut, Schwärmerei,
Freiheitseifer und Enthusiasmus führen könne und der Melancholiker dann in der
Gefahr stehe, „ein Phantast oder ein Grillenfänger zu werden“.164
Entscheidend ist, daß Kant die fatalen Negativelemente auf ihren
eigentlichen pathologischen Kern zurückdrängt und der Melancholie
[...] einen Freiraum für moralische Qualitäten schafft. Damit entlastet
er den Melancholiker als Gegenfigur zur Aufklärung und öffnet [...] in
einer radikalen Wende den Weg zum melancholischen Genie.165
1. 5. 5 Melancholie und literarische Erfahrungsseelenkunde
Auch
in
der
so
genannten
„literarischen
„konkurrierenden Form der Anthropologie“
166
Erfahrungsseelenkunde“,
jener
, die, anders als diese, nicht empirisch
ausgerichtet ist, und sich nicht für Typologien, sondern für den individuellen Fall
interessiert, findet eine Auseinandersetzung mit der Melancholie statt. Einer der
wichtigsten Vertreter dieser neuen wissenschaftlichen Richtung ist Karl Philipp Moritz,
der
auch
eine
Zeitschrift
Erfahrungsseelenkunde“,
zum
Thema,
nämlich
das
„Magazin
zur
herausgibt.
Dieses
enthält
u.a.
Berichte
von
„Melancholiepatienten“. Hierbei sind „autobiographische Dokumente aus der Sphäre
des Pietismus [...] als Anschauungsmaterial [...] besonders erwünscht“.167 In der
159
Ebd., S. 12.
KANT, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen. Hrsg. von Klaus H.
FISCHER. Schutterwald/Baden 2002, S. 29.
161
Vgl. ebd., S. 30.
162
Vgl. ebd., S. 31.
163
Vgl. SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 53 ff.
164
KANT, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen, S. 31.
165
NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 39.
166
SCHINGS, Hans-Jürgen: Melancholie und Aufklärung, S. 28.
167
Ebd., S. 137.
160
29
Erfahrungsseelenkunde untersucht man also speziell die religiöse Melancholie, die man
– scheinbar objektiv, in Wahrheit aber auch vor einem recht deutlich polemischen
Hintergrund – auf den Pietismus zurückführt.168 Auch die „Hypochondrie“ wird hier
behandelt.169
1. 5. 6 Walter Benjamin
Einen wichtigen und immer wieder zitierten Beitrag zum Melancholie-Diskurs in der
Moderne liefert der Schriftsteller, Kritiker und Philosoph Walter Benjamin.170 Er knüpft
einerseits durch Rückbezüge auf die Humoralpathologie, Aristoteles, Dürer etc. an die
tradierten Melancholie-Reflexionen an171, untersucht die Melancholie andererseits aber
speziell im Hinblick auf das barocke Trauerspiel.
Laut Benjamin betrachtet der Barock die Weltgeschichte als Geschichte eines Verfalls.
So erscheint den barocken Dichtern die Natur
nicht in der Knospe und Blüte sondern in Überreife und Verfall ihrer
Geschöpfe. Natur schwebt ihnen vor als ewige Vergängnis, in der
allein der saturnische Blick jener Generationen die Geschichte
erkannte.172
Dem Verfall des Irdischen steht die Unvergänglichkeit nach dem Tod gegenüber. Diese
Spannung wird nun im Trauerspiel allegorisch dargestellt, und zwar „im Wort“ sowie
„im Figuralen und im Szenischen“173: „Die Allegorie ist am bleibendsten dort
angesiedelt, wo Vergänglichkeit und Ewigkeit am nächsten zusammenstoßen“174. Die
im Trauerspiel auftretenden allegorischen Figuren sind also Benjamin zufolge
Melancholiker. „Der Fürst ist das Paradigma des Melancholischen“.175 Aber auch der
Höfling trägt einen „Zug des Saturnmenschen“, nämlich Treulosigkeit: „der Verrat ist
sein Element“.176
1. 6 Melancholie und Literatur
1. 6. 1 „Wonne der Wehmut“: Die Empfindsamkeit
Ab dem 18. Jahrhundert findet der Melancholie-Diskurs auch Eingang in die Literatur.
Hierbei ist zu beachten, dass sich die literarische Darstellung der Melancholie und ihre
168
Vgl. ebd., S. 137 f.
Vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 63.
170
BENJAMIN, Walter: Ursprung des deutschen Trauerspiels. In: Der.: Gesammelte Schriften. Bd. I.I.
Hrsg. von Rolf TIEDEMANN und Hermann SCHWEPPENHÄUSER. Frankfurt/Main 1974, S. 203-430.
171
Vgl. hierzu insb. ebd., S. 317-335.
172
Ebd., S. 355.
173
Ebd., S. 367.
174
Ebd., S. 397.
175
Ebd., S. 321.
176
Ebd., S. 333.
169
30
tatsächlichen Ausprägungen in der Gesellschaft wechselseitig durchdringen: Die
Melancholie wird literarisch verarbeitet, doch je mehr darüber gelesen und geschrieben
wird, desto mehr scheint sie sich auch auszubreiten.
Wichtig ist, dass sich die Literatur dieser Zeit v.a. auf den mit der Melancholie
verknüpften Genie-Gedanken bezieht. Dies zeigt sich z.B. in der Dramatik des Sturm
und Drang. Darauf, dass die Melancholie „in der Gestalt des Genies [...] die Dramatik
des Sturm und Drang beherrscht“, weist Mattenklott hin.177
Ludwig Völker führt die Tatsache, dass die Melancholie in der Literatur, speziell in der
Gattung der Poesie, zu so einem beliebten Gegenstand avanciert, auf die von Aristoteles
behauptete melancholische Veranlagung von Dichtern zurück. Durch die Fortführung
dieser Idee bei Ficino habe der neue Melancholie-Begriff Einzug in die Künste, u.a. in
die Literatur Italiens, Spaniens, Frankreichs und Englands gehalten.178 Gerade in
England sei durch Werke wie Shakespeares „Hamlet“ „die Grundlage für eine breit
wuchernde empfindsame Melancholie-Lyrik geschaffen“ worden.179 In Deutschland
hingegen dauere es bis zum 18. Jahrhundert, bis sich durch den Einfluss der
empfindsamen englischen „Gräber- und Kirchhofspoesie“ der neue, positive
Melancholie-Begriff
in
der
Literatur
durchsetze.
„Die
deutsche
Lyrik
der
Empfindsamkeit übernimmt von der englischen Melancholie-Lyrik deren MelancholieBild mit der charakteristischen Verbindung von melancholischer Reflexion und
dichterisch-produktiver Tätigkeit [...]“. Plötzlich wird die Melancholie auch in
Deutschland regelrecht als Muse verehrt, es ist die Rede von den „Vergnügungen der
Melancholey“ (so die Übersetzung des Buches „Pleasures of Melancholy“ von Thomas
Warton).180 Zwar bleibt die Sicht auf die Melancholie auch hier ambivalent: In manchen
Gedichten wird sie nicht als sanft, sondern als schrecklich dargestellt (z.B. in Ludwig
Neuffers „An die Schwermuth“).181 Völker erkennt die Tendenz, die Literatur selbst als
Mittel gegen die Melancholie (im Sinne der düsteren Schwermut) zu verstehen und
einzusetzen.182 „Dies gilt insbesondere für den Autor, der als sein eigener Arzt das
Schreiben betreibt, um drohender Melancholie zu begegnen“, und auch der Leser soll
durch die Lektüre vor diesem Phänomen bewahrt werden.183 Aber dennoch findet eine
richtiggehend inflationäre Hinwendung zum Thema statt, die Melancholie wird somit zu
177
MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 44. Vgl. auch S. 46.
Vgl. VÖLKER, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie, S. 11 f.
179
Ebd, S. 12.
180
Ebd., S. 13.
181
Vgl. ebd., S. 14.
182
Vgl. ebd., S. 17 ff.
183
Ebd., S. 19. Die „edle[...] Melancholie“ als Motiv findet sich ebenso wie das gegen die Melancholie
eingesetzte „Therapeutikum Poesie“ (ebd., S. 127) in Gedichten bis ins 20. Jahrhundert (vgl. ebd., S. 127
ff.).
178
31
etwas Besprochenem. Die „joy of grief“, die erstmals in James Mcphersons „Ossian“
auftaucht und die Michael Denis in der deutschen Übersetzung des Werkes mit „Wonne
der Wehmut“ wiedergibt, wird zum literarischen Motiv.184 Es taucht „in zahllosen
Belegen aus den siebziger und achtziger Jahren“ des 18. Jahrhunderts auf185 – Goethes
Gedicht „Wonne der Wehmuth“ von 1775 und Karl Philip Moritz´ „Anton Reiser“ sind
hierfür nur zwei von vielen Beispielen –, da es hervorragend geeignet erscheint, die für
die Empfindsamkeit typischen „gemischten Gefühl[e]“ auszudrücken.186 Wie oben
schon erwähnt, erfährt die Melancholie durch diese Entwicklungen auf literarischem
Gebiet, aber ebenso durch die Untersuchungen der Anthropologie, auch bei den
Aufklärern langsam eine Aufwertung. Allerdings wird die Empfindsamkeit von diesen
immer noch abgelehnt, solange sie nicht an den Verstand gekoppelt ist. Alles andere
wird als „affektierte Empfindsamkeit“ bzw. „Empfindelei“ bezeichnet.187
1. 6. 2 Die europäische Weltschmerz-Bewegung um 1800
Im frühen 19. Jahrhundert entsteht in Europa die so genannte „WeltschmerzBewegung“, deren Ursachen, Ausprägungen und Symptome oben bereits skizziert
wurden. In der Literatur dieser Epoche finden sich nun die verschiedensten Versuche,
all diese beschriebenen Entwicklungen zu verarbeiten.188
Als wichtige Vertreter der Weltschmerz-Strömung gelten Byron, Leopardi und Musset.
Die deutschen Repräsentanten sind vor allem Lenau, der junge Heine, Platen, Büchner,
Waiblinger und Grabbe.189 In Frankreich wäre außerdem noch François René de
Chateaubriand zu nennen.
Laut Sengle sind die Strategien der deutschen Dichter der Restaurationsepoche, mit dem
Weltschmerz, den sie doch fast alle erlebt haben, umzugehen, sehr verschieden: Autoren
wie Grillparzer, Heine, Immermann oder Alexis zum Beispiel versuchen ihre
Verzweiflung mit Hilfe des Humors, der Ironie oder der „Beschwörung vergangener
besserer Zeiten oder gegenwärtiger Idyllen“, eben „biedermeierlicher“190 Idyllen, zu
184
Vgl. hierzu: RICHARDSON, Peter: Wonne der Wehmuth/Joy of Grief. In: Archiv für das Studium der
neueren Sprachen und Literaturen. Begründet von Ludwig HERRIG, hrsg. von Rudolf SÜHNEL u.a. 126.
Jahrgang, 211. Band. Braunschweig 1974, S. 377-381.
185
Ebd., S. 380.
186
Ebd., S. 377.
187
NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 31 f.
188
Vgl. SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration
und Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 110.
189
Vgl. TÖKEI, Eva: Weltschmerz bei Leopardi und Lenau. In: Lenau-Forum. Vierteljahresschrift für
Vergleichende Literaturforschung. Hrsg. von Viktor SUCHY und Klaus HEYDEMANN. Jahrgang 18, Folge
1-4. Stockerau 1992, S. 50.
190
An dieser Stelle muss darauf hingewiesen werden, dass der Begriff „Biedermeier“ eigentlich unscharf
und deshalb recht umstritten ist (vgl. HÄNTZSCHEL, Günter: Zur Literatur der Epoche. In: Kunst des
Biedermeier 1815-1833. Hrsg. von Georg HIMMELHEBER. München 1988, S. 61), da damit im
32
überwinden. Die tatsächlichen „Weltschmerzpoeten“ jedoch geben sich ihrem
Nihilismus und ihrer Hoffnungslosigkeit unverhohlen hin.191 Sie zeichnen sich dadurch
aus, dass sie für das Biedermeier „zu wenig beherrscht, zu wenig ehrfürchtig und
bescheiden“ sind, sich aber selbst vom Jungen Deutschland distanzieren.192 Auf der
anderen Seite stehen die Vertreter eben dieses Jungen Deutschlands, die versuchen,
durch ihre Veröffentlichungen politische Ideen zu verbreiten und gegen die
Entwicklungen in Deutschland zu protestieren.
In seiner Abhandlung „Der Weltschmerzler“ befasst sich Harald Bost193 mit der in der
Zeit des Weltschmerzes entstandenen Literatur und leitet aus der Analyse diverser Texte
Charakteristika weltschmerzlerischer Figuren ab (auf diese Charakteristika wird zum
Teil unten noch detaillierter eingegangen).194 Er definiert den Weltschmerz als „Leiden
der Welt“ sowie als „Leiden an der Welt“.195 Grundsätzlich trennt Bost zwischen zwei
Generationen und damit zwei Phasen des Weltschmerzes.196 Die weltschmerzlerischen
Helden der ersten Phase (zu ihnen gehören Werther197, Hyperion und Ortis)
unterscheiden sich laut Bost von denen der zweiten Phase dadurch, dass erstere anfangs
noch den enthusiastischen Wunsch verspüren, „Unmögliches verwirklichen zu können“,
dann aber durch eine Verlusterfahrung die menschliche Bedingtheit erkennen müssen
und dadurch am Leben verzweifeln.198 Die Helden der zweiten Generation (zu ihnen
sind z.B. Michail Lermontows „Ein Held unserer Zeit“ sowie die Helden der Werke
Byrons zu rechnen) sind hingegen von Anfang an desillusioniert und des Lebens
überdrüssig.199
Allgemeinen nur Harmlosigkeit und Angepasstheit assoziiert werden, während die „hintergründigen
Dimensionen“ dieser Literatur dabei unter den Tisch fallen (ebd., S. 59). Sie als eher konservativ und
traditionell zu betrachten, gerade im Gegensatz zur fortschrittlich orientierten Literatur des Jungen
Deutschland und des Vormärz, erscheint jedoch nicht unangebracht (vgl. ebd., S. 62). Grundsätzlich setzt
sich momentan als Begriff für die Literatur dieser Zeit wohl die Bezeichnung „Literatur der
Restaurationsepoche“ durch; „Biedermeier“ bezeichnet hierbei deren „triviale, unterhaltsame Sparte“
(ebd., S. 61).
191
SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und
Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 225.
192
Ebd., S. 222 f.
193
BOST, Harald: Der Weltschmerzler. Ein literarischer Typus und seine Motive (Diss.). St. Ingbert 1994.
194
Bost bezieht sich ganz konkret auf die Phase des Weltschmerzes, benutzt den Begriff „Weltschmerz“
jedoch häufig als Synonym für Melancholie allgemein („Melancholie, ennui und Weltschmerz hat es
immer gegeben und wird es immer geben“; vgl. ebd., S. 100).
195
Ebd., S. 230.
196
Ein drittes Auftauchen des Weltschmerzler-Typus erkennt Bost in den Décadents und Dandys der
Jahrhundertwende (vgl. ebd., S. 280).
197
Laut Heitmann stellen „Die Leiden des jungen Werthers“ das zeitlich erste Werk der
Weltschmerzliteratur dar (vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S.
64).
198
BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 138.
199
Vgl. ebd., S. 280.
33
In England findet sich seit etwa 1740 unverkennbar vom Weltschmerz geprägte
Literatur, die als „literature of woe“ bezeichnet wird und dem berühmten englischen
Schriftsteller George Gordon Noël Lord Byron (1788-1824) den Weg bereitet.200
Byron selbst wiederum hat großen Einfluss auf die Entstehung der europäischen
Weltschmerz-Bewegung; er wird von Sengle als „europäische[r] Chorführer des
Weltschmerzes“ bezeichnet.201 Berühmt wird er aufgrund seiner revolutionären
Gesinnung202, aber auch aufgrund seiner Leidenschaftlichkeit und Melancholie, die laut
Heitmann einerseits in seiner Biographie begründet liegt, andererseits aber auch mit
politischer Frustration und religiöser Nostalgie zusammenhängt. In seinem Werk
thematisiert er die „Götterlosigkeit der Welt“203, seine Helden sind einsam, ihre
„seelischen Verwundungen zugleich masochistisch aufwühlend und narzißtisch
genießend“.204 Byron selbst wird oft mit seinen Helden identifiziert.205 Er beeinflusst
das literarische Schaffen von Dichtern in fast ganz Europa, besonders in Italien,
Deutschland, Russland und Polen.206 „Byron galt sowohl als Hauptvertreter als auch als
Vorbild mit dem Weltekel, der Blasiertheit, dem Spleen, Nihilismus und der Skepsis
seiner Dichtung, deren Grenzen mit seiner ästhetisierten Lebensweise von ihm bewußt
verwischt wurden.“207 Die Begeisterung für Byrons Person und sein Werk wird mit dem
Schlagwort „Byronismus“ überschrieben, dem in Deutschland viele der genannten
Weltschmerz-Poeten, unter anderem z.B. Heine und Lenau, anhängen. Hentschel hebt
jedoch hervor, dass der Byronismus in Deutschland sich von dem in anderen Ländern
unterscheide: Die Restaurationspolitik Metternichs und auch die daraus erwachsene
Apathie des Volkes mache revolutionäre Bestrebungen unmöglich, so dass Byrons
politische Botschaften hier nicht großflächig auf fruchtbaren Boden fallen könnten.208
Es ist also in Deutschland eher die melancholische Seite Byrons, die bekannt wird und
die man nachzuahmen versucht.209
200
Vgl. HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 69.
SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und
Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 11.
202
Byron engagiert sich aktiv für den Griechischen Unabhängigkeitskrieg; vgl. hierzu: PROTOPSALTIS,
E.G.: Byron and Greece. Byron´s Love of Classical Greece and his Role in the Greek Revolution. In:
Byron´s Political and Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe. A Symposium. Hrsg. von Paul
Graham TRUEBLOOD. London 1981, S. 91-107.
203
HEITMANN, Klaus: Der Weltschmerz in den europäischen Literaturen, S. 70.
204
Ebd., S. 71.
205
Vgl. ebd., S. 73.
206
Vgl. TRUEBLOOD, Paul Graham: Conclusion: Byron and Europe. In: Byron´s Political and Cultural
Influence in Nineteenth-Century Europe, S. 200. Zum Einfluss Byrons auf weitere Länder Europas vgl.
die entsprechenden restlichen Kapitel des Buches.
207
TÖKEI, Eva: Weltschmerz bei Leopardi und Lenau, S. 49.
208
Vgl. HENTSCHEL, Cedric: Byron and Germany. The Shadow of Euphorion. In: Byron´s Political and
Cultural Influence in Nineteenth-Century Europe, S. 72.
209
Vgl. ebd., S. 87. Dagegen argumentiert Blaicher, der behauptet, die Zeitgenossen würden Byron viel
stärker in einem politischen Licht sehen, als dies heute rückblickend angenommen werde (vgl. BLAICHER,
201
34
Interessant ist, dass gerade Wilhelm Müller viel zum Bekanntwerden Byrons in
Deutschland beiträgt, indem er diverse Artikel, Rezensionen seiner Werke, ein Gedicht
und eine Biografie210 über ihn verfasst, die 1826 publiziert wird. Eine Verbindung
zwischen den beiden Dichtern bestehe, so Blaicher, durch ihr ähnliches Temperament
und ihre liberale, ja revolutionäre politische Einstellung.211 So hebt Müller in seiner
Byron-Biografie die „politischen Ideen des liberalen Dichters” mehrfach lobend
hervor212, und betont auch die Tatsache, dass er „ein wilder und feuriger Geist“ sei.213
Er bezeichnet ihn als „groß und edel“214 und als überaus talentierten Dichter. Besonders
begeistert zeigt er sich von Byrons Engagement für die Befreiung Griechenlands von
den türkischen Belagerern. Laut Blaicher sieht Müller in Byron eher den Liberalen und
Revolutionär, und weniger den Misanthropen, den andere in ihm sehen. „Müller
developed the political aspect of the poet as a champion of freedom.“215 Doch je mehr
Müllers Sicht der Dinge in Vergessenheit gerate, desto mehr bleibe Byron im
kollektiven Gedächtnis als Melancholiker und Misanthrop zurück.216
1. 6. 3 Melancholie und Romantik
Nesbeda führt die Schwermut der romantischen Dichtung, die „durch Umwertung,
qualitative Potenzierung und Abstraktion ein überaus hohes Maß an poetischer
Dignität“ erreicht habe217, auf eine durch den deutschen Idealismus verursachte geistige
Krise zurück. Diese Krise bestehe darin, dass die Autonomie des Ichs, das vom
Idealismus zunächst stürmisch gefeiert worden sei, von den spätromantischen Dichtern
als beängstigend empfunden werde.218 Der Grund hierfür liege in der Angst vor IchBezogenheit und Isolation begründet. Vor allem die Werke Tiecks und Brentanos
würden daher den Weg „des Ichs von vermeintlich unumschränkter Freiheit zu
verzweifelter Schwermut“ spiegeln.219 Aus dieser tiefgreifenden Identitätskrise der
Romantiker lasse sich auch ihr Geschichtsmodell erklären, in dem sie sich selbst in
Günther: Wilhelm Müller and the political reception of Byron in nineteenth-century Germany. In: Archiv
für das Studium der neueren Sprachen und Literaturen. Hrsg. von Klaus HEITMANN u.a. 138. Jahrgang, 1.
Halbjahresband 1986 (Bd. 223). Berlin 1986, S. 2).
210
MÜLLER, Wilhelm: Lord Byron. In: Ders.: Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 4: Schriften zur Literatur,
S. 157-288.
211
Vgl. BLAICHER, Günther: Wilhelm Müller and the political reception of Byron in nineteenth-century
Germany, S. 9.
212
MÜLLER, Wilhlem: Lord Byron, S. 167.
213
Ebd., S. 247.
214
Ebd., S. 273.
215
BLAICHER, Günther: Wilhelm Müller and the political reception of Byron in nineteenth-century
Germany, S. 9.
216
Vgl. ebd., S. 15 f.
217
NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 142.
218
Vgl. ebd., S. 67.
219
Ebd., S. 72.
35
einem Zwischenstadium, einer „Zeit der Schwermut“, zwischen einem vergangenen
goldenen Zeitalter und dem Wiedereintreten eines neuen paradiesischen Zustandes
sähen. Ihre Sehnsucht richte sich also auf die Wiedererlangung des verlorenen
Glückszustandes.220
In der Lyrik der Romantik erkennt Nesbeda folgende, immer wieder auftauchende
Konzeption221: Das Ich erlebt einen Verlust (oder eine Enttäuschung, die mit
Desillusionierung einhergeht), wird von Sehnsucht gequält und begibt sich auf die
Suche, um das Verlorene wiederzuerlangen. Wenn die Suche ohne Erfolg bleibt, gerät
das Ich in die Situation von Orientierungslosigkeit und Angst. Es ist isoliert und
befindet sich in einem Zustand zwischen Leben und Tod. Kennzeichnend für die
Seelenlage des Ichs sind Hoffnung bzw. Resignation, die sich bis zur Todessehnsucht
steigern kann, da im Tod die einzig mögliche Erlösung vermutet wird. In nahezu allen
Gedichten, so Nesbeda, findet am Ende auch eine Erlösung statt, indem das Ich Liebe
erfährt oder Gott und den Glauben sowie die Liebe „als übergeordnete Macht
anerkennt“.222
Die Natur223 werde, anders als in der vorromantischen Lyrik, nicht mehr als
harmonischer Ort dargestellt, der das melancholische Ich trösten könne, sondern besitze
eher bedrohlichen Charakter: Sie sei stets zu weit oder zu eng, oft wüst, öde, schauerlich
etc., so dass sich das Ich darin einsam fühlen müsse.
Es ist auffällig, wie genau dieses Schema – abgesehen vom Erlösungsaspekt – auch auf
Müllers „Winterreise“ zutrifft.
Dem Zusammenhang von Melancholie, Wahnsinn und Künstlertum in der romantischen
Literatur widmet sich Franz Loquai in seiner bereits zitierten Abhandlung „Künstler und
Melancholie in der Romantik“. Er vergleicht die Sichtweise der Medizin um 1800 und
des 19. Jahrhunderts auf die Melancholie mit der Sichtweise der Literatur: Die Ärzte
dieser Zeit vertreten, wie oben schon ausgeführt, die Ansicht, dass es sich bei der
Melancholie um eine Nervenkrankheit, um eine Form des partiellen Wahnsinns,
handle.224 Als für diese Krankheit besonders anfällig werden von den Medizinern die
Künstler und Gelehrten bezeichnet.225 In den Augen der Gesellschaft gelten die
Melancholiker als Störenfriede und werden meist isoliert, da sie sich den geltenden
Normen nicht anpassen und angeblich auch nichts Nützliches für die Gesellschaft
220
Vgl. ebd., S. 84.
Vgl. hierzu: ebd., S. 122 f.
222
Ebd., S. 122.
223
Vgl. hierzu: S. 104 f. sowie S. 123.
224
Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 5.
225
Vgl. ebd., S. 57 f.
221
36
leisten.226 Die Literatur des 19. Jahrhunderts entwirft nun mit ihren fiktionalen Texten
„ästhetische
Gegenbilder
zur
medizinischen
Doktrin“.227
Sie
stellt
vielfach
melancholische und deshalb gesellschaftlich isolierte Künstler dar, wobei häufig
medizinische Abhandlungen als Grundlage benutzt werden; dennoch wendet sich die
Literatur gegen die Sichtweise der Gesellschaft: Sie beruft sich zum einen auf die
Nobilitierung der Melancholie in Antike und Renaissance und entlarvt zum anderen den
melancholischen Bürger, der im Gegensatz zum echten Melancholiker nicht isoliert
wird, als bloßen Anhänger einer affektierten Empfindelei.228 Auf der anderen Seite
entwickelt die romantische Literatur aber die Utopie einer Annäherung von Leben und
Kunst: Sie hat die Abschaffung der Melancholie, ja der Krankheit allgemein zum Ziel.
Zum Erreichen dieser höheren Harmonie muss jedoch die Melancholie mit ihrer
Negation der bürgerlichen Normen quasi als Durchgangsstation durchschritten
werden229: „Alle Krankheiten fungieren als Katalysatoren bei der Gewinnung der
höheren, vollkommenen Gesundheit“.230 Der Melancholiker soll also nicht, wie es der
Forderung der Gesellschaft entspricht, isoliert werden, sondern der melancholische
Künstler fungiert dieser Idee zufolge sogar als Vermittler dieses Ideals.231 Allerdings
bleibt diese Idee selbst in den Texten der Zeit utopisch: Häufig findet doch eine
Isolation der Künstlerfiguren statt.232
2. Das Wandern: Melancholie-Symptom und -heilmittel
Zu den vielen Charakteristika, die dem Melancholiker im Lauf der Geschichte immer
wieder zugeschrieben werden, gehört unter anderem seine immerwährende Sehnsucht
nach Ortswechseln – wobei ihn diese niemals glücklich machen können: Er findet auch
in neuen Umgebungen immer wieder Begründungen dafür, nicht glücklich sein zu
können.233 Bost zufolge wird dieses Motiv in der Weltschmerz-Literatur deshalb häufig
verarbeitet: „Die Sehnsucht, ein in der Vergangenheit (nicht) besessenes Glück wieder
zu finden, treibt die Weltschmerzler auf Reisen. Die Reise ist das Urbild der Sehnsucht,
in der der innere Widerspruch des Weltschmerzlers Prozeßcharakter gewinnt.“234
226
Vgl. ebd., S. 67 ff.
Ebd., S. 3.
228
Vgl. ebd., S. 89 ff.
229
Vgl. ebd., S. 228 ff.
230
Ebd., S. 234.
231
Vgl. ebd., S. 241 ff.
232
Vgl. ebd., S. 276.
233
Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 103.
234
BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 411.
227
37
Doch bereits in der Antike wird dieses Phänomen beobachtet: Seneca zum Beispiel
beschäftigt sich, wie Lambrecht ausführt235, in seinen beiden Werken „Epistulae
morales ad Lucilium“ („Moralische Briefe an Lucilius“)236 und „De tranquilitate animi“
(„Von der Ruhe des Gemüts“)237 mit der Reisewut seiner römischen Zeitgenossen, die
es auf der verzweifelten Suche nach innerem Glück nie lange an ein und demselben Ort
aushalten. Der Autor beschränkt sich jedoch nicht auf die Beschreibung dieses
fluchtartigen Reisens in seiner Epoche, sondern er kritisiert es auch, indem er auf die
Vergeblichkeit dieser Fluchtversuche hinweist: Durch Reisen kann man zwar von einem
Ort entfliehen, aber nicht vor sich selbst.238 Und dabei empfindet man sich selbst ja als
„eigentliche Quelle seiner Mißstimmung und seines Unglücks“.239 Im 104. seiner
„Moralischen Briefe an Lucilius“ bringt Seneca diese Gedanken schließlich auf die
„knappste und treffendste Formel [...]: tecum fugis“240, was in der deutschen
Übersetzung mit „...du reistest mit dir selbst“ wiedergegeben wird.241 Natürlich
verurteilt Seneca nicht jede Form des Reisens als vergeblichen Fluchtversuch vor der
eigenen Traurigkeit. In seiner Schrift „Von der Ruhe des Herzens“ stellt er, wie
Lambrecht formuliert, das „geistige Verkrampfungen lösende Sich-für-die-WeltInteressieren“ dem „Vor-sich-selbst-Fliehen“ gegenüber, indem er ersteres gleichsam
als Therapeutikum beschreibt. „Interesse am Fremden“ ist also legitim, kann sogar
heilsam
sein,
„Sehnsucht
melancholiebefördernd.
nach
Ferne“
ist
dagegen
eher
gefährlich,
242
Im Mittelalter gilt das Reisen grundsätzlich als Melancholie-Symptom, seine heilende
Wirkung gerät vorübergehend in Vergessenheit.243 Selbstverständlich akzeptiert sind
natürlich Pilgerreisen und Wallfahrten, d.h. Reisen zu religiösen Zwecken.244
Und auch im weiteren Verlauf der Geschichte wird das Reisen immer zweckgebunden
bleiben, bevor um 1800 das „standesindifferente“ und zweckfreie Wandern aufkommt,
235
Vgl. zu diesem Abschnitt: LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 105 ff.
SENECA, Lucius Annaeus: Philosophische Schriften. Bd. 4: Briefe an Lucilius. Zweiter Teil: Brief 82124. Übersetzt, mit Einleitungen und Anmerkungen versehen von Otto APELT. Leipzig 1924.
237
Ders.: Von der Gemütsruhe. In: Lucius Annäus Senecas ausgewählte Schriften. Deutsch von Albert
FORBIGER. Bd. 3. Berlin 19142, S. 160-200.
238
„Also flieht vor sich selbst beständig ein jeder. Aber was hilft es, wenn er sich nicht entfliehen kann?
Er selbst folgt sich nach und drängt als der lästigste Begleiter (ebd., S. 169).
239
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 107.
240
Ebd., S. 110.
241
SENECA, Lucius Annaeus: Brief 104. In: Philosophische Schriften. Bd. 4, S. 217.
242
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 113 (mit Verweis auf: SENECA, Lucius Annaeus:
Vom glückseligen Leben / Trostschrift für Marcia / Von der Ruhe des Herzens. Übersetzung von H.M.
ENDRES. München o. J., S. 153 f.).
243
Vgl. STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 75.
244
Vgl. hierzu: HERBERTS, Klaus: Unterwegs zu heiligen Stätten – Pilgerfahrten. In: Reisekultur. Von der
Pilgerfahrt zum modernen Tourismus. Hrsg. von Hermann BAUSINGER u.a. München 1991, S. 23-31
sowie: PLÖTZ, Robert: Wallfahrten. In: Reisekultur, S. 31-38.
236
38
wie Bosse und Neumeyer erläutern.245 Zuvor hatte der Stand des Reisenden Art und
Zweck der Unternehmung bestimmt: Die jungen Adeligen, also der „Wehrstand“246,
hatten „Kavalierstouren“247 zum Zweck der „Façonierung“ (d.h. der „Eingewöhnung“ in
höfische Umgangsformen) und der „ständische[n] Selbstdarstellung“ (also der
Repräsentation der eigenen Macht) im Ausland unternommen.248 Die Gelehrten aus dem
so genannten „Lehrstand“249, zu dem auch die Geistlichen gehörten, hatten sich auf
Bildungsreisen begeben, und für die Handwerker aus dem „Nährstand“250, dem
städtische Bürger und auch Bauern zugehörten, war es Pflicht gewesen, sich nach der
Lehrzeit für mindestens drei Jahre auf Wanderschaft zu begeben. Wer, abgesehen von
diesen Gruppen, nicht sesshaft, sondern auf den Straßen anzutreffen gewesen war, „war
sozial stigmatisiert: mit Sicherheit arm, möglicherweise kriminell“.251 Dass das
Wandern am Ende des 18. Jahrhunderts „entstigmatisiert“ wird252, führen Bosse und
Neumeyer auf vier Ursachen zurück: Erstens wird die Wanderschaft der Gesellen
eingeschränkt, da man in ihrer Mobilität ein staatliches und wirtschaftliches Problem
sieht. Zweitens inspiriert Rosseaus „Emile“ von 1762 viele „empfindsame Reisende“253,
ihre Touren nicht mehr in der Kutsche, sondern zu Fuß zu erleben, um den Naturgenuss
zu steigern. Drittens führt die geographische und geologische Erforschung der Alpen
dazu, dass immer mehr Laien sich für die dort entdeckten Natursehenswürdigkeiten
interessieren. Die „empfindsamen Reisen“, wie sie in Laurence Sternes „Sentimental
Journey through France and Italy“ von 1768 oder auch in Johann Georg Jacobis
„Winterreise“ (1969) und „Sommerreise“ (1770) beschrieben werden, stellen hierbei
wichtige Inspirationsquellen dar.254 Immer mehr kommt es in Mode, dass man auf
Reisen Sehenswürdigkeiten nicht nur besichtigen, sondern vor allem „empfinden“ will.
Zunehmend unwichtiger wird hierbei die Standeszugehörigkeit: „Der Wanderstaub
verwischt die sozialen Unterschiede“255, es geht um den „natürlichen Menschen“256.
Reisen und Wandern ist nun auch als Selbstzweck möglich.
245
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 17. Vgl. zu diesem Abschnitt S.
17 ff.
246
Ebd., S. 18.
247
Vgl. hierzu: SIEBERS, Winfried: Ungleiche Lehrfahrten – Kavaliere und Gelehrte. In: Reisekultur, S.
47-57.
248
Ebd., S. 48.
249
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 18.
250
Ebd., S. 18.
251
Ebd., S. 22.
252
Ebd., S. 23.
253
Ebd., S. 25.
254
Vgl. zum Einfluss der „Sentimental Journey“: SAUDER, Gerhard: Sternes „Sentimental Journey“ und
die „Empfindsamen Reisen“ in Deutschland. In: Neue Bremer Beiträge. Bd. 1: Reise und soziale Realität
am Ende des 18. Jahrhunderts. Hrsg. von Wolfgang GRIEP und Hans-Wolf JÄGER. Heidelberg 1983, S.
302-319.
255
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 29.
39
Im Lauf der Jahrhunderte, mit dem Wachsen der Städte, war aber auch die Vorstellung
vom melancholieheilenden Potential des Reisens wieder aufgekommen257: Man verspürt
immer mehr den Drang, dem Lärm und Schmutz der Stadt zu entfliehen, sucht
körperliche Betätigung in der Natur. Ärzte und Schriftsteller des 17. und 18.
Jahrhunderts, wie z.B. der Doktor George Cheyne oder der Dichter Matthew Green,
geben hierzu mittels der Literatur die entsprechenden Anstöße. Wer jedoch ernsthaft
unter Melancholie bzw. „Spleen“, wie man ja im England dieser Zeit sagt, leidet, für
den sind einfache Landpartien nicht ausreichend; er muss weiter weg fahren,
vorzugsweise in südliche Länder. Man hofft, den Spleen der Patienten – der
zugegebenermaßen oftmals nicht mehr als „eine zur Schau getragene Haltung“ ist258 –
durch die Besichtigung antiker Baukunst und Bildhauerei zu kurieren.
Die deutsche Bildungsrevolution bzw. die „Humboldtschen Reformen“ sind der vierte
Faktor, der laut Bosse und Neumeyer die Entstigmatisierung des Wanderns um 1800
begünstigt. Durch diese Reformen werden die Selbsttätigkeit und die „Selbstbewegung
des Geistes“ der Studenten fest im Bildungswesen verankert.259 In diesem Zuge werden
sie auch dazu ermutigt, zu reisen und fremde Kulturen kennen zu lernen, nicht zuletzt,
um die Modernisierung der Gesellschaft zu gewährleisten. Dies geht so weit, dass es als
sich selbst entehrend angesehen wird, wenn ein Akademiker keine Bildungsreisen
unternimmt. In fast diskriminierender Weise wird vom Typ des nicht studierten Bürgers
gesprochen, der sich handwerklich betätigt und nicht reist: Er wird als „Philister“
bezeichnet, während sich im 18. Jahrhundert für den akademisch gebildeten Bürger der
Begriff des „Musensohn[s]“ etabliert.260
Doch bei diesem „gebildeten Wandern“ besteht, um wiederum den Bogen zur
Melancholie zu schlagen, die Gefahr, „nicht nur den Weg, sondern sogar den Boden zu
verlieren“261: Es kann dem Wanderer passieren, dass ihn die Hoffnung verlässt, weil er
so weitab von der Gesellschaft unterwegs ist. Das Wandern wird also ab dieser Zeit
auch durchaus wieder ambivalent gesehen und in der Literatur entsprechend dargestellt:
Die jetzt entstehenden Wanderlieder sind teilweise fröhlich und optimistisch gehalten
und transportieren eine positive Aufbruchsstimmung262, sind teilweise aber auch durch
256
Ebd., S. 42.
Vgl. hierzu: STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900,
S. 75 ff.
258
Ebd., S. 78.
259
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 34.
260
Ebd., S. 38.
261
Ebd., S. 44. Vgl. auch zum Rest dieses Abschnitts ebd., S. 44.
262
Sengle bezeichnet die „Wander- und Reiselieder“ der Biedermeierzeit als „im allgemeinen munterer,
leichter oder sogar spielerisch und ironisch“ im Vergleich zu denjenigen der Romantik. So sei auch das
Wandern in dieser Zeit „nicht mehr Ausdruck einer ungestümen, letzten Endes das ‚Unendliche’
meinenden Sehnsucht, sondern eine lustvolle Bewegung mit Anfang und Ende, womöglich in
257
40
die genau entgegengesetzte Stimmung geprägt. Interessant ist, dass hier wiederum eine
Verbindung zu den vier Temperamenten und den ihnen zugeordneten Jahreszeiten
hergestellt wird:
Die optimistischen
Lieder besitzen als Kulisse eher die
Sommermonate, da diese mit dem sanguinischen bzw. cholerischen Temperament in
Zusammenhang gebracht werden, die melancholischen Lieder263 die Wintermonate
(aufgrund ihres Zusammenhangs mit Phlegma und Melancholie).
Die Überzeugung, Melancholie-Patienten durch Reisen heilen zu können, ist übrigens
nicht von ewiger Dauer: „Die Autoren des ausgehenden 19. Jahrhunderts sind sich
prinzipiell darin einig, daß Reisen niemals einen Melancholiker heilen; von einigem
Nutzen können sie bei einer Rekonvaleszenz sein, als Vorstufe zu einer
Wiederaufnahme der normalen Tätigkeit.“264
3. Wilhelm Müller und Franz Schubert – zwei „Weltschmerzler“?
Im folgenden soll ein kurzer Blick auf die Biographien Wilhelm Müllers und Franz
Schuberts geworfen werden, und zwar insbesondere unter dem Gesichtspunkt ihres
sozialhistorischen Hintergrundes bzw. ihres daraus resultierenden Weltbildes. Die
Berücksichtigung dieser Aspekte kann nämlich einiges zum Verständnis der
„Winterreise“ beitragen.
3. 1. Wilhelm Müller
Der zu seiner Zeit recht bekannte, mit nur knapp 33 Jahren sehr jung verstorbene
Wilhelm Müller265 ist der Nachwelt vor allem als Dichter einfacher, volksliedhafter
Lyrik in Erinnerung geblieben.266 Konkret sind es eigentlich nur zwei Werke, die seinen
Namen lebendig erhalten haben: „When Müller is remembered today, it is usually in
Gesellschaft“ (SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen
Restauration und Revolution 1815-1848. Bd. II: Formenwelt. Stuttgart 1972, S. 499).
263
Ein Beispiel hierfür wäre die „Winterreise“ von Johann Georg Jacobi (1769). Wie später gezeigt
werden wird, wird aber in Müllers „Winterreise“ nicht nur die Vorstellung vom fröhlichen, optimistischen
Wandern völlig pervertiert, sondern sogar die Melancholie, wie sie etwa schon Jacobis Werk
transportiert, noch weiter zugespitzt.
264
STAROBINSKI, Jean: Geschichte der Melancholiebehandlung von den Anfängen bis 1900, S. 79.
265
Bei den Ausführungen zu Müller beziehe ich mich v.a. auf: BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller.
The Poet of the Schubert Song Cycles, sowie auf: GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und
Selbstverleugnung (Diss.). Berlin 1989.
266
Es ist unbestreitbar, dass Müller sich in seiner Lyrik inhaltlich und formal stark an das Volkslied
anlehnt. Dennoch geht es ihm nicht um eine bloße Imitation des Volksliedes; vielmehr ist er der Ansicht,
dass Lyrik zeitgemäß zu sein habe (vgl. MÜLLER, Wilhelm: Über die neueste lyrische Poesie der
Deutschen. Ludwig Uhland und Justinus Kerner. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 4:
Schriften zur Literatur, S. 304). Deshalb übernimmt er einige Elemente aus der Volkslieddichtung, füllt
sie aber mit einer neuen, zeitgemäßen Botschaft. Das gilt für seine Gedichte über den Griechischen
Unabhängigkeitskrieg, aber auch in seine Trinklieder versucht er politisch-kritische Ideen zu integrieren –
was der Zensur natürlich missfällt. Für sein Talent in dieser Gattung spricht u.a. die Bewunderung, die
ihm Heinrich Heine entgegenbringt (vgl. hierzu: GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und
Selbstverleugnung, S. 263).
41
connection with Schubert´s settings of Die schöne Müllerin and Die Winterreise”.267
Lange Zeit wurde er sogar als sentimental und naiv belächelt, die vielen Facetten seiner
Persönlichkeit (z.B. sein Interesse für Philologie, Journalismus und besonders Politik268)
waren hingegen lange Zeit in Vergessenheit geraten. Erst in den letzten Jahrzehnten hat
die Forschung wieder verstärkt ihr Augenmerk auf ihn gerichtet, wobei sein Talent und
die beachtliche Menge seiner Veröffentlichungen auch wieder stärker gewürdigt
werden.269 Dabei herrscht besonders oft Uneinigkeit darüber, welcher Epoche man
Wilhelm Müller zuordnen könne. Gelegentlich wird er als Vorreiter des Jungen
Deutschland bezeichnet – hierfür spricht, dass er in vielen Werken politische Ideen zu
transportieren versucht. Am meisten verbreitet ist jedoch die Meinung, dass Müller der
Romantik zugehöre.
Im Jahr 1812 beginnt er ein Philologiestudium in Berlin, das er allerdings zugunsten
seiner freiwilligen Teilnahme an den Befreiungskriegen 1813/14 unterbricht und danach
zwar wieder aufnimmt, aber nicht zu Ende führt. In seiner Berliner Zeit knüpft er
wichtige Kontakte: Vor allem nach seinem Militärdienst ist er zu Gast in verschiedenen
Berliner Salons (u.a. bei Rahel Varnhagen von Ense) und genießt dank seiner
verbindlichen Art die Sympathie der Zeitgenossen.
Im Sommer 1817 begibt sich Müller als Reisebegleiter Baron von Sacks auf eine
Italienreise, von der er 1818 zurückkehrt. Bei seiner Rückkehr wird ihm besonders
deutlich bewusst, wie sehr sich die politischen Verhältnisse in Deutschland in den
letzten paar Jahren zum Schlechteren gewandelt haben. Beim Wiener Kongress in den
Jahren 1814/15 hätte die politische Machtverteilung in Mitteleuropa nach Napoleon neu
strukturiert werden sollen. Doch bald schon stellt sich heraus, dass nicht eine
Neuordnung, und schon gar nicht Demokratie, sondern vielmehr eine Restauration der
vorrevolutionären, spätfeudalen Machtverhältnisse das Ergebnis dieses Kongresses ist.
Meinungs- und Pressefreiheit werden von der Zensur unterdrückt, was sich durch die
‚Karlsbader Beschlüsse’ von 1819 noch verschärfen wird. All diese Entwicklungen
müssen dem liberal eingestellten Müller missfallen. An seinen Freund Rumohr schreibt
er, wieder in Deutschland angelangt, folgende Zeilen:
Das Vaterland hat mich mit Reif u Schnee u Nebel begrüßt, das wäre
noch zu ertragen, aber, aber, die Philisterei (verzeihen Sie den
267
BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 61.
Vgl. zu Müllers politischer Einstellung: KLENNER, Andreas: Kein Sänger der Weltflucht. Wilhelm
Müller als kritischer Beobachter seiner Zeit. In: Wilhelm Müller. Eine Lebensreise. Zum 200. Geburtstag
des Dichters. Kataloge der Anhaltischen Gemäldegalerie Dessau. Bd. I. Hrsg. von Norbert MICHELS.
Weimar 1994, S. 71-75.
269
Vgl. hierzu z.B.: KREUTZER, Hans Joachim: Wilhelm Müller. Der Artist in den Traditionen der
Literatur. In: Ders.: Obertöne. Literatur und Musik. Neun Abhandlungen über das Zusammenspiel der
Künste. Würzburg 1994, S. 176-195.
268
42
burschikosen Ausdruck) stürzt so schrecklich auf mich ein, wie auf
den Simson, als er die Säulen umriß, die den Festsaal der
Goliathsbrüder trugen. Ich weiß nicht, ob es allen Leuten so geht, die
aus Italien heimkehren: [...]. In Wahrheit, wenn es überall in
Deutschland ist, wie in München, so muß ich es bedauern, Italien je
betreten zu haben, oder mein ganzes Streben dahin richten, es wieder
zu sehen. Nichts will mir hier behagen.270
In Dessau wird Müller 1819 trotz seines fehlenden Abschlusses als Lehrer und
Herzoglicher Bibliothekar eingestellt. Außerdem baut er seine journalistische
Betätigung weiter aus, die er bereits 1817 aufgenommen hat: Er schreibt Rezensionen
für mehrere Journale und beginnt vor allem eine intensive Zusammenarbeit mit dem
Brockhaus-Verlag, dem er in den folgenden Jahren regelmäßig Texte (Reiseberichte,
Rezensionen und andere Artikel) liefert. Dies tut er nicht zuletzt, um seine Frau und
seine zwei Kinder ernähren zu können (die Familie hat er 1821 mit Adelheid von
Basedow gegründet).
Als Philologe arbeitet er, ebenfalls ab 1821, an der „Allgemeinen Enzyklopädie der
Wissenschaften und Künste“ mit, die Johann Samuel Ersch und Johann Gottfried
Grubers 1818 in Leipzig gegründet hatten (1825 wird Müller Mit-Herausgeber).
Außerdem initiiert er die Publikation der mehrbändigen „Bibliothek deutscher Dichter
des siebzehnten Jahrhunderts“ und ist hin und wieder als Übersetzer tätig (er übersetzt
z.B. das Nibelungenlied sowie griechische Volkslieder).
Sein Schaffen als Dichter beginnt er um das Jahr 1815. Dass bei ihm politisches
Engagement und schriftstellerische Betätigung immer eng zusammenhängen, zeigt sich
schon früh: Mit einigen anderen Heimkehrern aus den Befreiungskriegen (unter ihnen
auch sein Freund Wilhelm Hensel) veröffentlicht er 1816 eine Sammlung politischer
Gedichte, die sog. „Bundesblüten“, die allerdings von der Zensur der Metternichschen
Restaurationszeit nicht geduldet werden. Das Zensur-Problem wird Müller sein Leben
lang begleiten.
Ab 1821 schreibt er Gedichte über die griechischen Unabhängigkeitskriege, 1822 die
berühmten „Lieder der Griechen“. „Müller supported the Greeks in the hope that their
struggle for freedom might help turn the tide of European politics“.271 Er versteht diese
Gedichte als Aufrufe, Griechenland tatkräftig zu unterstützen, womit er teilweise auch
erfolgreich ist: Manche seiner Landsleute ziehen wirklich für Griechenland in den
270
MÜLLER, Wilhelm: Brief an Baron Karl von Rumohr vom 15. November 1818. In: Wilhelm Müller.
Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 5: Tagebücher. Briefe, S. 126.
271
BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 107.
43
Krieg.272 Diesem Interesse für die Befreiung der Griechen von ihren türkischen
Belagerern verdankt Müller auch den Spitznamen „Griechen-Müller“, für den er heute
noch bekannt ist.
Die Griechenlieder und andere Gedichte sowie Prosastücke erscheinen übrigens ab etwa
dieser Zeit in verschiedenen Zeitschriften wie „Hermes“, „Urania“ und anderen. Seine
Prosa, z.B. die beiden Novellen „Der Dreizehnte“ und „Debora“, die zur Zeit ihres
Erscheinens großen Erfolg haben, erfreuen sich heute keiner großen Berühmtheit mehr.
Seinen Philhellenismus beweist Müller aufs Neue, indem er nach dem Tod Lord Byrons
im Jahr 1824 die oben schon erwähnte erste deutsche Biographie des Dichters sowie
mehrere Besprechungen von verschiedenen von ihm geschaffenen Werken herausgibt
und ihm ein Gedicht widmet.
An der „Winterreise“, die 1824 in ihrer endgültigen Form erscheint, arbeitet Müller ab
ca. 1821 oder 1822, als junger, „happily married father-to-be with a reasonably secure
and comfortable existence in his hometown“.273 Es fällt schwer, sich zu erklären, wie
Müller in dieser ja eigentlich recht glücklichen Zeit seines Lebens ein so
melancholisches Werk schaffen kann. Tatsächlich existieren auch keine Quellen, die
über diese Frage konkret Auskunft geben könnten. Baumann spekuliert, die Ahnung
seines frühen Todes oder „the dreary winter weather in Dessau“ könnten den Dichter
hierzu veranlasst haben.274 Auch seine diversen Krankheiten – er hat ein Augenleiden,
später Husten, wahrscheinlich Tuberkulose – könnten hier eine gewisse Rolle spielen.
Am wahrscheinlichsten ist jedoch, dass es die Frustration angesichts der politischen
Situation in Deutschland, d.h. der zu seiner Zeit überhaupt weit verbreitete Weltschmerz
ist, die Müller dazu bringt, ein solches Werk zu schreiben. Interessant erscheint in
diesem Zusammenhang eine briefliche Äußerung Müllers gegenüber Ludwig Tieck vom
11. Juli 1827: „Ich leide seit einiger Zeit an dem Übel, welches mit dem weiten und
schwankenden Namen der Hypochondrie bezeichnet wird“275, erklärt der Dichter
seinem Kollegen. Wie oben schon erwähnt, stellen laut Wolf Lepenies die Begriffe
„Hypochondrie“ und „Weltschmerz“ Synonyme dar; Müller ist sich also offenbar nicht
nur des Melancholie-Diskurses seiner Epoche bewusst, sondern reiht sich als Person
hier auch noch explizit ein. Äußerungen dieser Art und auch nicht zuletzt die in seinen
letzten Werken so deutlich feststellbare Resignation, die im Charakter sowie inhaltlich
272
Vgl. ebd., S. 112. Griechenland ist Müller für sein Engagement so dankbar, dass das Land im Jahr
1891 in Dessau eine Statue für ihn errichtet.
273
Ebd., S. 67.
274
Ebd., S. 67 f.
275
MÜLLER, Wilhelm: Brief an Ludwig Tieck vom 11. Juli 1827. In: Wilhelm Müller. Werke.
Tagebücher. Briefe. Bd. 5, S. 421.
44
stark an die Weltschmerz-Literatur erinnern, liefern demnach gewichtige Argumente
dafür, in Wilhelm Müller einen „Weltschmerzler“ zu sehen.
3. 2 Franz Schubert
Im Falle Franz Schuberts stellt sich nun die Frage, ob er als Zeitgenosse Müllers einen
ähnlichen weltanschaulichen Hintergrund hat wie dieser. Dafür spricht zumindest die
Tatsache, dass Text und Musik der „Winterreise“ sich zu so einem stimmigen Ganzen
fügen, ohne dass die beiden Künstler einander kennen würden. Man könnte hieraus
schließen, dass sie von ähnlichen Empfindungen bestimmt sind. Ist auch Schubert
politisch frustriert? Ist auch er vom Weltschmerz ergriffen?
Dürr behauptet, Schuberts ganzes Leben sei „von Aufbegehren und Leid,
Veränderungswillen und Resignation“ gezeichnet.276 Dem Schubert-Lexikon zufolge
dauert es aber einige Zeit, bis Schubert mit dem Gefühl des Weltschmerzes überhaupt in
Berührung kommt, da ihm seine Erziehung und seine Freunde „weltanschaulichen Halt“
bieten.277 Doch natürlich ignorieren weder Schubert noch seine beiden Freundeskreise
die politischen Vorgänge seit den Befreiungskriegen. Sie alle sind sich der politischen
Lage nicht nur bewusst, sie streben auch „nach Veränderung, Überwindung der
Metternichschen Repressionsmaschinerie“, wenn auch auf verschiedene Weise: Der
„Linzer“ Kreis um Josef von Spaun, indem er sich für Bildung einsetzt (durchaus
politisch verstanden als „Voraussetzung für anzustrebende Veränderungen auf der
Grundlage eines emphatischen Freundschafts- und Harmoniebegriffs“), der „Wiener“
Kreis um Franz von Schober eher dadurch, dass hier Utopien von einer „besseren“ Welt
entworfen werden, die man durch die Mittel der Kunst erreichen zu können glaubt.278
Obwohl Schubert also ein scheinbar „biedermeierliches“ Leben führt, indem er z.B. an
solchen Aktivitäten wie der Literatur- und Musikpflege in den Salons teilnimmt279, und
auch, obwohl seinen Liedern hin und wieder eine „biedermeierliche Patina“
zugeschrieben wurde280, kann er keineswegs als „Prototyp des sog. ‚biedermeierlichen’
Menschen“ gelten.281 Im Gegenteil: Einige seiner Werke, besonders manche Lieder,
sind sogar als Kritik an der Metternichschen Restauration aufzufassen. Natürlich
müssen solche Botschaften immer gründlich getarnt werden, nämlich im Sinne einer
„Einkleidung“ der Lieder „in ein gefälliges Äußeres“; alles andere würde sofort den
276
DÜRR, Walther: Schubert und seine Zeit. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer.
Leipzig 2002, S. 7.
277
DÜRHAMMER, Ilija: Art. „Weltschmerz“. In: Schubert-Lexikon. Hrsg. von Ernst HILMAR und Margret
JESTREMSKI. Graz 19972, S. 500.
278
BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert, S. 10.
279
Vgl. HILMAR, Ernst: Art. „Biedermeier“. In: Schubert-Lexikon, S. 42.
280
BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther: Einleitung. In: Über Schubert, S. 24 f.
281
HILMAR, Ernst: Art. „Biedermeier“. In: Schubert-Lexikon, S. 42.
45
Verdacht der Zensur erregen. Schuberts Freund Johann Mayrhofer z.B. bettet seine
Gedichte, von denen Schubert mehrere vertont, zu diesem Zweck häufig in eine antike
Kulisse ein; Beispiele hierfür sind das Lied „Heliopolis“ oder „Der zürnenden
Diana“.282
Trotz oder vielleicht sogar aufgrund dieser realistischen Einschätzung der politischen
Situation seiner Zeit glaubt Schubert aber auch an romantische Utopien: Diese spiegeln
sich z.B. in seiner Erzählung „Mein Traum“ vom 3. Juli 1822283, der Walther Dürr
„unverkennbare biographische Bezüge“ zuschreibt.284 Es geht darin um das Zerwürfnis
des Ich-Erzählers mit seinem Vater nach dem Tod der Mutter (eine Konstellation, die so
auch in Schuberts Biographie zu finden ist); durch die erlösende Kraft der Kunst finden
Vater und Sohn am Ende aber wieder zueinander und Versöhnung wird möglich.
Natürlich möchte Schubert derartige Utopien auch mit Hilfe seiner romantischen Musik
transportieren. Hierzu muss er sich allerdings der „biedermeierlichen“ Institutionen (d.h.
der Musiksalons, der Akademien, der Opernbühne und auch der Kirche) bedienen.285
„An der Gestalt Franz Schuberts [...] läßt sich exemplarisch zeigen, wie aus der
bürgerlichen Gesellschaft des Biedermeier die große Kunst der Romantik erwächst, sie
zugleich spiegelnd, negierend oder auch verändernd.“286
Doch dieser von Utopien begeisterte Schubert ist nur die eine Seite der Medaille: Es
sind von ihm auch eine Reihe von Äußerungen überliefert, aus denen ganz andere, sehr
resignative Töne sprechen. Seit Ende 1822 oder Anfang 1823 hat er mit der Syphilis zu
kämpfen, was ihn offenbar stark belastet. An Schober schreibt er 1823: „Vor allem muß
ich Dir ein Lamento über den Zustand unserer Gesellschaft287 wie über alle übrigen
Verhältnisse ankündigen; denn außer meinen Gesundheitsumständen, die sich (Gott sey
Dank) nun endlich ganz fest zu stellen scheinen, geht alles miserabl [sic!].“288 Ein
anderer Brief an Leopold Kupelwieser vom 31. März 1824 bezeugt, dass Schuberts
Gesundheitszustand sich zu dieser Zeit wieder verschlechtert, dass dies aber zwar ein
282
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder. In: Schubert
Handbuch. Hrsg. von Walther DÜRR und Andreas KRAUSE. Kassel u. a. 1997, S. 167 f.
283
SCHUBERT, Franz: Mein Traum (1822). In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der
Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie VIII: Supplement, Bd. 5: Schubert. Die Dokumente seines
Lebens. Hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Kassel u.a. 1964, S. 158 f.
284
DÜRR, Walther: Franz Schuberts Wanderjahre. In: Franz Schubert. Jahre der Krise 1818-1823. Arnold
Feil zum 60. Geburtstag am 2. Oktober 1985. Hrsg. von Werner ADERHOLD u.a. Kassel u.a. 1985, S. 11.
Die im Titel angesprochene, von Dürr und Feil beobachtete „Krise“ in Schuberts Leben ist im Sinne eines
Aufbruchs zu verstehen und hängt deshalb nicht mit dem Weltschmerz zusammen (vgl. DENNY, Thomas
A. / HILMAR, Ernst: Art. „Krise“. In: Schubert-Lexikon, S. 256).
285
Vgl. DÜRR, Walther: Zwischen Romantik und Biedermeier: Franz Schubert. In: Kunst des Biedermeier
1815-1833, S. 55 ff.
286
Ebd., S. 54.
287
Gemeint ist hier die „Lesegesellschaft“, also der „Wiener“ Freundeskreis.
288
SCHUBERT, Franz: Brief an Franz von Schober vom 30. November 1823. In: Schubert. Die Dokumente
seines Lebens, S. 207.
46
wichtiger, doch keineswegs der einzige Faktor für seine Schwermut ist. Schubert
beschreibt sich darin
als den unglücklichsten, elendsten Menschen auf der Welt [...], dessen
Gesundheit nie mehr richtig werden will, u. der aus Verzweiflung
darüber die Sache immer schlechter statt besser macht, [...] dessen
glänzendste Hoffnungen zu Nichte geworden sind, dem das Glück der
Liebe u. Freundschaft nichts biethen als höchstens Schmerz, dem
Begeisterung (wenigstens anregende) für das Schöne zu schwinden
droht [...].289
Aus der gleichen Zeit stammt folgende Notiz Schuberts:
Keiner, der den Schmerz des Andern, und Keiner, der die Freude des
Andern versteht! Man glaubt immer, zu einander zu gehen, und man
geht immer nur neben einander. O Qual für den, der dieß erkennt!
Meine Erzeugnisse sind durch den Verstand für Musik und durch
meinen Schmerz vorhanden; jene, welche der Schmerz allein erzeugt
hat, scheinen am wenigsten die Welt zu erfreuen.290
Es ist wahrscheinlich, dass Schubert, seit er sich an Utopien bzgl. der politischen
Entwicklungen in seiner Heimat festhält, auch schon fühlt, wie ausweglos die Situation
in Wahrheit ist. Insofern ist er offenbar ebenso vom Weltschmerz betroffen wie viele
seiner Zeitgenossen. Hierfür sprechen nicht nur seine persönlichen Äußerungen,
sondern auch die vielen von ihm zur Vertonung ausgewählten Liedtexte, die häufig vom
Tod oder von der Wanderschaft handeln, wobei letztere auch oft in den Tod führt. In
seinem ganzen Werk finden sich immer wieder stark melancholisch geprägte
Kompositionen. Einer Untersuchung von Dürhammer291 zufolge befassen sich 50% der
Schubertschen Lieder mit dem Gefühl der Wehmut, häufig in einer abendlichen oder
nächtlichen Kulisse.292
Seine Kunst als Ausdrucksmittel seiner Gefühle scheint für Schubert die einzige
Möglichkeit zu sein, seine Unzufriedenheit zeitweilig zu vergessen, wie folgender
Auszug eines Briefes an Schober belegt:
Ungeachtet ich nun seit 5 Monathen gesund bin, so ist meine
Heiterkeit doch oft getrübt durch Deine und Kuppels Abwesenheit,
289
Ders.: Brief an Leopold Kupelwieser vom 31. März 1824. In: Schubert. Die Dokumente seines Lebens,
S. 234.
290
Ders.: Notiz vom 27. März 1824. In: Schubert. Die Dokumente seines Lebens, S. 232 f.
291
DÜRHAMMER, Ilija: Zu Schuberts Literaturästhetik. Entwickelt anhand seiner zu Lebzeiten
veröffentlichten Vokalwerke. In: Internationales Franz Schubert Institut. Mitteilungen 14. Schubert durch
die Brille (Januar 1995). Tutzing 1995, S. 5-99.
292
Vgl. ebd., S. 47. In der selben Statistik wurde anhand aller von Schubert zur Vertonung ausgewählten
Texte auch ermittelt, wie ein für ihn offenbar idealer Liedtext durchschnittlich beschaffen sei: Er besitze
„drei bis fünf Strophen von jeweils vier alternierenden Versen, möglichst jambischen Tri- oder
Tetrametern“ und Kreuzreime, behandle „eine wehmütige Liebesgeschichte in abendlich-nächtlichem
Ambiente“, in dem auch Wasser eine Rolle spielen könne, ende „mit einem lakonischen Schlußsatz, einer
Frage oder Aufforderung“ und sei vorzugsweise ein Rollengedicht (ebd., S. 50 f.). Diesen interessanten,
wenn auch etwas fragwürdigen Berechungen zufolge ist Wilhelm Müller somit der perfekte Dichter für
Schubert, da seine Gedichte häufig diesem Muster entsprechen (vgl. ebd., S. 52).
47
und verlebe manchmal sehr elende Tage; in einer dieser trüben
Stunden, wo mir [ich] besonders das Thatenlos unbedeutende Leben,
welches unsere Zeit bezeichnet, sehr schmerzlich fühlte, entwischte
mir folgendes Gedicht, welches ich nur darum mitteile, weil ich weiß,
daß Du selbst meine Schwächen mit Liebe u. Schonung rügst:
Klage an das Volk!
O Jugend unsrer Zeit, Du bist dahin!
Die Kraft zahllosen Volks, sie ist vergeudet,
Nicht einer von der Meng´ sich unterscheidet,
Und nichtsbedeutend all´ vorüberzieh´n.
Zu großer Schmerz, der mächtig mich verzehrt,
Und nur als Letztes jene Kraft mir bleibet;
Denn thatlos mich auch diese Zeit zerstäubet,
Die jedem Großes zu vollbringen wehrt.
Im siechen Alter schleicht das Volk einher,
Die Thaten seiner Jugend wähnt es Träume,
Ja spottet thöricht jener gold´nen Reime,
Nichtsachtend ihren kräft´gen Inhalt mehr.
Nur Die, o heil´ge Kunst, ist´s noch gegönnt
Im Bild´ die Zeit der Kraft u. That zu schildern,
Um weniges den großen Schmerz zu mildern,
Der nimmer mit dem Schicksal sie versöhnt.293
Hans Joachim Kreutzer weist darauf hin, dass dieses Gedicht von manchen Biographen
zu Unrecht auf eine „individuelle Lebenssituation“ Schuberts bezogen worden sei;
vielmehr müsse es als „ein vollgültiges Zeichen zeitgenössischen Bewußtseins“ gesehen
und „politisch ernstgenommen werden [...]“.294 Weiter unten soll auch noch einmal
darauf zurückgekommen werden.
Den eindeutigsten Beleg für Schuberts Weltschmerz liefert aber wohl die Wahl der
„Winterreise“ zur Vertonung als Liederzyklus.295 Mayrhofer erklärt in seinen
„Erinnerungen an Franz Schubert“, dass nach seiner Meinung schon die Entscheidung,
die Müllersche „Winterreise“ zu vertonen, beweise,
wie der Tonsetzer ernster geworden. Er war lange und schwer krank
gewesen, er hatte niederschlagende Erfahrungen gemacht, dem Leben
war die Rosenfarbe abgestreift; für ihn war Winter eingetreten. Die
Ironie des Dichters, wurzelnd in Trostlosigkeit, hatte ihm zugesagt; er
293
SCHUBERT, Franz: Brief an Franz von Schober vom 21. September 1824. In: Schubert. Die Dokumente
seines Lebens, S. 258 f.
294
KREUTZER, Hans Joachim: Produktive Symbiosen. Franz Schubert und die literarische Situation seiner
Zeit. In: Ders.: Obertöne, S. 158.
295
Fischer-Dieskau ist zwar der Ansicht, es gebe „keine mit Händen zu greifende Erklärung für das
Phänomen WINTERREISE“ (FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder. Stuttgart 1996, S.
329); ich behaupte jedoch, dass der Weltschmerz hierfür eine ziemlich gute Erklärung abgibt.
48
drückte sie in schneidenden Tönen aus. Ich wurde schmerzlich
ergriffen.296
Wie sehr Schubert die Vertonung der „Winterreise“ offenbar psychisch mitnimmt,
drückt der bereits oben zitierte Bericht Josef von Spauns aus; Letzterer bekundet in
demselben Zitat auch seine Vermutung, dass die Beschäftigung mit der „Winterreise“
Schuberts frühen Tod mit nur 31 Jahren mit verursacht habe.297 Dass die Vertonung der
„Winterreise“ für Schubert ein äußerst wichtiges Projekt darstellt, lässt sich daran
erkennen, dass er die letzten Korrekturen an dem Liederzyklus auf seinem Sterbebett
vornimmt.298 Auch Wilhelm Müller war relativ kurz nach Beendigung seiner Arbeit am
Zyklus verstorben.
Aufgrund all dieser Beobachtungen kann man wohl bei Schubert und Wilhelm Müller
als dessen „geistigem Partner“299 den Weltschmerz beider Künstler als gemeinsames
Lebensgefühl annehmen, das sich auch in ihrem Werk widerspiegelt.300 Dieser Ansicht
ist auch Emil Staiger301 (der Müller allerdings Unrecht tut, indem er ihn als eher
zweitklassigen Dichter darstellt302). Staiger ist der Meinung, Müller wie Schubert hätten
wahrgenommen, dass zu ihrer Zeit
ein schmerzenreicher Abschied stattfand [...] von einem sinnerfüllten
und von Liebe beseelten Dasein, vom Glauben an ein Ziel der
Geschichte, an eine wenn auch tief verborgene Einheit von Schicksal
und Vorsehung, an eine Erde, mit einem Wort, die eine Heimat der
Menschen sein könnte.303
Durch diese Wahrnehmung seien sie auch auf der Ebene der Kunst verbunden gewesen
(wobei allerdings Müller auch noch implizit und ohne Nennung plausibler Gründe
296
MAYRHOFER, Johann: Erinnerungen an Franz Schubert. In: Über Schubert, S. 44 f.
Vgl. von SPAUN, Josef: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert (1858). In:
Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, S. 162. Dieser Aussage widerspricht Fischer-Dieskau, indem
er darauf hinweist, dass Schubert zur Zeit der Vertonung der „Winterreise“ auch ganz andere, heitere
Werke geschaffen habe, wie etwa das „strahlend lebensfreudige Klaviertrio Es-Dur“, eine zweite Serie
von Klavier-Impromptus und anderes (FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 327).
298
Vgl. VON SPAUN, Josef: Über Schubert (1829). In: Schubert. Die Erinnerungen seiner Freunde, S. 36.
299
FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 330.
300
Völlig anderer Ansicht ist hier Theodor W. Adorno (ADORNO, Theodor Wiesengrund: Schubert. In:
Ders.: Gesammelte Schriften. Bd. 17: Musikalische Schriften IV: Moments musicaux. Impromptus. Hrsg.
von Rolf TIEDEMANN. Frankfurt/Main 1982, S. 18-33). Er will nicht an das subjektive Moment in
Schuberts Werk und schon gar nicht an eine göttliche Inspiration des Komponisten glauben (vgl. ebd., S.
19). Die „bewegende[...] Subjektivität“ sei vielmehr im „Wahrheitscharakter“ von Schuberts Musik
untergegangen (ebd., S. 21). Dieser These hängt heute allerdings kaum jemand mehr an; der subjektive
Charakter von Schuberts Werken wird im Gegenteil stark betont. Teilweise wird der Künstler auch mit
dem melancholischen heimatlosen Wanderer der „Winterreise“ identifiziert und gilt in dieser Hinsicht
sogar oftmals als Typus des modernen getriebenen Menschen (vgl. BRAUNGART, Georg / DÜRR, Walther:
Einleitung. In: Über Schubert, S. 36.). Dazu passt auch, dass Schubert von vielen Zeitgenossen als
„Genie“ beschrieben und charakterisiert wird: Die geniale Veranlagung wird dem Melancholiker schon
seit der Antike zugeschrieben (vgl. ebd., S. 31).
301
STAIGER, Emil: Wilhelm Müller – Schubert: Winterreise. In: Ders.: Musik und Dichtung. Vierte, um
einen 2. Teil erweiterte Auflage. Zürich 1980, S. 187-199.
302
Vgl. ebd., S. 190 f. sowie S. 193.
303
Ebd., S. 197.
297
49
unterstellt wird, sein Weltschmerz sei mehr oder weniger aufgesetzt oder nachgeahmt
gewesen304): „Besser haben sich ein Komponist und ein Dichter nie wieder verstanden,
obwohl die Musik das Wort des Dichters in Regionen erhebt, von denen sich dieser
nichts träumen ließ.“305
Eine solche geistige Verbundenheit zwischen Müller und Schubert nimmt auch Heinz
Wetzel an.306 In seinen Augen sind die politische Lage Deutschlands, Selbstzweifel,
aber vor allem ein Gefühl der inneren Einsamkeit die Hauptgründe für Müller, die
„Winterreise“ zu schreiben. Er habe „unter der Unfähigkeit“ gelitten, „mit seiner Lyrik
Leser zu erreichen, bei denen er die Fähigkeit zu einer adäquaten Rezeption und damit
zu einer Teilnahme voraussetzte, die seine Einsamkeit aufgehoben hätte“; dies sei erst
durch die Vertonung seiner Gedichte durch Schubert geschehen.307
Kreuels ist der Ansicht, dass die „dichterische, mitunter geradezu mediale Kraft in der
Übermittlung seelischer Inhalte“, die in den Gedichten zutage trete,
in seiner feinstofflichen Gestaltwerdung stetigen Absterbens und des
Ich-Verlustes, Schubert in besonderem Maße angesprochen haben
muß, weil es seine musikalische Semantik der Darstellung seelischer
Prozesse, insbesondere seiner eigenen seelischen Lagerung,
herausgefordert hat.308
So ist es wohl auch zu erklären, dass Text und Musik der „Winterreise“ so sehr aus
einem Guss zu sein scheinen.
Mit ihrer Kunst reihen sich die „Weltschmerzler“ Müller und Schubert also in den
Jahrhunderte alten Melancholie-Diskurs ein. Bei Müller äußert sich dies darin, dass er
in seinen Gedichten, besonders in der „Winterreise“, spätromantische Gedanken und
Motive (z.B. Einsamkeit oder Todessehnsucht) verwendet, die einerseits in der
Melancholie-Tradition stehen, andererseits aber in der Epoche der Spätromantik,
bedingt durch die historische Situation, zu ganz neuer Aktualität, zu einer neuen
Begründung, gelangen.
Franz Schubert wählt eine große Anzahl romantischer Gedichte – darunter eben die
„Winterreise“ –, die von jener Melancholie bestimmt sind, für seine Vertonungen aus.
304
Vgl. ebd., S. 188 f.
Ebd., S. 195.
306
WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise: Die Frage nach den
Zusammenhängen. In: Aurora. Jahrbuch der Eichendorff-Gesellschaft für die klassisch-romantische Zeit.
Hrsg. von Helmut KOOPMANN u.a. 53. Jahrgang, 1993. Sigmaringen 1993, S. 139-171.
307
Ebd., S. 171. Dass Müller sich tatsächlich die Vertonung seiner Gedichte gewünscht haben dürfte,
belegt auch folgender Tagebucheintrag: „Ich kann weder spielen noch singen und wenn ich dichte, so
sing ich doch und spiele auch. Wenn ich die Weisen von mir geben könnte; so würden meine Lieder
besser gefallen, als jetzt. Aber, getrost, es kann sich ja eine gleichgestimmte Seele finden, die die Weisen
aus den Worten heraushorcht und sie mir zurückgibt“ (MÜLLER, Wilhelm: Tagebucheintrag vom 8.
Oktober 1815. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Bd. 5, S. 10).
308
KREUELS, Hans-Udo: „Die Winterreise“ des Wilhelm Müller (und des Franz Schubert). Versuch einer
behutsamen, gegenseitigen Distanzierung. In: Wilhelm Müller. Eine Lebensreise, S. 99.
305
50
Natürlich lassen sich bei ihm auch verdeckt kritische, zuweilen sogar idyllische
Liedtexte finden; die Melancholie scheint ihn aber dennoch sein ganzes Leben lang zu
begleiten. In seiner Musik sind die melancholischen Züge jedenfalls nicht zu übersehen:
„Es ist Musik, die ihren charakteristischen ‚Ton’ hat, einen Ton, den Schubert wohl
auch absichtsvoll anschlägt, mit dem er sich – aus gegebenem Anlaß – mitteilen, mit
dem er aber doch zugleich auch seinem persönlichen ‚Schmerz’ Ausdruck geben
will.“309
Die „Winterreise“ speziell kann also als ein im zeitgeschichtlichen Kontext des
Weltschmerzes entstandenes und von spätromantischer bzw. weltschmerzlerischer
Melancholie geprägtes Werk charakterisiert werden. Zusätzlich enthält es jedoch auch
Anklänge an den traditionellen Melancholie-Diskurs, wie weiter unten noch gezeigt
werden soll. Eventuell könnte man die „Winterreise“ sogar als zeitkritisches Werk
auffassen: Es wird zwar darin nicht ausgesprochen, woher die Melancholie des
Protagonisten tatsächlich kommt, aber man könnte sie relativ leicht auf den
Entstehungskontext beziehen und somit die Unzufriedenheit der Künstler herauslesen.
Auf diese These sowie auch auf die konkreten Bedeutungen der anderen Beobachtungen
zum weltanschaulichen Hintergrund Müllers und Schuberts für die „Winterreise“ wird
allerdings weiter unten noch einmal detaillierter eingegangen.
4. Der Gedicht- bzw. Liederzyklus: Entwicklung und Merkmale
Das folgende Kapitel soll dazu dienen, die „Winterreise“ in die Geschichte des
Gedicht- bzw. Liederzyklus einzuordnen. Außerdem sollen die Merkmale solcher
Zyklen herausgearbeitet werden, aus denen schließlich eine Aufstellung von zyklischen
Kriterien erfolgen wird, auf die hin ich Text und Musik der „Winterreise“ überprüfen
möchte. Die Frage, inwieweit diese Kriterien auch mit der im Werk vermittelten
Melancholie in Verbindung stehen, wird ebenfalls in diesen nächsten Kapiteln
untersucht.
4. 1 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Gedichtzyklus
Den Gedichtzyklus könnte man allgemein und in Anlehnung an Orts Definition des
Zyklus im neubearbeiteten „Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft“ als
„Gruppe von selbständigen, in narrativer Sukzession oder thematischer Variation
309
DÜRR, Walther: Zwischen Romantik und Biedermeier: Franz Schubert. In: Kunst des Biedermeier
1815-1833, S. 53.
51
aufeinander bezogenen Gedichten [...]“ verstehen.310 Die Einzelglieder eines Zyklus
stehen also einerseits jeweils für sich, andererseits aber bestehen unter ihnen dennoch
weitaus größere Verbindungen, als dies in bloßen Gedichtsammlungen oder -reihen der
Fall ist.311
Mustard312 unterscheidet grundsätzlich zwischen „arrangierten“ und „komponierten“
Zyklen, also solchen, bei denen erst im Nachhinein Gedichte nach einem zyklischen
Prinzip zusammengestellt werden, und solchen, die der Dichter von Anfang als Zyklen
plant und konzipiert. Zudem trifft sie eine Unterscheidung zwischen „narrativen“
Zyklen, denen eine erzählte Handlung zugrunde liegt, und „Variationszyklen“, in
denen ein Thema oder Motiv in allen Gedichten in je variierter Form behandelt wird.313
Die Entwicklungsgeschichte des deutschen Gedichtzyklus setzt etwa in der Mitte des
17. Jahrhunderts ein. Der Begriff „kýklos“ (lat. „cyclus“), den man im Deutschen mit
„‚Kreis’, ‚Kreislauf’, ‚Ring’ oder ‚Rad’“ wiedergeben könnte314, taucht zwar bereits in
der Antike auf und bezeichnet dort den Zusammenhang von Einzeltexten, z.B. von
Sagenkreisen. Auch bei der Anordnung von Liedern zur Zeit der Minnesänger sowie
bei Gedichtgruppen des 15. und 16. Jahrhunderts sind vereinzelt zyklische Tendenzen
zu erkennen. Doch den entscheidenden Impuls zur Ausbildung wirklicher
Gedichtzyklen bekommen deutsche Dichter tatsächlich erst im 17. Jahrhundert, und
zwar durch Petrarcas Sonettzyklen. In Anlehnung hieran beginnt man nämlich,
Gedichte entsprechend ihrer Form (der Ode, der Elegie oder eben des Sonetts) zu
zyklischen Gruppen zusammenzustellen. Besonders verbreitet ist diese Praxis jedoch
noch nicht.
Auch im 18. Jahrhundert wird Gedichtzyklen keine besondere Bedeutung beigemessen;
die wenigen, die in dieser Zeit entstehen, sind strukturell nicht eben anspruchsvoll. Sie
zeichnen sich dadurch aus, dass ihre zyklische Struktur vom Autor nicht bewusst
geplant und demnach relativ lose ist. Meist beruht sie lediglich entweder auf der
jeweiligen Form der Gedichte oder auf einem bestimmten, sie verbindenden Thema;
teilweise sind sie auch chronologisch oder entlang einer narrativen Linie sortiert.
Meistens entstehen sie nur, weil Dichter nach einer Möglichkeit suchen, ihre Gedichte
in einer gewissen Ordnung zu veröffentlichen.
310
ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklus“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft.
Neubearbeitung des Reallexikons der deutschen Literaturgeschichte. Hrsg. von Jan-Dirk MÜLLER u.a.
Berlin, New York 2003, Bd. 3, S. 899.
311
Es wäre zu überlegen, ob hier nicht noch ein Kriterium der Länge aufgestellt werden sollte: Denn ob
z.B. eine Gruppe von drei Gedichten, auf die die anderen genannten Kriterien zutreffen, bereits als Zyklus
bezeichnet werden kann, ist fraglich.
312
MUSTARD, Helen Meredith: The lyric cycle in German literature. New York 1946.
313
Ebd., S. 5.
314
ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklus“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft S. 899.
52
Erst in den ersten Jahren des 19. Jahrhunderts begegnet der Begriff „Zyklus“ überhaupt
im kunstphilosophischen Diskurs315, so etwa bei Friedrich Schlegel316, aber indirekt
auch bei August Wilhelm Schlegel, der über den Sonettzyklus und die Beschaffenheit
des Zyklischen allgemein zu reflektieren beginnt (allerdings ohne den Terminus
„Zyklus“ zu benutzen). In seinen „Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre“ z.B.
bezeichnet er eine Sammlung von Sonetten Petrarcas als „ganzen Liebesroman“.317 Im
dritten Teil der „Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst“ sagt er, die Sammlung
sei ein „wahrer und vollständiger lyrischer Roman“.318 Sehr deutlich betont er die
Beziehungen der Gedichte untereinander, durch die die Bedeutung des ganzen Werks
erst erhellt werde.319 „Here, in this description, although he does not use the term
‚cycle’, Schlegel characterizes roughly the narrative cycle which was later to become
such a popular form.“320 Laut Mustard sind diese Äußerungen “the first attempt to
formulate the cyclic principle, […]”.321 Obwohl Schlegel selbst keine Zyklen in der
von ihm eigentlich beschriebenen Form verfasst, gerät durch seine theoretischen
Überlegungen Mustard zufolge die Form des Sonettzyklus gleichsam in Mode: „A. W.
Schlegel initiated the vogue of the sonnet cycle in these early years of the Nineteenth
Century and contributed more to a theoretical analysis and understanding of the cycle
form than any other poet of the time.”322
Novalis ist der erste romantische Dichter, der die zyklische Form verwendet, z.B. in
seinen „Hymnen an die Nacht’“. Grundsätzlich sind die Zyklen der romantischen
Epoche entweder philosophisch bzw. didaktisch ausgerichtet oder in Briefform verfasst
und bestehen häufig aus Sonetten. Der Grund für die zunehmende Beliebtheit des
Gedichtzyklus in der Romantik liegt wohl darin, dass die Dichter in dieser Epoche das
Gefühl haben, keines ihrer Themen in befriedigender Weise erfassen zu können. Die
zyklische Form kommt ihnen hierbei entgegen: Sie bietet die Möglichkeit, einen
Gedanken, ein Motiv oder ein Thema immer wieder anders zu beleuchten, ohne dabei
notwendigerweise zu einem Ergebnis oder einem Ende kommen zu müssen. Durch die
315
Ort zufolge setzt sich der Begriff in der Literatur zu Anfang des 19. Jahrhunderts „nur zögernd“ durch
(ebd., S. 899).
316
Vgl. SCHLEGEL, Friedrich: Philosophie der Philologie. Hrsg. von Josef KÖRNER. In: Logos.
Internationale Zeitschrift für Philosophie der Kultur. Hrsg. von Richard KRONER. Bd. 17, 1928. Tübingen
1928, S. 49 und 51.
317
SCHLEGEL, August Wilhelm: Vorlesungen über Philosophische Kunstlehre. Hrsg. von August
WÜNSCHE. Leipzig 1911, S. 152.
318
Ders.: Vorlesungen über schöne Litteratur und Kunst. Dritter Teil: Geschichte der romantischen
Litteratur. Deutsche Litteraturdenkmale des 18. und 19. Jahrhunderts in Neudrucken hrsg. von Bernhard
SEUFFERT. Heilbronn 1884, S. 204.
319
Vgl. ebd., S. 203 ff.
320
MUSTARD, Helen Meredith: The lyric cycle in German literature, S. 36.
321
Ebd., S. 37.
322
Ebd., S. 33 f.
53
Beleuchtung einzelner Teile wird die Annäherung an die Erkenntnis des „Ganzen“
denkbar. So ist es auch zu erklären, wieso die romantischen Zyklen häufig einen
fragmentarisch anmutenden Charakter besitzen: Eine klare Begrenzung durch Anfang
und Ende würde ihren Inhalten nicht entsprechen. Sie erwecken deshalb den Eindruck,
jeweils noch beliebig erweitert werden zu können.
Was ebenfalls auffällt, ist die weitaus stärkere innere Verbindung ihrer Einzelteile, die
sie v.a. im Gegensatz zu älteren Werken auszeichnet. Dies hängt nicht zuletzt damit
zusammen, dass die Dichter jetzt beginnen, ihre Zyklen von Anfang an als solche zu
konzipieren und nicht erst im Nachhinein Gedichte zusammenzustellen. Daneben gibt
es aber in der Romantik auch die Praxis, Einzelgedichte in größere Formen, z.B. in
Romane, einzubetten, anstatt sie in Zyklen anzuordnen.323 Dies entsteht wohl einerseits
aus dem Bedürfnis heraus, ihnen einen Rahmen zu verleihen, andererseits aufgrund der
Vorliebe für gemischte literarische Formen.
Ähnlich wie die Romantiker legt auch Goethe seine Gedichtzyklen an, wobei er
allerdings, wie Ort betont, den Begriff „Zyklus“ nicht auf seine eigenen Gedichtzyklen
wie z.B. den „West-östlichen Divan“, sondern nur auf Malerei anwendet.324
In den Jahren 1815 bis 1830 steigt die Produktion von Gedichtzyklen stetig an. Fast
jeder in dieser Zeit lebende Autor schreibt wenigstens einen. Diese „zyklische Neigung
der Biedermeierzeit“, die auch Friedrich Sengle erkennt, führt dieser auf die Tatsache
zurück, dass in dieser Epoche „dem Einzelgedicht keine absolute Autonomie“
zukomme. Man sei hier gar nicht auf der Suche nach dem einzig wahren Gedicht.325
Gerade in den 1820er Jahren tritt der „komponierte“ Zyklus, den Goethe und die
Romantiker gepflegt hatten, zugunsten des „arrangierten“ wieder in den Hintergrund;
Dichter wie Heine, Rückert, Eichendorff oder eben Wilhelm Müller sehen im
zyklischen Arrangement eine gute Möglichkeit zur geordneten Veröffentlichung ihrer
Gedichte. Hierbei achten sie darauf, diese möglichst in einer, wenn auch recht locker
gefügten, narrativen Anlage zusammenzustellen.326 Dass gerade der narrative und
323
Ein Beispiel wäre Eichendorffs Roman „Ahnung und Gegenwart“.
Vgl. ORT, Claus-Michael: Art. „Zyklus“. In: Reallexikon der deutschen Literaturwissenschaft, S. 899.
325
SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration und
Revolution 1815-1848. Bd. II, S. 624 f.
326
Wilhelm Müllers Zyklus „Die schöne Müllerin“ stellt als „komponierter“ und auffällig kohärenter
Zyklus gegenüber den sonst üblichen „arrangierten“ Zyklen eine Ausnahme der Zeit und auch in seinem
eigenen dichterischen Werk dar, das ansonsten fast ausschließlich aus „arrangierten“, lose verbundenen
Zyklen besteht. Auch die „Winterreise“ ist natürlich im Gegensatz zu „Die schöne Müllerin“ ein
„arrangierter“, weil in seiner endgültigen Form erst rückwirkend zusammengestellter Zyklus. Trotzdem
täuscht sich Mustard, wenn sie die „Winterreise“ als „Sammlung“ von Gedichten mit einem Mangel an
innerem Zusammenhang bezeichnet (MUSTARD, Helen Meredith: The lyric cycle in German literature, S.
88 f.).
324
54
meist recht lange Zyklus in dieser Zeit so beliebt ist, liegt wohl in der hier
grundsätzlich vorherrschenden Begeisterung für die Epik begründet.
Ab 1830 finden erneut Veränderungen statt: Chamisso, Lenau, Droste-Hülshoff,
Hebbel u.a. besinnen sich erneut auf den „komponierten“ Zyklus und pflegen diesen
nun als ganz eigene Kunstform; die Zyklen dieser Periode sind viel fester gefügt und
auch nicht mehr so lang wie die vorhergehenden.
Bis zum Ende des 19. Jahrhunderts geschieht im Bereich des Gedichtzyklus nichts
nennenswert Neues mehr; alle vorhandenen Tendenzen und Ausprägungen werden
lediglich gefestigt. Erst ab den 1880er Jahren finden wieder Neuerungen statt: Dichter
wie Avenarius, Conradi, Holz oder Mombert, sowie später George und Rilke, suchen
nach neuen Ausdrucksmöglichkeiten, die dem Lebensgefühl der Moderne mit ihren
immer komplexer werdenden Existenzbedingungen für das Individuum Rechnung
tragen können. Da dies in der Form des Zyklus besser zu vermitteln ist als in der Form
des Einzelgedichts, entstehen in der Moderne wieder sehr umfangreiche, teilweise
äußerst komplexe und vor allem „komponierte“ Gedichtzyklen.
Es wäre an dieser Stelle noch zu fragen, welche Kriterien, über die oben zitierte
Definition hinaus, einen Gedichtzyklus überhaupt ausmachen. In seinem schon
erwähnten Aufsatz „Das zyklische Prinzip in der Lyrik“ von 1932 versucht Joachim
Müller, genau diesem Problem auf den Grund zu gehen. Seine Grundannahme ist
hierbei, dass es hauptsächlich formale Elemente seien, die einen Gedichtzyklus
konstituieren würden. Um diese formalen Elemente benennen zu können, geht Müller
von der wörtlichen Bedeutung des Begriffs „Zyklus“ aus: Er versteht ihn, ganz
wörtlich, als „Kreis“ und leitet aus den rein geometrischen Eigenschaften des Kreises
auch die Merkmale von Gedichtzyklen ab. Eine „motivische Schwerpunkts- oder
Mittelpunktsbezogenheit“ wird von ihm als erstes Charakteristikum bezeichnet: Allen
Gedichten eines Zyklus muss ein Motiv gemeinsam sein, auf das sich alle Elemente des
Ganzen beziehen.327 Als zweites Merkmal nennt Müller das Vorhandensein eines
„thematischen Apriori“; hierunter versteht er das „Erlebnis“, das quasi den
Ausgangspunkt des zyklischen Werks darstelle und das dann vom Autor in
Gedichtform umgesetzt werde.328 Ein drittes Kriterium stellt der „lyrische Ablauf“ des
Zyklus dar, also die stetige Vertiefung und „Verlebendigung“ des thematischen Apriori
in den einzelnen Gedichten. Auf diese Weise schließt sich die „Linie der motivischen
Variation [...] zum ‚Kreis’, aber so, daß das Thema gleichsam eine Spirale
durchschritten hat. Das thematische Apriori kommt am Ende eines Zyklus auf einer
327
328
MÜLLER, Joachim: Das zyklische Prinzip in der Lyrik, S. 5 f.
Ebd., S. 6 f.
55
höheren Stufe zu sich selbst zurück [...]“.329 Müller unterscheidet außerdem noch
zwischen „losen“ und „geschlossenen“ Zyklen330, allerdings nicht ohne hier auch
Zwischenformen einzuräumen. Erstere zeichnen sich dadurch aus, dass die einzelnen
Gedichte nicht immer in einer ungebrochenen Linie angeordnet sind, wobei sie aber
trotzdem durch das thematische Apriori stets verbunden bleiben. Letztere sind fester
gefügt, so dass die Einzelteile nicht beliebig umgestellt werden könnten.
In Anlehnung an diese von Müller entdeckten Merkmale wurde auch die Liste von
Kriterien erstellt, auf die hin die „Winterreise“ untersucht werden soll. Vorher soll
jedoch noch ein Abriss der Entwicklung des Liederzyklus gegeben werden.
4. 2 Entwicklungsgeschichte und Merkmale des Liederzyklus
In seinem Artikel „Zyklus“ in der Enzyklopädie „Die Musik in Geschichte und
Gegenwart“ definiert Ludwig Finscher331 den musikalischen Zyklus ganz allgemein als
„Gruppe von in sich geschlossenen Gebilden (Werken oder Sätzen), die formal
und/oder inhaltlich so aufeinander bezogen sind, daß sich eine übergeordnete Einheit
ergibt und daß Form und Inhalt des einzelnen Teils und Form und Inhalt des Zyklus
einander wechselseitig erhellen“332 Die Form kommt im 19. Jahrhundert auf, indem
Komponisten
beginnen,
die
immer
beliebter
werdenden
Gedichtzyklen
zeitgenössischer Dichter zu vertonen. Hierbei wird versucht, der inhaltlichen oder
thematischen Kohärenz der Texte auch auf musikalischer Ebene Rechnung zu tragen,
z.B. durch tonale Geschlossenheit oder durch motivische Verwandtschaften.333
Insofern sind wirkliche Liederzyklen von bloßen „Liedersammlungen“ des 19. und 20.
Jahrhunderts abzugrenzen, bei denen die formalen und/oder inhaltlichen Beziehungen
der Einzelbestandteile nur auf der textlichen Ebene bleiben. Bei Liederzyklen ist also
u.a. zu untersuchen, „ob die komponierten Texte einen Zyklus bilden“ und „ob der
Komponist diese poetische zyklische Form durch eine musikalische verstärkt oder
überlagert hat“.334 Genau diese Frage soll im Hinblick auf die „Winterreise“ betrachtet
werden.
329
Ebd., S. 8.
Ebd., S. 8.
331
FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart. Allgemeine
Enzyklopädie der Musik. Begründet von Friedrich BLUME. Zweite, neubearbeitete Ausgabe. Hrsg. von
Ludwig FINSCHER. Kassel u.a. 1998, Sachteil, Bd. 9, Sp. 2528-2537.
332
Ebd., Sp. 2528.
333
Vgl. Dürhammer, Ilja / HILMAR, Ernst: Art. „Liederzyklen“. In: Schubert-Lexikon, S. 280.
334
FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2528.
330
56
Recht fragwürdig erscheinen die Kriterien, die laut Christian Höltge335 einen
Liederzyklus konstituieren können. Er argumentiert nämlich hauptsächlich inhaltlich:
Seiner Meinung nach können unter anderem solche Merkmale wie eine verbindende
Idee der Texte, ein bestimmter Widmungsträger oder auch die Lebensumstände des
Komponisten zur Entstehungszeit des Werkes einen Zyklus ausmachen. Eine
tatsächlich zyklische Anlage im Sinne einer geschlossenen Kreisform auf
musikalischer Ebene (z.B. durch einen Bezug des Nachspiels des letzten Liedes auf das
Vorspiel des ersten) sei eher selten.336 Fragwürdig sind solche Kriterien deshalb, weil
der sich daraus ergebende Zyklusbegriff zu locker ist; Höltge vernachlässigt bei seiner
Bestimmung des Zyklischen die formale Seite, d.h. die Struktur des Werkes. Eine
Verbindung von Anfang und Ende sowohl auf inhaltlicher wie auch auf formaler Ebene
ist keineswegs so unwichtig und so selten, wie Höltge behauptet.
Walther Dürr, der das deutsche Sololied des 19. Jahrhunderts untersucht hat337,
bezeichnet Liederzyklen als „exzeptionelle Erscheinung in der Liedkomposition“338;
sie seien weder am Anfang noch am Ende des 19. Jahrhunderts von großer Bedeutung
gewesen. Dies ist laut Dürr darauf zurückzuführen, dass ein Gedichtzyklus epischen
oder dramatischen Charakter bekommt, indem Autoren einzelne Gedichte in eine Form
bzw. in einen Ablauf bringen. Auf die Erwartungen, die man – vor allem noch in der
Goethezeit – an die Beschaffenheit von Liedern stellt, passen jedoch solche Elemente
nicht. Man bevorzugt hier einfache, schlichte, leicht zu singende und eben genuin
lyrische Lieder.339 Aus diesem Grund muss sich der Liederzyklus erst noch einbürgern.
Als Wurzeln des Liederzyklus werden im allgemeinen das „Liederspiel“ einerseits340,
sowie der Liederkreis „An die ferne Geliebte“ op. 98 von Ludwig van Beethoven
andererseits bezeichnet.341 Letzteres Werk ist bereits auf textlicher Ebene streng
zyklisch angelegt: Der Dichter Alois Jeitteles stiftet einen inhaltlichen und sprachlichen
Rückbezug des letzten Gedichts auf das erste, so dass man hier wirklich von einer
335
HÖLTGE, Christian: Text und Vertonung. Untersuchungen zu Wort-Ton-Verhältnis und
Textausdeutung
in
deutschsprachigen
Liederzyklen
mit
Klavierbegleitung.
Europäische
Hochschulschriften. Reihe 36, Bd. 78 (Musikwissenschaft). Frankfurt/Main 1992.
336
Vgl. ebd., S. 20 ff.
337
DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert. Untersuchungen zur Sprache und Musik.
Wilhelmshaven 19992.
338
Ebd., S. 245. Auch Budde weist darauf hin, dass Liederzyklen bis zum Beginn des 19. Jahrhunderts
unüblich gewesen seien (vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 21). Vgl. zum Rest dieses
Abschnitts: DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 245.
339
Dass es erst eine Weile dauert, bis man den Blick vom einzelnen Lied weg und hin auf die zyklische
Komposition als eigenständige Kunstform richtet, sieht man z.B. daran, dass erst im Jahr 1856 die erste
Aufführung des 1823 entstandenen Zyklus „Die schöne Müllerin“ stattfindet, in der das Werk
vollständig vorgetragen wird.
340
Aus einem solchen entstand ja auch Wilhelm Müllers erster Liederzyklus „Die schöne Müllerin“.
341
Vgl. FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2535 / DÜRR,
Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 246-255.
57
Anlage in Kreisform sprechen kann. Zudem bezieht er auch die restlichen Texte formal
und inhaltlich aufeinander. Dieser Anlage trägt Beethoven bei der Vertonung
Rechnung, unter anderem indem er das Thema des ersten Liedes im letzten wieder
aufgreift.
Budde ist jedoch der Ansicht, dass Franz Schubert der erste gewesen sei, der „das
lyrisch-literarische Problem des Zyklus musikalisch-kompositorisch reflektierte und zu
einem überzeugenden Ganzen gestaltete“. Während Beethovens Vertonung der
Gedichte von „An die ferne Geliebte“ „eher als die Durchkomposition einer lyrischen
Folge von Gedichten im Sinne von Anfang – Mitte – Schluß zu charakterisieren“ sei,
habe Schubert das Problem des Zyklischen in den Texten seiner Gedichtzyklen
reflektiert und musikalisch ausgestaltet.342
Auch Dürr bezeichnet Franz Schubert als „eigentlichen Begründer der Gattung
Liederzyklus in der Geschichte des Liedes“.343 Schubert komponiert seit 1814 vielfach
mehrere Gedichte aus der Feder einzelner Dichter (z.B. Körners oder Kosegartens)
nacheinander und veröffentlicht sie, nach Dichtern oder nach inhaltlichen Aspekten
sortiert, in seinen Liederheften.344 In den „Liederjahren“ 1815 und 1816 beginnt er
damit, solche Lieder nicht bloß zusammenzustellen und zu ordnen, sondern sie
wirklich durch zyklische Elemente zu verbinden. Tatsächlich begründet wird die
Gattung Liederzyklus von Schubert aber durch „Die schöne Müllerin“ und die
„Winterreise“.345 Beide gelten allgemein als prototypische Liederzyklen.346 Allerdings
würde sich, so Dürr, in beiden Fällen der Inhalt der Gedichtzyklen durch die Vertonung
verändern: Der „Schönen Müllerin“ nehme Schubert mit Hilfe musikalischer Mittel
den Charakter des Spielerischen und mache die Wanderschaft zum eigentlich Thema
des Zyklus. In der „Winterreise“ habe Schubert die durch den Dichter festgelegte
Reihenfolge der Texte bei der Komposition nicht beachtet (s. Kapitel zur
Entstehungsgeschichte), worin sich ausdrücke, dass er dessen Ordnung keine
342
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 21.
DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 263. Zum Schaffen Schuberts vgl. ebd.,
S. 255-278.
344
Nicht immer ist man sich hierbei bzgl. der Frage der Intention einer zyklischen Anlage sicher (vgl.
DÜRHAMMER, Ilija / HILMAR, Ernst: Art. „Liederzyklen“. In: Schubert-Lexikon, S. 281).
345
Dürr zufolge wird im Fall der „Schönen Müllerin“ der zyklische Zusammenhang durch den Text, im
Fall der „Winterreise“ eher durch die Musik gestiftet (vgl. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19.
Jahrhundert, S. 263). Dass in der „Winterreise“ jedoch durchaus auch inhaltliche Kohärenz vorliegt – was
ja auch Mustard nicht erkennt (s.o.) –, wird zu zeigen sein.
346
„Die schöne Müllerin“ und die „Winterreise“ „are considered excellent examples of the lyric cycle, in
which a series of poems forms a dramatic entity“ (BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of
the Schubert Song Cycles, S. 37).
343
58
Bedeutung beigemessen habe. Er habe überhaupt durch die Vertonung das Werk
„umgeschaffen“347 und die durch den Dichter vorgegebene Struktur verändert.348
Ähnlich wichtig für die Entwicklung des Liederzyklus ist Robert Schumann.349 Auch er
veröffentlicht
Liederhefte
mit
nach
zyklischen
Gesichtspunkten
geordneten
Vertonungen; am liebsten fasst er vertonte Texte jeweils eines einzelnen Dichters
zusammen. Doch auch Schumann komponiert tatsächliche Liederzyklen, indem er z.B.
Gedichte von Heinrich Heine, Joseph von Eichendorff und Adalbert von Chamisso
vertont und durch musikalische Mittel zueinander in Beziehung setzt.
Robert Schumann und Franz Schubert gebrauchen also „den Begriff Zyklus schon ganz
selbstverständlich [...]: Was als ein Zyklus von Gedichten intendiert ist oder auch nur
verstanden werden kann, wird in der Vertonung ein Liederzyklus: [...]“.350
Ähnlich bedeutsam ist der Liederzyklus laut Dürr seit Schumann nicht mehr
geworden.351 Auch Finscher ist der Ansicht, dass nach Schumann keine „neue[n] Arten
der Zyklusbildung“ mehr entstanden seien; dies liege vor allem daran, „daß der Primat
der poetischen vor der musikalischen Zyklusbildung unangefochten geblieben“ sei.352
Hugo Wolf versucht sich noch verschiedentlich im Bereich Liederzyklus, jedoch sind
hier nur sehr vereinzelt tatsächlich zyklische Merkmale verwirklicht. Gleiches gilt für
Richard Wagner und seine „Wesendonck-Lieder“, die auch keinen eigentlichen Zyklus
bilden.353 Gustav Mahler komponiert noch kleinere Zyklen (z.B. die fünf
„Kindertotenlieder“ nach Texten von Rückert), von Peter Cornelius ist der Zyklus
„Trauer und Trost“ als tatsächlicher Zyklus überliefert. Doch insgesamt geht die
Produktion in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts zurück. Brahms´ „Romanzen aus
L. Tiecks Magelone“ op. 33 kann man als Zyklus im strengeren Sinne betrachten; hier
ist Einheitlichkeit gegeben durch die Handlung und durch die Folge der Affekte, in
musikalischer Hinsicht durch die Melodik und die Textdeklamation. Dürr weist aber
347
DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 277.
Auf diese These wird weiter unten noch ausführlicher eingegangen.
349
Zum Schaffen Schumanns vgl. ebd., S. 278-297.
350
FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2535.
351
Zu den Liederzyklen nach Schumann vgl. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert,
S. 297-311.
352
FINSCHER, Ludwig: Art. „Zyklus“. In: Die Musik in Geschichte und Gegenwart, Sp. 2536.
353
Dagegen argumentiert Höltge, dessen Ansicht nach die Lebensumstände Wagners zur Entstehungszeit
der „Wesendonck-Lieder“ sowie auch deren einheitlicher musikalischer Ausdruck und ihr gemeinsamer
thematischer Rahmen den zyklischen Zusammenhalt gewährleisten (vgl. HÖLTGE, Christian: Text und
Vertonung, S. 102 f.). Höltge ist überhaupt, anders als Dürr und Finscher, der Ansicht, der Liederzyklus
habe gegen Ende des 19. Jahrhunderts wieder an Bedeutung gewonnen und sich vor allem im 20.
Jahrhundert zu einer „musikalischen Erscheinung von großer Stil- und Formvielfalt“ entwickelt (ebd., S.
32). Als Beispiele nennt er außer den „Wesendonck-Liedern“ (vgl. ebd., S. 95-167) „Trauer und Trost“
von Peter Cornelius (vgl. ebd., S. 33-94), außerdem die „Liebesbriefe“ von Lothar Kempter (erschienen
1895; vgl. ebd., S. 168-218), „Amore“ von Grete von Zieritz (1927; vgl. ebd., S. 219-278) und „Gestalten
und Schatten“ von Fritz Kröll (UA 1979, vgl. ebd., S. 279-239). Alle diese Werke werden von ihm
anhand seiner oben angedeuteten Kriterien eindeutig als Liederzyklen klassifiziert.
348
59
darauf hin, dass es nicht Brahms´ Absicht gewesen sei, einfach einen Text musikalisch
umzusetzen: Er habe vielmehr „eine Reihe von ‚Stimmungsbildern’“ schaffen wollen:
„Der Dichter hat zwar die Texte und die Affekte vorgegeben, dann aber tritt er zurück
und überläßt dem Musiker das Wort“.354
Dürr betont also bei seiner Untersuchung des Liederzyklus sehr stark die Autorität des
Komponisten, der in dieser Gattung von Anfang an im Vordergrund gestanden sei, da
er die Texte eines Dichters bearbeiten, in ihrer Reihenfolge verändern und auch
inhaltlich umdeuten könne, wie es ihm beliebe. Hier führe er z.T. auch über den
Dichter hinaus. Der Komponist „wählt die Bausteine aus, die er zum Zyklus verbinden
will, ordnet sie nach seinem Gutdünken und bezieht sie aufeinander durch die Mittel
der Musik“355; indem er durch musikalische Mittel Inhalte verändere, sei er sogar „Herr
über den Text“.356
4. 3 Zu überprüfende zyklische Merkmale der „Winterreise“
Nach dieser Einordnung der „Winterreise“ in die Entwicklungsgeschichte des Gedichtbzw. Liederzyklus möchte ich nun die zyklischen Kriterien vorstellen, auf die hin
dieses Werk untersucht werden soll. Hierbei gehe ich, ähnlich wie Joachim Müller, von
der wörtlichen Bedeutung des Wortes „Zyklus“ (=Kreis) aus und leite aus der
Metaphorik des Begriffs die Struktur der Form ab.
Der Kreis ist dem Duden zufolge in der Geometrie als „gleichmäßig runde, in sich
geschlossene Linie“ definiert, „deren Punkte alle den gleichen Abstand vom
Mittelpunkt haben“.357 Aus dieser Definition möchte ich folgende Kriterien auf den
Liederzyklus anwenden: 1.) Linearität (eine narrative, temporale oder thematische
Entwicklung vom Anfang bis zum Ende), 2.) Kohärenz, d.h. inneren Zusammenhang,
3.) Mittelpunktsbezogenheit, also den Bezug aller Bestandteile auf ein gemeinsames
Zentrum und 4.) Geschlossenheit, d.h. eine Verknüpfung oder sogar ein
Ineinanderfallen von Anfang und Ende. Wie oben schon erläutert, könnte man den
Begriff „Zyklus“ im Deutschen auch mit „Kreislauf“ übersetzen; in diesem Fall wäre
354
DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 309.
Ebd., S. 297.
356
Ebd., S. 283. Ob derartige Behauptungen der Wahrheit entsprechen können, wird, wie gesagt, weiter
unten zumindest in Bezug auf die „Winterreise“ überprüft. Es soll jedoch bereits an dieser Stelle
festgehalten werden, dass Dürr bei seinen Behauptungen die bereits erwähnte Tatsache übersieht, dass
Gedichtzyklen von Autoren ja zunächst als eigenständige Kunstwerke geschaffen werden und die Dichter
oft gar nicht ahnen können, dass ein Komponist sie je vertonen wird. Man sollte sich also davor hüten,
den Wert der Dichtungen zu relativieren, indem man sie, wie Dürr, zumindest indirekt, erst in der
Vertonung als Liederzyklen als vollständige Werke anerkennt.
357
DUDEN. Das große Wörterbuch der deutschen Sprache. In 8 Bänden. 2., völlig neu bearbeitete und
stark erweiterte Auflage. Hrsg. und bearbeitet vom Wissenschaftlichen Rat und den Mitarbeitern der
Dudenredaktion unter der Leitung von Günther DROSDOWSKI. Mannheim u. a. 1994, Bd. 4, S. 1992.
355
60
wohl die Wiederholung bzw. die Wiederkehr des Anfangs das hervorstechendste
Merkmal.
Es soll untersucht werden, ob ein zyklischer Zusammenhang zwischen den Gedichten
bzw. Liedern der „Winterreise“ besteht, also welche dieser oben genannten Merkmale
Text sowie Musik der „Winterreise“ aufweisen. Ich behaupte, dass es sich bei dem
Werk um einen relativ strengen Zyklus handelt, auf den die Merkmale des Kreises
bzw. des Kreislaufs zutreffen. Die Argumente, die hierfür sprechen, werden im
Anschluss an einige allgemeine Informationen zur Entstehungsgeschichte des Werkes
dargelegt werden.
5. Die „Winterreise“
5. 1 Entstehungsgeschichte der Dichtung
Die 24 Gedichte der „Winterreise“ erscheinen nicht von Anfang an als Einheit.358
Zunächst werden 12 Gedichte im Almanach „Urania. Taschenbuch auf das Jahr 1823,
Leipzig und Berlin 1823“ unter dem Titel „Wanderlieder von Wilhelm Müller. Die
Winterreise. In 12 Liedern“ veröffentlicht. Weitere 10 Gedichte kommen im Breslauer
Periodikum „Deutsche Blätter für Poesie, Literatur, Kunst und Theater“ zum Abdruck,
worauf Müller noch zwei ergänzt. Da der Zyklus durch diese Erweiterung eine Art
Handlung bekommen hat, muss Müller die jetzt insgesamt 24 Gedichte umstellen. Der
gesamte Zyklus wird dann in der neuen Ordnung 1824 von Christian Ackermann in
Dessau mit einer Widmung an Carl Maria von Weber359 als zweiter Band in den
„Gedichten aus den hinterlassenen Papieren eines reisenden Waldhornisten“
herausgegeben.
Zu der Auswahl des Titels „Winterreise“ dürften Müller Johann Georg Jacobis
gleichnamige
Reisebeschreibung
von
1769
sowie
das
Uhlandsche
Gedicht
„Winterreise“ inspiriert haben. Auch lassen sich in Müllers Zyklus Motive aus diesen
beiden Werken finden.360 Dazu gehört u.a. die Analogisierung von Melancholie und
Winter, die bei Uhland und Jacobi stattfindet und von Müller in seinem ganzen Zyklus
ausgeführt wird.361 Außerdem stellen Bosse und Neumeyer zahlreiche Bezüge der
358
Ich beziehe mich im folgenden v.a. auf: BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 69 ff.
Der Text der Widmung lautet: „Dem Meister des deutschen Gesanges Carl Maria von Weber als ein
Pfand seiner Freundschaft und Verehrung gewidmet von dem Herausgeber“.
360
Vgl. WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 57. Vgl. auch: HÖRISCH, Jochen: „Fremd bin
ich eingezogen“ – Die Erfahrung des Fremden und die fremde Erfahrung in der ‚Winterreise’. In:
Athenäum. Jahrbuch für Romantik. 1. Jahrgang 1991. Hrsg. von Ernst BEHLER u.a. Paderborn 1991, S.
57.
361
Vgl. BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 122.
359
61
„Winterreise“ zum Werk Goethes fest362 (hierauf soll später noch einmal
zurückgekommen werden).
5. 2 Entstehungsgeschichte der Komposition
Franz Schubert vertont die „Winterreise“ im Jahr 1827, also im Sterbejahr Wilhelm
Müllers. Als Schubert, vermutlich im Februar 1827, mit der Komposition beginnt, kennt
er nur den ersten Teil der Gedichte. Den zweiten findet er erst später in der Bibliothek
eines Freundes und vertont ihn dann in erstaunlich kurzer Zeit im Spätsommer des
selben Jahres.
Bei der Komposition übernimmt er die endgültige Anordnung Müllers nicht. Er lässt
die ersten 12 Gedichte in ihrer ursprünglichen Reihenfolge stehen und fügt die zweiten
12 einfach an, wobei er nur die beiden Gedichte „Die Nebensonnen“ (Nr. 20, S. 183)
und „Mut!“ (Nr. 23, S. 185) umstellt. Zudem nimmt er auch mehrere geringfügige
Textveränderungen vor und ändert den Titel des Werks von „Die Winterreise“ in
„Winterreise“ (wohl um die Allgemeingültigkeit der darin behandelten Thematik
anzudeuten).363
Das Werk ist in zwei autographen Teilen überliefert, wobei der zweite Teil
reinschriftlich, der erste als erste Niederschrift, also mit vielen Korrekturen, angelegt
ist. Das Lied „Gute Nacht“ (Nr. 1, S. 110 ff.) ist das einzige Stück, das im ersten Teil
reinschriftlich verzeichnet ist – eine Ausnahme, deren Bedeutung weiter unten
transparent werden wird. Zudem fallen Abweichungen zwischen diesen Autographen
und dem Erstdruck der „Winterreise“ auf. So wurden etwa einzelne Lieder in andere
Tonarten transponiert, ohne dass in jedem Fall klar wäre, ob die Änderungen von
Schubert selbst oder von fremder Hand herrühren. Der erste Teil erscheint im Januar
1828 in Druckfassung, der zweite im Januar 1829, so dass Schubert die
Veröffentlichung der zweiten Abteilung gar nicht mehr erlebt.
Ob Wilhelm Müller etwas von der Vertonung seiner Gedichte durch Franz Schubert
wusste, ist nicht bekannt; von einer Begegnung der beiden Künstler ist jedenfalls nichts
überliefert.
362
Vgl. ebd., S. 140 ff.
Schuberts Abweichungen vom Müllerschen Text sind im einzelnen vermerkt in: SCHOCHOW,
Maximilian / SCHOCHOW, Lilly (Hrsg.): Die Winterreise. In: Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig
komponierten Lieder und ihre Dichter. Bd. II. Hildesheim 1974, S. 395-410.
363
62
5. 3 Die zyklischen Merkmale der Dichtung
Im folgenden soll der Text der „Winterreise“ auf seine zyklischen Merkmale hin
überprüft werden. Eine derartige Untersuchung liegt zwar schon mit Ludwig Stoffels364
vor, der durchaus auch die zyklische Anlage der „Winterreise“ erkennt; allerdings
untersucht er den Text des Werks allein auf die in dem von mir ebenfalls zitierten
Aufsatz Joachim Müllers aufgestellten Zykluskriterien. Ich werde mich deshalb nur
vereinzelt auf seine Ergebnisse beziehen und verzichte auf eine ausführlichere
Zusammenfassung, da ich ja, wie gesagt, in Anlehnung an Müllers Vorgaben eigene
Kriterien für die Untersuchung entwickelt habe.
5. 3. 1 Linearität
Zu den Merkmalen eines Kreises gehört unter anderem, dass er eine – wenn auch
gekrümmte – Linie darstellt. Die Frage, ob die „Winterreise“ als linear zu bezeichnen
sei, ist auf den ersten Blick schwer zu beantworten: Schließlich entsprechen sich ja
Müllers bzw. Schuberts Reihenfolge der Lieder nicht – dies könnte also bedeuten, dass
die Abfolge der Texte beliebig ist; das Kriterium der Linearität wäre somit hinfällig.
Die Forschung hat sich über dieses Problem schon vielfach den Kopf zerbrochen.
Klaus Günther Just zum Beispiel behauptet, die Struktur der „Schönen Müllerin“ sei
„zyklisch im engeren Sinne des Wortes“365, während die „Winterreise“ eine „eher
lineare Struktur“ aufweise. Sie beschreibe eine Linie, die „ins Unendliche“ auslaufe.
„Vom Formalen her“ sei sie aber strenger zyklisch gebaut als der erste Zyklus
Müllers.366 Leider erklärt Just nicht, welche formalen Kriterien er damit meint; auch ist
nicht einsichtig, warum sich Linearität und zyklischer Bau ausschließen sollten.
Nicht uninteressant ist die These Haeslers, die einzelnen Gedichte der „Winterreise“
würden jeweils „eine Umgehung des zentralen Themas mit immer sich ändernder
Perspektive auf den gleichen Sachverhalt“ darstellen; als dieser immer gleiche
Sachverhalt wird „das nimmer aufhörende Bewegen auf der Suche nach Ruhe“
angesehen. Aus unverständlichen Gründen wird aber auch hier die Unmöglichkeit einer
linearen Anlage der Dichtung behauptet.367
364
Vgl. Anmerkung 9.
JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“.
In: Zeitschrift für Deutsche Philologie. Hrsg. von Hugo MOSER u.a. Bd. 83, Heft 4. Berlin u.a. 1964, S.
469.
366
Ebd., S. 470.
367
HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und
ihrer musikalischen Realisierung. In: „Die klugen Sinne pflegend“. Psychoanalytische und kulturkritische
Beiträge. Hrsg. von Jutta GUTWINSKI-JEGGLE und Johann Michael ROTMANN. Tübingen 1993, S. 385. In
der Vertonung, so Haesler, werde ab dem 16. Lied diese „Struktur des zyklischen Umkreisens“ zugunsten
einer „lineare[n] Entwicklung“ verlassen (ebd., S. 391).
365
63
Hans-Udo Kreuels will einen ganz schlüssigen „dramaturgischen Aufbau“ in Müllers
Anordnung der Gedichte erkennen368, und macht sich deshalb ausführliche Gedanken
darüber, ob Schuberts Zusammenstellung der Lieder immer so sinnfällig sei wie die
des Dichters. In Müllers Anordnung sei durch das gesamte Werk hindurch „ein Prinzip
der Gruppierung von je vier Liedern zu erkennen“, wobei das jeweils auf diese
Vierergruppe folgende Lied eine „Form von Erneuerung“ oder „Aufhellung“ sei, die in
einen „Hoffnungsschimmer“ münde oder „auf eine reine Vision reduziert“ erscheine.
Dies seien „Der Lindenbaum“ (Nr. 5, S. 173 f.), „Rückblick“ (Nr. 9, S. 176 f.), „Im
Dorfe“ (Nr. 13, S. 179), „Das Wirtshaus“ (Nr. 17, S. 181) und „Frühlingstraum“ (Nr.
21, S. 183 f.).369 Kreuels scheint eine dringende Notwendigkeit zu verspüren, der
„Winterreise“ eine detaillierte Gliederung entnehmen zu können.
Ganz anderer Ansicht hingegen ist Thrasybulos Georgiades, der behauptet, die
Gedichte würden sich „lose“ aneinanderreihen, wodurch die „Änderung der
Reihenfolge durch W. Müller und dann auch durch Schubert möglich“ gewesen sei.370
Es erscheint sinnvoll, einen Mittelweg zwischen diesen relativ extremen Positionen
anzunehmen. Dass Müller die Reihenfolge seiner Gedichte nicht egal gewesen sein
kann, beweist allein die Tatsache, dass er für die Druckfassung des kompletten Zyklus
eine für ihn finale Reihenfolge festlegte (er hätte die später geschriebenen Gedichte ja
auch einfach anfügen können). Stattdessen ordnet er die Gedichte in der Reihenfolge
an, in der sie seiner Meinung nach am sinnfälligsten die Entwicklung des Geschehens,
genau genommen die psychische Entwicklung des Protagonisten – und so verstehe ich
hier übrigens auch den Begriff ‚Linearität“: im Sinne einer Entwicklung –,
wiedergeben können. Natürlich lassen sich auf dem Weg des Wanderers auch reale
Stationen ausmachen, wie etwa das Dorf und verschiedene Landschaften wie
Schluchten oder Flussläufe. Allerdings ist hier erstens keine wirkliche Chronologie
vorhanden, und zweitens liegt der Fokus wie gesagt auf der inneren Entwicklung des
Wanderers.
Diese Entwicklung verläuft natürlich nicht ohne Brüche. Manchmal hat man den
Eindruck, als bewege sich der Wanderer gleichsam im Zickzack, z.B. wenn er in einem
Gedicht wie „Rast“ bohrenden Schmerz empfindet (vgl. Nr. 19, S. 182, Z. 15-16), sich
in den „Nebensonnen“ den Tod wünscht (vgl. Z. 9-10) und dann plötzlich, im
„Frühlingstraum“, Sehnsucht danach empfindet, seine Geliebte wieder zurück zu
368
KREUELS, Hans-Udo: „Die Winterreise“ des Wilhelm Müller (und des Franz Schubert), S. 100.
Ebd., S. 101.
370
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik. 3., durchgesehene Auflage. Göttingen 1992, S.
359. Ähnlich sieht dies Stoffels, der meint, der Gedichtzyklus entbehre „einer deutlichen Linearität und
Planmäßigkeit“ (STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung,
S. 182).
369
64
bekommen (vgl. Z. 23-24). Viele Gedichte tragen sogar selbst Ambivalenzen (z.B. von
Hoffnung und Verzweiflung) in sich (ein Beispiel wäre „Letzte Hoffnung“; Nr. 12, S.
178 f.). Insofern wäre es auch denkbar, einzelne Gedichte auszutauschen; ihre Abfolge
ist nicht so starr, als dass hier nur eine mögliche Version vorstellbar wäre. Es findet
keine von Gedicht zu Gedicht fortschreitende Handlung statt; vielmehr haben wir es
mit „Momentaufnahmen“ einer inneren Entwicklung zu tun.
Was allerdings durchaus vorhanden ist, sind größere thematische Einheiten, denen
jeweils mehrere Gedichte zugehören. Hier muss zwar beachtet werden, dass manche
Gedichte zu verschiedenen Einheiten passen könnten, weil sie mehrere Aspekte
thematisieren (z.B. Todessehnsucht und das Gedenken an die Geliebte, wie „Die
Nebensonnen“), aber folgende Grobeinteilung wäre durchaus möglich:
Die Gedichte 1 bis 9 könnte man mit den Begriffen „Abschied und Erinnerung“
überschreiben: Der Wanderer verlässt das Haus seines Mädchens und begibt sich auf
die Wanderschaft, wobei er sich noch häufig an die Geliebte erinnert, nach Andenken
an sie sucht und um sie trauert. Das Lied „Die Post“ (Nr. 6, S. 174) war in der UraniaFassung noch nicht enthalten gewesen; Müller schreibt es erst später und schiebt es
noch nachträglich in diesen Block ein, da er es für thematisch passend hält. Der
Wanderer ist in diesem Teil also noch stark in der Vergangenheit verwurzelt.
Eine nächste, recht große Einheit bilden die Gedichte 10 bis 20. Sie thematisieren
Schmerz, Desillusionierung und Todessehnsucht, wobei die Erinnerung an die Geliebte
in den Hintergrund tritt und das Leiden des Wanderers zunehmend diffuser wird, es
wird zu einer „Trauer an sich“ – der anfängliche Liebeskummer ist nicht mehr das
eigentliche Problem. Einen Grund für seine Todessehnsucht gibt der Wanderer jedoch
nicht an, d.h. er bezieht sich kaum mehr auf vergangene Ereignisse, sondern lebt
hauptsächlich noch in seiner tristen Gegenwart. Einzig in „Die Nebensonnen“ wird die
Geliebte noch indirekt erwähnt (vgl. Z. 7).
Zwei Gruppen von je zwei Liedern bilden den Abschluss des Zyklus: In
„Frühlingstraum“ erinnert sich der Protagonist noch ein letztes Mal seines Mädchens,
wird sich aber seiner realen Situation, nämlich seiner Einsamkeit, wieder schmerzlich
bewusst, bevor diese dann im 22. Gedicht im Zentrum steht (vgl. Nr. 22, S. 184).
Totaler Nihilismus prägt die beiden letzten Gedichte, „Mut!“ und „Der Leiermann“ (Nr.
24, S. 185 f.).
Die Linearität, die die „Winterreise“ beherrscht, ist also eindeutig zu erkennen: Vom
Abschied und der Trauer um die Geliebte führt den Wanderer sein Weg in die
Todessehnsucht und über einen letzten wehmütigen Rückblick, der ihm nur seine
Einsamkeit noch einmal deutlich vor Augen führt, in den totalen Nihilismus.
65
Zusammenfassend kann man sagen, dass die „Winterreise“ das zyklische Merkmal der
Linearität erfüllt. Denn es wird zwar keine Handlung im Sinne von streng aufeinander
folgenden Ereignissen beschrieben, aber die Gedichte gehören dennoch in bestimmten
thematischen Einheiten zusammen, die den
psychischen
Entwicklungsphasen
entsprechen, die der Wanderer im Zyklus durchläuft. Innerhalb dieser Phasen können
einzelne Gedichte aber auch ausgetauscht werden.
Eine Entwicklung macht der Wanderer nun natürlich auch in der Schubertschen
Fassung der „Winterreise“ durch, weswegen auch in der kompositorischen Konzeption
Linearität zu finden ist (hierauf wird jedoch weiter unten noch eingegangen).
5. 3. 2 Kohärenz
5. 3. 2. 1 Die formale Anlage der Gedichte
Die Texte der „Winterreise“ sind fast durchweg in der Volksliedstrophe verfasst. So
besitzen die meisten Gedichte zwei bis fünf vierzeilige Strophen, die Verse bestehen
aus drei- bis vierhebigen Jamben oder Trochäen und sind meist durch Kreuzreime
(Reimschema abab) oder halbe Kreuzreime (Reimschema xaxa) verbunden. Nur vier
der Gedichte weichen von der vierzeiligen Strophenform ab und verwenden den
Paarreim (nämlich „Die Post“, „Im Dorfe“, „Täuschung“ [Nr. 15, S. 180] und „Die
Nebensonnen“).371 Alle Texte besitzen überdies ein und denselben Sprecher, nämlich
den Wanderer.
Im Hinblick auf die Ausgangsfrage, inwieweit die „Winterreise“ zyklische Merkmale
aufweist, kann diese ähnliche formale Anlage der Gedichte als verbindendes Element
festgehalten werden, das auf einen Zusammenhang der Gedichte, also auf Kohärenz,
hindeutet. Was an dieser Stelle betont werden soll, ist die Tatsache, dass allgemein
zwischen der sehr schlichten Form der meisten Gedichte und ihren, wie sich zeigen
wird, z.T. drastischen (z.B. völligen Nihilismus transportierenden) Aussagen eine
erhebliche Diskrepanz besteht. Wenn auf tiefer gehende Form- und Sprachanalysen der
Texte in dieser Arbeit verzichtet wird, so geschieht dies einerseits aus Gründen der
notwendigen Beschränkung und andererseits mit Verweis auf die sehr ausführliche
Arbeit Christiane Wittkops, die hier beinah keine Fragen mehr offen gelassen hat.372
371
Die einzelnen Strophen von „Gute Nacht“ (Nr. 1, S. 170 f.) bestehen aus jeweils zweimal vier Versen,
die in sich kreuzgereimt sind. Insofern kann dies nicht als Abweichung von der sonstigen vierzeiligen
Strophenform gewertet werden.
372
Vgl. WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz.
66
5. 3. 2. 2 Kohärenzstiftende Motive
Ein sehr wesentliches kohärenzstiftendes Merkmal innerhalb der „Winterreise“ besteht
darin, dass ihre Texte von Motiven durchzogen sind, die ständig wiederkehren – wobei
sie natürlich immer wieder variiert und in neue Zusammenhänge gestellt werden –, und
so den Zusammenhang der Einzeltexte gewährleisten.
Dieser Problemkomplex ist schon verschiedentlich untersucht worden, u.a. in der eben
schon zitierten Arbeit von Christiane Wittkop. Die Autorin betrachtet hier bestimmte
Motive, die, wie sie sagt, die „polyphone Struktur“ der „Winterreise“ konstituieren
würden.373 Wittkop erkennt innerhalb des Werkes drei große Motivstränge, nämlich die
„Bewegungsmotive“374 (Wanderschaft in Verbindung mit dem Winter375, Wasser,
Wind), die „Motive des körperlich-seelischen Bereichs“376 (Tränen, Augen, Herz) und
die „existenziellen Motive“377 (Täuschung, Desillusionierung, Todessehnsucht), die
sich wie einzelne gleichberechtigte Stimmen in einem musikalischen Satz als
geschlossene Linien durch das Zyklusganze ziehen. Zu den existentiellen Motiven
wäre noch zu sagen, dass sie als „innerpsychische Phänomene“ natürlich nicht wörtlich
im Text genannt werden, sondern dass für sie verschiedene Bilder (u.a. Tiermotive)
stehen.378 Sie sind ständig präsent und hängen insofern eng zusammen, als der
Wanderer immer wieder Täuschungen erliegt, daraufhin Desillusionierung erlebt und
sich aufgrund dieser Tatsache seiner Todessehnsucht hingibt.379 Sie stehen also für eine
„immer wiederkehrende Grunderfahrung“.380
Wittkop knüpft übrigens mit ihrer Arbeit an die Abhandlungen von Alan Cottrell381
und Ludwig Stoffels382 an, die wie sie durch bestimmte Motive erzeugte Verbindungen
zwischen den Gedichten der „Winterreise“ festgestellt haben. Wittkop möchte jedoch
hier eine „Alternative“ bieten und „andere Gewichtungen vornehmen“383.
Genau das möchte auch ich in dieser Arbeit ein weiteres Mal versuchen, indem ich
durch das Aufzeigen und Untersuchen anderer, ganz spezieller Motive eine neue
Perspektive der motivischen Verknüpfung eröffne. Über die von Wittkop benannten
Motive hinaus sind nämlich noch weitere Motive in der „Winterreise“ feststellbar, die
373
Ebd., S. 62.
Ebd., S. 64 ff.
375
Dieses Motiv stellt das motivisch-thematische Zentrum des Zyklus dar; auf seine Bedeutung und
seinen Zusammenhang zur Melancholie wird weiter unten eingegangen.
376
Ebd., S. 85 ff.
377
Ebd., S. 111 ff.
378
Ebd., S. 111.
379
Vgl. ebd., S. 111 f.
380
Ebd., S. 52.
381
Vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, insb. S. 35-68.
382
Vgl. STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, insb. S.
103-112.
383
WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 52.
374
67
ich als „Melancholie-Motive“ bezeichnen möchte (und von denen sich einige mit
Wittkops Motiven überschneiden, wobei sie diese aber nicht als Melancholie-Motive
erkennt). Gemeint sind solche Motive, die aus der Tradition des Melancholiediskurses
als typische Charakteristika dieses Phänomens bzw. der von ihm betroffenen Personen
bekannt sind. Allerdings kommen im Lauf der Jahrhunderte ab und zu neue
Zuschreibungen von Eigenschaften dazu, während andere wegfallen. Hier sollen
deshalb nur solche Eigenschaften bzw. Motive näher beleuchtet werden, die in den
Melancholie-Diskursen seit der Antike fast durchgehend erscheinen oder um die
Entstehungszeit der „Winterreise“ neu hinzukommen (dies betrifft vor allem die
Desillusionierung und – eingeschränkt – den Nihilismus).
Harald Bost, dessen Abhandlung „Der Weltschmerzler“ oben schon zitiert wurde und
der sich eingehend mit der Melancholie-Tradition bzw. insbesondere mit der Literatur
des Weltschmerzes befasst, stellt aus der von ihm untersuchten Sekundärliteratur einen
„Katalog von Eigenschaften“ speziell des Weltschmerzlers zusammen384 (hierzu ist
allerdings zu bemerken, dass mit diesem „Katalog“ eigentlich eher eine Entwicklung
beschrieben wird, als dass nur Eigenschaften aufgeführt würden).
Als „conditio sine qua non“ bezeichnet Harald Bost den „inneren Selbstwiderspruch“
des Weltschmerzlers. Dieser werde vom betreffenden Subjekt als „Spannungsverhältnis
von Überspanntheit und Einschränkung“ erlebt. So seien auch die wechselnden
Stimmungen des Weltschmerzlers zwischen „Begeisterung und Niedergeschlagenheit“
zu erklären. Durch seinen inneren Widerspruch seien überdies die Sehnsucht und
Langeweile sowie die Angst, die Verzweiflung und der Dämmerzustand seiner Seele
bedingt, die den Weltschmerzler plagen würden. Er halte seine Situation für
schicksalsgegeben, weswegen er keine Energie aufbringen könne, etwas daran zu
ändern. Im Gegenteil: Er entwickle Todessehnsucht und gebe sich ganz dem Gefühl hin,
das Leben sei wertlos. Mit dem Gefühl der „süßen Melancholie“ versuche er sich selbst
aufzuwerten; dies führe aber zu „Narzißmus und Rollenspiel“, was ihn zu einem
Außenseiter mache, der sich genau der bürgerlichen Moral entgegengesetzt verhalte.
Diesen Katalog ergänzt Bost noch durch weitere, aus der von ihm betrachteten Literatur
gewonnene Erkenntnisse. So erlebe der Weltschmerzler die Einschränkung, die den
Gegenpol zu seinem Enthusiasmus und seiner „Liebhaberei fürs Absolute“ bilde385,
meist in Form einer Verlusterfahrung, die ihm die Endlichkeit des Glücks und die
Bedingtheit des menschlichen Daseins überhaupt vor Augen führe.386 Der Schmerz, den
384
BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 100 f.
Ebd., S. 118.
386
Vgl. ebd., S. 138.
385
68
er hierdurch erfahren müsse, sei für ihn eine Art „Daseinsgarant“387; er habe das Gefühl,
das Leid adele ihn.388 Weltschmerz sei zudem letztlich gleichbedeutend mit Nihilismus.
Gott existiere für den Weltschmerzler nicht; die Welt sei für ihn nur chaotisch.389 Als
„wesentliche Motive des Weltschmerzes“ bezeichnet Bost den inneren Widerspruch des
Betroffenen, seine „Unruhe“, seine „Daseinsmonotonie“, das „Tantalusmotiv“, die
„Identität von Leben und Leiden“ sowie das „Bild der Reise“.390 Er weist jedoch auch
darauf hin, dass es eine zweite Phase des Weltschmerzes gebe, deren Helden bereits von
Anfang an vom Leben enttäuscht seien.391
Viele der bei Bost aufgeführten Motive lassen sich auch in der „Winterreise“ finden,
während andere nicht vorkommen. Ein „innerer Selbstwiderspruch“, ein Hin- und
Hergerissensein zwischen Enthusiasmus und Niedergeschlagenheit etwa zeichnet den
Wanderer keineswegs aus. Er hat die Verlusterfahrung vielmehr schon hinter sich und
ist dementsprechend bereits zur Einsicht gelangt, dass Leben Leiden bedeute (insofern
wäre er nach Bosts Überlegungen quasi ein Weltschmerz-Held der zweiten Generation).
Sein Schmerz, sein Leiden an der Welt als ein für den Weltschmerzler bzw. den
Melancholiker allgemein typisches Motiv soll jedoch im folgenden gründlicher
untersucht werden (das Herz als der Ort, an dem dieses Gefühl wahrgenommen wird
und das ja auch Wittkop eingehend betrachtet392, wird ebenfalls ausführlicher behandelt
werden). Weitere den Wanderer auszeichnende Melancholie-Motive, die bei Bost, aber
auch in der traditionellen Charakterisierung des Melancholikers auftauchen, und die hier
herausgearbeitet werden sollen, weil sie Kohärenz innerhalb des Zyklus stiften, sind
seine Unruhe (in Verbindung mit seiner Orientierungslosigkeit), seine Einsamkeit, seine
Einbildungskraft, seine Desillusionierung, seine Todessehnsucht und sein Nihilismus
(dieser Komplex entspricht etwa dem, was Wittkop die „existentiellen Motive“ der
„Winterreise“ nennt). Das Bild der Reise, das Bost als so zentral bezeichnet, wird weiter
unten als motivisch-thematisches Zentrum der „Winterreise“ noch eingehend
beleuchtet. Untersucht werden sollen im folgenden also Charakteristika des Wanderers
in der „Winterreise“, die zugleich Charakteristika des Melancholikers allgemein und
somit Melancholie-Motive sind, die zwischen den Texten des Zyklus inneren
Zusammenhang stiften.393 Hinzuzufügen wäre noch, dass es sich bei den Melancholie387
Ebd., S. 267.
Vgl. ebd., S. 269.
389
Vgl. ebd., S. 148.
390
Ebd., S. 221.
391
Vgl. ebd., S. 280.
392
Auch Cottrell beschäftigt sich mit dem Motiv und erkennt seine kohärenzstiftende Qualität (vgl.
COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 54 f.).
393
Weitere kleinere Merkmale, die Bost in der Weltschmerz-Literatur erkennt (hierunter fallen auch
Strategien der poetischen Darstellung, z.B. die Spiegelung der Seele des Helden in der Naturlandschaft),
388
69
Motiven um relativ abstrakte Motive handelt, die sich nicht so offensichtlich im Text
finden lassen wie etwa das handfeste Motiv der „Blauen Blume“ in romantischen
Dichtungen o.ä. Vielmehr liegen sie auf einer tieferen Ebene des Textes und müssen aus
den Äußerungen bzw. dem Verhalten des Wanderers erschlossen werden.
5. 3. 2. 2. 1 Traurigkeit und Schmerz
Als für den Melancholiker fast selbstverständliches Merkmal ist natürlich seine
Traurigkeit, seine Niedergeschlagenheit anzusehen. Dies stellt vielleicht, wie schon
angedeutet wurde, auch eine der ersten Assoziationen dar, die heute noch allgemein mit
dem Wort „Melancholie“ verknüpft sind. Der Schmerz, der den Melancholiker quält,
bestimmt seine ganze Persönlichkeit, er empfindet genau die „Identität von Leben und
Leiden“, die Bost als so weltschmerztypisch bezeichnet. Der Wanderer in der
„Winterreise“ hat dafür ja scheinbar auch einen äußerst plausiblen Grund: Seine
Geliebte hat sich einem anderen zugewandt; er muss sie verlassen (vgl. Nr. 2, S. 171, Z.
11-12). Diese Tatsache entspricht der Verlusterfahrung, die Bost als das
niederschmetternde Ereignis annimmt, das die Entwicklung des Weltschmerzlers bis hin
zur totalen Hoffnungslosigkeit auslöse (und zugleich derjenigen Erfahrung, die laut
Freud und Kristeva Melancholie begründen). Doch was in der „Winterreise“ auffällt, ist
die Tatsache, dass der Wanderer im Verlauf der Handlung fast gänzlich damit aufhört,
über diese Verlusterfahrung als konkreten Grund für seine Trauer zu reflektieren. Es
wird deshalb relativ schnell ersichtlich, dass sein Liebeskummer der Auslöser für seinen
Schmerz war.394
Seine schmerzvollen Reflexionen lassen sich recht gut durch eine Wendung
beschreiben, mit der Roland Lambrecht die Melancholie charakterisiert. Er bezeichnet
diese nämlich ganz grundsätzlich als ein Phänomen des „Zwischen-Seins“: als ein
„Zwischen Krankheit und Sünde“ (dieser Aspekt wurde oben ausführlich behandelt),
ein „Zwischen Anderswann und Anderswo“ und ein „Zwischen Nicht-mehr und Nochnicht“.395 Indem Lambrecht die Melancholie als Phänomen „zwischen Anderswo und
Anderswann“ beschreibt, bezieht er sich auf die immerwährende Suche des
Melancholikers nach Glück, das dieser eben anderswo und anderswann vermutet, und
werden mehr am Rande erwähnt; solche Merkmale, die typisch für die Weltschmerz-Literatur sind, in der
„Winterreise“ nicht vorkommen, werden ignoriert.
394
Die Geliebte erfüllt hierbei genau die Funktion, die Bost bei vielen Frauenfiguren der WeltschmerzLiteratur feststellt. Denn diese fungieren häufig als „Katalysatoren, die, selbst mehr oder weniger
unbeschadet,“ beim weltschmerzlerischen Helden „eine seelische Entwicklung auslösen“. Am Ende
dieser Entwicklung stehen dann zumeist „seelische Verarmung oder Tod“ (BOST, Harald: Der
Weltschmerzler, S. 276).
395
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 13.
70
so niemals erreicht. In dieser Weise lässt sich Lambrecht zufolge die Melancholie
besonders seit dem 18. Jahrhundert charakterisieren.396
Das Schicksal des Wanderers in der „Winterreise“ kann hier als prototypisch gelten. Er
sieht sein Glück zunächst in der Vergangenheit, nämlich in der Zeit seiner verflossenen,
glücklichen Liebe. Im Gedicht „Erstarrung“ (Nr. 4, S. 172 f.) sucht er auch nach diesem
zerronnenen Glück: Er erinnert sich an Spaziergänge, die er mit seiner Geliebten „durch
die Flur“ (Z. 4) gemacht hat und sucht in der jetzt verschneiten Winterlandschaft
verzweifelt nach Andenken an damals, die die Möglichkeit des Vergessens ausschließen
würden („Wenn meine Schmerzen schweigen, / Wer sagt mir dann von ihr?“; Z. 15-16).
Doch die Blumen und das Gras, die in der verlorenen Idylle noch vorhanden waren,
sind jetzt verwelkt.397 Das „Anderswann“, dem der Wanderer nachtrauert, ist also die
Zeit seiner glücklichen Liebe, das „Anderswo“ die Sommerlandschaft, wahrscheinlich
auch die Stadt, in der seine Geliebte wohnt (in „Rückblick“ z.B. klingt dies recht
deutlich an; vgl. Z. 9-14).
Doch je mehr der Wanderer resigniert, desto mehr verlagert sich seine Vorstellung
davon, wo sein Glück zu vermuten sei: Es erscheint ihm bald nur noch im „Anderswo“
und „Anderswann“ des Todes erreichbar zu sein. An dieser Stelle besteht also eine
Überschneidung mit dem Motiv der Todessehnsucht, das weiter unten gesondert
untersucht wird.
Auf der zeitlichen Ebene befindet sich der Melancholiker Lambrecht zufolge wie gesagt
stets in einem Zustand „zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht“. Dabei ist dieses
Zwischen-Sein natürlich zunächst bestimmend für die gesamte Menschheit: Wir alle
sind „dazwischen“, nämlich im Hinblick auf unsere eigene Lebensgeschichte (wir
befinden uns nicht mehr im Mutterleib und sind noch nicht tot), auf die Heilsgeschichte
(besonders Juden und Christen sehen sich als Fremdlinge in dieser Welt, weil sie nicht
mehr im ersten und noch nicht im neuen Paradies Gottes leben), und auf die
Weltgeschichte.398 Letzterem Aspekt entspricht das oben schon angesprochene
dreiphasige, nicht religiös orientierte Geschichtsmodell, das „das abendländische
Denken beherrscht“, und dem zufolge wir uns in einer Zwischen-Zeit zwischen einem
verlorenen und einem zukünftigen goldenen Zeitalter befinden.399 Die Melancholiker
sind laut Lambrecht nun aber diejenigen Menschen, die nicht mehr daran glauben, dass
sie jemals dieses Ziel erreichen werden. Dies ist ihrer Meinung nach erst nachfolgenden
396
Vgl. ebd., S. 177.
Das Motiv der entblätterten Rose oder verwelkten Blume ist für Weltschmerz-Dichtungen überaus
typisch (vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 205 f.).
398
Vgl. LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 177 f.
399
Ebd., S. 179.
397
71
Generationen vergönnt, aber niemals ihnen. Sie selber haben nur immer das Gefühl, im
Kreis zu laufen.400 Bei der Betrachtung ihres persönlichen Lebens sind sie immer von
dem Empfinden bestimmt, durch eine falsche Entscheidung die Chance auf Glück ein
für allemal verpasst zu haben, weswegen sie glauben, ihr Leben sei gescheitert.401
Lambrecht sieht den daraus resultierenden Wunsch des Melancholikers, sein Leben
noch einmal rückgängig machen zu können – was natürlich nicht mehr geht –, sehr
markant auf sprachlicher Ebene ausgedrückt, nämlich in Modus und Tempus des
Konjunktiv-Plusquamperfekt.402
Hier
überdauere
die
ungenutzte
Chance
„im
sprachlichen Bewußtsein als das ‚Nicht-mehr-sein-Können’ eines uneingelösten,
bleibenden Wunsches“.403 Interessant ist, dass diese Form des Irrealis auch in einem
Gedicht der „Winterreise“ auftaucht, nämlich in „Die Wetterfahne“. Hier ist genau
dieser rückwirkende und damit unerfüllbare Wunsch erkennbar, sich anders verhalten
zu haben, d.h. in diesem Fall, klüger gewesen zu sein:
Er hätt es eher bemerken sollen,
Des Hauses aufgestecktes Schild,
So hätt er nimmer suchen wollen
Im Haus ein treues Frauenbild (Z. 5-8).404
Der Zustand „zwischen Nicht-mehr und Noch-nicht“ ist für die seelische Verfassung
des Wanderers in der „Winterreise“ außerordentlich bestimmend und greift auch mit
dem Gedanken des „Anderswo und Anderswann“ ineinander: Der Protagonist ist „nicht
mehr“ glücklich und vermutet deshalb sein Glück im „Anderswann“ und „Anderswo“
der Vergangenheit.405 Später möchte er sterben, was „noch nicht“ möglich ist, und nun
glaubt er, das Glück sei im „Anderswann“ und „Anderswo“ des Todes zu finden. In
seinen Reflexionen wechseln sich also stets sehnsuchtsvolles Erinnern an sein
verlorenes Glück und der Wunsch nach in der Zukunft liegender Erlösung ab. Beide
Gedanken werden im Verlauf der „Winterreise“ so oft thematisiert, dass es fast zu weit
führen würde, alle Gedichte zu betrachten, in denen dies geschieht. Vielmehr soll ein
400
Vgl. ebd., S. 180 f.
Vgl. ebd., S. 195 ff.
402
Vgl. ebd., S. 199 ff.
403
Ebd., S. 205.
404
Hervorhebungen von mir.
405
In Kapitel 1 wurde erläutert, dass seit der Antike das gute Gedächtnis des Melancholikers bzw. seine
Fähigkeit zur Erinnerung eines seiner hervorstechendsten Merkmale darstellt. Das ständige Erinnern ist,
zumindest im ersten Teil des Zyklus, auch bestimmend für die seelische Verfassung des Wanderers,
wobei diese Erinnerungen – nämlich die Erinnerungen an sein verflossenes Glück – hier nicht als Hinweis
auf eine geniale Veranlagung anzusehen sind, sondern ihn im Gegenteil noch melancholischer machen.
Hier trifft demnach die Aussage Mattenklotts zu, dass die Schwermut immer „ein Phänomen des
Gedächtnisses“ sei, „das zäh dem vergebens Ersehnten, Vereitelten, Mißlungenen die Treue hält“
(MATTENKLOTT, Gert: Melancholie in der Dramatik des Sturm und Drang, S. 11).
401
72
einzelnes Gedicht exemplarisch erwähnt werden, in dem beide Ideen zum Tragen
kommen: das Gedicht „Die Nebensonnen“.
Hier ist es, wie so oft im Zyklus, die Natur, in der der Wanderer eine Spiegelung seiner
verzweifelten Situation erkennt.406 Er erblickt am Himmel eine physikalische
Erscheinung, die ihn an die Augen seiner Geliebten erinnern407: Nebensonnen. Diese
gehören zu den sogenannten „Halo-Erscheinungen“, die sich als „farbenprächtige
atmosphär. Lichterscheinung[en]“ beschreiben lassen, welche „durch Brechung oder
Spiegelung, seltener durch Beugung der Lichtstrahlen an Eiskristallen in der
Atmosphäre“ entstehen. Diese Halo-Erscheinungen können die Form von Ringen oder
Streifen besitzen; Nebensonnen im Besonderen erscheinen als „leuchtende Flecken mit
einem nach außen gerichteten leuchtenden Schweif beiderseits der Sonne“408, so dass
der Eindruck entsteht, als stünden nicht eine, sondern drei Sonnen am Himmel.
So außergewöhnlich ein solches Naturschauspiel aber auch sein mag: Für den
Wanderer hat die Himmelserscheinung nichts Ästhetisches oder wenigstens
Beeindruckendes. Er fühlt sich dadurch nur an den Verlust seiner Liebe erinnert, was
ihn dazu bringt, sich verzweifelt den Untergang der echten Sonne, d.h. den Tod, zu
wünschen: „Ging´ nur die dritt erst hinterdrein! / Im Dunkel wird mir wohler sein.“ (Z.
9-10). Durch die Wunschform „Ging´“ (Z. 9) wird aber wiederum deutlich, dass diese
Sehnsucht des Wanderers noch nicht keine Erfüllung finden wird.
Das „Sehnsucht/Hoffnung-Mißverhältnis“ ist nach Lambrecht ebenfalls kennzeichnend
für den Melancholiker.409 Denn dieser ist natürlich traurig und resigniert, doch das ist,
wie Lambrecht argumentiert, „nur die eine Seite der Medaille“. Auf der anderen Seite
trage der Melancholiker trotz allem immer noch eine Sehnsucht in sich, z.B. eine
Sehnsucht nach Erlösung von der Melancholie mit der Hilfe Gottes oder auch nach
einer „innerweltlichen Überwindung“ derselben. Und dennoch ist diese Hoffnung nicht
stärker als der Zweifel an ihrer Erfüllung. Dieses „Wechselspiel von unaufgegebener
406
Für die Lyrik der Romantik ist die Verbindung „zwischen Naturvorgang und Seelenregung“ typisch
(JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S.
466). Georgiades zufolge besteht in diesen fortwährenden Spiegelungen des Ichs in der Natur oder
anderen Erscheinungen das „Thema“ der „Winterreise“, das „verschieden variiert“ werde (GEORGIADES,
Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 359). Die Bezeichnung „Thema“ scheint hier jedoch
unglücklich; es ist richtig, dass sich diese Spiegelungen durch den ganzen Zyklus ziehen, Thema der
„Winterreise“ ist aber eher die Wanderschaft.
407
Laut Bost ist es auch sehr charakteristisch für die Weltschmerz-Literatur, dass hier die Natur den
Seelenzustand des Helden widerspiegelt. Auch kommt es oft vor, dass die Geliebte und die Natur
verschmelzen – allerdings eher in der Beschreibung idyllischer Naturbilder (vgl. BOST, Harald: Der
Weltschmerzler, S. 137).
408
BROCKHAUS. Die Enzyklopädie in 24 Bänden: Art. „Halo“. 20., überarbeitete und aktualisierte
Auflage. Leipzig und Mannheim 1997, Bd. 9, S. 409. Feils Erklärung, das Phänomen der Nebensonnen
komme durch die Spiegelung der Sonne „auf und unter der Tränenflüssigkeit vor dem Auge“ zustande
(FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise. Stuttgart 1975. 2., bibliographisch
ergänzte Auflage 1996, S. 147), weist demnach auf ziemliche Unkenntnis hin.
409
Vgl. hierzu: LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 14.
73
Sehnsucht und schwankender Hoffnung“410 lässt sich in den schmerzvollen
Reflexionen des Wanderers in der „Winterreise“ ebenfalls feststellen, besonders in den
Gedichten „Rückblick“, „Letzte Hoffnung“ und „Frühlingstraum“. „Rückblick“
thematisiert in der letzten Strophe die Sehnsucht des Wanderers, wieder in die Stadt
und damit zu seiner Geliebten zurückkehren zu dürfen (vgl. Z. 17-20). Wie unmöglich
die Einlösung dieses Wunsches ist, zeigt sich daran, dass mit „Der greise Kopf“ (vgl.
Nr. 10, S. 177) als nächstem Gedicht wieder totale Resignation und Todessehnsucht im
Mittelpunkt stehen; von der Geliebten wird überhaupt in den folgenden Gedichten (bis
zu den „Nebensonnen“) nicht mehr die Rede sein.
Ein Fünkchen Zuversicht scheint in „Letzte Hoffnung“ aufzublitzen; zumindest wird
hier ausgesagt, dass der Wanderer überhaupt noch Hoffnung besitzt („meine
Hoffnung“; Z. 6). Doch dann nimmt er das schlichte Naturereignis eines zu Boden
fallenden Blattes, mit dem er sich selbst identifiziert, als eindeutige Bestätigung seiner
ausweglosen Situation (vgl. Z. 9-12). Die Hoffnung, sein Leben könnte sich doch noch
einmal zum Besseren wenden, ist für ihn „gestorben“.
Dennoch entfacht der „Frühlingstraum“ diese Hoffnung noch ein letztes Mal. Der
glückliche Traum, der mehrmals durch erschrockenes Erwachen unterbrochen wird,
lässt im Wanderer eine hoffnungsvolle, scheinbar schon längst beantwortete Frage
aufkommen: „Wann halt ich dich, Liebchen, im Arm?“ (Z. 24). Wie genau er eigentlich
weiß, dass diese Frage mit „Nie wieder“ zu beantworten ist, zeigt sich im nächsten
Gedicht. Hier besinnt er sich wieder darauf, dass Einsamkeit jetzt sein Dasein bestimmt
(vgl. Z. 8). Insgesamt lässt sich also sagen, dass im Verlauf der „Winterreise“ im
Wanderer zwar immer wieder Hoffnung und Sehnsucht nach einer positiven Wendung
seines Schicksals aufkeimen, dass seine Verzweiflung jedoch jeweils überwiegt und
die Hoffnung somit immer wieder im Keim erstickt wird.
Ein letzter Aspekt, der in diesem Abschnitt untersucht werden soll, ist das Motiv des
Herzens, da dieses als der Ort vorgeführt wird, wo die Schmerzen des Wanderers
offenbar lokalisiert sind. Das Herz wird traditionell als „personale Mitte des
Menschen“, als „Zentrum personaler Wesensentfaltung“ und damit auch aller
Gefühlsregungen angesehen, und zwar im Gefolge „der alten abendländischen
Tradition einer ‚Philosophia cordis’“.411 Seine Ursprünge hat dieses Denken laut
Schmidt-Degenhard bei Augustinus, im Mittelalter tauche es im Begriff der „acedia“ (=
Herzensträgheit) wieder auf, und es ziehe sich über die deutsche Mystik (Hildegard
410
Ebd.
SCHMIDT-DEGENHARD, Michael: Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts. In: Schriften zur
Psychopathologie, Kunst und Literatur I: Melancholie in Literatur und Kunst, S. 169.
411
74
von Bingen etc.) durch bis in die Moderne (so erscheine es etwa bei Kierkegaard
wieder).
Hegel verwendet den Begriff „Herz“ in diesem Sinne, wenn er in seiner
„Phänomenologie des Geistes“ vom „Gesetz des Herzens“ spricht, das dem „Wahnsinn
des Eigendünkels“ gegenüberstehe.412
Und auch der Arzt Johann Christian August Heinroth (1773-1843) setzt die Begriffe
„Herz“ und „Gemüt“ gleich. Über das Gemüt schreibt er:
Ist denn dieser Ausdruck zu provinziell, oder zu vag und abstract,
oder überhaupt unnatürlich und erkünstelt, daß man ihn nicht mehr
für gleichbedeutend mit dem bildlichen Worte: Herz, gelten lassen
mag? Also Kummer und Gram, wie Freude und Hoffnung, sie sollen
nicht mehr ihren Sitz im Gemüth haben? Wo denn sonst?413
An anderer Stelle bezeichnet er „das sichtbare und leibliche Herz“ als „Träger des
unsichtbaren Gemüths“.414 Folglich ist für ihn die Melancholie „die Krankheit des
Gemütes, des Herzens“. Insgesamt lässt sich festhalten, dass „Herz und Schwermut [...]
einen gemeinsamen Bedeutungshintergrund“ haben, also „wesensverwandt“ sind.415
Diese Vorstellung greift auch die Literatur auf: Das Herz-Motiv erscheint z.B. in der
Lyrik um 1800 (bei Friedrich Matthisson, Ludwig Tieck oder Clemens Brentano),
wobei das „kranke Herz“ hier immer für melancholische Verzweiflung steht.416 Aber in
der Weltschmerz-Literatur ist das Motiv ebenso beliebt. Es steht auch hier, wie gesagt,
für das Gemüt des Menschen, und besonders bei Werther bildet es den Gegenpol zu
Vernunft und Verstand.417
In der „Winterreise“ hat das Herz ebenfalls genau diese Bedeutung, nämlich „der Ort
zu sein, an dem alle seelischen Auseinadersetzungen stattfinden und die einander
widerstreitenden Gefühle wechseln“.418 Das Herz-Motiv erscheint zum ersten mal im
zweiten Gedicht. Durch den Vergleich der vom Wind gebeutelten Fahne auf dem Dach
412
HEGEL, Georg Wilhelm Friedrich: Gesammelte Werke. Hrsg. von der Rheinisch-Westfälischen
Akademie der Wissenschaften. Bd. 9: Phänomenologie des Geistes. Hrsg. von Wolfgang BONSIEPEN und
Reinhard HEEDE. Düsseldorf 1980, S. 202-207.
413
HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder der
Seelenstörungen und ihrer Behandlung. Vom rationalen Standpunkt aus entworfen. Zwey Theile. Leipzig
1818. Zweyte Abtheilung, S. 333. Vgl. auch: ebd., Erste Abtheilung, S. 6.
414
HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Anthropologie. Zum Behuf academischer
Vorträge, und zum Privatstudium. Nebst einem Anhange erläuternder und beweisführender Aufsätze.
Leipzig 1822, S. 74.
415
SCHMIDT-DEGENHARD, Michael: Melancholie in der Psychiatrie des 19. Jahrhunderts, S. 169. Erst
Wilhelm Griesinger (1817-1868) bricht mit der „Philosophia cordis“ in Verbindung mit der Melancholie,
indem er die Krankheit rational erklärt, wodurch sie ihren rätselhaften, manchmal dämonisch
empfundenen Charakter verliert (vgl. ebd., S. 174).
416
NESBEDA, Werner: Schwermut und Lyrik, S. 46 ff.
417
Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 165.
418
WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 96.
75
des Hauses seiner Geliebten mit den Schmerzen des Herzens (vgl. Z. 9-10) wird
deutlich, dass das Herz hier für die verletzten Gefühle des Menschen steht.419
Den Zustand des gefrorenen Herzens, von dem der Sprecher in „Erstarrung“ erzählt
(„Mein Herz ist wie erfroren, / Kalt starrt ihr Bild darin“; Z. 17-18), ist dieser sogar zu
ertragen bereit: Nur indem er sich an seine Trauer klammert, kann er auch die
Erinnerung an seine Geliebte wach halten, und das möchte er um jeden Preis. Dies
erinnert stark an die Lust am Verlust, die Julia Kristeva dem Melancholiker bescheinigt,
d.h. an den Wunsch, durch die Traurigkeit die Erinnerung an die Verlusterfahrung zu
bewahren. Das Herz scheint jedenfalls in diesem Gedicht für die Erinnerung des
Wanderers zu stehen. In „Auf dem Flusse“ (Nr. 8, S. 175 f.) vergleicht der Held
wiederum sein Herz mit einer Naturerscheinung, dem Fluss. Er empfindet sein Herz –
auch hier scheinen damit die Gefühle gemeint zu sein – als ebenso erstarrt wie die
Eisschicht auf dem Fluss. Doch es ist nicht völlig erfroren: Unter seiner „Rinde“
schwillt es „reißend“ (Z. 20). Seine Gefühle, sein seelischer Schmerz sind also nur
unterdrückt. Diese kommen im 19. Gedicht an die Oberfläche. Der Wanderer
unterbricht seine Reise und spürt in der Stille, ohne die Ablenkung durch die
Wanderung, wie verletzt er ist (vgl. Z. 13-16). In „Frühlingstraum“ träumt der Wanderer
von besseren, vergangenen Zeiten, erwacht aber zweimal: Beim ersten Mal wird sein
„Auge“ wach (Z. 6), nachdem er wieder eingeschlafen ist und weitergeträumt hat, sein
„Herze“ (Z. 18). Damit könnte gemeint sein, dass er nun wirklich wach ist, und nicht
wie beim ersten Mal nur kurz hochgeschreckt ist und wieder einnicken wird. In der
letzten Strophe, in der er noch einmal über den Traum nachdenkt, wobei ihm das Herz
noch „so warm“ schlägt, (Z. 22), ist offenbar tatsächlich einmal das Organ gemeint. In
„Die Post“ verhält es sich ähnlich: Zumindest in der ersten Strophe klopft dem
Wanderer sein Herz „bis zum Halse“, als er das Posthorn von der Stadt her vernimmt
(vgl. Z. 1-3). In den drei restlichen Strophen hält er Zwiesprache mit seinem Herzen;
hier meint der Begriff „Herz“ wohl wieder eher das Gefühlszentrum. Die Tatsache, dass
in der „Winterreise“ häufig „das ‚Ich’ vom Herzen des Sprechenden geschieden“ ist,
erscheint sehr bemerkenswert. Es wird zum „Ansprechpartner“ des Wanderers.420 Dies
spiegelt laut Wetzel dessen „absolut gewordene Einsamkeit“.421 Im 14. Gedicht, „Der
stürmische Morgen“, findet wieder eine Spiegelung des Herzens in der Natur, nämlich
in dem vom Sturm zerrissenen Himmel, statt. Und auch hier steht es für das
aufgewühlte Innere des Wanderers; es ist „nichts als der Winter, / Der Winter kalt und
419
Dass an dieser Stelle der Plural steht, deutet Wittkop zufolge darauf hin, dass der Wanderer hier nur
„in exemplarischer Weise Zeugnis gibt“ von einem überindividuellen Erlebnis (ebd., S. 97).
420
WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, S. 161.
421
Ebd., S. 162.
76
wild!“ (Nr. 14, S. 179, Z. 11-12). In „Mut!“ will der Protagonist sein Herz mit seinem
Gesang übertönen, wiederum mit dem Ziel, seine Gefühle zu unterdrücken (vgl. Z. 3-4).
Das Motiv des Herzens erscheint also, wie gezeigt werden konnte, ausgesprochen oft im
Verlauf der „Winterreise“. Dabei ist entweder das tatsächliche Organ gemeint – was
aber eher selten vorkommt –, oder der Sitz der Gefühle, sozusagen die Seele des
Wanderers. Interessant ist, dass häufig Parallelen zwischen dem Herzen und
Naturerscheinungen gezogen werden. Der Wanderer spricht nie explizit aus, wie es ihm
geht, sondern gebraucht fast durchgehend Bilder, um seine Gemütszustände zu
beschreiben. Diese beim Namen zu nennen, ist ihm offenbar unmöglich.
5. 3. 2. 2. 2 Orientierungslosigkeit und Unruhe
Der Melancholiker wird häufig als Umherirrender in einem Labyrinth beschrieben, so
etwa bei Pseudo-Aristoteles: Dieser bringt ein Homer-Zitat, um Bellerophontes
dementsprechend zu charakterisieren.422 Jean Starobinski verwendet ebenfalls das Bild
des Labyrinths als Modell für die melancholische Bewusstseinsstruktur; es verbinde den
Zustand des Eingesperrtseins mit dem Zwang zu ewiger Wanderschaft: „Une prison où
l´on erre, une réclusion vagabonde: c´est le labyrinthe.“423
Auch der Protagonist der „Winterreise“ scheint unruhig in einem Labyrinth
umherzuirren. Das Ziel, das er sucht, ist Ruhe – und zwar die Ruhe des Todes: „Und ich
wandre sonder Maßen / Ohne Ruh, und suche Ruh“ (Nr. 16, S. 180, Z. 11-12). Deshalb
interessieren ihn auch die Wegweiser nicht, die „auf die Städte zu“ weisen (Z. 10). Er
möchte nur sterben. Doch da dieses Ziel so weit entfernt und durch Wanderschaft
natürlich auch nicht zu erreichen ist, bewegt sich der Protagonist extrem
orientierungslos. Er irrt nur durch die Landschaft, wird mehr getrieben, als dass er selbst
bestimmen würde, wohin er geht. Er ist tatsächlich zu ewiger Wanderschaft verdammt
und dabei gleichzeitig eingeschlossen: im Diesseits, dem er nicht zu entfliehen vermag.
„Das Wandern-Müssen entspringt keiner besonderen inneren Befindlichkeit, sondern
erscheint als Menschenlos schlechthin.“424
Die innere Unruhe, von der er bestimmt wird, ist übrigens wiederum typisch für das
Verhalten des Weltschmerzlers – Bost weist darauf hin, dass sie z.B. charakteristisch für
422
Vgl. ARISTOTELES: Problemata physica, S. 250.
STAROBINSKI, Jean: L´encre de la mélancolie. In: La Nouvelle Revue Française, 11. Jahrgang, 2.
Vierteljahresband 1963 (Nr. 123). Paris 1963, S. 416. Die Labyrinth-Metapher ist laut Wagner-Egelhaaf
auch eine gern gebrauchte christliche Allegorie, da sie geeignet sei, der Perspektive des in der sündhaften
Welt umherirrenden Menschen die Sichtweise des Erlösten gegenüberzustellen, der dieses „Labyrinth“
wie von einem Turm aus überblicke (in manchen Labyrinthen seien nämlich Türme zu finden; vgl.
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 212).
424
JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S.
468.
423
77
Werthers ganzes Leben sei425 –, weswegen er die Unruhe auch zu den „wesentlichen
Motiven des ‚Weltschmerzes’“ rechnet.426
5. 3. 2. 2. 3 Einsamkeit und Menschenverachtung
Dass Melancholikern traditionell ein Hang zur Einsamkeit zugeschrieben wird, zeigt
sich z.B. darin, dass die mittelalterliche „acedia“ speziell als Krankheit der in Isolation
von der Gesellschaft lebenden Mönche aufgefasst wird. Im 18. Jahrhundert weist
Diderot in seinem oben schon zitierten Artikel zur Melancholie auf die „misanthropie“
und die „penchant décidé pour la solitude“ des Melancholikers hin.427 Dass diese
eigenbrötlerische Art und Misanthropie – die übrigens auch die Ärzte der Zeit als
Melancholie-Symptome erkennen428 –, auch einer der Hauptvorwürfe ist, der den
Melancholikern von Seiten der Aufklärer gemacht wird, wurde bereits ausgeführt. Laut
Bost ist die Isolation des Weltschmerzlers zugleich dessen freiwillige Entscheidung – da
sie ihn zu etwas Besonderem mache429 – und Leidensgrund (d.h. ab und zu wünsche er
sich doch Gesellschaft).430
Einsamkeit und Menschenflucht zeichnen den Wanderer in der „Winterreise“ in
besonderer Weise aus. Er flieht in „Gute Nacht“ bei „Dunkelheit“ aus der Stadt (Z. 12)
– vermutlich, um nicht gesehen zu werden –, und macht sich auf seinen einsamen Weg.
Dabei fühlt er sich so fremd, so wenig den Menschen zugehörig, wie zu dem Zeitpunkt,
als er in der Stadt ankam: „Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh ich wieder aus.“ (Z.
1-2). Im gleichen Gedicht bezeichnet er den „Mondenschatten“ als einen Gefährten (Z.
13) – die Natur ersetzt ihm also menschliche Gesellschaft. Wetzel weist allerdings
darauf hin, dass die Natur sich dem Wanderer verschließe: Sie befinde sich nicht im
„Einklang[...]“ mit ihm, um ihn in seiner Einsamkeit zu trösten – wie es in der
romantischen Dichtung der Fall sei –, sondern sei vielmehr „stumm[...]“. Hierdurch
werde „das Äußerste an Einsamkeit“ vermittelt.431 „Übereinstimmung ist höchstens in
der Negation der Empfindungen möglich, etwa wenn der Wanderer im gefrorenen Bach
das Bild seines abgestorbenen Herzens erkennt, [...]“.432
Auf seiner Wanderung vermeidet es der Protagonist so gut er kann, Menschen zu
begegnen. Lediglich in „Rast“ erzählt er, dass er „In eines Köhlers engem Haus“
425
Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 262.
Ebd., S. 221.
427
DIDEROT, Denis: Mélancolie, S. 308.
428
Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 26.
429
Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 275.
430
Vgl. ebd., S. 272. Vgl. hierzu auch die Bemerkung Loquais: „Das Leid des Künstlers wird verstärkt
durch seine Einsamkeit“ (LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 134).
431
WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, S. 160.
432
Ebd., S. 160 f.
426
78
Unterschlupf gefunden habe (Z. 9-10). Auch spricht er im ersten Gedicht seine Geliebte
an, wobei er mit ihr allerdings nicht direkt kommuniziert – aus dem Text wird
ersichtlich, dass sie schläft (vgl. Z. 24-32). Doch ansonsten redet er während des
gesamten Zyklus nur zu seinem Herzen (in „Die Post“, „Auf dem Flusse“ und „Rast“),
zu seinen Tränen (in „Gefrorene Tränen“ [Nr. 3, S. 172]), zu Tieren (nämlich zur
„Krähe“ [Nr. 11, S. 178] und zu den Hunden in „Im Dorfe“) und Dingen (zum Schnee
in „Wasserflut“, zum Fluss in „Auf dem Flusse“, zum Friedhof und zu seinem
Wanderstab in „Das Wirtshaus“ und zu den „Nebensonnen“) oder zu sich selbst
(nämlich in „Rückblick“; vgl. Z. 16). Ein einziges Mal spricht er auch ein „Ihr“ an,
nämlich in „Frühlingstraum“ (Z. 11), womit er vermutlich den Leser meint. Und ganz
am Ende richtet er seine rätselhaften Fragen an den Leiermann (die später noch
gründlicher untersucht werden sollen):
Wunderlicher Alter,
Soll ich mit dir gehn?
Willst du meinen Liedern
Deine Leier drehn? (Z. 17-20).
Doch ansonsten spiegelt sich in seinem Mangel an Kommunikation auch seine soziale
Isolation wider.
Der Wanderer sagt im ersten Gedicht, er suche „des Wildes Tritt“ auf seinem Weg (Z.
16). Diese Wendung steht laut Schmid Noerr „für einen abgelegenen, aber noch
gangbaren Pfad“; warum der Wanderer ihn wähle und nicht auf der Straße gehen wolle,
bleibe verborgen.433 In „Der Wegweiser“ wird hingegen ganz explizit dargelegt, wie
krampfhaft der Wanderer versucht, niemandem zu begegnen. Er sucht sich lieber
„versteckte Stege“ (Z. 3), die vermutlich recht unwirtlich sind, als „andren Wandrer[n]“
über den Weg zu laufen (Z. 2). Besonders interessant ist hier, dass der Protagonist selbst
nicht zu wissen scheint, warum er sich so verhält; jedenfalls ist die erste Hälfte des
Gedichts in Frageform formuliert. Nur die Feststellung, dass es kein schlechtes
Gewissen sein könne, das ihn zu diesem Verhalten, das er übrigens selbst als „törichtes
Verlangen“ bezeichnet (Z. 7), treibe, ist keine Frage: „Habe ja doch nichts begangen, /
Daß ich Menschen solle scheun, –“ (Z. 5-6). In diesem Zusammenhang muss der These
Schmid Noerrs widersprochen werden, der behauptet, man könne spekulieren, ob der
Protagonist eine Schuld auf sich geladen habe und deshalb die Menschen meide.434 Dies
kann aufgrund der eben zitierten Feststellung des Wanderers gar nicht zur Debatte
433
434
SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 387.
Vgl. ebd., S. 387 f.
79
stehen. Vielmehr stellt der Hang zur Einsamkeit und auch zur Misanthropie einen
typisch melancholischen Charakterzug dar.
Ein Gedicht, die Nummer 22, ist sogar mit „Einsamkeit“ überschrieben. Was hier
thematisiert wird, erscheint sehr signifikant: Der Wanderer beschreibt, in was für einer
schönen und fröhlichen Umgebung er sich bewegt („Ach, daß die Luft so ruhig! / Ach,
daß die Welt so licht!“; Z. 9-10); doch gerade diese Idylle ist ihm unerträglich: „Als
noch die Stürme tobten, / War ich so elend nicht“ (Z. 11-12). Das Betrachten der
Fröhlichkeit und der schönen, friedlichen Natur um ihn herum lässt ihm seine eigene
Situation noch verzweifelter erscheinen. Er zieht „Durch helles, frohes Leben / Einsam
und ohne Gruß“ (Z. 7-8); folglich begegnet er also doch ab und zu Menschen – und
zwar Menschen, die im Gegensatz zu ihm fröhlich sind. Doch niemand scheint Interesse
an seinem Schicksal zu zeigen.
All diese Tatsachen führen dazu, dass die „Winterreise“ laut Cecilia Baumann heute oft
als „allegory of modern man´s loneliness“435 interpretiert wird. Die Frage wäre
allerdings, ob hier wirklich nur die Einsamkeit des modernen Menschen gemeint ist. Ich
behaupte, dass die in der „Winterreise“ zum Ausdruck gebrachte Einsamkeit ein bereits
uraltes melancholisches Charakteristikum darstellt und deshalb auch allgemeiner, auf
alle Zeiten anwendbar, verstanden werden sollte.
5. 3. 2. 2. 4 Einbildungskraft
Wie in Kapitel 1 ausgeführt, ist die Fähigkeit zur Imagination ein Merkmal, das dem
Melancholiker seit der Antike zugeschrieben wird. Auch Werther z.B. zeichnet sich
dadurch aus. Allerdings schwindet bei letzterem diese schöpferische Kraft durch seine
unglückliche Liebe.436 Der Wanderer in der „Winterreise“ besitzt diese Fähigkeit
ebenfalls, wobei sie hier von Anfang an kaum als Zeichen von Genialität und
schöpferischer Phantasie dargestellt wird. Vielmehr steigert sie sich an manchen Stellen
sogar ins Wahnhafte. Auch ist bei ihm häufig deutlich zu spüren, wie sehr er darunter
leidet, dass sich seine Vorstellung und die Realität so oft widersprechen.
Zum einen zeigt sich die Einbildungskraft des Wanderers in der schon erwähnten
Tatsache, dass ihn den gesamten Zyklus über Natur- oder andere äußere Erscheinungen
zu Vergleichen mit sich und seiner Situation anregen.
Im zweiten Gedicht ist es die Wetterfahne, die entsprechende Gedanken auslöst (vgl. Z.
9-10). Hier zeigt sich auch bereits das Wahnhafte in der Psyche des Wanderers, ja er
benennt es sogar selbst: Die Wahrnehmung, von der Fahne verhöhnt zu werden,
435
436
BAUMANN, Cecilia C.: Wilhelm Müller. The Poet of the Schubert Song Cycles, S. 65.
Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 202 f.
80
schreibt er seinem „Wahne“ zu (Z. 3). In „Wasserflut“ (Nr. 7, S. 175) stellt der
Wanderer sich eine Art Kontaktaufnahme mit seiner Geliebten vor, indem er
phantasiert, seine in den Schnee fallenden Tränen könnten in das „Bächlein“ (Z. 12) und
somit bis in die Stadt vor das Haus seiner Liebsten gelangen. In „Auf dem Flusse“ sieht
er sein Herz im Bach gespiegelt (vgl. Z. 17-18), in „Der stürmische Morgen“ am
Himmel (vgl. Z. 9-10) – beide Stellen wurden bereits erwähnt. Die Krähe, die dem
Wanderer in dem gleichnamigen Gedicht auf seiner Wanderschaft folgt, imaginiert
dieser als gierigen Raubvogel, der auf seinen Tod wartet: „Meinst wohl, bald als Beute
hier / Meinen Leib zu fassen?“ (Z. 7-8). Diese Stelle kann ebenfalls als Beispiel für die
manchmal wahnhaften Vorstellungen des Wanderers gelten. Darauf, dass der
Protagonist schließlich in den „Nebensonnen“ die Augen seiner Liebsten zu erblicken
glaubt (vgl. Z. 7), wurde schon hingewiesen.
Doch auch positive Erinnerungen gehören zu seinen Imaginationen: In „Der
Lindenbaum“ etwa gedenkt der Wanderer der frohen Stunden, die er hier zugebracht hat
(vgl. Z. 3-8). Dass das Gedicht aus der Erinnerungsperspektive geschildert wird, wird
eigentlich erst an dessen Ende deutlich: „Nun bin ich manche Stunde / Entfernt von
jenem Ort“ (Z. 25-26).437 Er erinnert sich hierbei auch an die verlockenden Worte, die
er im Augenblick des Vorüberwanderns gehört zu haben glaubt. Doch diese erweisen
sich durch den Konjunktiv „Als riefen sie mir zu:“ (Z. 14) „als die illusionäre Projektion
seines eigenen Wunsches“438, dem er übrigens nicht nachgibt. Dafür, dass es sich dabei
um eine Einbildung gehandelt haben muss, spricht nicht zuletzt die Tatsache, dass das
Rauschen der Blätter angesprochen wird (vgl. Z. 13), das aber im Winter nicht
stattfinden kann, da die Zweige hier ja nicht belaubt sind.439 Ähnlich angenehme
Erinnerungen werden in „Erstarrung“ thematisiert. Auch hier blickt der Wanderer
zurück auf glückliche Zeiten (vgl. Z. 3-4). In diesem Gedicht wird besonders deutlich,
wie sehr der Wanderer unter der Diskrepanz zwischen glücklicher Erinnerung und
Realität leidet: Verzweifelt, „heiße[...] Tränen“ weinend (Z. 7), sucht er nach Andenken
an sein Glück. Auch in „Rückblick“ erinnert sich der Protagonist an positive Erlebnisse,
nämlich an seine viel versprechende Ankunft in der Stadt, die ihn dann so herbe
enttäuscht und sogar vertrieben hat (vgl. Z. 5-16), wodurch er sich sehr verletzt fühlt. In
„Frühlingstraum“ wechseln sich idyllisches Träumen und ernüchternde Wachzustände
ab, wobei es wiederum der Einbildungskraft des Wanderers zuzuschreiben ist, dass er
437
Vgl. hierzu auch: GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung, S. 136.
WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise, S. 156.
439
Diese Tatsache übersieht Wittkop, wenn sie behauptet, das Rauschen der im Winter unbelaubten
Zweige wirke unheimlich und könne deshalb eine Todesassoziation nahe legen (vgl. WITTKOP,
Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 136).
438
81
sich, nachdem er endgültig aufgewacht und sich seiner verzweifelten Lage wieder
bewusst geworden ist, noch weiter einem Wachtraum hingibt:
Die Augen schließ ich wieder,
Noch schlägt das Herz so warm.
Wann grünt ihr Blätter am Fenster?
Wann halt ich dich, Liebchen, im Arm? (Z. 21-24).
In „Der greise Kopf“ erliegt der Wanderer scheinbar der Illusion, über Nacht ergraut,
d.h. ein Greis geworden zu sein (vgl. Z. 1-4). Dieser Text ist natürlich extrem
ironisch440 – der Wanderer behauptet sich über die Täuschung zu freuen, da sie ihn dem
Tode näher bringe –, doch vor allem führt sie wiederum die große Einbildungskraft des
Protagonisten vor Augen, der diese Sinnestäuschung sogleich in seinem Sinne
umzuwerten vermag.
Im 16. Gedicht sieht der Wanderer, sozusagen vor seinem „inneren Auge“, einen
Wegweiser stehen, der ihn in Richtung Tod schickt (vgl. Z. 13-16).
Einen Friedhof als „Wirtshaus“ zu bezeichnen, so wie es der Wanderer im
gleichnamigen Gedicht tut, setzt wiederum Phantasie, und zwar eine recht zynische
Phantasie, voraus. Der Wanderer ist so lebensmüde, dass er sich den Tod als regelrechte
Labung vorstellt (vgl. Z. 7-8). Zugleich könnte man die Tatsache, dass er einen realen
Friedhof erblickt und darin ein Wirtshaus sieht, als Illusion verstehen. Zu dieser Gruppe
von Imaginationen gehört auch das „Irrlicht“ (Nr. 18, S. 181 f.). Irrlichter sind nämlich
meteorologisch nachgewiesene, wenn auch bislang ungeklärte Lichterscheinungen441;
der Wanderer erblickt also offenbar wirklich ein solches Licht. Die Illusion, es wolle
ihn auf einen bestimmten Weg führen (vgl. Z. 1-2), bekommt er jedoch erst mit Hilfe
seiner Einbildungskraft. Die gleiche Art von Illusion wird in „Täuschung“ thematisiert:
Wiederum bildet sich der Wanderer ein, ein Irrlicht wolle ihn führen, wobei er sich hier
aber sogar der Tatsache bewusst ist, dass er dadurch vom richtigen Weg abkommt;
zudem stellt er sich auch noch vor, es weise ihm „ein helles, warmes Haus, / Und eine
liebe Seele drin –“ (Z. 8-9), obwohl er ganz genau weiß, dass er keinen Grund hat, auf
so etwas auch nur zu hoffen.
440
Diese Art von scharfer Ironie stellt ein häufiger verwendetes Gestaltungsmittel im Zyklus dar (es sei
hier auch noch einmal an das Zitat Mayrhofers erinnert, der der Ansicht ist, „die Ironie des Dichters,
wurzelnd in Trostlosigkeit“, habe Schubert zugesagt; vgl. Anmerkung 296).
441
Man versteht darunter „kleine vom Boden aufsteigende, meist schnell wieder erlöschende, manchmal
aber auch mehrere Sekunden lang stehende, mit schwacher bläulicher oder gelblich-rötlicher Flamme
brennende Lichterscheinungen, die sich [...] in stillen Nächten in sumpfigen und moorigen Gegenden
zeigen“ (RANKE: Art. „Irrlicht“. In: Handwörterbuch des deutschen Aberglaubens. Hrsg. von Hanns
BÄCHTOLD-STÄUBLI. Bd. IV. Berlin und Leipzig 1931/1932, Sp. 779). Im Volksglauben gelten sie als
unruhig umherschweifende Seelen Verstorbener (vgl. ebd., Sp. 782). Deshalb werden sie als Vorzeichen
des Todes angesehen: Wer ihnen folgt, geht in die Irre und damit in den Tod (vgl. Wittkop, Christiane:
Polyphonie und Kohärenz, S. 126).
82
5. 3. 2. 2. 5 Desillusionierung
Wie oben erläutert wurde, ist besonders die Weltschmerz-Melancholie zu einem sehr
wesentlichen Teil durch Desillusionierung gekennzeichnet. Die Desillusionierung in
dieser Zeit bezieht sich einerseits auf die politische Situation in Deutschland,
andererseits aber auch auf die Veränderung des Weltbildes, die in dieser Epoche durch
die zunehmende Säkularisation stärker denn je begünstigt wird.
Der in der Restaurationszeit sehr weit verbreitete Weltschmerz ist auch, wie ebenfalls
oben ausgeführt, der weltanschauliche Hintergrund, vor dem man die „Winterreise“
verstehen muss. Dieser äußert sich im Werk natürlich zunächst in der darin
transportierten Melancholie. Doch es gibt durchaus auch Ansätze, die nicht nur
melancholische Resignation darin erkennen wollen, sondern im Gegenteil scharfe Kritik
an der Politik. So argumentiert etwa Hans-Udo Kreuels, der die politische Komponente
an der „Winterreise“ hervorhebt und in diesem Zusammenhang ihre „zuweilen
schonungslos spöttische bis letztlich despressiv-resignative Ironie“442 betont. Er ist der
Ansicht, dass Müller in der „Winterreise“ „mittels getarnter Anklage“ Kritik an der
Restaurationspolitik seines Zeitalters übe. Kreuels bringt auch Beispiele für solche
politischen Botschaften, die er in der „Winterreise“ zu entdecken glaubt: Im Gedicht
„Einsamkeit“ werde „das Vakuum fehlender Kunstverantwortung in der reaktionären
Metternichzeit schmerzlich apostrophiert“; in „Mut!“ propagiere Müller „den Trotz als
pervertierende Gegenkraft zum konstruktiven Gemeinschaftssinn [...]“443; „Der
Leiermann“ schließlich sei überhaupt ein „Sinnbild des Zeitalters der verlorenen
Illusionen“.444 Schuberts Hintergrund bei der Vertonung der „Winterreise“ sei übrigens
eher eine „weltanschauliche[...], vorwiegend ethische[...] Sicht“, wobei man ihr aber das
„politische Ausdrucksbedürfnis“, das allerdings bei Müller deutlicher hervortrete, nicht
absprechen dürfe.445 Auch Reinhold Brinkmann befasst sich in seiner kürzlich
erschienen Studie „Musikalische Lyrik, politische Allegorie und die ‚heil´ge Kunst’“446
mit dem politischen Aspekt der „Winterreise“. Er vertritt die Meinung, dass der Zyklus
„eine der extremsten künstlerischen Formulierungen“ der „zerstörten Welterfahrung“
des Weltschmerzes sei und deshalb „eine entschieden gesellschaftskritische Dimension“
besitze.447 Dass Schubert diese Intention Müllers erkannt und auch in der Vertonung
442
KREUELS, Hans-Udo: „Die Winterreise“ des Wilhelm Müller (und des Franz Schubert), S. 97. Kreuels
setzt diese Ironie allerdings fälschlicherweise mit der „romantischen Ironie“ gleich.
443
Ebd., S. 101.
444
Ebd., S. 102.
445
Ebd., S. 98.
446
BRINKMANN, Reinhold: Musikalische Lyrik, politische Allegorie und die „heil´ge Kunst“. Zur
Landschaft von Schuberts Winterreise. In: Archiv für Musikwissenschaft. 62. Jahrgang, Heft 2, 2005.
Stuttgart 2005, S. 75-97.
447
Ebd., S. 79.
83
ausgedrückt habe, versucht Brinkmann anhand des schon oben zitierten Gedichts aus
Schuberts Feder, „Klage an das Volk“, zu belegen, das ein „politisches Lamento“
darstelle und in dem die Kunst als „Statthalterin für bessere, sprich: für freiheitliche
Zeiten“ vorgeführt werde.448 Gernot Gad bescheinigt der „Winterreise“ ebenfalls eine
„oppositionelle Tendenz“449, die sich z.B. in „Der stürmische Morgen“ zwischen den
Zeilen herauslesen lasse.450
Abgesehen davon, ob solche versteckten politischen Aussagen wirklich in der
„Winterreise“ zu finden sind, ist die Erfahrung der Desillusionierung, die der Wanderer
machen muss, aber ganz offensichtlich im Werk erkennbar. Sie äußert sich bei ihm auf
verschiedenen Ebenen. Zum einen ist es seine Geliebte, die ihn durch ihre Untreue
desillusioniert hat. Sie, so heißt es im ersten Gedicht, „sprach von Liebe, / Die Mutter
gar von Eh´ –“ (Z. 5-6), aber nun ist wohl eine bessere Partie aufgetaucht. Dies führt
dazu, dass der Protagonist sich desillusioniert sieht, was die Liebe ganz allgemein
betrifft: „Die Liebe liebt das Wandern – / Gott hat sie so gemacht – / Von einem zu
dem andern – “ (Z. 21-23). Diese Aussage ist bereits auf verschiedene Arten
interpretiert worden: Laut Schmid Noerr akzeptiert der Wanderer damit den Verlust der
Geliebten451, Dürr liest darin den „trotzigen Vorsatz“, genauso zu handeln wie das
Mädchen es getan hat.452 Es ist jedoch viel nahe liegender, hierin die nüchterne Bilanz
eines enttäuschten Liebenden zu sehen: Der Wanderer glaubt nicht mehr an die treue
Liebe, er bringt mit ironischem Unterton die Tatsache auf den Punkt, dass viele
Menschen wechselnde Liebesbeziehungen der ewigen Treue vorziehen. Auffällig ist,
dass der Wanderer hierfür Gott die Schuld zuweist, der die Liebe „so gemacht“ habe.
In „Rückblick“ lässt der Held seine Desillusionierung durch die Geliebte noch einmal
Revue passieren: „Wie anders hast du mich empfangen, / Du Stadt der
Unbeständigkeit!“ [...] „Und ach, zwei Mädchenaugen glühten! – / Da war´s geschehn
um dich, Gesell!“ (Z. 9-10 + 15-16); nun aber ist der „Gesell“ regelrecht auf der Flucht,
nachdem er in Schimpf und Schande aus der Stadt vertrieben wurde. Doch er rappelt
sich gleichsam noch einmal auf, lässt in „Letzte Hoffnung“ ein Blatt an einem Baum
sein Orakel sein: „Spielt der Wind mit meinem Blatte, / Zittr´ ich, was ich zittern kann“
(Z. 7-8). Doch das Blatt fällt herab, der Orakelspruch ist für den Wanderer eindeutig:
Desillusioniert muss er erkennen, dass es keine Hoffnung mehr für ihn gibt. Das Dorf,
in das er nachts gerät, gibt ihm wieder Anlass, sich seiner Desillusionierung bewusst zu
448
Ebd., S. 85. Genau dies sei die Botschaft des Liedes „Der Leiermann“, wenn auch ironisch gebrochen
durch metrische Diskrepanzen zwischen Klavier- und Singstimme (vgl. ebd., S. 91 ff.).
449
GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung, S. 122.
450
Vgl. ebd., S. 130 ff.
451
Vgl. SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 389.
452
DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 142.
84
werden: Die Träume vom Glück, die allen „Schläfern“ (Z. 12) in dem Dorf gemein
sind (Z. 3-4), hat er längst aufgegeben. Er ist „zu Ende mit allen Träumen –“ (Z. 11),
insofern gibt es auch nichts mehr, was ihn mit seiner Umwelt verbinden würde.453
Die Desillusionierung, die in „Irrlicht“ durchscheint, wirkt dagegen wesentlich weniger
gegenständlich. Das Irrlicht hat den Wanderer „In die tiefsten Felsengründe“454 gelockt
(Z. 1), was dieser nun als Metapher für die menschliche Existenz umdeutet:
Bin gewohnt das irre Gehen,
´s führt ja jeder Weg zum Ziel:
Unsre Freuden, unsre Wehen,
Alles eines Irrlichts Spiel! (Z. 5-8).
Mit dieser Aussage spricht der Wanderer dem menschlichen Leben jedes höhere Ziel
ab. Bis zu ihrem Tod – denn das ist das einzige Ziel, das er am Ende jeder Existenz
sieht – werden die Menschen in seinen Augen im Leben nur „an der Nase
herumgeführt“, jeder scheinbare Lebenssinn ist vorgegaukelt, eben „eines Irrlichts
Spiel“. Insgesamt enthält das Gedicht schon deutliche Anklänge an den Nihilismus, der
später noch deutlicher aufscheinen wird. In „Täuschung“ bezeichnet der Wanderer die
Illusion, es gebe auf dieser Welt einen Menschen, dem etwas an ihm liege („eine liebe
Seele“; Z. 9), als „Gewinn“ (Z. 10). Vermutlich kann er seine Desillusionierung nicht
immer ertragen und muss sich somit manchmal Illusionen hingeben. Die
Desillusionierung im Gedicht „Das Wirtshaus“ besteht darin, dass der Wanderer hier
eigentlich beschließt, „ins kühle Wirtshaus“ einzukehren (Z. 8), also zu sterben, dann
aber erkennen muss, wie weit er noch vom Tod entfernt ist (es sind „in diesem Hause
die Kammern all´ besetzt“; Z. 9-19). Seine Sehnsucht nach dem Tod äußert er auch in
„Die Nebensonnen“: Hier wünscht er sich den Untergang der Sonne (vgl. Z. 9-10).
Durch diesen Wunsch wird laut Wittkop nicht nur Todessehnsucht zum Ausdruck
gebracht, sondern sogar der Wunsch nach einer „Götterferne oder Weltennacht“. Ihrer
Meinung nach ist hier bereits „der höchste Grad von Illusionslosigkeit“ erreicht, da der
Protagonist die Transzendenz und damit den Lebenssinn verloren habe.455 Im
„Frühlingstraum“ werden dennoch ein letztes Mal Illusionen beschworen, die sich
allerdings mit Desillusionierung abwechseln: Der Protagonist träumt „von bunten
453
Auffällig ist hier wieder die Ironie, mit der die Gesellschaft charakterisiert wird. Hierfür spricht nicht
nur die Wahl des Verbs „schnarchen“ – das Schubert in „schlafen“ abändern wird (vgl. SCHOCHOW,
Maximilian / SCHOCHOW, Lilly [Hrsg.]: Die Winterreise. In: Franz Schubert. Die Texte seiner einstimmig
komponierten Lieder und ihre Dichter, S. 406) –, sondern auch der Tonfall, in dem der Wanderer die aus
seiner Sicht völlig aussichtslosen Glückshoffnungen der Menschen beschreibt („Je nun, sie haben ihr Teil
genossen“; Z. 6).
454
Der Abgrund als Motiv erscheint in vielen Weltschmerz-Dichtungen (vgl. BOST, Harald: Der
Weltschmerzler, S. 333 ff.). Oft ist es eine Idylle, die sich durch den Verlust der Liebe für den
Weltschmerzler in diesen Abgrund verwandelt (vgl. ebd., S. 330 ff.).
455
WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 137.
85
Blumen“ (Z. 1), also von Naturidylle, und auch wieder von seiner verflossenen Liebe,
der „schönen Maid“ (Z. 14). Dazwischen jedoch erwacht er immer wieder, wobei er
sich jeweils schmerzlich seiner Realität, nämlich seiner Einsamkeit im kalten Winter,
bewusst wird. Die desillusionierende Erkenntnis, dass „kein Gott auf Erden“ sei, steht
am Ende des Gedichts „Mut!“ (Z. 11). Dies ist nicht zuletzt interessant im Hinblick
darauf, dass noch im ersten Gedicht von einem „Gott“ gesprochen worden war (Z. 22).
5. 4. 2. 2. 6 Todessehnsucht
Die Todessehnsucht bzw. Selbstmordneigung des Melancholikers wird diesem in
praktisch jeder Phase des Diskurses zugeschrieben. Die moderne Psychoanalyse
beschreibt z.B., wie gesagt, die „Suizidalität“ als ein wesentliches MelancholieSymptom.456 Sengles Hinweis, dass gerade in der Restaurationszeit, der Entstehungszeit
der „Winterreise“, ein frappierender Anstieg der Selbstmordrate in der deutschen
Bevölkerung habe verzeichnet werden müssen, wurde ebenfalls schon zitiert.457 Und in
der Literatur resultiert Bosts Theorie zufolge die Todesneigung der Weltschmerzler der
ersten Phase aus dem Wunsch, dem Einerlei ihres Daseins zu entfliehen458 (bei den
Weltschmerzlern der zweiten Generation erwachse der Wunsch zu sterben aus der
Wahrnehmung der Welt als Schmerz bzw. dem Verlangen, diesen Schmerz nicht mehr
fühlen zu müssen459).
Dass der Wanderer in der „Winterreise“ auffällig oft über den Tod reflektiert oder ihn
sich sogar wünscht, wurde nun schon öfter erwähnt. Klaus Günther Just beschreibt den
Weg des Wanderers als „Stationen auf einem todesnahen Wanderwege“; deshalb sei die
„Winterreise“, sowohl direkt wie indirekt, „als Passion strukturiert“.460
Zum ersten Mal angedeutet wird die Todessehnsucht im „Lindenbaum“, jenem
Gedicht, das vielleicht auf den ersten Blick Geborgenheit und Sicherheit vermittelt.
Doch bei genauerem Hinsehen erkennt man, dass der Wanderer hier mit dem Gedanken
an den Selbstmord spielt, zu dem ihn angeblich der Baum verführen will (darauf, dass
456
SCHMITT, Wolfram: Zur Phänomenologie und Theorie der Melancholie, S. 14.
Vgl. SENGLE, Friedrich: Biedermeierzeit. Deutsche Literatur im Spannungsfeld zwischen Restauration
und Revolution 1815-1848. Bd. I, S. 5.
458
Vgl. BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 129.
459
Vgl. ebd., S. 285 f.
460
JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S.
466. Just führt hierfür zwar keine detaillierten Argumente ins Feld, doch Roswitha Schieb, die seiner
Ansicht ist, versucht die Behauptung durch Textstellen zu belegen (SCHIEB, Roswitha: „Die schöne
Müllerin“ und „Die Winterreise“. Möglichkeiten und Grenzen romantischen Sprechens. In: Wilhelm
Müller. Eine Lebensreise, S. 57-69). Ihrer Meinung nach wird in der „Winterreise“ durch Anspielungen
auf die „Ölbergszene“ (ebd., S. 64) oder das Motiv der „krähenden Hähne“ (ebd., S. 65) ein Bezug zu
Christus hergestellt, wobei der Wanderer aber, der als Künstlerfigur aufzufassen sei, nicht wie Christus
von seinem Leid erlöst werde. Er stelle also eine „profane[...] Ecce-Homo-Figur“ dar: „Das Pathos dieser
Figur soll gerade darin bestehen, Unerlöstheit und Ziellosigkeit auf sich zu nehmen, zu durchleiden und in
heroischer Weise auszuhalten“ (ebd., S. 64).
457
86
es sich hierbei um eine Projektion des Wanderers handelt, wurde oben hingewiesen).
Allerdings ist er offenbar stark genug, der Verlockung zu widerstehen. Er schließt die
Augen, denn „He seeks to remain unaffected by the mysterious force of the tree“.461
Dass im Gedicht „Das Irrlicht“ der Tod gemeint ist, wenn vom „Ziel“ der
menschlichen Irrwege die Rede ist (Z. 6), wurde ebenfalls bereits deutlich.
Hervorzuheben wäre noch, dass auch in der letzten Strophe das Sterben thematisiert
wird. Jedoch klingen diese Worte weniger nach Todessehnsucht:
Durch des Bergstroms trockne Rinnen
Wind ich ruhig mich hinab –
Jeder Strom wird´s Meer gewinnen,
Jedes Leiden auch ein Grab (Z. 9-12).
Bei flüchtigem Hinsehen handelt es sich hierbei um eine schlichte Feststellung, die in
der ruhigen Gewissheit des Todes ausgesprochen wird. Doch genau genommen wird an
dieser Stelle ein Paradoxon formuliert: Ein ausgetrockneter Fluss wird das Meer
natürlich nicht erreichen; somit ist auch das Erlangen der Todesruhe noch weit entfernt.
In „Die Krähe“ hört sich die Bemerkung „Nun, es wird nicht weit mehr gehn / An dem
Wanderstabe.“ (Z. 9-10) ebenfalls eher sachlich an. Der Wanderer reflektiert ganz
einfach über das Sterben. Er begegnet der „vorgeblich tödliche[n] Bedrohung“ durch
die Krähe mit „ungeahnten Fatalismus“.462 Seine darauf folgende Aufforderung an das
Tier „Krähe, laß mich endlich sehn / Treue bis zum Grabe!“ (Z. 11-12) lässt wiederum
die Art von beißender, aus tiefer Verzweiflung resultierender Ironie erkennbar werden,
die schon in „Der greise Kopf“ aufgetaucht war.463
In diesem letztgenannten Gedicht wird die Todessehnsucht viel deutlicher und
dringlicher thematisiert: „Wie weit noch bis zur Bahre!“, klagt der Wanderer
verzweifelt (Z. 8). Ebenso unmissverständlich, wenn auch metaphorisch ausgedrückt,
wird die Todessehnsucht in „Der Wegweiser“ und „Das Wirtshaus“ ausgesprochen. Im
ersten dieser beiden Gedichte spricht der Wanderer von einem „Weiser“ (Z. 13), der
„Unverrückt vor meinem Blick“ stehe (Z. 14). Hieraus wird ersichtlich, wie
ununterbrochen der Todeswunsch seine Gedanken beherrscht. Der Friedhof, auf den
der Protagonist in „Das Wirtshaus“ gelangt (vgl. Z. 1-2), und zu dem ihn vielleicht der
Wegweiser aus dem vorigen Gedicht geführt hat, ist natürlich besonders dazu angetan,
461
COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 41.
WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 119.
463
Die Krähe kann im Volksglauben den Tod des Menschen voraussehen. Fliegt eine Krähe „krächzend
überm Haupt“, so gilt dies als Todessymbol (PEUCKERT: Art. „Krähe“. In: Handwörterbuch des deutschen
Aberglaubens. Hrsg. von Hanns BÄCHTOLD-STÄUBLI. Band V. Berlin und Leipzig 1932/33, Sp. 362).
Laut Cottrell ist die Krähe „the personification of the thoughts of meaninglessness and of death“
(COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 51).
462
87
seine Todessehnsucht weiter zu schüren; das „kühle Wirtshaus“ verlockt ihn (Z. 7-8).
Interessant ist, dass dies das einzige Gedicht im ganzen Zyklus ist, in dem der
Wanderer für seine Todessehnsucht den Ansatz einer Begründung liefert: „Bin matt
zum Niedersinken, bin tödlich schwer verletzt.“ (Z. 11-12), erklärt er. Er ist also müde,
ermattet, natürlich nicht nur von der Wanderung, sondern in Bezug auf das Leben
insgesamt, doch konkreter äußert er sich nicht. Auch den Grund seiner Verletzung gibt
er nicht an. Die Wahrscheinlichkeit, dass er damit seinen Liebeskummer, also die
Verletzung, die das Mädchen ihm zugefügt hat, meint, ist gering. Wie schon erläutert,
wird dieses Erlebnis im Verlauf des Zyklus immer seltener erwähnt; die Trauer des
Wanderers über seinen Verlust verwandelt sich in Melancholie.
Schmid Noerr stellt die provokative These auf, dass der Wanderer in der „Winterreise“
nicht nur selbst sterben, sondern auch „seine Geliebte, die Liebe selbst, zu Grabe
tragen“ wolle. Dies zeige sich darin, dass er im ersten Gedicht den Gruß „Gute Nacht“
ans Tor schreibe (Z. 29-30): Er wolle sie so auf Dauer der Nacht überantworten.
Er spricht die Schlafende an, die ihn, gleich einer Toten, nicht hört, er
verschließt sacht die Türe, gleich dem Deckel eines Sarges, er setzt
darüber schließlich eine Inschrift, gleich der auf einem Grabstein, die
davon zeugt, daß er der Toten gedacht hat. Noch jenes Bild der „irren
Hunde“ wird so im nachhinein plausibel. Denn wahrhaft irre,
scheinbar zwecklos und ohne Ende, können Hunde am Grab ihres
Herrn heulen.464
Dieser Ansatz kommt einer Überinterpretation gleich. Schmid Noerr liefert nämlich
keinerlei Begründung dafür, warum der Wanderer sein Mädchen „zu Grabe tragen“
wolle. Der verlassene Held hegt vielmehr offenbar gar keinen Groll gegen seine
Geliebte, was eigentlich erstaunlich ist, da sie ihn ja enttäuscht hat. Auch verzichtet
Schmid Noerr leider darauf, den restlichen Zyklus in seine Überlegungen
einzubeziehen. Wenn man dies tut, erkennt man nämlich, dass im Werk immer nur vom
Wanderer und seiner Todessehnsucht die Rede ist und er seines Mädchens allenfalls in
schmerzvoller Erinnerung gedenkt, wobei keine Andeutung auf einen auf sie bezogenen
Todeswunsch auftaucht. Der Fokus des Zyklus liegt einzig auf dem Innenleben, der
psychischen Entwicklung des Protagonisten.
5. 3. 2. 2. 7 Nihilismus
Ein letztes Motiv der „Winterreise“, das hier untersucht werden soll, und das als
besonders weltschmerztypisch angesehen werden kann, ist das Motiv des Nihilismus.
Wie oben erklärt, hat der Nihilismus allgemein seine Ursache im immer weniger
464
SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 391.
88
christlich orientierten Weltbild des Menschen, der sich stattdessen zunehmend
wissenschaftlich ausrichtet und in diesem Zuge die Existenz Gottes nicht mehr
anerkennt. Melancholie bzw. Weltschmerz und Nihilismus gehören demnach untrennbar
zusammen. „Angst, Verzweiflung, Langeweile, Melancholie aus der Einsicht in die
Sinnlosigkeit und das ewige Einerlei der Existenz sind gleichbedeutend mit der Einsicht
in eine Weltordnung ohne Gott, d.h. in die Absurdität und das Chaos der Welt“.465
Melancholie bzw. Weltschmerz zeichnen auch den Wanderer im Verlauf seiner
„Winterreise“ in zunehmendem Maße aus. Damit ist folglich auch verbunden, dass das
Gefühl, ein sinnloses Dasein zu führen, immer stärker in ihm wächst. Der Wanderer
wird während seiner Reise zum Nihilisten.
Die Desillusionierung, die in „Das Irrlicht“ zutage tritt, kann man z.B. bereits als
Nihilismus lesen: Die Aussage „Unsre Freuden, unsre Wehen, / Alles eines Irrlichts
Spiel!“ (Z. 7-8) bedeutet nichts anderes, als dass dem Leben jeglicher Sinn
abgesprochen wird. Der Wanderer glaubt nicht daran, dass ein Gott existiert, der einen
Plan für diese Welt oder gar für den einzelnen Menschen hätte; für ihn ist das ganze
Leben nur Täuschung, Vortäuschen eines tatsächlichen Lebenssinns. Deshalb wünscht
er sich, wie gesagt, in „Die Nebensonnen“ den Untergang der Sonne („Ging´ nur die
dritt erst hinterdrein! / Im Dunkel wird mir wohler sein“; Z. 9-10), also den
Weltuntergang.466 Doch dieser Wunsch wird in der ganzen „Winterreise“ nicht erfüllt.
Dorschel weist deshalb darauf hin, dass in der „Winterreise“ selbst diejenigen
„Instanzen“ zurückgewiesen würden, die von der Romantik eigentlich zur
Kompensation „der Wunden, welche die Aufklärung geschlagen hatte“, aufgerufen
worden seien (gemeint sind solche Instanzen wie der Tod oder Träume).467 Der Tod
besitzt hier also nicht nur keine Erlöserfunktion – er tritt nicht einmal ein.
Die Andeutung der Leugnung Gottes, die in „Das Irrlicht“ bereits angeklungen war,
wird in „Mut!“ noch einmal ganz deutlich ausgesprochen: „Will kein Gott auf Erden
sein, / Sind wir selber Götter!“ (Z. 11-12). Interessant ist, dass der Wanderer in der
Pluralform spricht – dies könnte eine Anspielung auf die weite Verbreitung des
Nihilismus zur Entstehungszeit der „Winterreise“ darstellen. Er kann und will nicht an
die Existenz Gottes glauben, doch um diese Sinnlehre ertragen zu können, muss er sie
verdrängen: „Wenn mein Herz im Busen spricht, / Sing ich hell und munter“ (Z. 3-4),
465
BOST, Harald: Der Weltschmerzler, S. 148.
Es soll an dieser Stelle Zencks abstraktere Interpretation der „drei Sonnen“ erwähnt werden, der darin
die „auch sozialontologisch zu verstehenden Kategorien von Glaube, Liebe und Hoffnung“ sieht (ZENCK,
Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“. In: Archiv für
Musikwissenschaft. Hrsg. von Hans Heinrich EGGEBRECHT. 44. Jahrgang 1987. Stuttgart 1987, S. 160).
467
DORSCHEL, Andreas: Wilhelm Müllers „Die Winterreise“ und die Erlösungsversprechen der
Romantik. In: The German Quarterly. From Goethe to Thomas Mann and Beyond. Hrsg. von Reinhold
GRIMM. Bd. 66, Nr. 4, Herbst 1993. Cherry Hill, New York, USA 1993, S. 470.
466
89
„Klagen ist für Toren“ (Z. 8). Cottrell betont, wie modern diese in „Mut!“ behandelten
Gedanken sind.468 Inwiefern diese Entwicklung des Protagonisten hin zu einem
kompletten Verlust von Sinn, Hoffnung und Transzendenz, der sich im Laufe der
„Winterreise“ immer stärker abzeichnet, im letzten Gedicht, „Der Leiermann“,
kulminiert oder vielleicht wieder eine Wendung erfährt, wird weiter unten noch
untersucht.
Günter Hartung469 sieht übrigens im Nihilismus und Atheismus der „Winterreise“ auch
eine Ausprägung des Weltschmerzes470; er behauptet jedoch wie Emil Staiger (s.o.),
Wilhelm Müller habe die „Winterreise“ nicht aus dem persönlichen Erleben dieses
Lebensgefühls heraus geschaffen, sondern nur dessen „zeittypische Bedeutung“
wahrgenommen und ihn künstlerisch verarbeitet471 (die im Kapitel über Wilhelm
Müller angeführten Argumente dürften dies jedoch widerlegen). Müller sei in dieser
Hinsicht aber stark von den nihilistischen und atheistischen Tendenzen im Werk Lord
Byrons beeinflusst worden.472
Insgesamt lässt sich sagen, dass die einzelnen Gedichte der „Winterreise“ durch
verschiedene,
den
Wanderer
charakterisierende
und
teilweise
untereinander
zusammenhängende Motive verknüpft sind, die sich klar auf den Melancholie-Diskurs
beziehen. Durch dieses Mittel wird Kohärenz zwischen den Texten hergestellt. Die
Kohärenz als ein wesentliches zyklisches Merkmal ist somit auf motivischer Ebene
gegeben.
468
Vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 63. Es soll hier auch auf die etwas
kühne These Schiebs verwiesen warden, die den Wanderer, den Leiermann und die Krähe – letztere sieht
sie einander durch das ihnen gemeinsame Adjektiv „wunderlich“ zugeordnet – als „weltliche[...] Trinität“
bezeichnet, die quasi anstelle des als nicht existent erkannten Gottes „unerkannt auf der Erde
vagabundiert“ (SCHIEB, Roswitha: „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 69). Leider werden
für diese Behauptung, abgesehen von dem Hinweis auf das gleiche Adjektiv „wunderlich“, keine
Begründungen geliefert.
469
HARTUNG, Günter: Wilhelm Müller und das deutsche Volkslied. In: Weimarer Beiträge. Zeitschrift für
Literaturwissenschaft, Ästhetik und Kulturtheorie. 23. Jahrgang, Heft 5, 1977. Berlin 1977, S. 46-85.
470
Vgl. ebd., S. 78.
471
Ebd., S. 74.
472
Vgl. ebd., S. 78. Vgl. auch GAD, Gernot: Wilhelm Müller. Selbstbehauptung und Selbstverleugnung,
S. 123 ff. Gad verweist auf ein mit „Good Night“ betiteltes Gedicht Byrons, auf das Müller sich mit
seinem Gedicht „Gute Nacht“ bezogen habe (vgl. ebd., 129 f.). Vor allem jedoch habe die „atheistische,
amoralische Tendenz mancher Stücke“ Byrons Müller geprägt (ebd., S. 127). Gad bemerkt außerdem,
dass auch Gryphius Müllers Werke entscheidend beeinflusst habe. So finde sich z.B. die Wendung „Gute
Nacht“ in vielen von Gryphius´ Werken (vgl. ebd., S. 125), was sich jeweils als „der letzte Gruß des
Sterbenden oder Weltflüchtigen“ darstelle (ebd., S. 126); Müllers Gedicht „Gute Nacht“ weise mehrere
Anklänge auch an andere Gryphius-Gedichte auf. Bei Gryphius wie auch in der „Winterreise“ würden
zudem „Welt und Leben von der Nachtseite“ betrachtet. Der „religiöse Skeptizismus“ Müllers lasse sich
aber dennoch eher auf Byron zurückführen (ebd., S. 127).
90
5. 3. 3 Mittelpunktsbezogenheit: Thematisches Zentrum Wanderschaft
Wie oben ausgeführt, besteht ein wichtiges Merkmal des Kreises darin, dass er einen
Mittelpunkt besitzt, zu dem alle auf der Kreislinie liegenden Punkte den gleichen
Abstand besitzen, sich also auf ihn beziehen. Im Falle des Gedichtzyklus würde dies
dem Vorhandensein eines motivisch-thematischen Zentrums entsprechen, das in allen
Gedichten vorherrscht und diese so miteinander verbindet.
Man wird schwerlich bezweifeln können, dass die „Winterreise“ ein solches Zentrum
besitzt: Das Motiv der Wanderschaft erfüllt diese Funktion, da es in beinahe jedem
Gedicht thematisiert wird.473
Nun stellt das Wandern einerseits ein typisch romantisches und deshalb in dieser
Epoche oft verwendetes Motiv dar: Roland Lambrecht führt aus, dass man den
Wanderer, und zwar speziell den Wanderer, der ziellos auf der Suche nach Glück und
Erfüllung umherirrt und doch nichts von beidem findet, als „Zentralgestalt romantischer
Kunstproduktion“ bezeichnen könne.474 Auch laut Hans Joachim Kreutzer entspricht
das Wander-Thema einem „Epochensignum“ der Romantik.475
Doch das Wandermotiv ist in der „Winterreise“ sogar noch mehr als „nur“ ein
romantisches Motiv. Man kann nämlich auch auf dieser Ebene wieder eine Verbindung
zur Melancholie-Thematik herstellen, ist doch das Reisen bzw. Wandern, wie oben
erläutert, ein traditionelles Melancholie-Symptom, und zwar schon seit der Antike.
Ein Melancholie-Heilmittel, als das es ja zu manchen Zeiten auch gilt, ist das Reisen
hier hingegen kaum. Der Wanderer in der „Winterreise“ bricht nicht auf, um Linderung
seines Schmerzes oder Zerstreuung im Reisen zu finden. Im Gegenteil: Er muss
aufbrechen („Ich kann zu meiner Reisen / Nicht wählen mit der Zeit“; Nr. 1, Z. 9-10),
man hat ihn ja aus dem Haus der Geliebten hinausgetrieben. Und je länger er dann
unterwegs ist, desto mehr verschlimmert sich seine Melancholie, da er nirgends
ankommt, sondern immer fremd bleibt (dies klingt sogar bereits in den ersten beiden
Zeilen des Werks an: „Fremd bin ich eingezogen, / Fremd zieh´ ich wieder aus“; Z. 12).
Das Wandermotiv wird aber in der „Winterreise“ nicht nur im Sinne eines
Melancholie-Symptoms durchgeführt, sondern es wird sogar regelrecht pervertiert. Der
Protagonist bricht nämlich nicht nur in den Winter auf, sondern auch noch in die Nacht.
Er wird damit, so Bosse und Neumeyer, „gleich doppelt in die Zeit der Melancholie
473
Vgl. hierzu z.B. auch: WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz, S. 62. Wittkop bezeichnet das
Motiv der Wanderschaft in Verbindung mit dem Motiv des Winters als das „zentrale Thema“ des Zyklus.
474
LAMBRECHT, Roland: Der Geist der Melancholie, S. 96.
475
KREUTZER, Hans Joachim: Produktive Symbiosen, S. 160.
91
entlassen“.476 Dies widerspricht natürlich völlig der Intention der populären
Wanderlieder, die in dieser Zeit auch entstehen, und die eine positive Grundstimmung
des Aufbruchs besitzen. Wilhelm Müllers Zyklus bzw. speziell das erste Gedicht „Gute
Nacht“ stellt somit den „Antitypus aller bisherigen Aufbruchslieder“ dar.477
5. 3. 4 Geschlossenheit
Die Frage, ob die „Winterreise“ Geschlossenheit besitzt, d.h. ob ihr Anfang und ihr
Ende miteinander verknüpft sind oder sogar ineinander fallen, ist auf der Textebene
ziemlich eindeutig zu beantworten, eröffnet aber zugleich verschiedene Möglichkeiten
zu abstrakteren Deutungen.
Ich behaupte, dass Anfang und Ende der „Winterreise“ insofern miteinander verknüpft
sind, als sich an das Ende immer wieder der Anfang anschließen, sie also immer wieder
von vorne beginnen könnte. Das bedeutet, dass man das Werk gemäß der obigen
Definition nicht nur als Kreis, sondern eben auch als Kreislauf auffassen kann.
Grundlage für diese Behauptung sind die Fragen, die der Wanderer im letzten Gedicht
an den Leiermann richtet:
„Wunderlicher Alter,
soll ich mit dir gehn?
Willst zu meinen Liedern
deine Leier drehn?“ (Z. 17-20).
Man könnte hinter dieser Frage nämlich den Entschluss des Wanderers vermuten, mit
dem Singen seiner Lieder nun wieder von vorne zu beginnen, wenn auch diesmal
sozusagen mit Begleitung durch den Leiermann. Auch Bosse und Neumeyer sind
dieser Auffassung. Sie meinen, die „Winterreise“ sei insofern zyklisch, als es im
ganzen Werk darum gehe, einen nie endenden Schmerz, ein Gefühl des Mangels, in
unterschiedlichen Situationen immer wieder auszusprechen.478 Aus diesem Grund
bezeichnen sie den Text des Werkes auch als „anfangslose, also endlose Leidrede der
Melancholie“479. Bosse und Neumeyer weisen übrigens an dieser Stelle auch auf die
oben skizzierten Beobachtungen Sigmund Freuds hin, der ja dem Melancholiker eine
ausgeprägte Mitteilsamkeit attestiert. Genau dieses Bedürfnis, sich ständig mitteilen zu
476
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 124. Es ist bemerkenswert, wie
schon im Entwurf der Kulisse für die „Winterreise“ auf den Melancholie-Diskurs Bezug genommen wird,
nämlich einerseits durch die dem Melancholiker traditionell zugeordnete Jahreszeit des Winters, sowie
andererseits durch die mit der Melancholie in Verbindung gebrachte Farbe Schwarz, die der Dunkelheit
der Nacht entspricht.
477
Ebd., S. 124.
478
Vgl. ebd., S. 157. Vgl. auch: SMEED, J.W.: ‚Strange old man’. Thoughts on the closing lines of
Winterreise. In: German Life & Letters. A quarterly Review. Hrsg. von G. P. G. BUTLER u.a. Bd. 45,
1992. Oxford u. Cambridge 1992, S. 109-113. Hier heißt es: „Indeed, the point made in ‚Der Leiermann’
is that he must endlessly repeat and relive his suffering in song“ (ebd., S. 109).
479
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 131.
92
wollen, werde auch in der „Winterreise“ realisiert: Der Wanderer wolle seine
Verzweiflung ständig wiederholen.480 Man könnte an dieser Stelle einwenden, dass der
Melancholiker in der Tradition doch eher als einsamer und deshalb verschwiegener
Menschentyp gelte. Wagner-Egelhaaf etwa argumentiert in diesem Sinn.481 Allerdings
ist zu beachten, dass dieses Charakteristikum der Verschwiegenheit nicht in allen
Phasen der Geschichte der Melancholie auftaucht; in der Empfindsamkeit etwa wird
die Melancholie zu einem der beliebtesten Motive der Literatur und somit, wie bereits
ausgeführt, zu etwas „Besprochenem“. Die Mitteilsamkeit des melancholischen
Subjekts kommt hier also sehr deutlich zum Tragen.
Was in diesem Zusammenhang auch berücksichtigt werden muss, ist die Tatsache, dass
der Wanderer in der „Winterreise“ ja keine Dialoge mit anderen Menschen führt,
sondern entweder mit sich selbst, mit Tieren oder mit der Natur spricht (s.o.). Man
könnte also sagen, dass er mitteilsam und verschwiegen zugleich ist: Er möchte seine
Klagen fortwährend zum Ausdruck bringen, aber er hat dabei nie ein menschliches
Gegenüber.
Dem endlosen Klagen des Wanderers entspricht nun auch das endlose Drehen der Leier
durch den Leiermann. Bosse und Neumeyer stellen die These auf, dass Wanderer und
Leiermann einerseits identisch seien: Der Leiermann sei „die fixierte Figur“ des Elends
des Wanderers.482 Andererseits würden die Fragen, die der Wanderer an den Leiermann
richte, aus seiner Erkenntnis erwachsen, dass ihm die Töne fehlen (so wie dem
Leiermann die Worte fehlen).483 Durch den angedeuteten Zusammenschluss der beiden
würden sie einander vervollständigen; „der fahrende Sänger“ werde „re-komponiert“.
Und so stelle das Schlussgedicht „nichts Geringeres in Aussicht, als daß die Lieder neu
anheben und die während der Winterreise gesungenen Lieder nun als ‚Winterreise’
gesungen werden. Wenn wir demnach überhaupt von einer Zyklik bei Müller sprechen
können, dann handelt es sich um einen Liederzyklus, der wie die endlose Rede der
melancholischen Poesie verlangt, am Ende abermals anzufangen“.484 Was man hierbei
480
Vgl. ebd.
Vgl. WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur, S. 206.
482
BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 158. Die Affinität zwischen
Wanderer und Leiermann hebt auch Smeed hervor, indem er darauf hinweist, dass beide im Zyklus als
„unreasonable eccentrics“ dargestellt würden: Ersterer habe z.B. „foolish dreams“ (in „Frühlingstraum“)
oder isoliere sich selbst, was völlig irrational sei (in „Der Wegweiser“), der Leiermann drehe seine Leier
ohne jede Aussicht auf Erfolg oder Anerkennung (SMEED, J.W.: ‚Strange old man’, S. 111). Deswegen
werde letzterer auch als „wunderlicher Alter“ angesprochen (vgl. ebd., S. 112).
483
Vgl. BOSSE, Heinrich / NEUMEYER, Harald: Da blüht der Winter schön, S. 157.
484
Ebd., S. 158. Wie oben schon angesprochen, behaupten Bosse und Neumeyer, Müller habe mit der
„Winterreise“ „ein Konkurrenzunternehmen zu Goethes Winterwanderschaften“ (ebd., S. 140) – gemeint
ist die „Harzreise im Winter“, wobei auch noch weitere Bezüge zu anderen Werken Goethes angedeutet
werden – starten wollen: Bei Goethe gehe es auch um einen melancholischen Wanderer, wodurch
zwischen beiden Werken „ein enger thematischer Bezug“ bestehe (ebd., S. 142). So seien z.B. beide
481
93
allerdings beachten muss, ist die Tatsache, dass der Wanderer im Lauf des Zyklus ja
eine Entwicklung durchgemacht hat: Wenn er seine Lieder nun von vorne beginnt,
dann tut er dies also in einem veränderten Bewusstseinszustand. Die Idee Joachim
Müllers, dass das Thema eines Zyklus eine Spirale durchschreite und das „thematische
Apriori“ so „am Ende [...] auf einer höheren Stufe zu sich selbst zurück“ komme485,
scheint in der „Winterreise“ also durchaus zutreffend zu sein. Ähnlich sieht dies
Ludwig Stoffels, für den die „Winterreise“ aus drei Teilen besteht, an deren Beginn
jeweils ein „Aufbruchimpuls“ nach vorangegangenem „Rastmotiv“ steht.486 Der
„Leiermann“, der „wichtige thematische Stränge“ verknüpfe487, sei als letzter Aufbruch
zu verstehen, durch den sich der Kreis schließe.488 Das Schlussgedicht schlage somit
den Bogen zum Beginn. „Die Hauptachse der Wanderung [...] durchläuft einen dreifach
sich zusammenziehenden Spiralgang489, dessen erstes und letztes Gedicht [...] einen
rahmenbildenden Kreis schließen.“ Auch nach Stoffels Meinung werden am Schluss
„Winterreise und Lieder wesensidentisch“.490
Was bei Bosse und Neumeyer auch anklingt, ist die Idee, den „Leiermann“ als
poetologisches Gedicht zu verstehen, indem es auf das Künstlertum des Wanderers
bzw. des Leiermanns bezogen wird. In Anlehnung an Loquais Erkenntnisse (vgl. das
Kapitel zur Melancholie in der romantischen Literatur) könnte man diesen Gedanken
noch weiter ausführen. Man könnte Wanderer und Leiermann ganz konkret als
romantische, melancholische und deshalb isolierte bzw. sich selbst isolierende Künstler
verstehen: Sie werden von der Gesellschaft nicht verstanden, ja man will sie noch nicht
einmal hören, aber dennoch lassen sie nicht von ihrer Kunst ab. Aus diesem Gefühl der
eigenen Nutzlosigkeit des Künstlers erklärt Loquai auch dessen Neigung zur
Heimatlosigkeit bzw. zum Wandern: Er wolle durch die Welt reisen, um dem ständigen
Gefühl des Nicht-gebraucht-Werdens zu entkommen.491
Wandererfiguren von Schmerzen und Menschenhass – also wesentlichen Melancholie-Symptomen –
bestimmt. Während jedoch Goethe seine Winterreise als Heilmittel gegen Melancholie betrachte, liefere
Müller den Gegenentwurf: Bei ihm verursache diese Reise, wie gesagt, die „endlose Leidrede der
Melancholie“ (ebd., S. 131). Dies sei zugleich einer der wesentlichen Unterschiede zu Goethe: Bei
letzterem werde der Melancholiker aus der „Geschichte der dichterischen Rede“, welche die „Harzreise“
erzähle (ebd., S. 156), ausgeschlossen. Vor allem jedoch beinhalte Goethes Werk, anders als Müllers
Zyklus, eine Rückkehr an ein Ziel (vgl. ebd., S. 148).
485
MÜLLER, Joachim: Das zyklische Prinzip in der Lyrik S. 8
486
STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 117.
487
Ebd., S. 118.
488
Vgl. ebd., S. 120.
489
Hier bezieht sich Stoffels auf Joachim Müller.
490
STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 119.
491
Vgl. LOQUAI, Franz: Künstler und Melancholie in der Romantik, S. 116 ff. Von einer Utopie, wie sie
laut Loquai in vielen romantischen Künstlergeschichten aufscheint, ist hier allerdings nicht mehr viel zu
spüren.
94
Dorschel geht hier noch einen Schritt weiter: Er sieht im letzten Gedicht auch das
Schicksal des zwar selbstbestimmten, aber von der Gesellschaft nicht gebrauchten und
deshalb ausgeschlossenen Künstlers vorgeführt. Allerdings kommt in seinen Augen
noch im Gedicht „Mut!“, nämlich durch die Zeilen „Will kein Gott auf Erden sein, /
Sind wir selber Götter“ (S. 11-12) das Selbstverständnis des romantischen Künstlers
zum Ausdruck, der sich als göttliche Gestalt betrachte.492 Da diese Sichtweise im
letzten Gedicht negiert werde, sieht Dorschel darin „eine Destruktion der romantischen
Kunstreligion“.493 Die Dichtung als das Medium, in dem Müller sich ja auch selbst
ausspreche, werde hier also einerseits hinterfragt, andererseits aber als letzte
Möglichkeit stehen gelassen, „den unversöhnten Zustand der Welt“ überhaupt noch
ausdrücken zu können. Die Dichtung wird „zum Gegenstand einer wahrhaft
verzweifelten Hoffnung“.494 Ähnlicher Meinung ist in dieser Frage Roswitha Schieb,
die im „Leiermann“ auch die „Grenzen und Möglichkeiten lyrischen Sprechens“
vorgeführt sieht495, die aber in Wilhelm Müller einen Dichter erkennt, der den
romantischen Ausdruck noch immer hüte und „in heroischer Weise zu bearbeiten“
versuche, obwohl er seine „Kraftlosigkeit“ erkannt habe und darum trauere.496
Nicht zuzustimmen ist dem Ansatz im Schubert Handbuch, in dem am Ende der
„Winterreise“ einfach ein „Nichts“, ein „Stillstand“ oder eine „Leere“ angenommen
wird497 (wobei hier ein musikalisches Argument, nämlich der Quintklang am Ende von
„Der Leiermann“, mit einbezogen wird498). Es wird hier sogar die Frage offen gelassen,
ob das Ende der „Winterreise“ vielleicht positiv zu interpretieren sei.499 Dies wäre aber
höchstens dann denkbar, wenn man die Verbindung mit dem Leiermann, die sowohl
diesen als auch den Wanderer um das jeweils fehlende Ausdrucksmedium – die Worte
bzw. die Töne – ergänzt, als Chance im Sinne einer gegenseitigen Vervollkommnung
verstehen würde. Doch ob dies angesichts der grotesken Stimmung des letzten
Gedichts eine akzeptable Deutung ist, ist fraglich.
Noch einen anderen Ansatz zum Verständnis des Schlusses der „Winterreise“, der aber
ebenso wenig zufrieden stellend ist, bringt Walther Dürr. Er bezeichnet hier nämlich
den Leiermann als „Todesboten“, der den Wanderer zwar nicht erlöse, seinem Weg
492
DORSCHEL, Andreas: Wilhelm Müllers „Die Winterreise“ und die Erlösungsversprechen der
Romantik, S. 471 f.
493
Ebd., S. 473.
494
Ebd., S. 473.
495
SCHIEB, Roswitha: „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S. 68.
496
Ebd., S. 69.
497
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 240.
498
Vgl. ebd., S. 256.
499
Vgl. ebd. Da auch diese Überlegung durch den erwähnten Quintklang begründet wird, soll hierauf im
Zusammenhang mit der Betrachtung der Komposition noch einmal zurückgekommen werden.
95
aber durch den diesseitigen Tod ein deutliches Ende setze.500 Diese Ansicht steht in
ziemlich deutlichem Gegensatz zu der Meinung Bosses und Neumeyers, die ein
Ankommen des Protagonisten, ob im diesseitigen Tod oder in einem Jenseits, für
ausgeschlossen halten. Vom Tod des Wanderers wird ja im Text auch keineswegs
explizit gesprochen. Der zyklischen Anlage der „Winterreise“ entspricht diese
Annahme Bosses und Neumeyers auch eher als die Überzeugung, dass der Wanderer
am Schluss an ein wie auch immer geartetes Ziel gelange.
Die Deutung des Leiermanns als Todessymbol wäre allenfalls dann denkbar, wenn man
die Deutung auf eine noch abstraktere Ebene bringen würde. Man könnte z.B. den
Wanderer als „pars pro toto“ für die gesamte Menschheit („als Erdensohn in seinem
abgründigen Leiden an der Welt schlechthin“501) verstehen (hierfür spräche auch
wiederum die Pluralform in „Mut!“: „wir“; Z. 12), die ein sinnloses, auf kein Ziel
hingerichtetes Dasein führt und hierbei ständig von Schmerz, Leid und Melancholie
begleitet wird. Den Tod könnte man dann ebenfalls als ständigen Begleiter der
Menschheit verstehen, der nicht in ein Jenseits der christlichen Hoffnung führt, sondern
ins Nichts. Dies entspräche dann genau der nihilistischen Haltung, die auch speziell in
den Gedichten „Die Nebensonnen“ und „Mut!“ transportiert wird.
5. 4 Die zyklischen Merkmale der Komposition
Da gezeigt werden konnte, dass der Text der „Winterreise“ hinsichtlich mehrerer
Merkmale zyklisch strukturiert ist, stellt sich nun natürlich die Frage, inwieweit eine
solche zyklische Anlage auch auf musikalischer Ebene nachgewiesen werden kann. Es
wird von der These ausgegangen, dass Schubert seine Vertonung des Werks ebenso
streng zyklisch konzipiert wie der Dichter es mit seinen Texten getan hatte. Hierfür wird
die Komposition nun im folgenden auf die gleichen Kriterien hin überprüft wie die
Dichtung.
Natürlich muss beachtet werden, dass der Komponist anfangs nur die ersten 12 Lieder
des Zyklus vertont hatte und diese dann erst später um die Stücke 13-24 erweiterte.
Stoffels behauptet deshalb, dass der erste Teil in sich fester gefügt sei, während der
zweite Teil nur eine Fortsetzung desselben darstelle, der tonale, motivische und andere
Anklänge an die Lieder 1-12 enthalte; der Gesamtzyklus aller 24 Lieder sei insgesamt
aber lockerer konzipiert als der erste Teil.502 Hierbei ignoriert Stoffels jedoch die
500
DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 150. Auch Dürr lässt
übrigens offen, ob man das Ende der „Winterreise“ evtl. positiv interpretieren könnte (vgl. ebd., S. 150).
501
JUST, Klaus Günther: Wilhelm Müllers Liederzyklen „Die schöne Müllerin“ und „Die Winterreise“, S.
466.
502
Vgl. STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 185.
96
Transposition des Liedes „Einsamkeit“ (Nr. 12, S. 155 ff.) von d-Moll nach h-Moll, die
von Schuberts eigener Hand stammt und mit ziemlicher Sicherheit von dem Bestreben
motiviert war, den ersten und zweiten Teil stärker zu verbinden, was wiederum für den
von mir behaupteten strengen zyklischen Zusammenhalt des gesamten Liederzyklus
spricht (darauf wird aber weiter unten noch genauer eingegangen).503
5. 4. 1 Linearität
Auch bei der Untersuchung des Liederzyklus auf das Kriterium der Linearität hin
könnte man, wie oben schon angedeutet, zunächst in Zweifel geraten, ob dieses
angesichts der unterschiedlichen Reihenfolge der Gedichte bzw. Lieder überhaupt
erfüllt sein kann.
Und tatsächlich haben wir es im Falle der Komposition zwar auch mit einer linearen
Anlage zu tun – denn auch hier wird eine Entwicklung des Protagonisten erkennbar –,
aber es kann wohl nicht bestritten werden, dass Franz Schubert offenbar Modifikationen
gegenüber seiner dichterischen Vorlage vornimmt. Die Behauptung Dürrs, Schubert
habe die Struktur der Dichtung verändert und somit das Werk „umgeschaffen“, wurde
oben bereits angesprochen und soll nun noch einmal ausführlicher untersucht werden.
Dürr weist darauf hin, dass Schubert sich wohl an Müllers Ordnung zunächst einfach
deshalb nicht gehalten habe, weil er die kompositorische Einheit seiner ersten 12 Lieder
nicht habe zerstören wollen.504 Doch hierbei sei es ihm offenbar nicht nur um
musikalische (z.B. tonartliche), sondern auch um inhaltliche Verbindungen zwischen
den Liedern gegangen: Die Lieder seien „derart in sich strukturiert, daß jede Einfügung
das Konzept verunklaren“ müsse. Der Weg des Wanderers führe „von außen nach
innen, von der realen Welt in eine ideale“. Dabei scheine am Ende des ersten Teils noch
eine romantische Utopie „rosige[r] Unendlichkeit“ auf505: Das Lied „Einsamkeit“ lasse
die Möglichkeit offen, doch noch einen „Weg in das Jenseits und in das Reich der
Utopie“ zu finden.506 Am Ende des zweiten Teils, der zuerst mit dem ersten parallel
laufe, indem er ihn durch die Wiederaufnahme einzelner Aspekte gleichsam
kommentiere, mit den letzten fünf Liedern dann aber über ihn hinaus führe, sei davon
503
Der Grund, weshalb ich mich bei diesem Kapitel v.a. auf die Studien Elmar Buddes (BUDDE, Elmar:
Schuberts Liederzyklen) und Arnold Feils (FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin.
Winterreise) berufe und Stoffels ausführliches Kapitel zur zyklischen Anlage von Schuberts
„Winterreise“ (STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S.
178-201) nur gelegentlich zitiere, liegt schlicht darin, dass Letzterer meiner Meinung nach übertreibt,
indem er versucht, jedes noch so kleine Detail in ein starres Schema zu pressen (die unzähligen Grafiken
und Tabellen, die seine Arbeit durchziehen, sprechen hier wohl für sich). Die beiden anderen, wesentlich
lockerer gehaltenen Abhandlungen scheinen der Wahrheit deshalb um einiges näher zu kommen.
504
Vgl. DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 269.
505
Ebd., S. 270.
506
Ebd., S. 276.
97
jedoch nichts mehr zu spüren: „der Weg nach innen führt ans Ende“.507 Im Lied „Der
Leiermann“ (Nr. 24, S. 189 ff.) sei der Wanderer in der Einsamkeit des irdischen Todes
angekommen, jegliche Hoffnung auf ein besseres Jenseits werde negiert.508 Interessant
ist Dürrs Bemerkung, der Weg des Wanderers sei – eigentlich wieder ganz im Sinne
Joachim Müllers – wie eine „Spirale“ beschaffen: Man blicke im zweiten Teil des
Zyklus „aus gleichsam erhöhtem Stand zurück“, da der Wanderer im ersten Teil die
Einsamkeit erfahren habe.509
Dürrs Ausführungen mögen durchaus zutreffend sein. Die Tatsache, dass Müllers
Gedichten keine detailgenau nachvollziehbare Handlung zugrunde liegt, macht kleinere
Veränderungen in Bezug auf die Darstellung der Entwicklung des Protagonisten
durchaus möglich. Doch es bleibt die Frage, worin die fundamentalen Umdeutungen
der Dichtung, die Dürr behauptet, bestehen sollen. Die Entwicklung des Wanderers von
einem unglücklich Liebenden bis hin zu einem Menschen, der jeglichen Sinn und jedes
Transzendenzgefühl verloren hat, wurde bereits auf der Textebene sichtbar. Schubert
mag die Struktur leicht abgeändert haben (der Hinweis auf die neue Perspektive im
zweiten Teil des Liederzyklus ist zum Beispiel eine kluge Beobachtung Dürrs). Aber
ganz grundsätzlich wird in beiden Fällen immer noch die gleiche Entwicklung
beschrieben. Den Wert der Gedichte oder die Leistung Müllers abzuqualifizieren, wie
Dürr es tut, indem er behauptet, Schubert habe mit seinem Liederzyklus etwas Neues
geschaffen, beschreibe den Weg des Wanderers „deutlicher“510, und habe sich dabei
überhaupt nicht um die Intention des Dichters gekümmert511, erscheint deshalb
unangebracht.512 Es ist in dieser Frage also eher Fischer-Dieskau zuzustimmen, der der
Überzeugung
ist,
Schubert
habe
„jeden
selbstherrlichen
Eingriff
in
die
Gedichtaussagen“ unterlassen.513
507
Ebd., S. 270.
Vgl. ebd., S. 277.
509
Ders.: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 147.
510
Ders.: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 277.
511
Vgl. ebd., S. 270.
512
Budde ist in dieser Hinsicht Dürrs Meinung und verkennt auch wie dieser den Wert der Texte, wenn er
etwa ausführt, Schubert habe die „offene und in jeder Hinsicht ziellose poetische Disposition des
Müllerschen Gedichtzyklus [...] auf geradezu radikale, die poetische Vorlage weit hinter sich lassende
Weise in Musik verwandelt“ (BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 67 f.). In eine ähnliche Richtung
geht der Aufsatz Hans Brandenburgs von 1958 mit dem merkwürdigen Untertitel „Eine Ehrenrettung für
Wilhelm Müller“ (BRANDENBURG, Hans: Die „Winterreise“ als Dichtung. Eine Ehrenrettung für Wilhelm
Müller. In: Aurora/Eichendorff Almanach. Hrsg. von Karl SCHODROK. Würzburg 1958, S. 57-62), der
dann jedoch keineswegs als „Ehrenrettung“ ausfällt, sondern im Gegenteil den Wert der Dichtung extrem
relativiert, indem z.B. behauptet wird, die „Winterreise“ sei „erst durch Schubert zum ewigen
Immortellenkranz der Liedkunst geworden“ (ebd., S. 58), und ihr Text enthalte „auch Konventionelles
und Triviales“ (ebd., S. 60).
513
FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 330.
508
98
Noch radikaler erscheinen hier sogar die Ausführungen Günther Baums, der in zwei
Aufsätzen von 1950 und 1967514 die Meinung vertritt, dass Müllers Reihenfolge der
Gedichte „dem Ganzen erst den Charakter eines echten Zyklus mit einer ungebrochen
durchlaufenden Entwicklung“ des Wanderers hin zu einem völlig vereinsamten und
lebensmüden Menschen gebe (Baum erkennt hierin das „Symptom drohender
Schizophrenie“, was als Deutung der seelischen Verfassung des Wanderers wohl
unzureichend ist). Schuberts Anordnung der Lieder wirke im Gegensatz dazu wahllos –
es scheine bei ihm nur um das „Grundthema einer enttäuschten Liebe“ zu gehen.515
Dieser Sichtweise kann auch nicht uneingeschränkt zugestimmt werden: Die von Baum
beschriebene Entwicklung des Wanderers kann vielmehr, leicht modifiziert, auch bei
Schubert nachvollzogen werden. Die Einheit des Ganzen wird durch seine Anordnung
nicht zerstört.516 Auch wertet Baum leider Müllers Dichtung wiederum ab, indem er die
Frage offen lässt, ob dem Autor die tiefe Tragik seiner Texte überhaupt selbst bewusst
gewesen sei.517 Dies ist wohl durchaus zu bejahen. Gegen seine Überlegungen, dass
Müllers Reihenfolge die eigentlich maßgebliche für den Zyklus sei, wendet Baum zwar
selbst ein, dass Schubert zwischen „Der Lindenbaum“ (Nr. 5, S. 128 ff.) und
„Wasserflut“ (Nr. 6, S. 134 f.) eine musikalische Verbindung geschaffen habe, die
durch den Einschub des Liedes „Die Post“ (Nr. 13, S. 158 ff.), die ja bei Müller
zwischen den beiden erstgenannten Gedichten steht, zerstört würde.518 Doch er vertritt
in seinem Aufsatz von 1967 dennoch die Ansicht, dass nichts dagegen spreche,
Schuberts Lieder – abgesehen von der Platzierung der „Nebensonnen“ (Nr. 23, S. 187
f.) – einfach in Müllers Reihenfolge aufzuführen.519 Baums Ausführungen verdienen
insofern Lob, als er dem Gedichtzyklus seinen gebührenden künstlerischen Eigenwert
zuerkennt. Allerdings kommt er hierdurch leider zu unzutreffenden Schlüssen in Bezug
auf den Liederzyklus, indem er erstens die auch hier deutlich werdende Entwicklung
übersieht und zweitens noch weitere musikalische Verbindungen zwischen den Liedern
unterschlägt, die durch nachträgliche Umstellungen verunklart werden würden. Auf
diese wird weiter unten noch eingegangen.
514
BAUM, Günther: Das Problem der „Winterreise“. In: Zeitschrift für Musik. 111. Jahrgang, Heft 12,
1950. Regensburg 1950, S. 643 f. / Ders.: Schubert-Müllers „Winterreise“ – neu gesehen. In: Neue
Zeitschrift für Musik. Hrsg. von Ernst THOMAS und Otto TOMEK. 128. Jahrgang, Heft 1, 1967. Mainz
1967, S. 78-80. Im zweiten dieser beiden Aufsätze bringt Baum keine wesentlich neuen Gedanken
gegenüber seiner ersten Arbeit, abgesehen von verschiedenen wenig fruchtbaren Spekulationen darüber,
ob Schubert die Reihenfolge der Lieder absichtlich, aus Nachlässigkeit oder aus rein praktischen Gründen
nicht an Müllers Vorgabe angepasst habe (vgl. Ders.: Schubert-Müllers „Winterreise“ – neu gesehen, S.
78).
515
Ders.: Das Problem der „Winterreise“, S. 643.
516
Vgl. COTTRELL, Alan: Wilhelm Müller´s Lyrical Song-Cycles, S. 35.
517
Vgl. BAUM, Günther: Das Problem der „Winterreise“, S. 643.
518
Vgl. ebd., S. 644.
519
Vgl. ders.: Schubert-Müllers „Winterreise“ – neu gesehen, S. 80.
99
Festzuhalten bleibt, dass auf der Ebene der Komposition ebenso Linearität gegeben ist
wie im Falle der Dichtung, da hier wie dort die Entwicklung des Wanderers im
Mittelpunkt steht.
5. 4. 2 Kohärenz
5. 4. 2. 1 Die formale Anlage der Lieder
Wendet man sich der formalen Anlage der Lieder zu, so kann man auf dieser Ebene
einen deutlichen Zusammenhang derselben feststellen. Hier dominiert nämlich die
relativ einfache Form des variierten Strophenliedes. Auf den Ebenen der Harmonik,
Rhythmik und Melodik hingegen sind die Lieder oft recht komplex. Es besteht also eine
„Diskrepanz zwischen einfacher äußerer Form und sehr komplexer Faktur auf anderen
Ebenen“, wodurch „ein Gefühl von Unstimmigkeit“ entsteht520. Diese Unstimmigkeit
unterstreicht, auch wenn sie dem Hörer vielleicht gar nicht so unbedingt zu Bewusstsein
gelangt, die bedrückende Stimmung des Werkes521, und kann auch als Symbol für die
Fremdheit des Wanderers verstanden werden.522 Manchmal kommt es allerdings auch
vor, dass ein Lied oder eine Strophe auf allen Ebenen einfach gestaltet ist. Dies deutet
dann zumeist auf eine Illusion hin.523 Ein Beispiel hierfür wäre das Lied „Täuschung“
(Nr. 19, S. 176 f.), das ja eine Illusion thematisiert und eben auch musikalisch weniger
anspruchsvoll ist als andere Lieder. Grundsätzlich kann man jedoch sagen, dass das
variierte Strophenlied die dominierende Form ist, die die meisten Lieder „Winterreise“
bestimmt.
5. 4. 2. 2 Bezüge zwischen den Liedern
Dass Schubert die Lieder der „Winterreise“ als zusammengehörig versteht und wohl
auch verstanden wissen will, lässt sich u.a. daran erkennen, dass er verschiedene
Gruppen von Liedern einander jeweils tonartlich zuordnet, was zuweilen auch inhaltlich
begründet zu sein scheint. Wie oben bereits erläutert, wurden die Tonarten einiger
Lieder gegenüber den Fassungen in den Autographen verändert; in meinen
Ausführungen gehe ich jedoch von den ursprünglich von Schubert gewählten bzw.
nachweislich von ihm selbst abgeänderten Tonarten aus.
Ein tonartlicher Zusammenhang besteht zunächst ohne Zweifel zwischen den ersten
vier Liedern: „Gute Nacht“ steht in d-Moll, „Die Wetterfahne“ (Nr. 2, S. 115 ff.) in a520
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 154.
Vgl. ebd.
522
Vgl. dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern. Bd. 38 der Hamburger Beiträge zur
Musikwissenschaft. Hrsg. von Constantin FLOROS. Hamburg 1991, S. 164.
523
Vgl. dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 154
521
100
Moll; „Gefrorene Tränen“ (Nr. 3, S. 118 f.) besitzt die Tonart f-Moll, „Erstarrung“ (Nr.
4, S. 120 ff.) ist in c-Moll notiert. Dies entspricht jeweils einem Quint- bzw.
Quartverhältnis. Budde rechnet auch noch das fünfte Lied zu dieser ersten Gruppe, da
die Folge c-Moll („Erstarrung“) – E-Dur („Der Lindenbaum“) „ihre Vorbilder“ habe,
von denen Beethovens drittes Klavierkonzert in c-Moll op. 37 das gewichtigste sei, da
hier zwischen dem ersten und zweiten Satz die gleiche Tonartenfolge bestehe.524 Die
Lieder sieben bis 10 sind „im Terzzirkel angeordnet“525: „Auf dem Flusse“ (Nr. 7, S.
136 ff., e-Moll), „Rückblick“ (Nr. 8, S. 140 ff., g-Moll), „Irrlicht“ (Nr. 9, S. 145 f., hMoll) und „Rast“ (Nr. 10, S. 147 ff., d-Moll) gehören demnach ebenfalls zusammen.
Zwischen dem letzten dieser Lieder und dem folgenden, „Frühlingstraum“ (Nr. 11, S.
150 ff.), das in A-Dur steht, lässt sich wiederum eine subdominantische Beziehung
erkennen. Auch die Lieder „Die Post“, „Der greise Kopf“ (Nr. 14, S. 162 f.), „Die
Krähe“ (Nr. 15, S. 164 ff.) und „Letzte Hoffnung“ (Nr. 16, S. 167 f.) sind miteinander
verbunden, da sie in der Tonartenordnung Es-Dur – c-Moll – c-Moll – Es-Dur stehen,
wobei Es-Dur und c-Moll Paralleltonarten sind. Auf inhaltlicher Ebene werden
hierdurch zwei Lieder der Todessehnsucht zwei Liedern, in denen Hoffnung anklingt
bzw. zumindest thematisiert wird, gegenübergestellt. Das D-Dur bzw. d-Moll und das
A-Dur von „Im Dorfe“ (Nr. 17, S. 169 ff.), „Der stürmische Morgen“ (Nr. 18, S. 174
f.) und „Täuschung“ scheinen ebenfalls einander zugeordnet zu sein.526
Mit Hilfe dieser Methode möchte Schubert offenbar zeigen, dass die Lieder der
„Winterreise“ aufeinander bezogen sind, dass sie also nicht für sich stehen könnten,
sondern dass der Zyklus eine Einheit bilden soll.
Es muss allerdings erwähnt werden, dass sich die Wissenschaftler bei der Einteilung
nicht unbedingt einig sind. Dies hat dann v.a. damit zu tun, dass einige von ihnen von
den Tonarten in den Autographen ausgehen (wie Elmar Budde), andere von denen im
Erstdruck (wie etwa Walther Dürr). Dies führt natürlich teilweise auch zu
unterschiedlichen Ergebnissen bei der Gruppenbildung. Dürr sieht z.B. aus den
gleichen Gründen wie Budde die ersten vier Lieder als zusammengehörig an. Dann
jedoch fasst er die Lieder fünf bis sieben zu einer zweiten Gruppe zusammen (da er
eben bei „Wasserflut“ von der Tonart der Druckfassung, e-Moll, ausgeht und somit die
drei Lieder durch ihre E-Tonarten verbunden sieht.527 Seine Analysen nun im einzelnen
weiter nachzuvollziehen, erscheint wenig sinnvoll, da seine Ergebnisse, wie gesagt, auf
524
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 76.
Ebd., S. 77.
526
Vgl. ebd., S. 77 f.
527
Vgl. DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 143 f.
525
101
der völlig anderen Voraussetzung beruhen, dass nicht unbedingt die Originaltonarten
zugrunde zu legen seien.
Für Budde ist dies hingegen sehr wichtig: Er ist sich z.B. sicher, dass die
Transpositionen der Lieder „Mut“ (Nr. 22, S. 184 ff.) und „Der Leiermann“ nicht von
Schubert selbst herrühren.528 „Mut“ steht bei Schubert in a-Moll, und es folgt auf „Das
Wirtshaus“ (Nr. 21, S. 182 f.), das in F-Dur komponiert wurde. F-Dur und a-Moll sind
„unmittelbar verwandte Tonarten“529, weswegen man darauf schließen kann, dass die
beiden Lieder als zusammengehörig verstanden werden sollen: „’Muth!’ entspringt
gleichsam aus dem vorhergehenden Trauergesang“.530 An dieses Lied schließen sich
„Die Nebensonnen“ an, die in A-Dur stehen. Auch diese beiden Lieder sind also
einander zugeordnet, wobei „Mut“ die „Nachtseite“, „Die Nebensonnen“ die „Tagseite“
repräsentieren.531 Das letzte Stück, „Der Leiermann“, erscheint mit seinem h-Moll
völlig abgesondert von dieser Gruppe. Die im Erstdruck vorgenommene und bis heute
beibehaltene Transposition des Liedes nach a-Moll, das vermutlich nicht von Schubert
intendiert war, kann zu der irrigen Annahme verleiten, „Der Leiermann“ sei dem Lied
„Die Nebensonnen“ zugeordnet. In Wahrheit wollte Schubert es aber zum 12. Lied,
„Einsamkeit“, in Beziehung setzen, das ebenfalls in h-Moll steht.532 Der Grund hierfür
wird weiter unten erläutert.
Tonartendisposition ist jedoch nicht das einzige Mittel, das Schubert zur
Kohärenzstiftung zwischen den Liedern anwendet. Er bedient sich zu diesem Zweck
auch der Variation musikalischer Gestalten oder Figuren, die in verschiedenen Liedern
auftauchen. Stoffels erkennt gerade im ersten Teil des Zyklus so viele derartige Bezüge,
dass er von einer „Zitathäufung“ spricht.533
Sichtbar wird dies z.B. an den Liedern „Erstarrung“ und „Der Lindenbaum“. Budde
weist darauf hin, dass Vor-, Zwischen- und Nachspiel von „Erstarrung“ „auf einer
unruhig umherirrenden Baßlinie“ basieren.534 Diese Linie erklingt nun auch in den
Spitzentönen des Vorspiels, der Zwischenspiele und des Nachspiels des folgenden
Liedes, wenn auch diesmal in Dur. Dies interpretiert Budde dahingehend, dass sich „das
vergebliche Suchen im Schnee“ in „Erstarrung“ in „Der Lindenbaum“ „in die scheinbar
528
Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 73.
Ebd., S. 73 f.
530
Ebd., S. 74.
531
Ebd.
532
Vgl. ebd. Ganz anders sieht das Dürr: Er meint, die Frage, ob Schubert die Transposition des Liedes
„Der Leiermann“ selbst vorgenommen habe, sei „nicht zu entscheiden“; a-Moll passe sogar besser zum
Charakter des Liedes als h-Moll (DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert.
Musikführer, S. 150).
533
STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 188.
534
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 79.
529
102
bessere Welt des Traums“ verwandle, so dass der Traum quasi eine „Metamorphose der
Wirklichkeit“ darstelle. Diese Metamorphose wird durch die musikalische Variation
repräsentiert.535 Die im „Lindenbaum“ vorkommenden Achteltriolen sind wiederum in
„Wasserflut“ zu hören.536 Budde zeigt noch einen ähnlichen Zusammenhang zwischen
den Liedern „Rast“ und „Frühlingstraum“ auf537, Georgiades erkennt außerdem eine
„fast völlig Identität des rhythmischen Anfangsduktus“ der Lieder „Wasserflut“ und
„Irrlicht“.538 Es wären noch zahlreiche weitere Beispiele zu nennen – natürlich auch für
derartige Beziehungen zwischen Liedern der ersten und zweiten Abteilung539 –, was
jedoch den Rahmen sprengen würde.
Insgesamt lässt sich jedoch sagen, dass Schubert diese Kompositionsweise offenbar
auch als kohärenzstiftende Methode einsetzt, um die Einheit der Lieder zu
unterstreichen.
Arnold Feil erkennt überdies noch zwei weitere Merkmale des Zyklus, die unter den
Liedern
Verbindungen
„Empfindungshafte“.
540
herstellen
würden:
das
„Rezitativische“
und
das
Und tatsächlich tauchen rezitativische Passagen – die eigentlich
für die damalige Liedästhetik, auf die später noch eingegangen wird, ein äußerst
ungewöhnliches Mittel darstellen – häufig in der „Winterreise“ auf. Feil nennt als
Beispiele „Die Wetterfahne“ (T. 11 ff.: „Da dacht´ ich schon in meinem Wahne ...“
sowie T. 30 ff.: „Was fragen sie nach meinen Schmerzen?“) und die Passage „Ei
Tränen, meine Tränen, und seid ihr gar so lau ...“ aus „Gefrorne Tränen“ (T. 21 ff.). Mit
dem „Empfindungshaften“ meint Feil die ebenfalls oft sich ereignenden Ausbrüche in
der Musik, die entweder ganze Lieder oder nur einzelne Passagen bestimmen können.
Kohärenz zwischen den Liedern besteht auf musikalischer Ebene aber natürlich auch
durch deren oft ähnliche rhythmische Anlage, was im folgenden Kapitel zur
Mittelpunktsbezogenheit erläutert werden wird.
5. 4. 3 Mittelpunktsbezogenheit
Mittelpunktsbezogenzeit lässt sich in der „Winterreise“ auf musikalischer Ebene
durchaus auch feststellen.
535
Ebd., S. 80.
Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 369.
537
Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 79 ff.
538
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 366.
539
Fischer-Dieskau weist z.B. auf die Ähnlichkeit einer melodischen Phrase aus „Der Wegweiser“ (Nr.
20, S. 178 ff.), nämlich „Was vermeid ich denn die Wege, wo die andern Wandrer gehn“ (T. 5-7), mit der
Stelle „der Weg gehüllt in Schnee“ aus „Gute Nacht“ (T. 28 f.) hin (vgl. FISCHER-DIESKAU, Dietrich:
Schubert und seine Lieder, S. 339).
540
Vgl. hierzu: FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 109.
536
103
Denn so, wie sich in der Dichtung die Wanderschaft als das zentrale Thema erwies, so
könnte man die Realisierung dieses Motivs auch im Rhythmus der Musik wieder
erkennen.541 Feil stellt z.B. eine „gehende Bewegung“ als „Grundstimmung“ und somit
auch als musikalisch realisierte „Grundbewegung“ in der „Winterreise“ fest.542 Stoffels
widerspricht Feil zwar in dieser Hinsicht – er ist der Meinung, dass man zwischen
verschiedenen Tempi bzw. Bewegungsformen differenzieren müsse543 –, doch diese
Differenzierungen nimmt Feil eigentlich selbst vor. So vertritt er etwa die Meinung, die
Lieder im 2/4-Takt würden zumeist an die im ersten Lied anklingende „gehende
Bewegung“ anknüpfen, während die 3/-4-Takt-Lieder eher den Eindruck des
Stehenbleibens erwecken würden. Hierbei beschäftigt er sich aber auch eingehend mit
in diese Grobeinteilung nicht so leicht einzuordnenden Sonderfällen. Bezüglich des
Liedes „Das Irrlicht“, das im 3/8-Takt steht, lässt er etwa die Frage offen, ob es
gehenden Charakter habe.544 Von den beiden 6/8-Takt-Liedern „Die Wetterfahne“ und
„Im Dorfe“ attestiert er ersterem eher statischen Charakter545, im zweiten erkennt er
durchaus eine – wenn auch in Klavier- bzw. Singstimme gegenläufige – Bewegung.546
Zudem unterscheidet er zwischen dem Bewegungscharakter der ersten Hälfte der
Lieder und dem der zweiten Hälfte: In den Liedern 1-12 sei die Bewegung noch aus
eigener Kraft angestoßen worden, im zweiten Teil jedoch, also ab „Die Post“, sei diese
Kraft „gebrochen“, die Bewegung resultiere aus einer Art innerem Zwang,
unaufhaltsam bis zum Ende weiter zu wandern.547
Gegen diese Behauptungen kann auch tatsächlich nichts eingewendet werden: Dass
z.B. „Gute Nacht“ eindeutig gehenden Charakter hat, was v.a. durch die gleichmäßig
durchlaufenden Achtel bewirkt wird, haben schon mehrere Wissenschaftler festgestellt.
541
Budde führt aus, dass das Motiv des Wanderns als Metapher für die menschliche Existenz, das
Wilhelm Müller in der „Winterreise“ verarbeitet, Schubert in seinem Schaffen häufiger beschäftigt habe.
Er habe eine Vielzahl von Gedichten vertont, die das Wandermotiv zum Inhalt hätten (u.a. „Wanderers
Nachtlied“ von Goethe oder „Der Wanderer“ von Georg Philipp Schmidt). Dies liegt jedoch laut Budde
nicht nur in der Beliebtheit dieses Motivs in der Epoche der Romantik begründet, der Schubert habe
Rechnung tragen wollen. „Schubert hat vielmehr in seiner Musik die romantische Wanderer-Thematik in
eine unverwechselbare musikalische Chiffre verwandelt, in der die sprachliche Begrifflichkeit der
romantischen Lyrik in einem nicht mehr zeitgebundenen Sinne aufgehoben ist“ (BUDDE, Elmar:
Schuberts Liederzyklen, S. 67). Schmid Noerr sieht die historischen Gegebenheiten als Grund für diese
Vorliebe: Die Ohnmacht der bürgerlichen Schicht in politischen Fragen liege „dem literarischen Topos
des Wanderers zugrunde, der, die Utopie der Versöhnung in Natur und Liebe vor Augen, der
Beschränktheit seiner Welt zu entfliehen sucht“ (SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem
Abgrund, S. 369).
542
FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 102. Vg. hierzu die
Tempobezeichnung, die dem ersten Lied im Autograph zugeordnet ist: „Mäßig, in gehender Bewegung“
(SCHUBERT, Franz: Winterreise op. 89, S. 110).
543
Vgl. STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts Vertonung, S. 183 f.
544
Vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 118.
545
Vgl. ebd., S. 109.
546
Vgl. ebd., S. 37.
547
Ebd., S. 126.
104
Georgiades erkennt im „Habitus des Klavierparts“ dieses Liedes die „Vorstellung eines
einem Zwang unterworfenen, niederziehenden Gehens, das nie durch freien Entschluß
aufhören kann“.548 Auch Budde hört in der rhythmischen Anlage von „Gute Nacht“
„die Vorstellung des Immer-Gleichen, einer in sich rotierenden Bewegung ohne
Anfang und Ende“.549 Die Pentatonik, die im Durteil von „Gute Nacht“ verwendet
wird, klingt laut Georgiades wie „ein schwereloses, traumhaftes, nicht hörbares
Gehen“.550 Doch trotz seiner gleichförmigen Bewegung ist dieses erste Lied, wie oben
schon einmal ausgeführt, kein Aufbruchslied, sondern es ist geprägt von
„schmerzliche[r] Erinnerung und Resignation“.551 Dies wird unter anderem daran
erkennbar, dass es unmöglich ist, auf seinen Rhythmus tatsächlich zu wandern: Hierfür
sind die Achtel zu schnell, die Viertel zu langsam.552
Auch „Gefrorne Tränen“ steht im 2/4-Takt und ist von durchlaufenden Vierteln und
Achteln geprägt; es ist zwar langsamer als „Gute Nacht“, aber ebenso wie dieses von
einem gehenden Charakter bestimmt. Gleiches gilt für „Auf dem Flusse“. In
„Rückblick“ geht der Wanderer nicht nur, er scheint sich richtiggehend „gejagt“ zu
fühlen. Dieser Effekt wird durch den versetzten Rhythmus in der rechten und linken
Klavierhand erzeugt.553 Auch auf „Rast“, ebenfalls ein Lied im 2/4-Takt, ist die
Einteilung zutreffend (was eigentlich paradox ist: Schließlich geht der Wanderer in
diesem Lied gerade nicht, sondern er ruht sich aus; dass das Lied dennoch eine
Bewegung realisiert, spricht für die innere Unruhe des Protagonisten). In „Einsamkeit“,
„Die Krähe“ und „Der Wegweiser“ herrscht ebenfalls eine gehende Bewegung vor
(auch wenn die beiden Letzteren recht langsam sind), ebenso in „Mut“. Feil rechnet
auch das im 6/8-Takt stehende Lied „Täuschung“ zu dieser Gruppe, da es „die
Assoziation des Hinterherlaufens“ hervorrufe. Was das Lied „Die Post“ angeht, so
wirft Georgiades die Frage auf, ob der Rhythmus der Begleitung, „die repetierende
Begleitungsformel“, auch aus dem Achtelrhythmus von „Gute Nacht“ abgeleitet sei.554
Die Lieder „Der Lindenbaum“, „Wasserflut“, „Der greise Kopf“, „Letzte Hoffnung“
und „Die Nebensonnen“, die allesamt im 3/4-Takt stehen, sind jeweils entweder so
langsam oder rhythmisch so gebrochen, dass die gehende Bewegung hier jeweils zum
548
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 363.
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 90.
550
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 364 f.
551
DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 142.
552
Vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 103.
553
Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 365. Das Lied steht zwar im 3/4-Takt
und müsste deshalb der obigen Einteilung zufolge der gehenden Bewegung der 2/4-Takt-Lieder
entgegenstehen, doch Feil weist darauf hin, dass man seine Verse ebenso in einem 2/4-Takt fassen könne
(vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 45).
554
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 364.
549
105
Stillstand zu kommen scheint. Auch „Der Leiermann“ ist wohl hierzu zu zählen: Das
Lied steht ebenfalls im 3/4-Takt, und die Monotonie der Musik hat etwas eindeutig
Statisches.555
Nur drei Lieder stehen im 4/4-Takt: „Erstarrung“, „Der stürmische Morgen“ und „Das
Wirtshaus“. „Erstarrung“ ist von der gleichen leidenschaftlichen, ungebrochenen
Bewegung geprägt wie die 2/4-Takt-Lieder556, bzgl. der beiden letztgenannten Lieder
wirft Feil die Frage auf, ob es sich hier vielleicht in Wahrheit gar nicht um 4/4-,
sondern „um verkappte Zweiertakte“ handeln könne.557 „Frühlingstraum“ ist Feil
zufolge das einzige Lied im Zyklus, in dem „keinerlei Bewegungsvorstellung Anteil“
habe.558 Seine Behauptung, die „Winterreise“ sei von einer „gehenden Bewegung“
bestimmt, erweist sich also bei der Überprüfung seiner Argumente als plausibel.
Elmar Budde erkennt über diese rhythmische Besonderheit der „Winterreise“ hinaus
übrigens auch noch einen „tonalen Schwerpunkt“ im Zyklus, nämlich die Tonarten dMoll und h-Moll, in denen je drei Lieder angesiedelt sind. Moll-Tonarten seien
überhaupt vorherrschend, auf ihnen beruhe die „Grundfarbe“ der „Winterreise“559 –
eine Tatsache, die so evident ist, dass sie nicht weiter begründet werden muss.
5. 4. 4 Geschlossenheit
Man kann, wie oben bereits erläutert, davon ausgehen, dass Schubert die ersten 12
Lieder der „Winterreise“, wie sie Wilhelm Müller zuerst in „Urania“ veröffentlicht
hatte, bei der Vertonung als in sich geschlossenen Zyklus konzipiert.560 Dafür spricht,
dass das erste Lied, „Gute Nacht“ und das letzte Lied der ersten Abteilung,
„Einsamkeit“, anfangs noch in der gleichen Tonart, nämlich in d-Moll, stehen. Als er
die zweiten 12 Gedichte vertont, komponiert er das nun an letzter Stelle stehende Lied,
„Der Leiermann“, in h-Moll und transponiert darüber hinaus das Lied „Einsamkeit“ von
d-Moll auch nach h-Moll. Er zerbricht also die tonale Geschlossenheit, die die
Erstfassung der „Winterreise“ beherrscht hatte. Dafür setzt er das 12. und das 24. Lied
zueinander in Beziehung – durch die Tonarten, aber auch durch den Beginn der Lieder
(beide beginnen mit der Quinte h-fis). Dass „Der Leiermann“ in einer von d-Moll, der
555
Nicht zuzustimmen ist übrigens Ludwig Stoffels, der behauptet, „Die Nebensonnen“ und „Der
Leiermann“ stünden außerhalb der zyklischen Konzeption, da sie keine Bezüge mehr auf die
vorhergehenden Lieder enthalten würden; er betrachtet aus diesem Grund das Ende der „Winterreise“ als
„offenen“ Schluss (STOFFELS, Ludwig: Die Winterreise. Bd. 1: Müllers Dichtung in Schuberts
Vertonung, S. 198). Wie gezeigt werden konnte, stehen beide Lieder jedoch gerade in rhythmischer
Hinsicht sehr deutlich zum Rest des Zyklus in Beziehung.
556
Vgl. FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 110.
557
Vgl. ebd., S. 103.
558
Ebd., S. 124.
559
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 70.
560
Ich beziehe mich im folgenden v.a. auf: ebd., S. 71 ff.
106
Tonart von „Gute Nacht“, so weit entfernten Tonart steht, könnte zunächst irritieren. Es
wurde ja schließlich gezeigt, dass auf der textlichen Ebene Anfang und Ende ineinander
fallen. Erkennt etwa Schubert Müllers Intention nicht oder setzt sich darüber hinweg?
Das ist vermutlich nicht der Fall. Wahrscheinlich will Schubert das erste und das letzte
Lied bewusst nicht in der gleichen Tonart komponieren, um den Eindruck zu
vermeiden, er habe ein „harmonisierendes Zusammenschließen“ von Anfang und
Schluss gemeint.561 Dies ist offenbar nicht seine Absicht. Vielmehr scheint es, als habe
Schubert durch die weite Entfernung der Tonarten d-Moll und h-Moll die Ziellosigkeit
der Wanderung, für die jede Rückkehr unmöglich ist, auch in der „tonale[n]
Richtungslosigkeit“ des Zyklus ausdrücken wollen.562 In diesem Zusammenhang kann
nun auch der These widersprochen werden, die offene Quint als Schlussklang von „Der
Leiermann“ könne auf ein positiv zu verstehendes Ende des ganzen Zyklus
hindeuten.563 Dittrich selbst betont nämlich, dass sich Schubert in der Verwendung von
Schlussakkorden in Quint- oder Terzlage auch an seinem Vorbild Johann Rudolf
Zumsteeg orientiert haben könnte, der dieses musikalische Mittel „fast immer in
Verbindung mit Trauer oder verwandten Affekten“ benutzte.564 Doch vor allem wären
in diesem Fall die Ziellosigkeit und Sinnlosigkeit der Wanderung, die offenbar sowohl
Müller als auch Schubert zum Ausdruck bringen wollen, nicht gegeben.
Dass Anfang und Ende des Zyklus dennoch in einer deutlichen Beziehung zueinander
stehen, d.h. dass eine Geschlossenheit des Werks trotzdem vorliegt, verdeutlicht
folgende Beobachtung: Budde weist darauf hin, dass die ersten drei Noten, mit denen
der Zyklus beginnt, nämlich f´´, e´´ und d´´, eine Figur darstellen, die eigentlich nicht
den Charakter eines Beginns besitzt, sondern eher wie eine Schlussfigur anmutet.
Daraus folgert er, dass man gleich zu Beginn sehen könne, dass der Anfang des Zyklus
„auf kein Ziel hin gerichtet“ sei. Im Anfang liege vielmehr bereits das Ende
beschlossen, bzw. die Antwort auf die Fragen des Wanderers an den Leiermann im
letzten Lied sei quasi der Anfang des Zyklus.565 Diese Beziehung könne Schubert
natürlich nicht von Anfang an geplant haben, da er bei der Komposition der ersten 12
561
Ebd., S. 73. Wenn man davon ausgeht, dass „Der Leiermann“ in a-Moll zu stehen habe – wie Dürr das
tut –, könnte dies zu der irrigen Annahme verleiten, Schubert habe „Gute Nacht“ und „Der Leiermann“
durch das Quintverhältnis der Tonarten d-Moll und a-Moll in einen harmonischen Zusammenhang
bringen wollen.
562
Ebd., S. 72.
563
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 256 (Dittrich
verweist hierbei auf: MCKAY, Elizabeth Norman: Schubert´s Winterreise reconsidered. In: The Music
Review. Bd. 38, 1977. Cambridge 1977, S. 98 ff.).
564
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 256 (mit Verweis
auf: MAIER, Gunter: Die Lieder Johann Rudolf Zumsteegs und ihr Verhältnis zu Schubert. Göppingen
1971, S. 85.).
565
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 94.
107
Lieder von der zweiten Abteilung der Gedichte ja noch gar nichts gewusst habe. Doch
Budde geht davon aus, dass es eine erste Fassung von „Gute Nacht“ gegeben haben
müsse, die Schubert bei der Vertonung der zweiten 12 Gedichte verworfen habe, und
dass er die zweite Version des ersten Liedes dann bewusst auf das letzte Lied hin
ausgerichtet habe. Budde stützt diese Annahme auf die Tatsache, dass das Lied „Gute
Nacht“ im Manuskript des ersten Teils die einzige Reinschrift darstellt.566
All diese Argumente sprechen dafür, dass die „Winterreise“ einen Zyklus in ziemlich
strengem Sinne darstellt. Schuberts Zyklen sind offenbar grundsätzlich nicht durch
solche relativ einfachen Mittel wie die gleiche Tonart von erstem und letztem Lied
„kompositorisch geschlossen“, sondern „münden ins Offene, ins Ungewisse“.567 Doch
insofern, als die „Winterreise“ kein Ende hat, ist sie „ein endloser Zirkel, eine
Wanderung ohne Beginn und Ziel, ohne Hoffnung und Aussicht auf Entkommen“.568
Dieses ständige, sinnlose Rotieren ist übrigens sogar in einzelnen Liedern verwirklicht.
Feil weist darauf hin, dass oft die Nachspiele die Vorspiele wiederholen, „als ob nichts
geschehen, die Komposition und also auch der Wanderer nicht vom Fleck gekommen
sei“.569 Hierdurch beschreibt auch die Musik eine Kreisbewegung. Ein Beispiel hierfür
wäre das Lied „Rast“: Hier entspricht das Nachspiel (T. 61-67) genau dem Vorspiel (T.
1-6), wodurch der Eindruck eines Rundgesangs entsteht, der weder Anfang noch Ende
besitzt. Gleiches gilt auch für „Gute Nacht“.
5. 5 „Beschönigt ist nichts, aber alles ist schön.“ – Die Melancholie
in der Komposition
Mit seiner Liedvertonung setzt sich Schubert eindeutig über die zu seiner Zeit an ein
Lied gestellten Hörerwartungen hinweg. Denn „Spätestens seit dem Ausgang des 18.
Jahrhunderts wird das deutschsprachige Lied durchweg im Sinne des Einfachen, des
Natürlichen und schließlich des Volkstümlichen musikalisch und ästhetisch
definiert“.570 So wird etwa in Kochs „Musikalischem Lexikon“ deutlich, dass Schuberts
566
Vgl. ebd., S. 94 f.
Ebd., S. 21.
568
Ebd., S. 95. Vgl. dagegen: ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts
„Winterreise“. Zenck ist der Ansicht, dass sich Ziel- und Richtungslosigkeit und zyklische Anlage der
„Winterreise“ ausschließen würden (vgl. ebd., S. 144). Er bezeichnet das Werk sogar als „anti-zyklisch“
(ebd., S. 145). Hierfür spreche u.a. die „nicht zentrierte[...] Disposition der Tonarten“ (ebd., S. 145).
Schubert habe die „Winterreise“ vielleicht anfangs zyklisch anlegen wollen, diesen Plan dann jedoch
aufgegeben (vgl. ebd., S. 147), um die zunehmende „Fremderfahrung“ (ebd., S. 141) des Wanderers
darzustellen. Abgesehen davon, dass Zenck nicht zu der Frage Stellung nimmt, warum man den Zyklus
dann überhaupt noch als solchen bezeichnen könne, übersieht er, dass zwischen Richtungslosigkeit und
zirkelartigem Rotieren (und damit zyklischer Anlage) kein Widerspruch bestehen muss (vgl. Buddes
Argumentation). Auch die durchaus klar strukturierte Tonartendisposition der Lieder erkennt Zenck nicht.
569
FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin. Winterreise, S. 101.
570
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 13
567
108
Zeitgenossen unter dem Begriff „Lied“ ganz selbstverständlich das normale
Strophenlied verstehen, das „von jedem Menschen, der gesunde und nicht ganz
unbiegsame Gesangsorgane besitzt, ohne Rücksicht auf künstliche Ausbildung
derselben, vorgetragen“ werden können sollte.571 Ein weiter Tonumfang sei also z.B. zu
vermeiden; die „in dem Texte enthaltene[...] Empfindung“, solle durch einfache
musikalische Mittel wiedergegeben werden.572 Diese Forderung nach Einfachheit ist
nicht zuletzt sozial motiviert: Man ist der Ansicht, dass sich für das Lied „noch jede
Volksklasse, noch jedes Individuum derselben“ begeistern könne.573 Auch Sulzer
fordert vom Komponisten, dass dieser „eine sehr einfache und kurze Melodie“ zur
Textvertonung zu ersinnen habe, da hierdurch am ehesten eine „Rührung“ des
Rezipienten erreicht werden könne, auf die es einzig ankomme.574 Er empfiehlt
ebenfalls, den Ambitus möglichst gering zu halten: „Darum ist das Beste, daß man in
dem Bezirk einer Sexte, höchstens der Oktave bleibe“.575 Ähnlich wird auch in der
Schillingschen „Encyclopädie“ argumentiert; hier wird aber vor allem darauf bestanden,
dass ein Lied sich auf die „Darstellung nur eines Gefühls“ zu konzentrieren habe,
„welches die Seele sanft bewegt“.576 Und obwohl Schuberts Lieder ja gerade in dieser
Hinsicht nachweislich den Forderungen der Theoretiker nicht entsprechen – oft ist ein
Lied von den verschiedensten Gefühlen geprägt, man denke nur an den
„Frühlingstraum“ –, wird im gleichen Artikel Schubert als einziger Komponist
bezeichnet, der in der Liedkomposition „wahre Meisterwerke“ geliefert habe.577 Indem
der Komponist sich über all diese formalen Vorgaben hinwegsetzt, kommt er natürlich
in der Gattung Lied zu ganz neuen, differenzierten Ausdruckformen, v.a. was die
Darstellung „komplexe[r] Seelenzustände und innerseelische[r] Entwicklungen“
angeht.578 Entsprechend setzt er auch die im Text der „Winterreise“ transportierte
Melancholie musikalisch um. Dabei findet Staiger es bemerkenswert, dass Schuberts
Lieder, obwohl sie so düsteren Inhalts sind, dennoch „wie Fülle des reinsten Wohllauts
571
KOCH, Heinrich Christoph: Art. „Lied“. In: Musikalisches Lexikon welches die theoretische und
praktische Tonkunst, encyclopädisch bearbeitet, alle alten und neuen Kunstwörter erklärt, und die alten
und neuen Instrumente beschrieben, enthält. Hildesheim 1964 (Reprografischer Nachdruck der Ausgabe
Frankfurt 1802), Sp. 901.
572
Ebd., Sp. 902.
573
Ebd., Sp. 903.
574
SULZER, Johann Georg: Art. „Lied“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste in einzelnen, nach
alphabetischer Ordnung der Kunstwörter aufeinanderfolgenden Artikeln abgehandelt. Bd. 3. Hildesheim
u.a. 1994 (2., unveränderter Nachdruck der Ausgabe Leipzig 1793), S. 277.
575
Ebd., S. 278.
576
SCHILLING, Gustav (Hrsg.): Art. „Lied“. In: Encyclopädie der gesammten musikalischen
Wissenschaften oder Universal-Lexicon der Tonkunst. 7 Bde., Stuttgart 1835-1842. Bd. 4, 1837, S. 383.
577
Ebd., S. 386.
578
HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und
ihrer musikalischen Realisierung, S. 381.
109
wirken“.579 „Beschönigt ist nichts, aber alles ist schön.“ So habe Schubert „völlig über
den leidenden Menschen gesiegt“.580 Dazu muss allerdings bemerkt werden, dass die
Zeitgenossen Schuberts sich in seine Art der Liedvertonung offenbar erst einhören
müssen. Das in der Einleitung erwähnte Zitat Josef von Spauns, aus dem hervorgeht,
dass ihm und seinen Freunden die „Winterreise“ nicht gerade auf Anhieb gefallen habe,
spricht hier für sich. Auch die Äußerung Mayrhofers, der die Töne des Zyklus als
„schneidend[...]“ bezeichnet, ist ein Beleg dafür, wie radikal Schubert die Liedästhetik
in seiner Zeit revolutioniert.
Die Frage, wie es Schubert gelungen sei, die Melancholie der Gedichte musikalisch
umzusetzen, ist nicht ganz leicht zu beantworten. Grundsätzlich ist dies wohl v.a. eine
Sache des Gefühls: Die Vertonung „passt“ ganz einfach von der Stimmung her zum
Inhalt des Textes. Und dennoch kann man an einigen äußeren Merkmalen etwas
konkreter festmachen, welche Strategien Schubert anwendet, um diesen Eindruck
entstehen zu lassen.
Zunächst sind es natürlich manchmal ganz klar erkennbare Inhalte, die in der Musik
ausgedrückt werden: So erinnert z.B. die Tonwiederholung in „Der Wegweiser“ an eine
Totenglocke (T. 57 ff.)581, die punktierten Wechselnoten in „Gute Nacht“ (z.B. T. 9)
muten an wie schmerzvolle Seufzer582, die Staccato-Akkorde in „Gefrorne Tränen“
bilden die Tropfen ab, die zu Boden fallen, in „Im Dorfe“ finden sich Anklänge an
Hundegebell und Kettengerassel, in „Die Krähe“ das „Geflatter“ der 16tel-Triolen583
usw. Allerdings sollte man sich davor hüten, Schuberts Vertonung als bloße Tonmalerei
zu begreifen.584 Laut Fischer-Dieskau vermeidet Schubert diese sogar bewusst.585 Es ist
579
STAIGER, Emil: Wilhelm Müller – Schubert: Winterreise, S. 198.
Ebd., S. 199.
581
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 166.
582
Vgl. SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 384.
583
DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer, S. 147.
584
So verfährt z.B. Lowen Marshall (vgl. LOWEN MARSHALL, Howard: Symbolism in Schubert´s
Winterreise. In: Studies in Romanticism. Hrsg. von W.H. STEVENSON. Bd. 12, Nummer 3, 1973. Boston,
Massacusetts, USA 1973, S. 607-632): Er sieht in der „Winterreise“ in vollkommener Weise „the
principle of stile rappresentativo“ (also einer Stilart des Rezitativs des 17. Jahrhunderts) verwirklicht
(ebd., S. 607). Er versucht, die symbolische Bedeutung der Wortvertonung in Schuberts Komposition
herauszuarbeiten – um zu zeigen, dass es sich hierbei um mehr als eine bloße Begleitung handle (vgl.
ebd., S. 607 f.) –, beschreibt dabei aber eigentlich bis auf einige Ausnahmen nur reine Tonmalerei (das
gilt etwa für den Hinweis auf das Vorspiel von „Die Wetterfahne“, das in seiner Wildheit das Flattern
derselben abbilde; vgl. ebd., S. 610). Die absteigende Linie in den Takten 8 und 10 von „Gefrorne
Tränen“, die auf das Wort „fallen“ erklingt, bezeichnet er sogar explizit als „carry-over from the old
Renaissance practice of text painting“ (ebd., S. 610). Immerhin betont Lowen Marshall, dass Schubert
solche kompositorischen Strategien meist unbewusst und ungeplant anwende, und der symbolische
Gehalt erst vom Rezipienten in das Werk hineininterpretiert werden müsse (vgl. ebd., S. 608).
Andererseits behauptet er, Schuberts Vertonung reiche weit über den Gehalt der Dichtung hinaus; erst
durch Schubert bekomme das Werk die symbolische Bedeutung einer Reise des Menschen durch das
Leben. Müllers Zyklus hingegen sei nicht mehr als die Geschichte eines enttäuschten Liebenden – was
natürlich viel zu kurz gegriffen ist (vgl. ebd., S. 630).
585
Vgl. FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 338.
580
110
zu beachten, dass, wie Georgiades es formuliert, in der Musik „das Gedicht gleichsam
getilgt und als musikalische Struktur neu geschaffen“ wird; „die Musik erhält
Verbindlichkeit dadurch, daß das Wesentliche nur als Musik realisiert wird.“586 Die
Musik dient also nicht zur Illustration des Textes, sondern es ist „die Musik, die in der
begriffslosen Vieldeutigkeit ihrer Stimmung und Form durch einen Text bestimmt und
eingegrenzt wird“.587
Dies zeigt sich z.B. in einem Lied wie „Erstarrung“, in dem die hektisch wirkenden
Achtel-Triolen, die sich auf die verzweifelte Suche im Schnee beziehen, auch dann noch
erklingen, als der Text etwas eigentlich Statisches beschreibt, nämlich das erstarrte Herz
des Wanderers.588 In „Der Lindenbaum“, um noch ein anderes Beispiel zu nennen,
realisiert die Klavierbegleitung wohl zunächst das „Rauschen“ der Blätter des Baumes;
doch in der fünften Strophe kann man das immer heftiger werdende „Rauschen“ auch
als „Gemütsaufwallung“ interpretieren. Andererseits erinnert die Triolenbewegung des
Vorspiels auch an „Volksliedinstrument[e]“ wie die Zither oder das Hackbrett; insofern
ist es „kein bloßes Stimmungsbild, sondern es fängt darüber hinaus und vor allem
Reales, den Vorgang der Volkslied-Hervorbringung ein“.589
Insgesamt lässt sich festhalten, dass Schubert für alle seine Lieder jeweils eine
individuelle Lösung der Vertonung findet: Es gibt natürlich zuweilen ansatzweise
tonmalerische Passagen, doch oft wird auch nur die Grundstimmung eines Gedichtes
(die ebenso eine Naturstimmung sein kann), eine Idee, der Anklang an eine Gattung
(wie die des Volksliedes in „Der Lindenbaum“) oder eine Botschaft, die „zwischen den
Zeilen“ des Textes steht, musikalisch umgesetzt.
Was die musikalische Entwicklung der „Winterreise“ allgemein betrifft, so ließe sich
die Beobachtung vorausschicken, dass die Musik, entsprechend der stetig wachsenden
Desillusionierung des Wanderers, zunehmend „karger“ wird, was schließlich in der
Monotonie des „Leiermanns“ kulminiert: Baum stellt fest, dass „die großen
melodischen Bögen“ der ersten Lieder immer stärker eingeengt werden „ins
Melismatisch-Deklamatorische“. Der Charakter der Klavierbegleitung nimmt an Härte
zu; die Dynamik zeichnet sich insgesamt anfangs noch durch „gleitende[...] Übergänge“
aus, bleibt aber später immer länger auf der gleichen Stufe stehen oder wechselt extrem
schroff (wie z.B. in „Mut“).590 Laut Haesler möchte Schubert mit dem letzten Lied,
„Der Leiermann“, in völlig illusionsloser Weise die Sinnlosigkeit und Verzweiflung des
586
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 34.
SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem Abgrund, S. 375.
588
Vgl. FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 333.
589
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 368.
590
BAUM, Günther: Das Problem der „Winterreise“, S. 644.
587
111
menschlichen Daseins vorführen, zugleich aber als einzig möglichen Ausweg aus dieser
Verzweiflung das Anerkennen der Realität des Todes als Teil des menschlichen Lebens
vorschlagen. Die Vertonung dieses Liedes wirke somit auf den Hörer zugleich
„erschütternd[...]“ und „tröstend“.591
Im folgenden soll nun noch etwas detaillierter untersucht werden, wie Schubert die
Gemütsverfassung des melancholischen Wanderers auch in der Musik greifbar werden
lässt; hierzu wird die Komposition unter verschiedenen Gesichtspunkten – tonartlicher,
melodischer, harmonischer Art etc. – beleuchtet.592
5. 5. 1 Tonartencharakteristik
Obwohl Schubert, wie eben ausgeführt wurde, bei der Vertonung seiner Lieder zu sehr
individuellen Lösungen greift, lehnt er sich zuweilen natürlich trotzdem noch an
traditionelle Kompositionsweisen an. So werden etwa zur Zeit Schuberts den
verschiedenen Tonarten jeweils ganz bestimmte Eigenschaften zugeschrieben, d.h. sie
werden mit eindeutig bestimmbaren Affekten in Verbindung gebracht.593 Dies hängt
damit zusammen, dass man Tasteninstrumente damals noch nicht in der Weise stimmt
wie heute: Die so genannte „gleichschwebend temperierte Stimmung“ ist noch nicht
allgemein üblich. Aufgrund dessen klingen damals Tonarten mit vielen Vorzeichen auf
Tasteninstrumenten normalerweise noch unsauberer als solche mit wenigen Vorzeichen
(da bei ersteren nicht so viele reine Intervalle auf den Hauptstufen der Tonleiter stehen).
Für Streichinstrumente bevorzugt man Kreuztonarten, da man sie hier am besten
intonieren kann. Auf der Trompete hingegen klingt z.B. die Tonart D-Dur am klarsten,
weswegen man für Trompetenstücke, die besonders festlich klingen sollen, gern diese
Tonart wählt. Diese eigentlich rein technisch bedingten klanglichen Besonderheiten der
einzelnen
Tonarten
werden
Ausdruckswerten gleichgesetzt.
nun
aber,
wie
gesagt,
auch
mit
spezifischen
594
Ein entsprechendes System findet sich z.B. bei Christian Friedrich Daniel Schubart
(1739-1791), der in seiner Fragment gebliebenen und später von seinem Sohn Ludwig
591
HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und
ihrer musikalischen Realisierung, S. 396.
592
Viele zur Beantwortung dieser Fragestellung wertvolle Beobachtungen liegen durch die Analysen der
Schubert-Lieder von Marie-Agnes Dittrich vor, weswegen ich mich im folgenden stark auf sie beziehe
(v.a. auf ihren Beitrag im Schubert Handbuch: DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es
Harmonien.“ Die Lieder, S. 142-267, aber auch auf ihre Monographie: Dies.: Harmonik und
Sprachvertonung in Schuberts Liedern).
593
Vgl. hierzu: dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 164.
594
Vgl. hierzu auch den Hinweis Sulzers, „daß die Tonarten, welche die reinesten Intervale haben, und
überhaupt die harten Tonarten, zu vergnügten, die weichen aber, und die, deren Intervalle weniger rein
sind, zu zärtlichen und traurigen Empfindungen sich am besten schicken“ (SULZER, Johann Georg: Art.
„Lied“. In: Allgemeine Theorie der schönen Künste, S. 278).
112
herausgegebenen Schrift „Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst“595 einen Abschnitt der
„Charakteristik der Töne“ widmet. Auch in der bereits zitierten „Encyclopädie der
gesammten musikalischen Wissenschaften“ von Gustav Schilling sind Artikel zu allen
Tonarten enthalten, in denen deren Charaktere erläutert werden (wobei hier auch häufig
Schubart zitiert wird).
Es ist sehr wahrscheinlich, dass Schubert diese Tradition, den Tonarten bestimmte
Affekte zuzuschreiben, kennt und sich auch daran orientiert596: Er setzt z.B. das erste
Lied, „Gute Nacht“, in d-Moll – in die Tonart, die laut Schubart für „schwermüthige
Weiblichkeit“ steht, „die Spleen und Dünste brütet“.597 Mit den Vokabeln
„schwermüthig“ und vor allem „Spleen“ wird hier offensichtlich an den MelancholieDiskurs angeknüpft; um die melancholische Stimmung des ersten Liedes zu
transportieren, erscheint die Tonart d-Moll also überaus geeignet. Auch dass Schubert
das Lied „Gefrorne Tränen“ in f-Moll komponiert, jener Tonart, die Schubart zufolge
„tiefe Schwermuth, Leichenklage, Jammergeächz, und grabverlangende Sehnsucht“
ausdrückt598, wird wohl kein Zufall sein. Die Resignation und Schicksalsergebenheit,
die in „Irrlicht“, „Einsamkeit“ und „Der Leiermann“ thematisiert werden, finden ihren
Ausdruck in ihrer gemeinsamen Tonart h-Moll, dem „Ton der Geduld, der stillen
Erwartung seines Schicksals, und der Ergebung in die göttliche Fügung. Darum ist
seine Klage so sanft, ohne jemals in beleidigendes Murren, oder Wimmern
auszubrechen“.599 Budde zufolge ist die Tonart h-Moll in vielen Werken Schuberts aber
auch „die Tonart der Einsamkeit, der Verlassenheit und schließlich der Verzweiflung
und Todessehnsucht“.600 „Wasserflut“ steht in fis-Moll – laut Schubart „Ein finsterer
Ton“601; „Das Wirtshaus“, in dem es um die Hoffnung auf ewige Ruhe geht, steht in der
595
SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst. Hrsg. von Fritz und
Margrit KAISER. Hildesheim u.a. 1990 (2. Nachdruck der Ausgabe Wien 1806).
596
Laut Dürr tut Schubert dies allerdings nicht bewusst, also aufgrund theoretischer Erwägungen, sondern
eher intuitiv. Deshalb könne die Wahl einer bestimmten Tonart auch „durch andere, wichtigere,
praktische oder ästhetische Gründe aufgehoben werden [...]. Ein ‚praktischer’ Grund kann z.B. die
Anpassung an eine bestimmte Stimmlage sein – Transposition –, ein ästhetischer die überraschende
‚Rückung’“ (DÜRR, Walther: Das deutsche Sololied im 19. Jahrhundert, S. 266).
597
SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 377. Bei Schilling
wird das Bedeutungsspektrum der Tonart sogar noch ein wenig erweitert: „Doch auch Schwermuth
überhaupt, tiefe Trauer und Bangigkeit, die aber noch nicht verzagt, sondern emsig hascht nach einem
Trost, [...], liegen in ihrem Bereich“ (SCHILLING, Gustav [Hrsg.]: Art. „D-Moll“. In: Encyclopädie der
gesammten musikalischen Wissenschaften, Bd. 2, S. 433).
598
SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 378.
599
Ebd., S. 379 f.
600
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 72. Schubert scheint in mehreren Fällen einzelnen Tonarten
andere oder zusätzliche Bedeutungen zuzuweisen. So wechseln z.B. in „Frühlingstraum“ (S. 150 ff.) ADur- mit a-Moll-Teilen ab, was laut Dürr bei Schubert „nicht selten den Gegensatz von Utopie und
Wirklichkeit“ wiedergibt (DÜRR, Walther: Lieder. In: Ders. / FEIL, Arnold: Franz Schubert. Musikführer,
S. 146).
601
SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 379.
113
entsprechenden Tonart F-Dur.602 Und so ließe sich die Aufzählung noch weiter
fortführen.
Manchmal verwendet Schubert Tonartencharakteristik aber auch innerhalb der Lieder.
Ein Beispiel ist das Lied „Die Post“, das im fröhlichen „Feldton“ Es-Dur steht603, in
dem aber nach den beiden Generalpausen in T. 26 bzw. 71 jeweils in es-Moll – der
Tonart „der schwärzesten Schwermuth, der düstersten Seelenverfassung“604
– neu
angesetzt wird (wobei natürlich danach immer recht schnell in noch weiter entfernte
Tonarten moduliert wird). Dieser Wechsel der Tonart geht im ersten Fall auch mit der
traurigen Einsicht des Wanderers „Die Post bringt keinen Brief für dich“ (T. 28 ff.)
einher.605 Ein anderes von vielen weiteren Beispielen liefert das Lied „Der Wegweiser“,
in dem die Haupttonart g-Moll in den Takten 15 und 16 verlassen wird und eine
Ausweichung nach f-Moll stattfindet – in eben jene Tonart der „grabverlangende[n]
Sehnsucht“ (s.o.).606
Teilweise werden durch Tonarten aber auch nicht nur Affekte, sondern ganz bestimmte
Inhalte ausgedrückt.607 In „Der Lindenbaum“ etwa schwankt die Harmonik in der
fünften Strophe stets zwischen C-Dur und H-Dur hin und her, wodurch laut Dittrich das
„Windgeräusch“ im Baum dargestellt wird608; darüber hinaus erscheint es jedoch auch
bedeutsam, dass es gerade diese beiden Tonarten sind (das „rein[e]“ C-Dur, das unter
anderem für „Einfalt“ oder „Naivetät“, man könnte vielleicht auch sagen: für Idylle,
steht609, und H-Dur, die Tonart der „wilde[n] Leidenschaften“ und „Verzweiflung“610),
die hier miteinander abwechseln. Georgiades hat überdies festgestellt, dass in vielen
Liedern Tonwiederholungen als Todessymbol erscheinen, wobei es sich hierbei häufig
um den Ton fis handelt (den Schubart, wie schon gesagt, als „finsteren Ton“ bezeichnet
(s.o.).611 Auch hier ließen noch zahlreiche weitere Beispiele anführen.
Was man bei derartigen Untersuchungen jedoch im Blick haben sollte, ist die Tatsache,
dass es Akkordverbindungen oder melodische Figuren gibt, die ihren eigenen
Symbolwert besitzen, der eben nicht von einer spezifischen Tonart abhängt (so wirkt
eine Terzrückung nach oben beispielsweise grundsätzlich aufhellend). Und man muss
602
Georgiades behauptet allerdings, dass diese F-Tonart einen für das Dur ungewöhnlichen Charakter
habe. Sie spiegele „das Abgeklärte, Nicht-Affektvolle, Ruhige, Großatmige, Friedliche, auch das
Ergeben-Weihevolle“ (GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 379).
603
SCHILLING, Gustav (Hrsg.): Art. „Es-Dur“. In: Encyclopädie der gesammten musikalischen
Wissenschaften, Bd. 2., S. 625.
604
SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 378.
605
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 170.
606
Vgl. BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 87 ff.
607
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 165.
608
Ebd.
609
SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S. 377.
610
Ebd., S. 378 f.
611
Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 283.
114
natürlich auch die bereits erwähnte Tatsache berücksichtigen, dass Lieder in dieser Zeit
oft nachträglich transponiert werden, um sie für die Interpreten sangbarer zu machen –
eine allzu starke Festlegung auf bestimmte Tonarten scheint also zumindest nicht immer
vorzuliegen.612 Beachtet man solche Tatsachen nicht, steht man in der Gefahr, denen
schon manche Wissenschaftler bei der Interpretation von Schubert-Liedern erlegen sind:
Man könnte versucht sein, den von ihm verwendeten Tonarten immer ein und denselben
bestimmten Ausdruckswert zuzuschreiben. Ein besonderes Kuriosum stellt hierbei die
Behauptung dar, F-Dur oder f-Moll stünden grundsätzlich immer für Franz
(Schubert).613
5. 5. 2 Rhythmik
Auf der Ebene der Rhythmik bedient sich Schubert oft traditioneller kompositorischer
Mittel, um die melancholische Wirkung der „Winterreise“ musikalisch auszudrücken.
Häufig verwendet er zu diesem Zweck Tanzrhythmen, z.B. den der Pavane614, wie in
„Das Wirtshaus“, oder auch den des Totentanzes.615 Georgiades erkennt übrigens
Entsprechungen zwischen diesem letztgenannten Lied und dem „Kyrie“ aus dem
gregorianischen Requiem. Beide Stücke würden nicht nur „dieselbe melodische
Substanz verwenden“, sondern seien auch identisch in der „Gesamtanlage“ und in den
„musikalischen Gebärden“.616 Georgiades lässt die Frage offen, ob Schubert das Lied
bewusst in Analogie zum Kyrie gesetzt habe oder ob dies unbewusst, etwa aufgrund
von Kindheitserinnerungen, geschehen sei.617
Die Lieder „Wasserflut“, „Irrlicht“ und „Die Nebensonnen“ sind im langsamen
Sarabandenrhythmus komponiert, wodurch Resignation ausgedrückt wird. Andererseits
erinnern gerade „Die Nebensonnen“ sowie „Das Wirtshaus“ durch die Dichte ihrer
612
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 165.
Vgl. BODENDORFF, Werner: Art. „Tonartencharakteristik“. In: Schubert-Lexikon, S. 467.
614
Hierbei handelt es sich um einen „feierlich-gravitätisch[en]“ Schreittanz (DAHLHAUS, Carl /
EGGEBRECHT, Hans Heinrich [Hrsg.]: Art. „Pavane“. In: Brockhaus Riemann Musiklexikon in vier
Bänden und einem Ergänzungsband. Zürich u.a. 2001, Bd. 3, S. 282).
615
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 155.
616
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 381. Die Behauptung, der Wanderer
beobachte in diesem Lied einen Leichenzug – was so weit geht, dass der dritte Schlag des fünften Taktes
als Abstellen des Sarges interpretiert wird (vgl. ebd., S. 379) – stellt mit Sicherheit eine
Überinterpretation dar; es steht schlicht nicht im Text. Zudem wäre dies genau die Art von Tonmalerei,
die die meisten Wissenschaftler in der „Winterreise“ als erfolgreich vermieden betrachten.
617
Vgl. ebd., S. 383. An Georgiades´ Beobachtung knüpft Ludwig Haesler an (vgl. HAESLER, Ludwig:
Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung und ihrer musikalischen
Realisierung, S. 392 f.), indem er behauptet, nicht nur „Das Wirtshaus“, sondern auch die vier es
umgebenden Lieder seien „aus dem gleichen musikalischen Kernpartikel“ gebildet, „das aus der
Anfangstonreihe des Kyrie“ stamme (ebd., S. 393). Dadurch bestehe zwischen diesen Liedern nicht nur
ein psychologischer, sondern v.a. auch ein musikalischer Zusammenhang, der eine Umstellung der
Schubertschen Reihenfolge unmöglich mache.
613
115
akkordischen Sätze auch an Choräle.618 Den „schlicht[en]“ Gesang der „Nebensonnen“
betrachtet Georgiades als „Inbegriff der Trauer, das Unabänderliche konstatierend“.619
„Einsamkeit“ steht in einem „trauermarschartigen Rhythmus“;620 gleiches gilt laut
Georgiades speziell für das Nachspiel von „Irrlicht“.621 Der Chaconne-Bass in „Auf
dem Flusse“ erweckt „den Eindruck des Immer-Gleichen, des Starren, des
Entwicklungslosen“.622
Die oben besprochene fortlaufende Motorik, die in „Erstarrung“ und in verschiedenen
anderen Liedern der „Winterreise“ auftaucht, erzeugt hingegen ein Gefühl der
Ruhelosigkeit.623 Auch die rhythmisch gegenläufigen Akzente in „Der Lindenbaum“ (T.
29 ff.) bewirken den Eindruck von Unruhe, der sogar in den Durstrophen noch anhält.624
Einen ähnlichen Effekt hat die Verkürzung der Notenwerte in der vierten Strophe von
„Auf dem Flusse“, in der die 16tel zu Triolen und die Achtel zu 32teln werden.625
5. 5. 3 Harmonik
Schuberts Zeitgenossen bringen dem Lied nicht nur in Bezug auf die Form, sondern
auch in Bezug auf die Harmonik gewisse Hörerwartungen entgegen: Ebenso wie im Fall
der Melodik ist man hier relativ einfache Mittel gewohnt. Rückungen in entfernte
Tonarten oder plötzliche Wechsel zwischen Dur und Moll sind eher die Seltenheit.
Schubert setzt sich jedoch häufig auch über diese Konventionen hinweg.626 Im
Gegensatz zu seinen Vorgängern integriert er auch solche harmonischen Verfahren in
seine Lieder, die diese „nur bei größeren Gesängen dramatischen Gehalts“ verwendet
hatten.627
So weicht er etwa an manchen Stellen in den subdominantischen Bereich aus, wenn es
darum geht, „Ausnahmezustände[...]“ – Angst, Traurigkeit oder Tod – zum Ausdruck
zu bringen628; in der liedhaften Periode ist dies hingegen ein eher unübliches Verfahren.
Ein Beispiel für die Anwendung dieses harmonischen Mittels ist das Lied „Die Post“629:
Es steht in Es-Dur, doch wenn quasi von der Beschreibung der äußeren Realität in das
Innere des Wanderers „hineingeblendet“ wird („mein Herz“, T. 15), ist eine
618
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 155.
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 387.
620
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 247.
621
Vgl. GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 367.
622
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 85.
623
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 155.
624
Vgl. dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 156.
625
Vgl. ebd., S. 157 f.
626
Vgl. dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 158.
627
Dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 15.
628
Ebd., S. 169.
629
Vgl. hierzu: dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 247 f.
619
116
Ausweichung nach Des-Dur, das im Quintenzirkel weiter unten liegt, feststellbar. Die
Traurigkeit des Wanderers, die im Text eigentlich nicht explizit besprochen wird,
scheint also durch die Harmonik ausgedrückt zu werden. Später findet sogar noch eine
weitere Modulation in das noch tiefer liegende Ges-Dur statt, dem in Schillings
„Encyclopädie“ gar kein eigener Artikel gewidmet ist. Dittrich ist der Auffassung, dass
durch diese ungewöhnliche Tonart angedeutet werde, dass das „persönliche Erleben des
Erzählers gleichsam weit außerhalb des Üblichen“ liege.630 Es kommt in der
„Winterreise“ häufig vor, dass „ein scheinbar positiver Text von der Harmonik negativ
interpretiert“ wird.631
Auch den durchaus üblichen so genannten „Neapolitaner“, einen Moll-SubdominantDreiklang mit kleiner Sexte anstatt Quinte, der schon seit Mitte des 17. Jahrhunderts
gebraucht wird, um Leiden zu signalisieren, verfremdet Schubert ein wenig, indem er
ihn z.B. als verselbständigten Akkord einsetzt.632 Zu finden ist er u.a. im Vorspiel von
„Die Krähe“. Grundsätzlich scheint er sich bei Schubert häufig in Verbindung mit Tod,
Trauer und Einsamkeit zu finden.633 In „Der Lindenbaum“ taucht er in T. 53 und 54 auf,
und weist somit auch hier auf eine innere Verfassung des Wanderers hin, die im Text
gar nicht benannt wird.634
In den gleichen Zusammenhang gehören übrigens auch die Plagalschlüsse anstelle von
authentischen Kadenzen, die bei Schubert häufig auf „Einsamkeit, Trauer oder Tod“
hinweisen635; zu finden sind derartige Schlüsse etwa in „Letzte Hoffnung“ (T. 46 f.)
oder „Die Krähe“ (T. 42 f.).
Anderer Mittel wie z.B. dem der Terzrückung, die, wenn sie im Quintenzirkel nach
oben gerichtet ist, eine aufhellende, wenn sie sich in weiter unten liegende Tonarten
bewegt, eine verdunkelnde Wirkung besitzt, bedient sich Schubert oft ganz im Sinne der
Tradition.636 In „Der Wegweiser“ etwa erklingt eine solche Rückung von D-Dur nach bMoll.637 In „Die Nebensonnen“ findet ab Takt 20 ebenfalls eine Abwärtsbewegung in
der Harmonik statt, was Georgiades mit einem „musikalischen ‚Nennen’ der Trauer“
gleichsetzt.638 Manchmal aber modifiziert Schubert auch die Verwendung dieses
harmonischen Mittels: Die aufwärts gerichtete Rückung von A-Dur nach Cis-Dur, die in
630
Ebd., S. 248.
Ebd., S. 256.
632
Vgl. ebd., S. 162.
633
Vgl. ebd., S. 166.
634
Vgl. dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 106.
635
Dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 162.
636
Vgl. ebd., S. 159 f.
637
Vgl. ebd., S. 252. Im Charakter von b-Moll schwingt außerdem Schubart zufolge die „Vorbereitung
zum Selbstmord“ mit (SCHUBART, Christian Friedrich Daniel: Ideen zu einer Ästhetik der Tonkunst, S.
378).
638
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 389.
631
117
„Die Nebensonnen“ auftaucht, erklingt zu den Worten „im Dunkeln wird mir wohler
sein“ (T. 27 ff.), was auf den ersten Blick widersprüchlich wirkt. In diesem Fall soll
aber offenbar angedeutet werden, dass die „Gesamtaussage des Liedes“, „die Wendung
zum Tod“, akzeptiert wird.639
„Der Wegweiser“ enthält in den Takten 57 ff. das harmonische Modell einer
Zirkelmodulation, der so genannten „Teufelsmühle“: Über einer chromatisch
aufsteigenden Basslinie erfährt der in T. 57 eingeführte verminderte Septimakkord
mehrere Umkehrungen, wodurch sich jeweils „neue tonale Richtungen“ eröffnen.640
Seidel, der die Stelle ausführlich analysiert hat641, weist darauf hin, dass dieses Modell
auch bei Beethoven, Mozart und anderen Komponisten vorzufinden sei und bereits
„eine wenigstens hundertjährige Geschichte hinter sich“ habe.642 Laut Budde stellt
dieser Klang die „harmonische Zielrichtung“ in Frage, womit die Harmonik auch dem
Inhalt entspricht: „So wie der Wegweiser, den der Wanderer erblickt, ins Nichts führt,
so bewegt sich die Harmonik in einem ziellosen Labyrinth, aus dem es kein Zurück
mehr gibt“.643
In „Der Leiermann“ wie auch in einigen anderen Liedern Schuberts wird Feil zufolge
„die Tonalität als Grundlage ignoriert“, wodurch das „Ende der abendländischen
Musik“ markiert werde: Es sei ein Signal dafür, dass ein „neues Zeitalter der Musik“
begonnen habe.644
5. 5. 4 Melodik
Auch die zu seiner Zeit üblichen Gepflogenheiten im Bereich der Melodik verändert
Schubert in seinen Liedern – was natürlich jeweils einem ganz bestimmten Zweck dient.
Die Bedeutung von Tonwiederholungen, die bei ihm übrigens nicht nur in
rezitativischen, sondern auch in melodiösen Liedteilen Verwendung finden, wurde
639
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 256.
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 89.
641
Vgl. SEIDEL, Elmar: Ein chromatisches Harmonisierungs-Modell in Schuberts Winterreise. In: Archiv
für Musikwissenschaft. Hrsg. von Hans Heinrich EGGEBRECHT. 26. Jahrgang, 1969. Wiesbaden 1969, S.
285-296.
642
Ebd., S. 291. Vgl. dagegen: ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts
„Winterreise“. Zenck bestreitet Seidels Behauptungen, indem er entgegenhält, dass der „Zirkel“ der
Modulation sich bei Schubert nicht schließe (vgl. ebd., S. 155 f.); der Komponist wolle das
Harmonisierungsmodell also offenbar nicht in der traditionellen Weise verwenden, sondern bewusst
davon abweichen (vgl. ebd., S. 158). Zenck spricht deshalb von der „a-topische[n] Topik der Harmonik“
dieser Stelle (ebd., S. 156).
643
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 90. Da an dieser Stelle die Kontroverse von Seidel und
Zenck nicht ausführlicher diskutiert werden kann, sei hier nur noch darauf verwiesen, dass Zenck, obwohl
er die Verwendung der „Teufelsmühle“ bestreitet, zu einem ganz ähnlichen Ergebnis kommt wie Budde:
Zenck zufolge entsprechen die sich niemals auflösenden Dominantseptakkorde dieser Passage dem
Wegweiser, der den Wanderer in die Irre führt (vgl. ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der
Fremde in Schuberts „Winterreise“, S. 158).
644
FEIL, Arnold: Franz Schubert. Die schöne Müllerin, S. 149.
640
118
bereits betont. „Der Wegweiser“ beispielsweise ist beinahe durchgehend von solchen
Tonwiederholungen geprägt. Die sehr einfache Melodie von „Täuschung“ deutet auf die
Selbsttäuschung
des
Wanderers
hin.645
Die
auch
hier
vorkommenden
Tonwiederholungen sind überdies ein Hinweis darauf, dass hinter dem scheinbar
fröhlichen Charakter des Liedes in Wahrheit eine ganz andere Stimmung steckt.646 Im
Gegensatz dazu kommen bei Schubert auch oft unsangliche, d.h. große Intervalle vor,
die, wie oben erläutert, im Lied ungebräuchlich sind. Sie „können Negatives oder
Unstimmigkeit andeuten“: Ein Beispiel sind die Sprünge fis´-d´´ bzw. e´-d´´ in den
Takten 8 und 9 in „Im Dorfe“.647
Auch auf Schuberts Verwendung rezitativischer Passagen (die zu seiner Zeit eigentlich
eher in größeren dramatischen Formen Verwendung finden) wurde oben schon
hingewiesen. Sie dienen dazu, einen gesteigerten Affekt anzuzeigen. Außer den bereits
aufgeführten Beispielen wäre hier noch der „Frühlingstraum“ zu nennen, in dem sehr
melodiöse Teile (z.B. Takt 5-14) jeweils mit eher deklamatorischen Passagen (z.B. Takt
15-26) abwechseln. In „Die Nebensonnen“ hat die Singstimme während des gesamten
Liedes den Charakter eines Rezitativs. Sehr dramatisch wirkt auch die rezitativähnliche
Stelle in „Die Krähe“, bei der der Wanderer den Vogel anspricht (T. 16 ff.). FischerDieskau
bemerkt
‚entgegendulde[...]’“:
dazu,
„So
dass
exakt
der
Wanderer
komponiert
sich
Schubert
hier
die
„dem
Wahnsinn
Psychologie
des
Melancholikers, daß er hier den Sänger aus der Melodie heraustreten und
rezitativähnlich fragen läßt: ‚Krähe, wunderliches Tier, willst mich nicht verlassen?’“648
Leider erklärt Fischer-Dieskau nicht, was genau er unter der „Psychologie des
Melancholikers“ versteht.
Chromatik erscheint bei Schubert – ganz im Sinne der Tradition – dann, wenn
Ausnahmezustände, z.B. „Schrecken oder Resignation“, markiert werden sollen.649 Ein
Beispiel hierfür wäre das Lied „Der greise Kopf“, in dem auf die Worte „daß mir´s vor
meiner Jugend graut“ eine chromatische Linie nach oben geführt wird (T. 20 ff.).
Manchmal kann durch chromatische Wendungen, die eher subtile harmonische
Spannungen erzeugen, auch etwas ausgedrückt werden, was im Text nicht so explizit
gesagt wird650: Als ein Beispiel kann hier wiederum das schon erwähnte Schwanken
zwischen C-Dur und H-Dur in „Der Lindenbaum“ dienen.
645
Vgl. LOWEN MARSHALL, H.: Symbolism in Schubert´s Winterreise, S. 624.
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 251.
647
Ebd., S. 156.
648
FISCHER-DIESKAU, Dietrich: Schubert und seine Lieder, S. 338.
649
DITTRICH, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 96.
650
Vgl. dies.: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 160.
646
119
Durch die Abwärtsführung von Melodielinien wird der Eindruck von Resignation
erweckt651; dies gilt gleich für die ersten Töne des Zyklus in „Gute Nacht“. Die letzten
beiden Töne des Werks, g-fis, bilden eine abwärts gerichtete kleine Sekunde – eine
Figur, die Budde zufolge sogar bereits in der Barockmusik für „Trauer und Leid“
steht.652
Eine Reduktion der Stimmenzahl – evtl. bis zum Unisono oder Oktavunisono – kann
Leblosigkeit, oder, wie im Falle von „Der Wegweiser“, „Ausweglosigkeit“ ausdrücken
(wobei hier auch Chromatik und Tonwiederholungen verwendet werden, wodurch
„gleich drei semantische Bedeutungen anklingen: Schrecken, Trauer“ und der
„Todesgedanke[...]“).653 „Der stürmische Morgen“ beginnt mit Unisono-Führung;
Lowen Marshall erklärt sich dies so, dass volle Harmonien die „inward coldness“ nicht
so eindrücklich darstellen könnten.654
Interessant ist die Beziehung von Melodieführung und Klavierbegleitung in „Im Dorfe“:
Georgiades weist darauf hin, dass die Begleitung hier „weder als reine Spielbegleitung
anzusehen ist, noch mit dem Gesang verschmilzt“.655 Dies entspricht auch der Situation
des Wanderers: Er ist von der Gesellschaft (im Lied stehen hierfür das „Gebell“ und
„Kettengeklirr“ in der Klavierstimme) völlig isoliert.656
In „Die Krähe“ steht die Triolenbewegung im Klavierpart (die das kreisende Fliegen
oder, wie oben schon erwähnt, das Flattern des Vogels musikalisch umsetzt) der
gehenden 2/4-Bewegung des Wanderers gegenüber; dies könnte man auf abstrakterer
Ebene auch dahingehend deuten, dass im Wanderer ein innerer Kampf stattfindet
zwischen dem Wunsch zu sterben und seinem Zwang, weiterwandern zu müssen.657
Die offenen Quinten im Klavierpart von „Der Leiermann“ interpretiert Lowen Marshall
als Symbol für das frustrierende Leben des Wanderers, die Monotonie dieser Begleitung
als seine „pathological fixation“ auf die Sinnlosigkeit seines Daseins.658
5. 5. 5 Tongeschlechter
Schubert verwendet die Tongeschlechter oft, ganz der Tradition seit dem 16.
Jahrhundert folgend, als Ausdruck von Freude (Dur) bzw. Trauer (Moll).659 In der
651
Vgl. ebd., S. 157.
BUDDE, Elmar: Schuberts Liederzyklen, S. 94.
653
DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 252.
654
LOWEN MARSHALL, H.: Symbolism in Schubert´s Winterreise, S. 623.
655
GEORGIADES, Thrasybulos: Schubert. Musik und Lyrik, S. 360.
656
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 250.
657
Vgl. HAESLER, Ludwig: Franz Schuberts Winterreise: Zur Dynamik der psychologischen Entwicklung
und ihrer musikalischen Realisierung, S. 390 f.
658
LOWEN MARSHALL, H.: Symbolism in Schubert´s Winterreise, S. 629.
659
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 158.
652
120
„Winterreise“ wirken die Lieder oder Passagen in Dur jedoch meist nicht unbedingt
fröhlich, da sie häufig harmonisch, formal oder metrisch instabil sind. Dittrich sieht
darin einen Grund für die „bedrückende[...] Wirkung“ der „Winterreise“.660 Die
Durstrophe von „Gute Nacht“ kann hierfür als Beispiel dienen: Sie erscheint
harmonisch weit weniger stabil als die Strophen in Moll.661 Moll scheint in der
„Winterreise“ grundsätzlich dann aufzutauchen, wenn ein Bezug auf die gegenwärtige
Realität des Wanderers vorliegt.662 Dies gilt z.B. für „Gefrorne Tränen“. Dittrich
behauptet außerdem, dass das Dur sich in den ersten acht Liedern wie das Moll auf die
Gegenwart beziehe, von da an aber auch in Verbindung mit den Illusionen und
Selbsttäuschungen oder der Todessehnsucht des Wanderers erklinge (da von diesem
Zeitpunkt an die Vergangenheit auch nicht mehr Gegenstand seiner Reflexionen sei).
Wenn das Dur die Welt um den Protagonisten herum beschreibe, gehe dies fast immer
mit einem negativen Textinhalt einher (z.B. in „Die Wetterfahne“, in der die
gefühlskalten Eltern des Mädchens thematisiert werden; T. 30 ff.).663
Neu ist an der Behandlung der Tongeschlechter bei Schubert auch, dass er manchmal
recht abrupt zwischen ihnen hin- und herwechselt, etwa zum Zweck der
Strophenvariation.664 Ein Beispiel ist der „Frühlingstraum“, in dem Dur- und Moll-Teile
übergangslos abwechseln.
Manchmal setzt er sie auch, wie schon angedeutet, genau umgekehrt gegenüber ihrer
traditionellen Verwendung ein, z.B. durch die Vertonung eines eigentlich negativen
Textes in Dur und vice versa. Gerade das Vorkommen eines Durklanges an einer Stelle,
wo eigentlich Moll stehen sollte, mutet häufig wie ein Verdrängungsversuch an. „Letzte
Hoffnung“ etwa steht in Es-Dur, was aber nur selten erklingt; erst ausgerechnet am
Schluss, bei den Worten „wein auf meiner Hoffnung Grab“ (T. 35 ff.), wird das Es-Dur
richtig deutlich.665 Ein ähnlicher Fall liegt in „Im Dorfe“ vor: Hier wird die Passage
„Ich bin zu Ende mit allen Träumen“ (T. 35 ff.) einmal in Moll, bei der Wiederholung
in Dur harmonisiert, wodurch sich ausdrücken könnte, dass „der Wanderer seine
660
Dies.: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 149.
Vgl. ebd., S. 154. Schmid Noerr wertet die „ätherische Musik“ dieser Stelle als „Symbol reiner
Versöhnung bei vollem Eingedenken des Leidens“ (SCHMID NOERR, Gunzelin: Der Wanderer über dem
Abgrund, S. 392). Diese versöhnliche Stimmung werde jedoch durch die letzten zuerst in Dur, dann in
Moll erklingenden Worte wieder relativiert: Der Wanderer äußere einen leise nagenden Zweifel. Im
Nachspiel schließlich würden diese Zweifel „objektiviert“: Es werde in diesen letzten Moll-Takten nicht
mehr die Wahrnehmung des Subjekts dargestellt (ebd., S. 394), sondern der Blick werde nun „mit
nüchterner Trauer“ von außen auf das Schicksal des Protagonisten gerichtet (ebd., S. 395).
662
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: Harmonik und Sprachvertonung in Schuberts Liedern, S. 148.
663
Vgl. ebd., S. 163.
664
Vgl. DITTRICH, Marie-Agnes: „Für Menschenohren sind es Harmonien.“ Die Lieder, S. 158.
665
Vgl. ebd., S. 167.
661
121
Desillusionierung positiv bewerten möchte“.666 Ebenfalls wie eine Selbsttäuschung
wirkt das Dur in „Mut“, das jedoch bei der Wiederholung der dritten Strophe (T. 49 ff.)
„wie ein Versprecher“ doch nach g-Moll führt.667 Eine vergleichbare Wirkung hat das
Zurückfallen der Harmonik in die Molltonart in „Gute Nacht“ (T. 98 ff.). Die
tatsächliche Empfindung des Wanderers kommt auch hier durch dieses Mittel zum
Vorschein.668
Zusammenfassung und Ausblick
Das Hauptanliegen dieser Arbeit bestand darin, die „Winterreise“ von Wilhelm Müller
und Franz Schubert in den Melancholie-Diskurs einzuordnen, ihre zyklische Struktur zu
untersuchen und auch den Zusammenhang zwischen dieser Struktur und der im Werk
vermittelten Melancholie aufzuzeigen.
Es wurde deutlich, dass über Melancholie schon seit der Antike in den
unterschiedlichsten Disziplinen ein reger Diskurs stattfindet, was auch bedeutet, dass
das Phänomen im Lauf der Geschichte sehr verschiedene Bedeutungen besitzt, die oft
auch nebeneinander bestehen bleiben. Während es in der Antike als Krankheit oder, bei
richtiger Zusammensetzung der Körpersäfte, als geniale Veranlagung verstanden wird,
gehört es im Mittelalter zu den Sieben Todsünden. Diese ambivalente Sichtweise auf
die Melancholie charakterisiert auch ihre ganze weitere Geschichte. So wird sie z.B. im
18. Jahrhundert von der Medizin als Form des Wahnsinns und von den Aufklärern als
religiöse Schwärmerei abgestempelt, während sie in der Philosophie und in der Kunst –
in Anlehnung an die Auffassung der Antike und auch der Renaissance – eine deutliche
Aufwertung erfährt.
In der Restaurationszeit, in die auch die Entstehung der „Winterreise“ fällt, äußert sich
die Melancholie in Form des Weltschmerzes, der u.a. politische, wirtschaftliche und
weltanschauliche Ursachen hat. Wie gezeigt werden konnte, sind Wilhelm Müller und
Franz Schubert wie viele andere Intellektuelle ihrer Zeit ganz offenbar auch von diesem
Weltschmerz betroffen, was zunächst einmal eine Erklärung für die Entstehung des
Werks liefert (denn vor allem in Müllers Leben lassen sich keine „äußeren Gründe“
dafür finden, warum er eine so melancholische Dichtung hätte schaffen sollen).
Zugleich trägt die Erkenntnis, dass der Weltschmerz den sozialhistorischen Hintergrund
der „Winterreise“ darstellt, aber auch Wesentliches zu deren Verständnis selbst bei. So
lassen sich etwa in den Gedichten Motive feststellen, die man als „typisch
666
Ebd., S. 250.
Ebd., S. 253.
668
Vgl. ebd., S. 159.
667
122
weltschmerzlerisch“ bezeichnen könnte; zugleich zeichnen sich durch sie das Verhalten
und die Gemütsverfassung des Protagonisten aus (seine Desillusionierung und sein
Nihilismus sind unter anderem dazu zu zählen). Und auch im ganz Kleinen bestimmt
der Weltschmerz die poetische Gestaltung des Zyklus: Das unscheinbare Motiv der
verwelkten Blume z.B. wird, wie Harald Bost gezeigt hat, in der Weltschmerz-Literatur
häufig verwendet und taucht eben auch in der „Winterreise“ auf. Das Motiv der
Todessehnsucht, die der Wanderer schon von einem frühen Zeitpunkt seiner Reise an
und bis zu deren Ende verspürt, stellt ebenfalls ein weltschmerzlerisches Motiv dar –
man könnte auch sagen: typisch spätromantisches Motiv, denn die Spätromantik ist die
eigentliche künstlerische Epoche, in der die „Winterreise“ entsteht –, weil derartige
Empfindungen aufgrund der historischen Bedingungen der Entstehungszeit des Werkes
verbreitet sind und deshalb auch vielfach künstlerisch verarbeitet werden. Andererseits
konnte dargelegt werden, dass die Todesneigung den Melancholiker bereits seit der
Antike auszeichnet. Und so sind noch mehrere Motive in der „Winterreise“ enthalten,
die eben nicht nur weltschmerztypisch sind, sondern durch die auch der Bezug des
Werks zum uralten Melancholie-Diskurs deutlich wird (so wie die Traurigkeit oder die
Einbildungskraft des Wanderers und andere mehr). Wenn von der „Melancholie“ dieses
Zyklus die Rede ist, so bezeichnet das Wort hier also mehr als nur eine „traurige
Stimmung“. Die Melancholie äußert sich in der „Winterreise“ vielmehr auf mindestens
drei Ebenen: Sie ist der Grund für ihre Entstehung, sie bestimmt ihre künstlerische
Gestaltung und sie durchdringt ihren ganzen Inhalt. Als in der Epoche des
Weltschmerzes entstandenes und somit von spätromantischer (aber eben zugleich auch
von „zeitloser“) Melancholie beherrschtes Werk lässt sich dieses eindeutig in den
Melancholie-Diskurs einreihen.
Diese Melancholie lässt sich natürlich auch in der Musik wieder finden und aufzeigen.
Schubert verwendet bestimmte kompositorische Mittel – manche davon sind
traditioneller Art, manche neu, manche traditionell, aber ungewöhnlich im Lied –, um
die melancholische Stimmung der Texte auch in der Vertonung zum Ausdruck zu
bringen. Hierzu gehören Tonartencharakteristik, die Verwendung alter feierlicher
Tanzrhythmen, harmonische Besonderheiten wie der Neapolitanische Sextakkord, der
bei Schubert häufig mit dem Todesgedanken verbunden ist, und viele weitere.
Was für Text und Musik der „Winterreise“ ebenfalls nachgewiesen werden konnte, ist
deren zyklische Anlage. Es wurden vier zyklische Merkmale aufgestellt (Linearität,
Kohärenz, Mittelpunktsbezogenheit und Geschlossenheit), die auf beiden Ebenen erfüllt
sind. Dabei stellte sich heraus, dass zwischen der Melancholie (also dem Inhalt) und der
Zyklik (also der Struktur) des Werks deutliche Zusammenhänge bestehen. So wirken
123
z.B. die oben genannten Melancholie-Motive kohärenzstiftend im Zyklus, und das
motivisch-thematische Zentrum, auf das sich alle Gedichte beziehen, ist die
Wanderschaft (die wiederum ein typisches Melancholie-Symptom darstellt). Die
„gehende Bewegung“, die für die Komposition bestimmend ist, entspricht wiederum
diesem Motiv der Wanderschaft im Text. Die Geschlossenheit des Zyklus schließlich,
die auf textlicher Ebene als Möglichkeit der ständigen Wiederholung der Gedichte
identifiziert und auch auf musikalischer Ebene nachgewiesen werden konnte, entspricht
einem Charakteristikum des Melancholikers, das Sigmund Freud diesem zuschreibt:
seiner Angewohnheit, seine Klagen ständige aufs Neue wiederholen zu wollen.
Die vielleicht faszinierendste Erkenntnis aus meinen Untersuchungen war für mich die
Tatsache, dass die Melancholie ein so allgegenwärtiges, in eigentlich allen Epochen
präsentes und auch immer wieder neu diskutiertes und interpretiertes Phänomen
darstellt. Man versteht darunter zwar in der Antike etwas anderes als etwa in der
Restaurationszeit, und in der Restaurationszeit wiederum etwas anderes als heute, aber
manche Bedeutungen der Melancholie bleiben über fast alle Zeiten hinweg erhalten. Die
Gründe für die Melancholie sind zu jeder Zeit andere, und auch in Zukunft werden sich
diese Gründe immer wieder verlagern. Aber es wird sie immer geben. Sie ist ein
allgemeinmenschliches Phänomen.
Meiner Überzeugung nach liegt es auch genau hierin begründet, dass sich kein
ernsthafter Leser bzw. Hörer der „Winterreise“ deren bedrückender Wirkung zu
entziehen vermag. Das Werk mag die spätromantische Melancholie des Weltschmerzes
im speziellen enthalten – und in diese Epoche der Restaurationszeit mit ihren Nöten und
Problemen kann sich heutzutage wohl niemand mehr wirklich hineinfühlen. Aber
dadurch, dass sie auch durch „zeitlose“ Anklänge an den Melancholie-Diskurs geprägt
ist, empfindet man sie als immer noch aktuell und fühlt sich davon auch immer noch
tief bewegt und angesprochen. Auf der anderen Seite scheint es mir aber auch so zu
sein, dass manche Ursachen des damals verbreiteten Weltschmerzes selbst unsere
heutige Gesellschaft noch umtreiben; über wirtschaftliche Probleme im Kleinen wie im
Großen etwa wird überall geklagt, und auch der Metaphysikverlust jener Zeit scheint
sich bis ins 21. Jahrhundert hinein eher noch vertieft als entspannt zu haben. Vielleicht
sind Müller und Schubert und ihre Zeit gar nicht so weit von uns entfernt, wie wir
zunächst denken?
Für die extrem große Faszination, die der Zyklus auch heute immer noch auf alle
Rezipienten ausübt, spricht jedenfalls nicht zuletzt, dass er nach wie vor seinen festen
Platz in Konzertprogrammen hat. Zudem regt er noch immer zur künstlerischen
Auseinandersetzung an: So existieren z.B. eine Neuvertonung der Gedichte von Reiner
124
Bredemeyer von 1984 und eine Bearbeitung des Werks für Tenor und Orchester von
Hans Zender (1993). Es wäre überaus interessant gewesen, neben Schuberts Vertonung
auch
diese
zeitgenössischen
musikalischen
Umsetzungen
des
Müllerschen
Gedichtzyklus zu untersuchen. Spielt die Melancholie hier ebenfalls eine so tragende
Rolle? Und wenn ja, in welcher Weise kommt sie dann in diesen modernen Fassungen
des Zyklus zum Tragen? Die Erforschung dieser Fragen hätte den Rahmen dieser Arbeit
gesprengt, könnte aber in eigenen Untersuchungen durchaus aufschlussreich sein.
125
Literaturverzeichnis
1. Primärliteratur:
•
MÜLLER, Wilhelm: Die Winterreise. In: Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher.
Briefe. Hrsg. von Maria-Verena LEISTNER. Band I: Gedichte I. Berlin 1994, S. 170186.
2. Notenausgabe:
•
SCHUBERT, Franz: Winterreise op. 89. In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg.
von der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie IV: Lieder. Bd. 4, Teil a.
Vorgelegt von Walther DÜRR. Kassel u.a. 1979, S. 110-191.
3. Quellen:
•
MAYRHOFER, Johann: Erinnerungen an Franz Schubert. In: Über Schubert. Von
Musikern, Dichtern und Liebhabern. Eine Anthologie. Hrsg. von Georg
BRAUNGART und Walther DÜRR. Stuttgart 1996, S. 40-46.
•
MÜLLER, Wilhelm: Brief an Baron Karl von Rumohr vom 15. November 1818. In:
Wilhelm Müller. Werke. Tagebücher. Briefe. Hrsg. von Maria-Verena LEISTNER.
Bd. 5: Tagebücher. Briefe. Berlin 1994, S. 126-128.
•
MÜLLER, Wilhelm: Brief an Ludwig Tieck vom 11. Juli 1827. In: Wilhelm Müller.
Werke. Tagebücher. Briefe. Hrsg. von Maria-Verena LEISTNER. Bd. 5: Tagebücher.
Briefe. Berlin 1994, S. 420 f.
•
MÜLLER, Wilhelm: Tagebucheintrag vom 8. Oktober 1815. In: Wilhelm Müller.
Werke. Tagebücher. Briefe. Hrsg. von Maria-Verena LEISTNER. Bd. 5: Tagebücher.
Briefe. Berlin 1994, S. 10.
•
SCHUBERT, Franz: Brief an Franz von Schober vom 30. November 1823. In: Neue
Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft.
Serie VIII: Supplement, Bd. 5: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Hrsg. von
Otto Erich DEUTSCH. Kassel u.a. 1964, S. 207.
•
SCHUBERT, Franz: Brief an Franz von Schober vom 21. September 1824. In: Neue
Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft.
Serie VIII: Supplement, Bd. 5: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Hrsg. von
Otto Erich DEUTSCH. Kassel u.a. 1964, S. 258 f.
•
SCHUBERT, Franz: Brief an Leopold Kupelwieser vom 31. März 1824. In: Neue
Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft.
126
Serie VIII: Supplement, Bd. 5: Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Hrsg. von
Otto Erich DEUTSCH. Kassel u.a. 1964, S. 234 f.
•
SCHUBERT, Franz: Mein Traum (1822). In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke. Hrsg.
von der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie VIII: Supplement, Bd. 5:
Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Kassel
u.a. 1964, S. 158 f.
•
SCHUBERT, Franz: Notiz vom 27. März 1824. In: Neue Ausgabe sämtlicher Werke.
Hrsg. von der Internationalen Schubert-Gesellschaft. Serie VIII: Supplement, Bd. 5:
Schubert. Die Dokumente seines Lebens. Hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Kassel
u.a. 1964, S. 232 f.
•
VON
SPAUN, Josef: Aufzeichnungen über meinen Verkehr mit Franz Schubert
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von SPAUN, Josef: Über Schubert (1829). In: Schubert. Die Erinnerungen seiner
Freunde. Gesammelt und hrsg. von Otto Erich DEUTSCH. Wiesbaden 1983, S. 24-37.
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bearbeitete
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Hrsg.
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von Günther DROSDOWSKI. Mannheim u. a. 1994, Bd. 4, S. 1992.
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Hrsg. von Wolfgang BONSIEPEN und Reinhard HEEDE. Düsseldorf 1980.
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academischer Vorträge, und zum Privatstudium. Nebst einem Anhange erläuternder
und beweisführender Aufsätze. Leipzig 1822.
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HEINROTH, Johann Christian August: Lehrbuch der Störungen des Seelenlebens oder
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entworfen. Zwey Theile. Leipzig 1818.
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(Musikwissenschaft).
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HÖRISCH, Jochen: „Fremd bin ich eingezogen“ – Die Erfahrung des Fremden und
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KANT, Immanuel: Beobachtungen über das Gefühl des Schönen und Erhabenen.
Hrsg. von Klaus H. FISCHER. Schutterwald/Baden 2002.
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KIERKEGAARD, Søren: Die Krankheit zum Tode. Aus dem Dänischen übersetzt und
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•
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VÖLKER, Ludwig: Muse Melancholie – Therapeutikum Poesie. Studien zum
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•
WAGNER-EGELHAAF, Martina: Die Melancholie der Literatur. Diskursgeschichte
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•
WALTHER, Lutz: Einleitung. In: Melancholie. Hrsg. von Lutz WALTHER. Leipzig
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•
WETZEL, Heinz: Wilhelm Müller, Die schöne Müllerin und Die Winterreise: Die
Frage nach den Zusammenhängen. In: Aurora. Jahrbuch der EichendorffGesellschaft für die klassisch-romantische Zeit. Hrsg. von Helmut KOOPMANN u.a.
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•
WITTKOP, Christiane: Polyphonie und Kohärenz. Wilhelm Müllers Gedichtzyklus
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•
ZENCK, Martin: Die romantische Erfahrung der Fremde in Schuberts „Winterreise“.
In: Archiv für Musikwissenschaft. Hrsg. von Hans Heinrich EGGEBRECHT. 44.
Jahrgang 1987. Stuttgart 1987, S. 141-160
136
Wahrheitsgemäße Erklärung
Ich erkläre hiermit, dass ich
•
die eingereichte Magisterarbeit selbständig und ohne unerlaubte Hilfsmittel
angefertigt habe,
•
außer den im Schrifttumsverzeichnis angegebenen Quellen und Hilfsmitteln
keine weiteren benutzt und alle Stellen, die aus dem Schrifttum ganz oder
annährend entnommen sind, als solche kenntlich gemacht und einzeln nach ihrer
Herkunft unter Bezeichnung der Ausgabe (Auflage und Jahr des Erscheinens),
des Bandes und der Seite des benützten Werkes in der Magisterarbeit
nachgewiesen habe,
•
alle Stellen und Personen, welche mich bei der Vorbereitung und Anfertigung
der Magisterarbeit unterstützten, genannt habe,
•
die Magisterarbeit noch keiner anderen Stelle zur Prüfung vorgelegt habe und
dass dieselbe noch nicht anderen Zwecken – auch nicht teilweise – gedient hat.
Erlangen, den ..................................
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(Unterschrift)
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Lebenslauf der Verfasserin
Julia Hartel, geb. Ganzleben
Geboren am 13. März 1982 in Pegnitz, verheiratet
Werdegang:
1988 - 1992
Volksschule Graserschule Bayreuth
1992 - 2001
Markgräfin-Wilhelmine-Gymnasium Bayreuth
(musisches Gymnasium)
Abitur im Mai 2001 (Note: 1, 5)
Leistungskurse: Deutsch, Musik
Auszeichnung des Historischen Vereins von Oberfranken für die
Facharbeit zum Thema „Der Bayreuther Madrigalchor und sein
Leiter Hans Schmidt-Mannheim“
WS 2001/02 bis
WS 2003/04
Studium der Fächer Deutsche Philologie, Musikwissenschaft und
Kunstgeschichte an der Universität Regensburg
Seit SS 2004
Studium der Fächer Neuere deutsche Literaturgeschichte,
Musikwissenschaft und Germanistische Linguistik an der
Friedrich-Alexander-Universität Erlangen-Nürnberg
Praktische Tätigkeiten:
Praktika am Theater Regensburg sowie bei der
Mittelbayerischen Zeitung Regensburg (Kulturredaktion)
Seit Juli 2002
Freie Mitarbeit für die Kulturredaktionen der
Mittelbayerischen Zeitung und der Erlanger Nachrichten
Fremdsprachen:
Englisch, Französisch, Latein
Privates Engagement:
Diverse Konzertauftritte als Musikerin (Violoncello und Klavier)
(sowohl solistisch als auch im Ensemble)
2001 – 2004
Mitglied des Universitätsorchesters Regensburg
Seit 2003
Redaktionsmitglied in der bundesweiten
Jugendzeitschrift „Youngsta“