Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns

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Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns
Klaus Semsch
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns eine transkulturelle Herausforderung
Abstract/ Résumé: L'écrivain marocain Tahar Ben Jelloun se fait ici le zélateur
d'un monde au pluriel. Ce faisant, il ne cesse de cultiver d'anciens stéréotypes
du masculin et du féminin. Le rapport délicat du cliché et de la différence se
traduit dans son oeuvre par une poétique de l'androgynie entendue non comme
symbole d'un pouvoir unifiant, mais comme jeu ironique avec des images
culturelles qui ont encore de beaux jours devant elles.
Dans un fauteuil une chose, une grosse
chose qui bouge, un animal peut-être, non,
c’est une chose humaine qui ronfle, un
homme? une femme? L’Auberge des pauvres ,
39.
1
Hybridität und Gender im Lichte des Mythos’ von der
Androgynität
Der marokkanische Romancier, Lyriker und Essayist Tahar Ben Jelloun ist
bekannt für seine dezidierte Kritik an den Herrschaftsdiskursen
zwischengeschlechtlicher, sozialer wie politischer Gewalt. Eine große
Öffentlichkeit haben ihm zuletzt seine beiden ‚Kinderbücher’ verschafft, in
denen er versucht, jungen Menschen leicht verständlich den Islam und den
Rassismus zu erklären: Le racisme expliqué à ma fille (1999) und L’Islam
expliqué aux enfants (2002). Dabei zeigt sich Jelloun als ein Denker, der das
gegenwärtige Plädoyer für transkulturelle Offenheit an Grundwerte der
Aufklärung zurückbindet: Privates Glück, Toleranz und Bildung, im Sinne
eines internationalen Wissenseklektizismus’. 1 Sein Bekenntnis zur
Aufklärung mag überraschen, wenn man bedenkt, dass die Ablösung
modernen Denkens nicht zuletzt als Aufklärungsschelte begonnen hatte und
erst jüngst Ottmar Ette den aufklärerischen Begriff der Toleranz scharf
kritisiert als ein „Stillhalteabkommen mit der Vielfalt“ 2 , dem er ein
‚offeneres’ Konzept von Transkultur entgegen hält.
1
Vgl. dazu Jelloun: 2002, 39ff. sowie zur Diskussion aufklärerischer Werte bei Jelloun
Semsch: 2007.
2 Ette: 2004, 253ff.
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung
2
Spätestens seit diesen Einlassungen in die aktuelle Diskussion zeigt sich
somit, dass Tahar Ben Jelloun kulturelle wie sexuelle Differenz zwar in den
Mittelpunkt seines Schreibens stellt, gleichwohl aber beide weniger im Sinne
dekonstruktiver Differenz als pragmatisch und ästhetisch ausleuchtet. Seine
Texte sind so zum einen geprägt von einer feinsinnigen literarischen
Strategie mehrstimmigen, also ‚differenziellen’ Erzählens, transportieren
aber andererseits ganz offen männlich geprägte Ideologeme wie Stereotype,
die der binären Denktradition der Moderne wie auch den maghrebinischen
Rollenbildern stark verhaftet sind. Vermochten Horkheimer und Adorno
einst die mythischen Strukturen von Aufklärung selbst kritisch
herauszustellen, so scheint Jelloun diese erneut, wenn auch spielerisch,
fruchtbar machen zu wollen.3 Man könnte positiv gewendet sagen: Gerade
weil der Bezug der Geschlechter für Jellouns Erzähler so grundlegend ist,
wird er überhöht in einer in den Texten allgegenwärtigen, freilich nicht
unproblematischen Ästhetik des Eros, die alle Lebensbereiche durchzieht.
Selbst Jellouns politische Reflexion kulminiert in Le racisme expliqué à ma fille
in dem Bild vom ‚schönen Mestizen’4 als Frucht der Liebe eines Paares
verschiedener kultureller Herkunft.
In diesem Bild decken sich kulturelle und sexuelle Differenz scheinbar.
Der Erosmythos, wie er in der europäischen Philosophie durch das Gastmahl
Platons überliefert wird, 5 ist nun aber bekanntlich in seiner Struktur
eindeutig dualistisch und auch sexistisch. Eros, das Kind der Liebe, entsteht
im Symposion aus der Verbindung weltlicher ‚Armut’ (das anthropologische
Mängelwesen Mensch, verbildlicht als unwissende ‚schwache’ Frau) mit
überweltlichem ‚Reichtum’ (das absolute Wissen des Seins, verbildlicht in
der Männergestalt des ‚starken’ Poros). Der Islam wiederum integriert den
Eros in seine eigene monotheistische Auslegung des Glaubens. Das
prinzipielle ‚Ja’ des Koran zur Körperlichkeit des Geschlechterbezuges wird
einerseits zur tragenden Säule in der Abgrenzung von der christlichen
Dialektik von Sünde und Askese.6 Zum anderen aber zeigen Aspekte wie
das strenge Primat der Männlichkeit, die Einschränkung weiblicher
Sozialmacht auf den Bereich des Privaten (Familie, Haus), die
Unterdrückung der Frau in Familie und Gesellschaft sowie die generelle
rituelle Praxis der Sublimierung körperlicher Beschmutzung, wie der Eros
als ein binäres Kulturmodell seine fundamentale Offenheit einbüßt.7
Eine der Ausgangsfragen dieses Bandes ist also für das Lesen der Texte
Jellouns von zentraler Bedeutung: Wie verändert, affiziert, bestätigt oder
unterläuft sich kulturelle und geschlechtliche Differenz? In Jellouns Werk
3
Horkheimer/Adorno: 1969/1988.
Jelloun: 1998, 25.
5 Vgl. Platon, Symposion 195a ff.
6 Vgl. Bouhdiba: 1975, 15ff.
7 Vgl. ebd., 59ff.
4
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung 3
scheint jedenfalls gerade die Dimension der Geschlechterfrage die
Beförderung hybrider Kulturen gleichsam zu bestätigen wie zu unterlaufen.
Verstärkt wird dieser erste Eindruck durch den Umstand, dass sich seine
Schreibästhetik hybrider Mehrstimmigkeit seit Jahren unterschwellig mit
einer Ästhetik des Androgynen verbindet, die dem Eros-Mythos im Kern
bereits innewohnt. So fokussieren die beiden Romane L’Enfant de sable (1985)
und La nuit sacrée (1987) den Lebensweg einer jungen marokkanischen Frau,
die von ihren Eltern als Mann erzogen wird. Auf dem leidvollen Weg der
Selbstbefreiung geraten sodann die männliche Akkulturation wie auch die
spätere weibliche Selbstfindung der Protagonistin Zahra/Ahmed im frühen
Erwachsenenalter in ein konfliktuelles, ja aporetisches Nebeneinander und
können einzig poetisch zusammen geführt werden. In den Neapel-Romanen
Labyrinthe des sentiments (1999) und L’Auberge des pauvres (1999) begibt sich
ein marokkanischer Schriftsteller und frustrierter Ehemann mittlerer Jahre
zur Bewältigung seiner Lebenskrise in den eindeutig weiblich konnotierten
Symbolraum eines melancholisch verklärten Neapel. Die süditalienische
Hafenstadt wird zu diesem Zwecke kryptisch überhöht. Das weibliche
Andere des männlichen Protagonisten erscheint dabei als ontologisch
gefasste Projektionsfläche für die eigene existenzielle Leere. Das Leiden an
dem realen konfliktuellen Miteinander der Geschlechter, an der Last
alltäglicher Gewohnheiten, mündet in Akte der Selbstbefreiung, die das je
andere Geschlecht nur finden kann, wenn es sie irrealisiert. Für die reale
Begegnung mit einer Frau bedarf es in den Neapel-Romanen der
stereotypen Stilisierung des ‚Weiblichen’ im Sinne jugendlicher Schönheit
und Schutzsuche, in La nuit sacrée wiederum der totalen Hingabe der
weiblichen Protagonistin an einen unbekannten nächtlichen Liebhaber.
Dabei löscht sich das Selbst gewissermaßen aus, es verschwindet hinter dem
Ideal einer ideellen Verschmelzung, es bewirkt eine Aufhebung der
Geschlechter im Eros.
Die Hybridisierung des Ich schreibt sich in der jüngeren Literatur
allerdings allenthalben in eine Metaphorik der Selbstauslöschung ein. So ist
das Thema subjektiver disparition geradezu eine fundamentale Schreibspur
in den Romanen von Jean Echenoz, Jean-Philippe Toussaint oder Antonio
Tabucchi. 8 Wo sie sich wie hier mit dem Eros-Mythos, mit der Vorstellung
einer androgynen Verschmelzung verbindet, läuft sie aber Gefahr, ihr
eigenes Anliegen, nämlich die Pluralisierung und Dekonstruktion
subjektiver Identität, zu unterlaufen. Die Vielfalt des ‚Anderen’ wird
rücküberführt in eine binäre Logik, der oder die Andere sind anfällig für
eine neue Absolutsetzung und werden so tendenziell erneut zu imaginären
Spiegelbildern des Selbst.
Aus diesem Grunde ist das Thema des Androgynen in Kunst und Kultur
in jüngerer Zeit kritisiert worden. Wo das Androgyne nicht dem ironischen
8
Vgl. zum Topos der ‚disparition’ im romanischen Gegenwartsroman Semsch: 2006, 128ff.
(Echenoz), 137ff. (Toussaint) und 229ff. (Tabucchi).
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung
4
Spiel mit überkommenen Rollenstereotypen diene, falle es in die mythische
Struktur ‚symbolischer Identifikation’ oder allegorischer Einschreibung
zurück, lautet die Kritik. Das ‚androgyne Denken’ bedürfe grundlegend der
stereotypen Polarisierung der Geschlechter und verrate somit letztlich einen
gefährlichen „Traum absoluter Selbstreferenz“. 9 Die Egozentrik oder
Hypostase des Ichs würde so nicht nur in einer regressiven Geste neu
aufgelegt, sondern geradezu verstärkt tradiert. Bereits Mircea Eliade hat in
einer anthropologischen Studie mit dem Titel Méphistophélès et l’androgyne
auf die Verbreitung binären und dialektischen Denkens hingewiesen. Bei
der Durchsicht verschiedener Kulturen bis hin zur europäischen Moderne
stößt er immer wieder auf das Bild vom „androgyne considéré comme
l’image exemplaire de l’homme parfait.“10
Aber nicht nur die Verschmelzung des Binären im Androgynen, der
Streit der Geschlechterparteien setze sich grundsätzlich eben dieser Gefahr
aus. In diese Richtung geht die allgemeine Mahnung von Judith Butler an
die gender studies . Schon 1991, in Das Unbehagen der Geschlechter , verweist sie
auf den Umstand, dass die Dekonstruktion der modernen Kultur - im Sinne
von männlicher Selbstausarbeitung und Herrschaft11 – nur gelinge, wenn
sich die feministische Kritik nicht als ein schlichter ‚Umkehr-Diskurs’
geriere. Folge sei dann eine Ausblendung der „Vielfalt kultureller und
gesellschaftlicher Überschneidungen und Rollen.“12
Unterlaufen also Geschlechterdiskurs und Kunst des Androgynen eine
gewünschte offene Kultur geradezu zwangsläufig? Dies anzunehmen wäre
sicherlich überzogen. Interessanter scheint m.E. bei dieser Frage der
Umstand zu sein, dass auch das Denken der Differenz nicht ohne die
vertrauten Dualismen, nicht ohne Dialektik auszukommen scheint. Dieses
Paradoxon fortwährend zu denunzieren mag da wenig sinnvoll sein.
Interessanter ist dagegen womöglich die Frage, inwieweit nicht gar eine
realistische Hybridität von Kultur einzig im geschickten Umgang mit
unauflösbaren antagonistischen Stereotypen zu suchen ist. Anders gesagt:
Ist die ‚wahre’ kulturelle Differenz nur als Spiel konfliktueller Stereotypie
denkbar, die diese zwar situativ ‚auszuspielen’, nicht aber gänzlich
auszuschalten erhofft?
2
Die ‚Unverfügbarkeit des Ichs’: Grenzen des Leidens
Wenn Bhabha sagt, dass „die Grenze zu einem Ort [werde], von woher
etwas sein Wesen beginne“,13 so ist diese in den Erzähltexten Jellouns in der
Erfahrung, im Erleiden von Fremdbestimmung, Unterdrückung und
9
Bhabha: 2000, 44.
Eliade: 1962, 141.
11 Butler: 1991, 75.
12 Ebd., 34.
13 Bhabha: 2000, 7.
10
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung 5
Gewalterfahrung anzutreffen. Nicht nur für Judith Butler ist dies eine
primäre existenzielle Konstellation, da „das ‚Ich’ sich immer durch seine
gesellschaftlichen Entstehungsbedingungen enteigne“. 14 Sie sieht jedoch
gerade in diesem Konfliktfeld zwischen sozialer Norm und individuellem
Lebensanspruch - in der ‚Unverfügbarkeit des Ichs’ - die Grenze, an welcher
„die Moral selbst [im Sinne individueller Selbstbestimmung] erst entstehe.“15
Im Werk Jellouns erfahren die weiblichen Protagonistinnen diese Grenze
meist durch die Gewalt der maghrebinischen Männerherrschaft, die
männlichen Erzähler wiederum vor allem durch die Gewalt sozialer
Normen und Gewohnheiten. Sehen wir uns ein paar Beispiele an:
2.1
Lebensgeschichten: Zahra/Ahmed
In den Romanen La nuit sacrée und L’Enfant de sable ist die Protagonistin
Zahra das Opfer eines patriarchalischen Familienbegriffs, für den einzig
männliche Nachkommen einen sozialen Wert haben. So wird ihr als sechste
Tochter vom Vater die Rolle des männlichen Stammhalters auferlegt. Ihr
Zwitterdasein steht im Zeichen einer zynisch entfremdeten Sozialisation.
Zahras Lebensweg schreibt sich im Folgenden zweifach problematisch ein.
Zum einen reproduziert beziehungsweise imitiert sie das Muster erfahrener
Gewalt, übernimmt ganz bewusst mehr und mehr die männliche
Führungsrolle im Haus und unterdrückt ihrerseits Mutter und Geschwister.
Zum anderen begibt sie sich nach dem Tod des Vaters auf den Weg der
körperlichen Selbstbesinnung. Die späte Selbsterfahrung als Frau ist jedoch
uneinholbar gebrochen und zeigt sich im Wesentlichen in hilflosen
Begegnungen mit dem eigenen Körper. Ihre weibliche Sexualität erfährt
Zahra nun nach der Flucht aus dem Elternhaus auf phantasmatische Weise.
Sei es in der nächtlichen Begegnung eines fremden Mannes, in dessen
nacktem Begehren sie die eigene Weiblichkeit wie ein traumatisch bis
irreales Spiegelbild erfährt. Sei es in männlichen Figuren narrativer
Märchenhaftigkeit: in der Begegnung mit dem edlen Ritter aus dem ‚Land
der ewigen Jugend’, der sie aus der harten Wirklichkeit entführt. Die
Bekanntschaft mit dem ‚Konsul’, einem versehrten Mann, der von seiner
Schwester gepflegt wird, führt dann zu einer kurzen Liebesbeziehung, die
jedoch von dem humanitären Faktor eines ‚Miteinanders im Leid’ geprägt
und so weniger von der natürlichen Attraktion des Mannes als ein
geschlechtlich Anderer motiviert ist. Bezeichnenderweise findet ihre erste
sexuelle Begegnung im Serail statt, wo sie dem blinden Freund eine seiner
käuflichen Gespielinnen ersetzt. Letztlich scheitert der Ausbruch aus der ihr
auferlegten Männerrolle, da Zahra im Affekt einen Verwandten ermordet
und im Gefängnis erneut als Frau bestraft wird, indem sie auf grausame
14
15
Butler: 2003, 20.
Ebd.
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung
6
Weise beschnitten und ihrer weiblichen Körperlichkeit ein weiteres Mal
beraubt wird.
2.2
Lebensgeschichten: La Vieille
Anna Maria Arabella, genannt ‚die Alte’, ist die weibliche Hauptfigur des
Romans L’Auberge des pauvres . Jüdischer Abstammung, werden ihre Eltern,
ein anerkannter Chirurg und eine Musiklehrerin, 1942 im französischen Exil
von faschistischen Kollaborateuren ermordet. Gut situiert aber schutzlos
bleibt die kleine Anna Maria mit ihrem älteren Bruder in Neapel zurück. Sie
erzählt im Verlaufe des Romans zwei Versionen ihrer Lebensgeschichte,
ihres Scheiterns. In der ersten Fassung verfällt sie als junge Frau dem
Charme eines italienischen Frauenhelden, der sie verführt, in den
finanziellen Ruin treibt und schließlich verlässt. Die zweite Version berichtet
ebenfalls eine tragische Liebesgeschichte: Anna Maria verliebt sich in einen
brutalen Camorrista, der sie im Haus einsperrt und schlägt und sich zudem
als Judenhasser herausstellt, der in seiner Frau stellvertretend das ganze
Judentum zu bestrafen gedenkt. Als sich Anna Maria nach vielen
Demütigungen verzweifelt einen Liebhaber nimmt, lässt ihr Gatte ihn
ermorden, fällt bald darauf aber selbst dem eigenen politischen Clan zum
Opfer. Anna Maria sucht gebrochen den Schutz des ‚Albergo dei poveri’, der
Herberge der Armen, die ein realer Schauplatz Neapels ist. Dort trifft der
Erzähler sie viele Jahre später bei seinem Eintreffen in Neapel in einem
deplorablen Zustand an: „Dans un fauteuil, une chose, une grosse chose qui
bouge, un animal peut-être, non, c’est une chose humaine qui ronfle, un
homme? une femme?“16 In einer surreal wirkenden Grotte unterhalb der
Herberge gelegen, haust die Alte in einem grotesken Szenario der Armut,
der gebrochenen Existenzen, die ihr dort begegnen. Gerade die
‚Unverfügbarkeit’ ihres eigenen Lebensprojektes, ihr Scheitern, macht sie
‚verfügbar’ für die unzähligen alltäglichen Tragödien der chaotischen
Hafenstadt. Sie selbst nennt sich einmal bezeichnenderweise „le livre de
Naples“.17 So wird die Alte an ihrem geheimen Fluchtort der Grotte selbst zu
einer kryptischen Ort, an dem sich der Eros des Lebens erzählt: die ‚Armut’,
die Leere gebrochener Existenzen wie zynischer Lebenshaltung wird hier
überschrieben von einer imposanten Wissensfülle, dem ‚Reichtum’ der
vielen Lebensgeschichten: „[…] je suis un dépôt de toutes les histoires qui
arrivent à Naples“,18 sagt die Alte von sich selbst. Als Dispositiv für erlebtes
Leid wird sie gewissermaßen zur Prostituierten für Gestrandete, hinter
deren Geschichten das Sakrale menschlicher Bedürftigkeit aufscheint. Als
gebrochener Eros, der die Geschlechtergrenze verwischt sieht, scheint
16
Jelloun: 1999a, 39.
Ebd., 41.
18 Ebd., 48.
17
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung 7
Jelloun die Liebe ihre polarisierende Tendenz in humanitäre Fürsorge zu
überhöhen.
2.3
Lebensgeschichten: Le Narrateur
Diese ihrerseits stereotype Doppelnatur macht die Alte zum Sinnbild des
Lebens und erklärt ihre enorme Anziehungskraft auf den Erzähler. Es
handelt sich hierbei um einen marokkanischen Schriftsteller mittlerer Jahre
(ein alter ego Jellouns?), der aus dem Alltagsleben seiner Großfamilie
ausbricht, das er als fremdbestimmt erlebt. Als er eine Korrespondenz mit
einer jungen Frau aus Neapel beginnt, verstrickt er sich in eine platonische,
‚abwesende’ Liebesgeschichte und begibt sich eines Tages nach Süditalien
auf die Suche nach der jungen Frau. Eigentlich aber sucht dieser „homme
contrarié“19 , wie er sich im incipit selbst bezeichnet, die Freiheit, die Liebe,
den Eros selbst. Neapel wird dabei symbolisch verklärt zum Inbegriff für
Leidenschaft, für ewige Jugend im temporären Aufheben devitalisierender
Gewohnheiten: „Naples, le désir et l’oubli“.20 Die Magie des Verschmelzens
mit anschließendem Verlust des anderen sind für den Erzähler die
„sentiments contradictoires“ der passiones, über die er sagt: „La passion est
un ouragan, quelque chose de sublime qui précipite le désastre.“21 Den aus
diesem affektiven Dualismus resultierenden Konflikt sieht er als
Lebensmotor22 , dem er sich nun auszusetzen gedenkt. Gefasst wird dieser
Konflikt dualistisch zwischen den Polen stark-schwach, aktiv-passiv und so
auch als Mann-Frau-Konflikt: der Erzähler sieht sich als jemand, der für
gewöhnlich „les histoires des autres“ 23 erzählt, der seinen Kummer still
erträgt.24 Der ‚feminisierte’ Ja-Sager träumt von männlicher Stärke, davon
auch im ‚Ja’ zur Leidenschaft mit der Passivität der Gewohnheiten zu
brechen: « Ah! Avoir la réputation de l’homme qui sait dire „non“, sans
hésitation, sans ambiguïté, sans regrets ni remords ! L’homme qui tranche,
prend des décisions de manière ferme et calme. J’en rêve encore. Dire « oui »
et à tout le monde, c’est comme si on n’existait pas. »25
19
Ebd., 7.
Ebd., 25.
21 Ebd., 9.
22 « […] moteur de vie, la dynamique qui fait avancer les choses », ebd., 24.
23 Ebd., 7.
24 Vgl. ebd. : « souffrir en silence ».
25 Ebd., 24.
20
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung
8
3
Weiblich-Männlich ? Einbildungen und Realitäten des Eros
Die binäre Metaphorik des Verschwindens und Erscheinens durchzieht
nun spielerisch den ganzen Roman. Sie hat eine traditionelle Seite, denn der
Erzähler, der der marokkanischen Männergesellschaft entstammt, entsagt
zwar einerseits jeglichem Machismus wie überzogenem Feminismus26 , steht
aber auch zu seinen Projektionsbildern vollendeter Weiblichkeit: seine
imaginierten Frauen sind jung, schön, kokett und gleichwohl
schutzbedürftig. Hier begegnen sich europäische Vernunft und
Freiheitsdenken mit der maghrebinisch geprägten Selbstverständlichkeit
von männlicher Phantasie und Wunschstruktur.
Eine unterschwellige Ironie unterläuft freilich diese regressive
Polarisierung und Stereotypisierung der Geschlechterbeziehungen, denn im
Roman sind es letztlich einzig die Frauen, die aus der Erfahrung des Leidens
heraus gelernt haben, „Nein“ zu sagen, abzubrechen, zu unterbrechen.
Außerdem sind es die männlichen Figuren, die in der Tendenz im
Geschehen ‚verschwinden’, während die Frauen als strahlende
Projektionsbilder
männlicher
Phantasie
aber
auch
als
reale
Überlebenskünstler in Erscheinung treten. Sie erscheinen bei Jelloun
beständig als Inkarnation einer Leidenschaft, die gelernt hat, aus der
Schmerzerfahrung der liebenden Hingabe gestärkt lebensfähig
hervorzugehen. So bricht der Eros-Mythos, die Naivität der schlichten
Kontraste, zuletzt auch immer in sich zusammen.
Wichtig ist aber, dass dies einzig durch sich selbst geschieht, in der
Freiheit, sich als affektive wie imaginäre Struktur zunächst einmal entfalten
zu dürfen. Erst wenn die Traumbilder von der schutzsuchenden Frau, die
den gradlinigen, entscheidungsstarken Mann sucht und von dem Mann, der
die Frau als Inbegriff von Schönheit und Hingabe träumt, zugelassen
werden, verlieren sie paradoxerweise ihr problematisches Potenzial
überkommen geglaubter Stereotypie und öffnen den Blick auf die komplexe
Vielfalt weltlichen Miteinanders. Das gelingt freilich nur, wenn sie sich
bewusst der konfliktuellen Doppelnatur des erotischen Diskurses gegenüber
offen halten. Einseitige Stilisierungen des Mangels oder der Fülle resultieren
im Kreislauf ‚männlich’ inszenierter bzw. imitierter Aggression, in der
Frustration der Gewohnheiten oder aber in der Handlungsproblematik der
Unentschiedenheit.
4
Fazit: Ironie der ‚Stereotypie’ als Differenz ?
Der stereotype Gehalt des Androgynitätsmythos muss nicht unbedingt
im polarisierenden wie allegorischen Egozentrismus enden: Denkbar ist eine
Ironie der ‚Stereotypie’ als Differenz: Diese ist womöglich positiv fassbar,
wenn die Selbstaffirmation rollen- oder geschlechtsspezifischen Verhaltens
26
Vgl. etwa ebd., 8.
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung 9
einher geht mit einer (erotischen) Einsicht in ihre andere Seite des ‚Mangels’,
und dieser nicht kompensatorisch (als Geste von Macht) in das Selbst
eingeschrieben wird (Fetischisierung, Autotelie), sondern sich der Attraktion
von dem Anderen entweder real öffnet oder die Vielheit dieses Ausgleiches
ästhetisch – spielerisch bis ironisch – simuliert. Eine geschlechtsbewusste
Verhaltensästhetik des Kapriziösen, der ludischen Selbstinszenierung von
‚Männlichkeit’ wie ‚Weiblichkeit’ vor dem Erwartungshorizont Anderer,
wäre von hier aus zu entwickeln. Sie leistete einen grundlegenden Beitrag zu
einer gelingenden sozialen Interaktion, indem sie das erotische Moment von
Anziehung und Abstoßung in die kommunikative Kompetenz einbezöge.
Das Imaginäre wird so letztlich denkbar als eine ästhetische Kompetenz
der Selbstsorge des Einzelnen. Es wird ansichtig im Sinne eines ‚musealen
Präsentationsraumes’: In ihm verbinden sich Andenken, Trauerarbeit und
Wunschprojektion in narrativer Entfaltung. Das narrative Element erhält
dabei den tastenden, behutsamen Status eines Nicht-Wissens und NichtSeins, einer subjektiven Ohnmacht, die in der Öffnung zum Anderen, zum
Fehlenden hin, eine gewisse innerweltliche Ganzheit und Transzendenz zu
entfalten vermag. Im bewusst angenommenen Status der ‚Armut’ erst wird
die ‚Fülle’ des Anderen sichtbar. Äußert sich diese real im Zynismus
langjähriger Lebenserfahrung meist als Scheitern (la Vieille), vermag das
fingierende Element sie für die Möglichkeit ‚erotischer’ Begegnung (Leere
und Fülle) zu öffnen. Hieraus resultiert somit ein zeitgemäßer (weil die
Verantwortung der Differenz einbeziehender) Symbolisierungsgehalt des
‚Ganzen in der Differenz’. Wenn Bhabha sagt: „Das Bild ist immer nur ein
Beiwerk zu Autorität und Identität“, 27 so mag sich hier ein Weg zur
Rückkehr der Bilder andeuten, derer wir letztlich gerade im Medienzeitalter
notwenig bedürfen.
Eine Erfolg versprechende, soziale Interaktion, das situative Realisieren
von subjektiven Fiktionsgehalten muss zudem nur bedingt auf einer
geschlechtsspezifischen Rollenzuweisung beharren, sondern blickt auf die
Strukturen und Gehalte spezifischer Verhaltensformen, um für deren
Ausgleich in der Begegnung mit dem Anderen offen zu sein. Bei welchem
Geschlecht die einzelnen performativen Muster erscheinen, wird dann
zumindest partiell sekundär; der Mensch gewinnt die Einzigartigkeit des
Individuums im radikalen Sinne zurück bzw. vermag diese erstmals zu
denken und intersubjektiv je situativ neu zu verhandeln. Die Positionierung
des Einzelnen als Geschlecht tritt dann in den Hintergrund ohne jedoch ihr
Attraktions- wie Daseinspotenzial zu verlieren.
Problematisch bleibt dabei jedoch in hohem Maße die Grenze zwischen
Realität und Fiktion. So erlaubt das schreibende Offenhalten von
Differenzen zwar ein ästhetisches Spiel freiheitlich gleichberechtigter
Begegnungen, tendiert andererseits jedoch zum Selbstverlust, wo es als reale
Handlungsstrategie übersetzt wird. Dies ist zumeist die Problematik der
27
Bhabha : 2000, 75.
Androgynität im Erzählwerk Tahar Ben Jellouns - eine transkulturelle Herausforderung
10
männlichen Protagonisten. Der Erzähler in L’Auberge des pauvres kehrt am
Ende des Romans in seine Heimat Marokko zurück und trifft auf einen
zerbrochenen sozialen Mikrokosmos, den er selbst verschuldet hat: seine
Frau, Familie, Freunde haben ihn verlassen oder sich zurückgezogen, und er
muss sein Leben neu aufbauen. Es bleibt am Ende offen, inwieweit die
nötige Spielästhetik zwischen dualem Eros und Differenzdenken besser
lebensweltlich fruchtbar zu werden vermag.
Bibliographie
Tahar Ben Jelloun, L’Enfant de sable, Paris : Seuil 1985.
----, La nuit sacrée, Paris : Seuil 1987.
----, Le racisme expliqué à ma fille , Paris : Seuil 1998, erweiterte Ausgabe 1999.
----, L’Islam expliqué aux enfants , Paris: Seuil 2002.
----, L’Auberge des pauvres , Paris: Seuil 1999a.
----, Labyrinthe des sentiments , Paris : Seuil 1999b.
Homi K. Bhabha, Die Verortung der Kultur , Tübingen: Stauffenburg 2000.
Abdelwahab Bouhdiba, La sexualité en Islam , Paris: PUF 1975, 62001.
Judith Butler, Das Unbehagen der Geschlechter , Frankfurt a.M.: Suhrkamp
1991.
----, Kritik der ethischen Gewalt , Frankfurt a.M.: Suhrkamp 2003.
Mircea Eliade, Méphistophélès et l’androgyne , Paris: Gallimard 1962.
Ottmar Ette, ÜberLebenswissen. Die Aufgabe der Philologie, Berlin:
Kulturverlag Kadmos 2004.
Max Horkheimer/Theodor W. Adorno, Dialektik der Aufklärung.
Philosophische Fragmente, Frankfurt a.M. 1969, 1988.
Klaus Semsch, Gewalt und Aufklärung – Komplizenschaft und Gespräch im
Erzählwerk Tahar Ben Jellouns, in: Heinz Thoma/Kathrin van der Meer
(Hgg.), Epochale Psycheme und Menschenwissen - Von Montaigne bis
Redonnet, Würzburg: Königshausen & Neumann 2007.
----, Diskrete Helden. Strategien der Weltbegegnung in der romanischen
Erzählliteratur ab 1980, München: Martin Meidenbauer 2006.