Tjark Ihmels Datensammler

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Tjark Ihmels Datensammler
Tjark Ihmels
Datensammler
Tjark Ihmels
Datensammler
06. November – 18. Dezember 2005
Nassauischer Kunstverein Wiesbaden
Graupner Archiv e. V.
Datensammler –
bis der Stecker gezogen wird
das Selbst als ein Spiegelbild unendlicher Übergänge und Pluralitäten zu betrachten,
stellte ein Jahrhunderte währendes traditionelles Formen- und Inhaltsverständnis in
Frage und schuf die Grundlage für die Darstellung multipler Identitäten. Darstellungen multipler Identitäten – oftmals seriell – sind letztlich die Voraussetzung für den
bildnerischen Kosmos von Tjark Ihmels' Computer- und Installationskunst.
Peter H. Forster
In Thomas Bernhards Buch »Alte Meister« sitzt der Held ein Leben lang vor Tintorettos
Porträt eines bärtigen Mannes im Kunsthistorischen Museum in Wien und versucht
vergeblich, in dem Meisterwerk einen Fehler zu entdecken. Er will ihm seine Vollkommenheit nehmen, es »zum Fragment« machen. In der Infragestellung eines einzigartigen Porträts – einer einheitlichen bildnerischen Menschendarstellung – formuliert
Thomas Bernhards Held die Hoffnung auf ein Weiterleben. Die Infragestellung eines
einheitlichen, unteilbaren Subjektbegriffs hat ihre philosophischen und psychoanalytischen Wurzeln im 9. Jahrhundert und mündet im 20. Jahrhundert in die vielfältige
theoretische Formulierung der Spaltung des Subjekts. Dieser theoretische Diskurs über
die Spaltung des Subjekts – seine Dekonstruktion – erreichte mit dem Einsetzen der
Postmoderne ihren Höhepunkt. Die poststrukturalistischen Theorien, u. a. von Roland
Barthes, Michel Foucault und Jacques Derrida, waren für viele zeitgenössische Künstler eine wichtige Bestärkung in ihrer bildnerischen Verarbeitung der Krise des Subjekts.
Das aus der Krise, der Spaltung, hervorgetretene »Multividuum« besitzt zahlreiche
unterschiedliche Facetten und ist mittlerweile als Begriff selbst Allgemeinplatz. Die
Absage an homogenitätszentrierte Ich-Konzepte soll den konstruktiven Umgang mit
Grenzen und Widersprüchen unseres Selbst befördern. Die Auflösung von Identität,
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Doppelportrait
Acryl, 1987
Viele seiner bewegten, animierten und generierten Bilder haben ihren Ausgangspunkt
in einer figürlichen Darstellung. Letztlich bleiben die Bilder Fragmente, sie sind unvollkommen, körperlos, und sichern sich gerade dadurch ihr Weiterleben in unserer
heutigen Bilderwelt.
Ihmels' Bilder stellen dezidiert Fragen an unsere Zeit, nach ihrer Ästhetik, ihrer Herstellung, ihrer Rezeption. Sie verlangen vom Betrachter eine Stellungnahme, eine Haltung.
Dabei zwingt er niemanden zur Betrachtung halbstündiger Videos in der Hoffnung
auf einen Überraschungseffekt, sondern legt – so verblüffend dies für Hochtechnologiekunst klingen mag – mit einem Blick offen, was passiert. Ihmels' Bilder versprechen
nichts, sie sind jedoch ein Kommunikationsangebot, sogar ein sehr sinnliches. Lässt
man sich darauf ein, kann man Stunden damit zubringen. Lehnt man es ab, ist es
oft eine zeittypische Reaktion auf die immer noch starke Ratlosigkeit im Umgang mit
Computerkunst. Auch stellt sich die Frage nach der Identität des Künstlers: Wo spiegelt
sich sein Narzissmus im Medium Computerkunst wider?
Begonnen hat Ihmels traditionell als Maler und Grafiker. Eine seiner frühesten Arbeiten, ein Doppelportrait (Acryl) aus dem Jahr 987, zeigt ihn selbst: in sich gekehrt,
nachdenklich, mit einem geöffneten und einem geschlossenen Auge. Den Oberkörper
stark nach rechts unten geneigt, wirkt er, als kippe er aus dem Bild. Durch die starke
Aufsicht werden die markanten Gesichtszüge, Nase, Mund und hohe Stirn noch zusätzlich betont. Hinter dem zur Seite geneigten Kopf, unmittelbar aus dem hochgezogenen
Schulterbereich und dem geschlossenen Auge, erscheint schemenhaft ein weiterer Kopf
im Profil. Von ihm ist nur die Kontur sichtbar, das Weiß des pupillenlosen Auges dominiert die Erscheinung. Der Kopf wirkt, trotz der äußerlichen Unterschiede, wie eine
Dublierung seines Selbstportraits. Diese bildhafte Aufteilung des eigenen Ichs, seines
Alter Egos, seiner Verdoppelung, kann man wie die eingangs erwähnte künstlerische
Umsetzung einer Krise des Subjekts deuten – in traditioneller Technik. Diesen Ursprung, mit figürlicher gemalter und gezeichneter Formensprache, sollte man bei der
Betrachtung der Computerarbeiten von Ihmels im Hinterkopf behalten.
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990 geht Ihmels an die Hochschule für Grafik und Buchgestaltung in Leipzig. Sein
Lehrer in der Fachklasse Malerei wird Arno Rink. Ihmels Bildverständnis ist eng
verwoben mit der eigenartigen leisen, geheimnisvoll verträumten, verlorenen und
brüchigen gemalten Sicht auf eine Umwelt, die aus dem Takt ist, wie man sie von der
Leipziger Schule kennt. Er bezieht ein Atelier in der Leipziger Baumwollspinnerei und
wendet sich von der Malerei ab, den elektronischen Medien zu. Seine Weigerung zu
malen und statt dessen zu kopieren, ließ ein spezielles – da ihm artfremdes Fachgebiet –
und dennoch intensives Verhältnis zu Rink entstehen.
Copy Art / Malerei
Ihmels profitierte von einem aus Leipziger Sicht sensationellen Umstand: die Firma
Canon stellte der Hochschule einen Vierfarbkopierer zur Verfügung – kostenlos.
Der Prototyp des Laserkopierers von Canon – der mehr als nur Kopierer war, nämlich eine
Kombination aus Scanner, Drucker und Computer – leitete 984 das digitale Zeitalter
der Fotokopierer ein. Zwei Leute, Tjark Ihmels und Michael Touma, beschäftigten sich
auf ihre Art mit dem Kopierer, indem sie mit seiner Hilfe Kunst machten. Zwei Jahre
lang versuchte Ihmels »aus dem Ding rauszuholen was rauszuholen ist«. Oberster
Anspruch war, eine Kopie zu schaffen, die nicht kopierbar ist.
Ihmels unterlief die technische Perfektion und Systematik des Kopierers und wollte die
Kopie mit den Mitteln der Vervielfältigung beseitigen. Die hergestellten Kopien sind
nur dem Anschein nach welche. Tatsächlich handelt es sich um Originale.
Die Reproduktionstechnik, die auf wahrheitsgetreue Vervielfältigung angelegt ist,
wurde gegen die Regeln des Kopierens genutzt, indem der Apparat selbst mit seinen
inneren Abläufen zum Erzeuger von Kunst wurde. Als Ihmels 99 begann, den Kopierer
als Instrument zur Herstellung »echter Unikate« zu nutzen, hatte die Copy Art bereits
einen wesentlichen Teil ihrer Geschichte – insbesondere in Nordamerika – geschrieben.
Durch die rasche Multiplikation von Texten und Bildern bot sich in den 70er Jahren der
Kopierer besonders für die Concept Art als Werkzeug an. In Deutschland realisierte
Joseph Beuys vermutlich die früheste Copy Art-Arbeit mit seinem »Greta Garbo Zyklus«.
Die ersten Werke aus dem Jahr 964 zeigen jeweils ein fotokopiertes Foto der Garbo:
Ausschnitte aus Filmszenen, die der Künstler in einem Fond von brauner Ölfarbe
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integrierte. Montage und Collage, der Spaß sich über die Zwänge der Automatisierung
hinweg setzen zu können, sowie die Frage nach dem Verhältnis Massenware versus
Einzelstück, waren nur einige der Themen der Copy Art. Timm Ulrichs schuf 967
die erste konzeptionelle Copygrafie. Sein Werk »Die Photokopie der Photokopie der
Photokopie…« umreißt den Rahmen der reproduktiven Fotokopie mit genialischer
Schlichtheit und sprengt ihn zugleich: Ulrichs führt die Entropie von Text- und
Bildinformation durch die endlose Wiederholung des Kopiervorgangs vor Augen. Wie
in anderen europäischen Ländern bildete sich auch Anfang der 80er Jahre eine Copy
Art-Szene heraus, zu der u. a. Markus Oehlen, Walter Dahn, Thomas Bayerle, Jürgen
O. Olbrich und Georg Mühleck zählen.
Ihmels löste sich von dem normalen reproduktiven Kopiervorgang und betrieb genau
das Gegenteil von Ulrichs. Bei der Kopie der Kopie zeigen sich Veränderungen, normalerweise verschwinden die Grauwerte, bis schließlich nur noch schwarz-weiß übrig
bleibt. Diesen Effekt der »Verhärtung« kehrte Ihmels um und betrieb hingegen »Strukturbildung«, indem er sich die inneren Eigenschaften und Techniken des Kopierers zunutze machte. Auf die Kopierfläche legte er ein weißes Blatt im din-a4-Format. In
zig (pro Blatt bis zu 80) Arbeitsgängen wurde die Kopie immer wieder aus der Auswurflade herausgeholt und in die Papierlade zurückgelegt. Die Nutzung des Kopierers
erforderte dabei einen bestimmten, immer wiederkehrenden Bewegungsablauf, durch
den der Bediener mit dem Automaten in eine Interaktion trat – was im übrigen das
Gerät stets ruinierte.
Da sich niemand um eine ordentliche Wartung des Gerätes kümmerte, waren die Walzen stark verdreckt. Das immer wieder durchlaufende Papier sammelte sowohl die
»Schmutzpartikel« auf, als auch die durch das magnetische Prinzip verteilten Farbpigmente. Es handelt sich um eine visuelle Rückkopplung im Kopierautomaten selbst, der
durch den generativen Kopierprozess erzeugt wurde und fortlaufend das Blatt transformierte. Jeder Kopiervorgang verstärkte diesen Prozess.
Dieser an sich sehr einfache Vorgang, stellt eine Art visuelles Sampling dar, ein Sammeln und Zusammenführen von Spuren. Die wiederholte Eingabe der Kopie erzeugt
Bildüberlagerungen aller Art. Es werden immer wieder neue Bildschichten auf ein
Blatt übertragen, das immer dichter wird. Durch diese ungewöhnliche Arbeitsmethode,
die die Walzen des Kopiergerätes zwangsläufig stark verschmutzen lässt, wurde wiederum reichlich Ausgangsmaterial für weitere Blätter bereitgestellt.
Die sich immer wieder neu ergebenen Strukturen wurden in einem Bild zusammenfügt,
das auf Grund der Hitzeentwicklung des Kopierers und seiner Strukturdichte regel-
recht gebügelt werden musste, um erneut in den Kopierprozess überführt werden zu
können. Mit dem Kopieren ergab sich für Ihmels durch die Linien- und Punktrasterung
sowie die Schmutzpartikel, die Verletzungen der Walze und dem im Papier inhärenten
Muster ein regelrecht unerschöpflicher Struktur- und Formenreichtum. Betont werden
soll dabei noch einmal der Aspekt der »manuellen Arbeit« am vollautomatischen Kopierer.
Als nächster Schritt erfolgte ein Copytransfer auf Folie. Dieser Bildtransfer auf großformatige Folie – LKW-Planen – war nötig, um sich gezielter an Ausstellungen beteiligen zu können. So bespielte Ihmels zusammen mit Michael Touma 994 drei Wochen
lang ganz Leipzig mit der Installation Der andere Raum. Als eine »flächendeckende
Stadtskulptur« wurden die kopierten Ink-Jet-Druckfolien zu einer Auseinandersetzung
mit ihrer städtischen und natürlichen Umgebung. An einer Stelle, in 40 großformatigen (5 m × 4 m) Leuchtkästen, an der normalerweise Reklameplakate – also in hoher
Auflage gedruckte Werbeinformationen – hängen, installierten sie ihre beleuchteten
Kopier-Originale.
Durch die Verweigerung, handwerklich zu malen und den traditionellen Umgang mit
Bildern zu pflegen, wird deutlich, dass Ihmels sich mit den Fragen nach Materialität,
Identität, Transformierbarkeit, Serialität, Raum, Zeit und Informationen von Beginn
an auseinander setzte und bereit war, herkömmliche Grenzen zu überschreiten. Auch
die Vernissage ihrer Stadtskulptur »Der andere Raum« wurde an einem außergewöhnlichen Ort, in einer gemieteten Straßenbahn abgehalten. Die in den Kopien zusam-
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Der andere Raum
Die andere Stadt
Stadtinstallation, Leipzig, 1992
Minima Media, Leipzig, 1994
mengefasste, geschichtete Bewegung, übertragen auf die Bewegung der Bahn, mag ein
richtungweisender Hinweis sein für Ihmels' heutige Arbeiten, bei der Bewegung und
Information tragende Rollen spielen.
Für den Betrachter blieb die Präsentation der über die gesamte Stadt verstreuten Arbeiten in den Werbekästen fragmentarisch. Im Unterschied zu einer isolierten Betrachtung
in Galerieräumen, waren die Arbeiten direkt in einem städtischen Raum eingebunden
und gerade deshalb nicht vollständig erfassbar. Ihmels' Denken in wechselnden Zusammenhängen, das die Werke unterschiedlichen Tageszeiten, Witterungsbedingungen sowie 40 verschiedenen örtlichen Kontexten ausgesetzt waren, zeigt, dass Ihmels' Kunst
keine fertigen Geschichten erzählt, sondern dass es dem Künstler genügt, ausschnitthafte Vorlagen zu liefern. Die Kontrolle, wer »auf den Altären der Marktwirtschaft«
was wo sieht, gab er durch die Präsentationsform ohnehin auf.
Seit 992 bestand die im Laufe ihrer Existenz mehrfach preisgekrönte Leipziger Künstlergruppe Die Veteranen, mit den Mitgliedern Stephan Eichhorn, Tjark Ihmels,
KP Ludwig John und Michael Touma. Die Künstler fanden sich am Leipziger Institut
fast zwangsläufig als Gruppe zusammen, da sie die Einzigen waren, die ein künstlerisches Interesse mit neuen Medien – dem Computer – verbanden. Möglich war dies
aber nur durch die glückliche Fügung, dass mit Stephan Eichhorn der Gruppe ein Informatiker zur Verfügung stand, mit dessen Hilfe sie ihre künstlerischen Vorstellungen
technisch umsetzen konnte.
995 im Rahmen der Ausstellung Entgrenzung wurden in Aachen, organisiert durch
das Ludwig Forum noch einmal zehn Leuchtkästen bespielt. Zu diesem Zeitpunkt hatte
Ihmels den Kopierer, der nur eine Phase in seinem Schaffen darstellt, bereits hinter sich
gelassen.
Da die digitale Fotokopie schon eine Verbindung von Fotokopierer und Computer darstellte, war der Sprung zur Computerkunst ein geringer.
Zu diesem Zeitpunkt entdeckten auch andere Künstler die cd-rom als künstlerisches
Mittel; sie nutzten diese jedoch nur als digitalen Katalogersatz. Statt Bilder auf Papier
zu drucken, wurden diese jetzt auf eine cd-rom gebrannt.
Der Anspruch der Künstlergruppe »Die Veteranen« war ein völlig anderer: Sie wollte
sich mit dem Medium selbst auseinander setzen und auf einer nonlinearen Ebene ein
veränderbares Kunstwerk kreieren. Es sollte gezielt mit einem Massenprodukt gearbeitet werden, kein elitäres originäres Kunstwerk geschaffen werden, das sich teuer
verkauft, sondern die Möglichkeit genutzt werden, die dieses Medium in Anlehnung an
die Musikindustrie gerade auch im Vertrieb bietet, »eine große Auflage für kleines Geld
zu verkaufen – alles ohne Galerie«. Veränderbar und distribuierbar war der Anspruch
mit dem schnell ein Verlag gefunden werden konnte.
Die Entwicklungsgeschichten von Copy Art und Computerkunst weisen etliche interessante Parallelen und Verknüpfungen auf. Beide Formen der elektronischen Kunst stießen zu Anfang (60er Jahre) meist auf Unverständnis. Während der 70er Jahre wurde
die künstlerische Nutzung beider Medien von einer wachsenden Zahl der Kunstschaffenden erforscht und vertieft, von denen einige sich anschließend ausschließlich mit
Computerkunst beschäftigten. Ähnlich erging es auch Ihmels, denn letztlich waren die
prozesshaft übereinander geschichteten Kopien mit ihrem vorhandenen Schlussbild immer noch zu dicht mit dem Medium Malerei verwoben. Nicht umsonst konnte Ihmels
dieses Arbeiten in der Malereiklasse unterbringen, ist doch die Technik des Übereinanderlegens von Bildern durchaus der Technik der Malerei verwandt. Einen unendlichen
bildhaften Prozess zu erzeugen, der in keinem abgeschlossenen Werk mündet und der
unendlich unfertig sein soll, gilt zukünftig Ihmels' Interesse. Mit dem Computer stehen
ihm jetzt neue Möglichkeiten offen; vor allem die Möglichkeit, die Bilder zu bewegen,
zu animieren, ohne wie beim Film oder Video eine narrative Verpflichtung eingehen
zu müssen.
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CD-ROM & Performances
994 erschien die erste ihrer zwei cd-rom-Produktionen Die Veteranen – So nutzlos
wie eine Fuge von Bach. Ein absolutes Novum der cd-rom war, dass die Künstler mit
einem interaktiven Kunstwerk den Betrachter in ein Erfahrungsfeld führten, in dem
dieser selbst agieren kann, ja sogar muss. Er muss selbst herausfinden, auf welchen
Wegen sich die im Programm versteckten Möglichkeiten eröffnen.
Damit setzten »Die Veteranen« neue Standards für die Verwendung des Begriffes »Interaktivität«. Allerdings vermieden sie es, Anweisungen zu geben. Die Kunstwerke sind
offen und ziellos angelegt, so dass der Beobachter sich selbst eigene Regeln festlegen
kann.
Die erste cd-rom war ein reines Experimentierfeld, eine Spielwiese, bei der die Künst9
ler ihre technischen Grenzen in Wort, Bild und Ton ausloteten und ihre Lust am formulieren »völlig übertrieben«. Die cd-rom beinhaltet 20 Arbeiten, ein kleines Universum,
eine zeitlich tatsächlich »unendliche Herausforderung«.
Zur Einführung erscheint ein Video mit den am Tisch sitzenden Künstlern. Mit der
Maus kann man »seinen« Künstler anklicken und ihm in ein virtuelles Café oder in
die Stierkampfarena folgen. Klickt man auf einzelne Gegenstände (z. B. ertönt beim
Klicken auf die Klingel eines Fahrrades das sich in dem Raum befindet, das Geräusch
einer Fahrradklingel), so löst der Nutzer damit akustische oder optische Signale aus.
Erfolgt dieser Eingriff an der »richtigen« Stelle (z. B. auf dem Körper eines Künstlers),
öffnet sich die Oberfläche in ein neues Themenfeld.
Diese Themenfelder müssen immer neu erschlossen werden und stehen untereinander
in Verbindung. Auf diese Weise ist es möglich, dass sich ein im Programm befindender
Besucher einen Ort verlässt und plötzlich in einem völlig anderen (virtuellen) »Raum«
neue Eindrücke sammelt.
Durch die Bewegung der Maus wird die erste Ebene so lange gestaltet, bis ein Klick auf
die darüber liegende Ebene führt, wo jeweils neue Farben, Strukturen oder Buchstaben
zur gestalterischen Verfügung stehen. Auf diese Weise wandelt sich der Nutzer zum
potenziellen Gestalter. In der digitalen Stierkampfarena muss der Betrachter beispielsweise seine Stimme als Steuerungselement der Videosequenz einsetzen. Nur eine Lautäußerung mit der von den Künstlern vorgegebenen Mindestlautstärke, die recht hoch
angesetzt wurde, vermag den Stierkampf zu beenden.
Die unterschiedlichen künstlerischen Ansätze sind dabei nicht verwischt, sondern miteinander vernetzt. Es entstand ein Strauß voll bunter Ideen, wie z. B. völlig neu zu
erfahrende Räume oder sich verselbstständigende Stillleben mit eigener Klangbegleitung, von denen einige Arbeiten bis heute ihre Gültigkeit haben. Und dass, obwohl die
seit 994 rasant einsetzenden technischen Veränderungen dazu geführt haben, dass
cd-roms heute fast nur noch als Speichermedium genutzt werden.
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Horo.dir
Die Veteranen, 1995
Besonders zeichnet sich diese erste cd-rom durch ihre durchgehende sinnliche Atmosphäre aus, die sich trotz aller Variationsmöglichkeiten einheitlich präsentiert.
Der Schritt in die zweite cd-rom Venetian Deer war von einer veränderten Haltung
geprägt: »Wir wollten raus aus dem Monitor, wir wollten den Computer verwenden,
um etwas Physisches herzustellen. Der Band-Gedanke kam hinzu. Es war klar, wir
wollten funktionieren wie eine Band, deshalb haben wir uns auch Multimediaband
genannt.«
Die zweite cd-rom war mehr als elektronische Party angelegt, von einer Künstlergruppe, die sich jetzt als »Multimediaband« verstand und live auftrat.
War bereits bei der ersten cd-rom Sound ein wichtiger Bestandteil für die Interaktivität
der Kunstarbeiten, wird diese Komponente bei der zweiten bedeutend erweitert. Die
aus Manchester stammenden Avantgarde-Musiker von »Stock, Hausen & Walkman«
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steuerten für »Venetian Deer« (Anagramm aus den Buchstaben des Bandnamens »Die
Veteranen«) ein eigenständiges Album bei, das sich zwischen seichten Melodien und
experimenteller Techno-Musik bewegt.
Die Musik begleitet die im »self running mode« laufenden interaktiven Kunstwerke.
Insgesamt 8 Objekte kann man per Menü oder Nummerncode auswählen. Als Navigator dient ein geheimnisvoller venezianisch maskierter Hirsch, der in einem Wasserbecken schwimmt, aus dem ein Laufkran unentwegt Icons (Steuersymbole) für die
Einzelstücke hebt. Eingeladen wird zur Mitarbeit an den in Farbe und Form veränderbaren Bildern, wie bei dem Feature »Chaos« (z. B. sich selbst malende Bilder, in deren
Fertigstellung man per Mausklick eingreifen kann), wobei meist auch der Ton reagiert.
In einigen Fällen sind Bildelemente (z. B. herabsinkende Kugeln) und Klangeinheiten
sogar für die Möglichkeit minimaler Kompositionen verknüpft. Über eine telefonische
Hauszentrale lassen sich mittels Zahlencode einzelne Programme abrufen. Unter
Nr. 393 findet sich z. B. Eyeball. Sechzehn Augen reagieren auf die Bewegungen mit der
Maus, indem sie sich öffnen, dem Mauspfeil folgen oder im Takt der Musik zwinkern.
Wesentlich zum Band-Charakter trugen die Konzerte bei. Ausgangspunkt war wie bei
»normalen Musikgruppen« ein kaufbares Produkt – die cd. Die Live-Konzerte waren
hingegen freie Variationen mit immer neuen Konzepten. Für die Medien-Performance
standen zwei Musiker an ihren Instrumenten auf der Bühne und die vier Künstler mit
dem Rücken zum Publikum an ihren Computern vor bis zu vier großen Leinwänden.
Darauf sah man beispielsweise in drei Reihen angeordnete Dreiecke, auf die von oben
Bälle herabfielen. Je nach dem, welcher Ball auf welches Dreieck fiel, erklang ein bestimmter Ton. Durch diese didaktischen Interaktionen konnte der Live-Charakter des
Konzerts vermittelt werden. Die hohe Lautstärke unterstrich dieses Erleben.
Das zentrale Anliegen der Live-Konzerte war, deutlich zu machen, dass die Künstler
nicht einfach ein Bild auf die Leinwand projizierten und es mit Musik unterlegten, sondern dass eine untrennbare Abhängigkeit von Musik und Bild existierte.
Der uralte Traum einer Verbindung von bildender Kunst und Musik durch gemalte
Musikstücke oder komponierte Malerei – vielfach unglücklich formuliert – fand hier
durch den Computer zu einer neuartigen Ausdrucksform. Vor allem deshalb, weil es
den Künstlern gelang, für die direkte Bildveränderung durch die Töne eine tatsächlich
inhaltliche und nicht rein technische bildnerische Form zu gestalten. Die rasanten Geschwindigkeitsveränderungen der Bildelemente und Töne führten nach einer Stunde
bei Künstlern und Publikum zu gewissen Erschöpfungen.
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Media Dolls House
Projekt: Playing Field, 2002
Die cd-rom als digitaler Kunstdatenträger einer multimedialen Kunstform hatte damit für Ihmels erstmals sein Ende. Was aus dieser Phase für die zukünftigen Einzelausstellungen blieb – immerhin legten »Die Veteranen« die erste deutsche Kunst cd-rom
vor – waren einzelne Kunstwerke aus den cd-roms, die er im Rahmen seiner erweiterten Computerkunst wieder verwendete, wie beispielsweise »Hampel«.
Installationen
Für Hampel, ursprünglich entwickelt für »Venetian Deer«, hatte sich ein als Tänzer
verkleideter Ihmels hundertfach in allen möglichen Posen fotografieren lassen. Die Be-
wegungsabläufe konnte man aus Einzelbildern vervielfältigen und choreographieren.
Zu Beginn wurde vom hervorgetretenen Multividuum gesprochen. Es zeigt sich allein
an diesem Beispiel des durch Mausklick x-fach vervielfältig-, ständig veränder- und
steuerbaren interaktiven Tanzmannes der Facettenreichtum einer Person. Durch die
Aufsplitterung und die Vielschichtigkeit der Ebenen entstehen immer wieder nur Figuren-Fragmente.
Hält man sich das zu Beginn erwähnte gezeichnete Doppel-Selbstporträt Ihmels' noch
einmal vor Augen und vergleicht es mit »Hampel«, so zeigt sich, dass sich der Künstler
jetzt mit dieser Mehrfigurendarstellung einer vorgegebenen Komposition verweigert.
Für die Komposition ist der Betrachter mitverantwortlich. Er entscheidet mit wo, wie,
wie viele Tanzfiguren in welcher Farbigkeit erscheinen. Als Konsequenz für das Bild
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Hampel
Venetian Deer, 1997
ergibt diese offene Komposition, dass jeder Betrachter eigenständig sein Bild mit komponieren kann.
Die Technik ermöglicht es Ihmels, bestimmte künstlerische Entscheidungen an Automatismen weiter zu delegieren. Das bedeutet aber nicht, dass Ihmels zuvor nicht seine
ästhetischen Grundkomponenten festgelegt hätte. Trotz der weitergeleiteten Entscheidungsmöglichkeiten bleibt es bei einem stabilen Bild, einem geschlossenen System, das
bei jedem Betrachter etwas Unterschiedliches auslöst, weil jeder etwas anderes sieht.
Eben diese bewusst angelegten Fragmente, dieser Verzicht auf eine fest gefügte Dramaturgie, die Projektion und die Art der Steuerung, bei dem der Künstler Anreger bleibt
und den Betrachter quasi zum Ko-Produzenten macht, findet sich in allen weiteren
Arbeiten von Ihmels wieder. Man muss in den Bildern nicht sofort etwas erkennen, sondern das Bild selbst entwickeln. Dazu zählt auch, dass Ihmels Räume kreiert, die nur
durch diese Geräte hergestellt werden können, die es vorher nicht gab und die ihren
eigenen Gesetzen folgen.
Diese so entwickelten bewegbaren und begehbaren Räume verschmelzen mit den realen
Räumen zu virtuellen Zonen. Entscheidend aus den cd-rom Arbeiten ist, die Dinge
als System zu begreifen und Angebote für Eingriffsmöglichkeiten zu schaffen, um das
Kunstwerk zu verändern.
In dichter Abfolge wird Ihmels bis zum Beginn seiner Mainzer Professur zahlreiche
Einzelausstellungen veranstalten. In chronologischer Reihenfolge soll davon eine kleine
Auswahl vorgestellt werden:
An Jorge Luis Borges Erzählung »Die Bibliothek von Babel« fühlt man sich in der Arbeit
Die Bibliothek von 997 erinnert.
Sie basiert auf der Fotografie einer alten Bibliothek in Florenz. Die sich über mehrere Ebenen erstreckenden, ellipsenförmigen, gedrechselten Holzvertäfelungen, die in
einem Lichthof münden, ziehen den Blick magnetisch in die Tiefe. Mittels des bekannten Wirkungsprinzips des Kaleidoskops, das mit computergrafischen Mitteln simuliert
werden kann, eröffnen sich im temporeichen Wechsel immer neue dreidimensionale
Räume. Die mythische Bibliothek von Babel, die jedes nur erdenkliche Buch enthält,
scheint hier ihre virtuelle Architektur gefunden zu haben. Für jeden Menschen und
jeden Bibliothekar ist sie völlig unüberblickbar und faszinierend zugleich.
Dass sich ein Datensammler mit einer Bibliothek beschäftigt, scheint folgerichtig. Dass
unterschwellig auch mit der Frage gespielt wird, wie es um das Verhältnis der ubiqui16
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Die Bibliothek
Installation, 1997
tären Speichermedien steht, heißen sie nun cdi, cd-rom oder gar Internet im Gegensatz zum überlieferten Buch und seinen Bibliotheken, den klassischen Speichermedien
schlechthin, eröffnet der Arbeit eine zusätzliche Ebene.
In einer Epoche, die ein audiovisuelles Gedächtnis hervorgebracht hat, ist die Bibliothek beileibe nicht mehr die einzige mögliche Speicherform. Im Gegenteil, an die Stelle
der fest gefügten Form eines Buches tritt die Möglichkeit des Samplings, das digitale
Abspeichern und Verändern von Tönen und Geräuschen, Bildern und Flimmern. Die
heutigen Medienkulturen haben ihren Akzent längst auf die multimedialen und raumgreifenden Übertragungen gelegt, auf Datenströme im Internet. Ihmels visualisiert diese virtuelle Welt voller Phantasie durchaus als mediale Selbstreflexion, als eine lebende
Bibliothek, die sich aber weiterhin mit den traditionellen Lagerräumen des Wissens
beschäftigt.
Bei ihm dominieren formale Interessen. Ihmels reizt die Veränderung. Wie kann er
mit den Möglichkeiten eines aktiv wandelbaren Kunstwerkes den Betrachter aus seiner
passiven Haltung lösen? Allein mit dem simplen Bewegen der Maus kann sich die Bibliothek wandeln. Ist der Betrachter bereit, seine vielfältig ausgelebte passive Haltung
wie ›Film sehen‹ oder ›Musik hören‹, die dazu führt, dass um ihn herum gelebt wird,
aufzugeben und in eine aktive zu wandeln?
Ihmels' Kunst bietet dem Betrachter passiv erlebbare Momente und Inhalte, doch wird
der Betrachter aktiv, erwacht sein Interesse einzugreifen, bekommt er wesentlich mehr
geboten.
In der Umsetzung seiner Installationen knüpft Ihmels an die zweite Phase der »Veteranen« an, als sie ihre Kunst nicht mehr allein im Computer stattfinden lassen wollten.
Der eingeengte, für Outsider wenig wirkungsvolle Blick in einen Kasten, führte damals
in die Performances. Jetzt will Ihmels den Computer zwar für seine Kunst nutzen, ohne
sie aber in ihm stattfinden zu lassen, sondern sie installativ im Raum selbst zu verorten.
997 stellte Ihmels zusammen mit Jörg Sasse im Rahmen der Siemens Kulturstiftung in
den Werk-Hallen in Leipzig die interaktive Installation: Arbeitswelt – Tonfilm-interaktives System aus.
Für die Ausstellung trug Ihmels Video- und Audiomaterial von den Arbeitsplätzen
und den Maschinenproduktionen der Siemens-Mitarbeiter zusammen und bearbeitete
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das Material am Computer. Die im Leipziger Werk vorgefundenen, zum Teil sehr alten
Maschinen, aber auch alte Telefonapparate, kamen dem Automaten, der diese jetzt
fast collageartig bündelte, bewegte und veränderte und zum Kunstprodukt umformte,
sehr entgegen.
Mit Hilfe eines Sensors konnten die Besucher in einem bestimmten Rahmen selbst am
Computer in den auf zwei großformatigen Leinwänden projizierten Ton- und Bildprozess eingreifen, ohne dass der grundsätzliche Charakter der Arbeit aufgehoben wurde.
Ihmels' ablehnende Haltung gegenüber einem statischen Bild und damit einer Idee vom
endgültigen Bild, wurde zugunsten eines kreativen Austausches aufgegeben. Die Bildstrukturen, bestehend aus Zeichen, Linien, Sätzen, Ton- und Bildfragmenten, kreisten
im weitesten Sinne um das Thema Arbeit. Alles war im Fluss: die Daten, die Arbeitsprozesse sowie die Installation selbst, die durch den Betrachter verändert werden konnten und in der er regelrecht in Arbeit versinken konnte.
Ihmels betrachtet den Computer als eine Art Unikum, der etwas kann, was sonst kein
Gerät vermag: bestimmte Formen zu kombinieren und dabei völlig neue Formen zusammen zu setzen. Das bedeutete für die Leipziger Installation, dass Ihmels vorgefundene Formen verwendete und sie derart überlagerte, dass unvorhergesehene neue
Phantasiegebilde entstanden.
Dennoch stand ein Formwille dahinter, der diesen Gebilden eine organische, physische
Präsenz ermöglichte. An diesem durch Arbeit und Maschinen sehr konkreten geprägten Ort erarbeite Ihmels mit »dematerialisierter Kunst« ein Kunstprodukt.
Im Anschluss realisierte er 998 für die Galerie »Eigen-Art« die Kammer der Effizienz.
Die räumlichen Bedingungen der Galerie in zentraler Lage, in einem fensterlosen,
kleinen, kammerähnlichen Raum, wurden von Ihmels humorvoll im Ausstellungstitel
thematisiert. In der Kammer selbst lief ein wandfüllendes Computerprogramm, das
der Besucher selbst manipulieren konnte. Minimal differenzierte Bild- und Tonraster
bauten sich auf, blieben bestehen oder veränderten sich nach Wunsch.
Das fotografierte Ausgangsbild zeigte eine bewegte Figur, bewusst anonym gehalten,
mit Brille und Hut. Die Figur bewegte sich nach dem Prinzip eines Kaleidoskops. Am
Beispiel des Kaleidoskops zeigt sich, dass es möglich ist, beliebigen, auch graphisch
uninteressanten Konfigurationen einen gewissen ästhetischen Reiz zu verleihen, indem
man sie systematisch überlagert. Häufig gebrauchte Möglichkeiten sind einfache und
mehrfache Spiegelungen und die durch Rotation erzeugte mehrzählige Symmetrie.
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Ihmels' Figur verkleinerte sich – in beige und schwarz-grau Tönen – zeitlupenartig
umgekehrt proportional. Die Effizienz bestand darin, dass neben der vielfältigen Darstellung einer Figur diverse Nebenprodukte entstanden. Dazu zählte auch das Kästchensystem, das sich wie ein regelrechtes Flächenornament häufig über das Bild legte.
Die Gliederung in einzelne, unendlich viele Kästchenformen, die oft farblich variierten,
erzeugten eine Raumtiefe, die für Ihmels stellvertretend für die virtuelle Welt stehen:
»Sie schaffen einen Raum, den man nicht greifen kann. Dieses Prinzip so weit voran zu
treiben, wie es nur irgend möglich ist, das ist die Herausforderung.«
Für diverse Arbeiten war der bildhafte Ausgangspunkt eine Sammlung von Bildwelterklärungen von 930, einem »Bilder-Duden«, der mittels Zeichnungen erklärt, wie die
technischen Errungenschaften der modernen Welt funktionieren, z. B. Wasserhähne,
Autos etc. Aus ihr schöpfte er wie aus einer Datenbank, die er anschließend zur freien
Verfügung stellte.
Im Kunst-Kiosk in Dresden zeigte er 200 die beiden Arbeiten, Datensammler und
Sieben Töne. Zu den vorgegebenen Zeichnungen ergänzte Ihmels bei »Datensammler« für das Fließband zeichnerisch drei Arbeiterinnen und animierte sie durch den
Computer. Der »Datensammler« lässt Arbeiterinnen aus einem endlosen Strom Symbole aussortieren, die sich aufblenden zu technischen Zeichnungen, Relief- und Wetterkarten, Schwimmübungen, zu einem in allen Einzelteilen nummerierten Friseursalon – Schautafeln der Kulturgeschichte ohne weitere Erklärungen. Die drei Frauen
arbeiten scheinbar mühelos; das Ereignis, eine lebendige Datenbank, scheint keinen
erkennbaren Anfang und kein definiertes Ende zu haben.
Die zweite Arbeit »Sieben Töne« bestand aus sieben Tönen, die vom Computer immer
neu komponiert wurden. Die sich generierenden Töne hatten eine visuelle Entsprechung in Form einer sich am unteren Rand befindlichen Timeline sowie durch eine
Figurenkomposition. Ausgangspunkt für diese war eine stark reduzierte schwarze, stehende Figur vor gelbem Grund, die sich je nach Tonarrangement vervielfältigte und
wieder löschte.
Ihmels zeigte, wie technoide Muster ablaufen können, sich schichten, verwandeln und
zugleich immer Raum um sich haben. Er verband historisches Bildmaterial miteinander und bearbeitete das Material am Computer. Des Künstlers Wertschätzung von Kultur- und Bildtraditionen steht dabei in keinem Widerspruch zum Medium Computer.
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Kammer der Effizienz, 1987
folgende: Datensammler, 1988
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Seine künstlerische Strategie ist äußerst ambivalent, denn sie ist traditionell und avantgardistisch zugleich. Er überführte vorhandenes Bildmaterial in eine neue Bildtechnik.
Die verwendeten Bilder werden allerdings einem erneuten Transformationsprozess unterworfen. Computerprogramme durchlaufen permanent einen Entwicklungsprozess.
Sie erfahren viele Modifikationen, Überarbeitungen und Neugestaltungen. Ist eine
Version fertig, durchlaufen sie sofort erneut einen Prozess der Überarbeitung. Dass die
Arbeit an einem Computerprogramm niemals endet, gehört zu den wichtigsten Eigenschaften der Arbeiten mit »digitalem Rohstoff«.
Innerhalb der Installationen wird, wie bereits angedeutet, Ihmels Entwicklung immer
stärker darauf abzielen, Entscheidungen nicht allein an den Computer zu delegieren,
sondern auch an das Publikum. Das geht soweit, dass der Betrachter entscheidet, ob
überhaupt eine Ausstellung stattfindet.
Ist der Betrachter bei Stecker 3 nicht bereit, aktiv zu werden, passiert nichts. Seit 2000
bespielte die Arbeit »Stecker 3« mehrere Stationen, darunter auch das Münchner Maximilian Forum, ein über 300 Quadratmeter großer Raum, wofür Ihmels den Kunstpreis
des Medienforums München erhielt.
Der Arbeit gelingt es deutlich zu machen, dass es sich nicht um ein zweidimensionales
Bild an der Wand handelt. Zunächst ist der Raum völlig leer bis auf eine Art Kanzel, die aus Alltagsmaterialien gefertigt ist. Sie ist Träger einer technischen Apparatur,
bestehend aus einer Autobatterie, einem Computer, zwei Projektoren, zwei Lautsprechern und einem ausgefeilten Steuersystem. Zentrales Element ist die vorgelagerte
Treppe, die dem Objekt eine skulpturale Form gibt und die Ihmels in bester KabakowManier als Treppe ins »Nichts« begreift. Die technische Apparatur ist nichts anderes als
eine überdimensionale vergrößerte Computermaus. Nimmt man sie nicht in die Hände,
aktiviert und bedient sie, findet keine Ausstellung statt. Sie verkörpert ein Interface,
mit dem im Rechner gespeicherte Bildwelten in Bewegung versetzt werden können. Die
sonst unterbewusste Handlung der Hand wird als bestimmender körperlicher Akt ins
Bewusstsein zurückgeholt.
Damit spricht Ihmels eines der zentralen Probleme der Computerkunst an. Die Maus
(97 erfunden) muss durch den ganzen Körper bewegt werden, nur so kann der Körper
in die virtuelle Welt eintauchen. Wird über den Stecker Strom geschaltet, projiziert der
Rollwagen seitlich jeweils in Computern generierte und per Mausklick veränderbare
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Stecker 3
München, 2000
»elektronische Welten«. Der Blick nach vorne dagegen bietet nichts.
Wo immer der Besucher diese vergrößerte Computermaus hindrehte, dort ist die
Ausstellung, ansonsten gibt es nichts. Vergleichbar zu einem dunklen Raum, der mit
Fresken überzogen ist, die man nur mit Hilfe einer Taschenlampe und nur punktuell
wahrnehmen kann. Dort wo der Besucher hinblickt, ist das Bild. Raum-, Körper- und
Bilderfahrungen müssen miteinander in Einklang gebracht werden. Im Unterschied
beispielsweise zum Cyberspace, wo sich alles bruchlos und schnell bewegt, wo alles permanent erfassbar ist und wo man kaum den Blick auf etwas Bestimmtes richten kann.
In einer Projektion vollführen von Ihmels gezeichnete Figuren, in einer Kästchenstruktur, Freiübungen. Auf der Parallelprojektion zeigen Ihmels' Zeichnungen öffentliche
Plätze. Die Textebene wird in Form eines elektronischen Gästebuchs bespielt, das den
Besuchern komplett überlassen wird. Dort können sie nach Belieben Begriffe eingeben,
die gelegentlich auf der Projektion erscheinen und im Kontext mit weiteren Begriffen
ein Bedeutungsnetz aufspannen.
Der Künstler bestimmt den offenen Rahmen, der Betrachter liefert das Finish, das nie
ein Wirkliches sein kann. Kunst als aktives Programm, indem die Ebenen von Raum,
Körper und Bild unmittelbar gekoppelt werden.
man immer nur Fragmente sieht, bei der jeder individuell sein Tempo bestimmt, trifft
den Charakter der Arbeit am besten. Die projizierten Arbeiten selbst sind dafür gemacht, dem Raum eine inhaltliche Aufladung zu geben, die er sonst nicht hätte. Durch
sie wird der Raum erleb- und erfahrbar.
Einen noch größeren Raum, eine 500 Quadratmeter große Halle, bespielte Ihmels 2002
mit der Arbeit Sondertatbestand in der Galerie André Kermer in Leipzig. Auch diesen
Raum beließ er zunächst »leer«: in der Mitte des Raumes befindet sich eine mächtige
Säule. Ihmels ließ zwei entsprechende Eisenringe gießen, legte sie um die Säule und befestigte an ihnen einen beweglichen, sieben Meter langen Kranarm, an dessen Ende ein
Projektor installiert wurde. Die Apparatur konnte somit 360 Grad um die Säule herum
bewegt werden. Dafür musste ein Betrachter einen befestigten Riemen ziehen und sich
dabei um die Säule bewegen. Somit wurden die Bilder der Projektion in dem Bewegungstempo des Akteurs in Gang gesetzt und eine individuelle Ausstellung geschaffen,
bis der Betrachter aufhörte.
In Analogie zur Arbeit »Stecker 3« wurde ebenfalls eine »Taschenlampe« angeschaltet,
jetzt aber stationär im Raum und nur für diesen Raum, der komplett zur Ausstellungsfläche wurde. Damit kehrte Ihmels das Prinzip seiner vorherigen mobilen »ComputerMaus« um und schuf wiederum eine beeindruckende virtuelle Räumlichkeit.
Ihmels vergleicht die Aktivitäten des Publikums mit einer Schiffsreise, »für die sie etwas
tun müssen, damit sie etwas zu sehen bekommen«. Das ausschnitthafte Reisen, bei dem
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Skizze zu
Sondertatbestand, 2002
Auf einer ganz anderen Ebene befindet sich Ihmels Computerkunst bei Golem 20 : 0
im Jahr 200 – einem ungeheuer aufwendig und komplex inszenierten multimedialen Theaterstück, das in der vormaligen Plagwitzer Fabrik uraufgeführt wurde. Auf
vier Leinwänden, die die Besucher regelrecht umzingelten, projizierte Ihmels direkt in
diese riesige Industriearchitektur ein Wesen, das mit Fug und Recht unsere bisherige
Vorstellung von Rabbi Löws Roboter, den er um 600 aus Lehm erschuf, um die Prager
Judenstadt zu bewachen, übertrifft. Ins wahrhaft Sublime, fast Hysterische gesteigert,
lehnt sich die Figur zunächst an ihre historischen Vorbilder an, spiegelt deren manuellen Aufbau aus Lehm und löst sich dann immer mehr ins Technoide auf.
Inszenierungen
Anhand seiner figürlichen Darstellung des Golems führt uns Ihmels die ungeheure Vielfalt des Bildes durch regelrecht magische Abwandlungen der Grundfigur vor Augen.
Die digitale Existenz, die eigentlich Schutz bieten sollte und dann zur Gefahr wird,
durchlebt ihr Leben anhand ihrer optischen Veränderungen und greift immer wieder in
das aus mehreren Erzählsträngen bestehende Theaterstück ein. Ungeheuer menschlich,
ungeheuer technisch, entwickelt sich der Golem aus einem kleinen, liebevoll herumquakenden Gnom zu einem am Ende auseinander fliegenden, hysterischen, nicht mehr
greifbaren Ungeheuer.
Etwas so Immaterielles ist ständig vom Verschwinden bedroht, Golem, scheint das zu
spüren, auch darüber scheint er mit den Besuchern kommunizieren zu wollen. Ihmels
zeigt während des gesamten Stückes nur den Kopf des Golem, aber derart transformiert,
dass immer wieder neue Elemente eine neue Struktur erschaffen. Stanislaw Lems
Klassiker: »Also sprach golem« lässt grüßen.
Ihmels gelang durch eine eigenständige visuelle Sprache das, wonach Hollywood immer
sucht: dass man sich über eine Stunde nur mit dem Blick in ein Gesicht beschäftigt.
Das Gesicht allein wurde zum Kammerspiel, verschmolz mit dem Raum, und wurde
selbst innerhalb des Theaterstückes zu einem Theaterstück. Die Verfassung Golems
wurde zu einem optischen Rollenspiel, das alle Facetten einer multiplen Persönlichkeit
widerspiegelt. Sein Grimassenspiel steht in einer langen kunsthistorischen Tradition.
Dabei gelangt Golem an eine Grenze, an der sein Bild zu einem anderen Ich wird, zu
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diese und folgende:
Golem 20 : 01, Leipzig, 2001
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einem unbekannten Gegenüber, das das vertraute Selbst zur Entdeckung neuer, durchaus psychischer Erscheinungsbilder drängt. Am bekanntesten dürften die 69 »Charakterköpfe« von Franz Xaver Messerschmidt (736 — 783) aus der zweiten Hälfte des
8. Jahrhunderts sein. Diese bis heute Rätsel aufgebenden Köpfe mit extremen Gesichtsverzerrungen spielen alle Formen einer Gesichtsveränderung durch. Ihmels' Computerinszenierter Golem ist mit seiner neuesten Technik und Bildsprache immer in Bewegung, das Einfrieren, das Festhalten ist entsprechend ein Widerspruch in sich.
Ihmels' aktuellste Arbeit Große Geste auf halb vier von 2005 entstand in Kooperation
mit Julia Riedel, Tidi von Tiedemann und Tom Klingenberg und findet im Internet
statt. Konsequent wird seine künstlerische Haltung auf eine filmische Erzählstruktur,
einen so genannten »generativen Film« angewandt. Grundvoraussetzung für dieses
Projekt war es, ästhetische Richtlinien des filmischen Erzählens so zu systematisieren,
dass ein Computerprogramm die Generierung des Films komplett übernehmen kann.
Damit schafft Ihmels jetzt im Medium des Films, durch den Computer, die konsequente
Weiterdelegierung künstlerischen Gedankengutes.
Aus dem zum Film publizierten Booklet erfährt der Interessierte, dass sich der Film aus
einer Datenbank, bestehend aus knapp 2.000 kleinen Filmsequenzen (ca. 30 Stunden
Material), speist. Diese Sequenzen sind sehr kurz. Jede Sequenz ist nur eine Einstellung.
Generiert wird der Film durch mehrere aufeinander abgestimmte Generatoren. Diese
übernehmen sowohl die Entwicklung der Handlung, als auch die ästhetische Grund32
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entscheidung. Die Grundsteuerung der Handlung übernimmt ein Hauptgenerator. Er
entscheidet, ob es zu einer Begegnung von zwei bestimmten Figuren an einem festgelegten Ort kommt. Wenn ja, entscheidet er, ob diese beiden Figuren in einen Dialog
miteinander eintreten. Wenn dies der Fall ist, wird an einen Dialoggenerator übergeben. Dieser entscheidet, wie lang das Gespräch dauern soll und was genau gesprochen
wird. Ton- und Bildspur werden unabhängig voneinander synchron abgespielt, so dass
der Generator gleichzeitig entscheiden kann, welche Kameraeinstellung gewählt werden soll. Er entscheidet, ob parallel weitere Filmsequenzen (eine dritte Figur betritt
den Raum) in das Gespräch eingeblendet werden sollen. Der Dialoggenerator meldet
des Weiteren an den Tongenerator, wann gesprochener Text abläuft, so dass eventuell
Hintergrundmusik im Soundvolumen abgelegt werden kann. Nach Ablauf des Dialoges
übergibt der Dialoggenerator wieder an den Hauptgenerator. Dieser entscheidet nun
weiterhin, ob eine Einzelaktion, ein Mood etc. in der Handlung folgen soll und gibt
dann an den entsprechenden Generator ab.
Die Handlung findet in einem Hotel statt, in dem sich insgesamt zwölf Personen aufhalten, alle haben individuell entwickelte Charaktere und gehen im Hotel ihrer Tätigkeit nach, bewegen sich, sprechen miteinander oder nicht. Sie haben Optionen in
ihrem Persönlichkeitsprofil, die Verbindungen / Konfrontationen zulassen, aber nicht
zwangsläufig zum Ausbruch führen müssen. Man weiß nicht, was passieren wird und
überlässt sie dem generiertem Film. Die mathematischen Möglichkeiten der Dramaturgie sind so vielfältig, dass grundsätzlich keine Vorhersagen möglich sind. Mit der
»Großen Geste auf halb vier« ist ein individueller Endlosfilm entstanden. Er erzählt
seine eigene Geschichte.
Ihmels will Geschichten erzählen, immer, und sie um jeden Preis verhindern. Wenn
man möchte, kann man den Rest seines Lebens diesem Hotel und seinen Bewohnern
zusehen. Es wird nie langweilig, man wird nie etwas verstehen. Es gibt große und kleine
Momente. Es ist wie das Leben, immer gibt es Schnitte und neue Kombinationen. Ein
Bild folgt dem nächsten, es ist immer unfertig, bis der Stecker gezogen wird.
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Große Geste auf halb vier, generativer Film, 2005
folgende: Stecker 3, Leipzig, 2001 und Golem 20 : 01, Leipzig, 2001
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Ein Ausblick in uns unbekannte
Räume
Ein Interview
Mit Tjark Ihmels sprach Julia Riedel.
Interessiert Sie als Künstler der wissenschaftliche Diskurs?
Er interessiert mich schon, aber nicht fanatisch. Ich habe hohen Respekt vor der Kraft des
Gedankens. Wenn es jemandem gelingt, einem großen Gedanken eine Form zu geben,
dann lese ich seine Ausführungen mit Interesse und höre ihm gerne zu. Allerdings verfolge
ich nicht jeden Diskurs bis in seine letzten Verzweigungen. Und ich muss auch nicht an
jeder Diskussion aktiv teilnehmen. Denn ich bin kein Theoretiker. Die Fragen nach dem
,Richtig‘ und dem ,Falsch‘, dem ,Gültigen‘ und dem ,Ungültigen‘ stellen sich in der Kunst
anders als in der Wissenschaft.
Hat der Einsatz technischer Hilfsmittel die Kunst verändert?
Unzweifelhaft: Ja. Mit der Entwicklung der Fotografie, des Films und der interaktiven Medien beispielsweise entstanden neue Ausdrucksformen, die das Nachdenken über Kunst
nachhaltig beeinflusst haben. Es waren aber nicht nur die Produkte, die zu neuen Frage-
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Golem 20 : 01,
in der ehemaligen Plagwitzer Fabrik, Leipzig, 2001
stellungen führten, sondern die neuen Möglichkeiten der Technik. Plötzlich spielte die
Frage nach der Besonderheit des Originals im Gegensatz zur vervielfältigten Kopie eine
ganz wesentliche Rolle. Im Zusammenhang damit entstand natürlich auch die Frage nach
der permanenten Verfügbarkeit, wie sie das Internet scheinbar ermöglicht.
Kann sich ein Künstler – auf Grund des Internets – heute hinstellen und sagen:
»Schaut mal her, das mache ich – und ich brauche keinen Galeristen mehr«?
Als sich die Möglichkeiten der CD - ROM absehen ließen – veränderbare Kunstwerke in
Massenauflage zu erschaffen – hatten wir genau diese Hoffnung. Wir gründeten 1992
die Künstlergruppe ,Die Veteranen‘ und versuchten mit CD - ROM -Produktionen und Performances diesem Ansatz nachzugehen. Es hätte dem Medium entsprochen, es als Massenmedium zu verwenden. Das war eine radikale Abkehr vom Originalanspruch. Die Chance,
dass jeder von zu Hause aus miterleben und unter Umständen beeinflussen könnte, was
auf den Monitoren passiert, war eine verlockende Aussicht. Allein, es hat nicht funktioniert! Unter anderem fehlte den Verlagen der Mut, in diese Entwicklung zu investieren und
so ein eigenständiges Medium mit eigenständigen künstlerischen Inhalten zu etablieren.
Nun gibt es ja wieder entsprechende Hoffnungen für das Internet. Es wurde als neue
Kunstform angekündigt und die Erwartungen waren groß.
Wie lässt sich das einschätzen?
Was ich interessant finde – und was meiner Ansicht nach der Beitrag ist, den das Medium
Internet im Moment leistet, ist, dass es die Diskussion über Sinn und Unsinn in der Kunst
ganz allgemein wieder neu anzettelt.
Könnte man sagen, der Verdienst des Mediums Internet ist es, in erster Linie kein
neues Produkt zu schaffen, sondern in die Gesellschaft hinein zu wirken?
Der relevanteste Beitrag den das Medium derzeit leistet, ist, dass es zur Reflexion beiträgt.
Darüber hinaus wird natürlich Vieles ausprobiert, zuallererst, ob das Medium nicht selbst
schon Kunst genug ist.
Mehr ist vielleicht auch noch nicht zu erwarten. Denn es fehlt meiner Ansicht nach noch
etwas ganz Entscheidendes – nämlich der Schutzraum. Man könnte es auch Bedeutungsraum nennen. Dahinter verbirgt sich ein separater Raum, wie es eine Galerie, ein Kino
oder eine Konzerthalle darstellen. Ein Ort, an dem man bereit ist, sich konzentriert einer
bestimmten künstlerischer Äußerung zu stellen. Der Monitor an sich ist dafür scheinbar
tige Leben‘ zu zielen. Es erstaunt deshalb nicht, dass viele der etablierten Medienkünstler
inzwischen wieder verstärkt die Zusammenarbeit mit Galerien suchen.
Entzieht sich der Medienkünstler damit aber nicht seinen Kritikern?
Denn die Vermutung liegt nahe, dass das Galeriepublikum einen unverhältnismäßig
hohen Respekt vor den technischen Aufbauten hat und demzufolge keine Meinungen
äußert, um nicht als konservativ oder altmodisch zu gelten?
Meiner Ansicht nach ist die Bereitschaft der Betrachter wesentlich größer eine kritische
und distanzierte Haltung gegenüber technisch untermauerten künstlerischen Arbeiten
einzunehmen als in anderen Ausstellungen. Der Hintergrund dafür ist ein grundsätzliches
Überschätzen der Gerätschaften. Nur die wenigsten Besucher können einschätzen, was
die Leistung des Produzenten und was die Leistung des Apparates ist. Jeder weiß inzwischen, dass es Programme für die differenziertesten Anforderungen gibt. Und die Furcht,
einem neuen technischen Effekt aufzusitzen ist verständlicher Weise groß. Vor diesem
Hintergrund wird dann eine Frage gestellt, die man bedauerlicherweise ansonsten selten
in Galerien hört: Ist das denn überhaupt Kunst? Oder ist das nur eine schmalbrüstige
Idee, die im Computer zu einer großen Sache aufgeblasen wird?
Ich kenne die einzelnen Programme nicht und deshalb ist mir die Herstellung relativ
egal. Ist nicht die Idee das Wesentliche?
Das ist in der Tat die große Kunst, dass der Betrachter noch den ursprünglichen Gedanken erkennen kann bzw. , dass es überhaupt einen Gedanken im Hintergrund gibt. Die Herausforderung mit einer Arbeit dem elektronischen Medium seinen Stempel aufzudrücken
ist sehr groß. Man kann sich in technischen Raffinessen verlieren, die in wenigen Monaten
bereits niemand mehr anerkennt. Und etwas Weiteres, sehr Verführerisches kommt hinzu:
Der Computer bietet bestimmte Lösungsansätze von sich aus an. Und diese Entwicklung
wird immer dramatischer, je ausgefeilter die Programme werden. So entwickeln Programme eine bestimmte Grundästhetik, auf die ich scheinbar keinen Einfluss mehr habe. Das
derzeitige Modeprogramm ,Flash‘ kann auf Grund der Vektorisierung dafür als Beispiel
dienen. Grundsätzlich darf man aber natürlich nicht vergessen, dass wir es mit einem
relativ jungen Medium zu haben und uns mitten in einer rasanten Entwicklung befinden.
Deshalb lassen sich ja auch nur fragmentarische Zustandsbeschreibungen zu diesem
Thema abliefern.
ungeeignet. Man sucht nach adäquaten Möglichkeiten aus dem Rechner wieder ins ,rich-
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folgende:
Schwimmer, 2002
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Sollte man also die Frage »Hat der Einsatz von Technik die Kunst verändert?«
drastischer formulieren:
Prägen die aktuellen technischen Vorgaben den künstlerischen Prozess nachhaltiger
als der Künstler selbst?
Um sich mit dieser Frage auseinander zu setzen, kommen wir nicht umhin, uns der Mehrfachbedeutung des Wortes Technik in der Kunstgeschichte bewusst zu werden. Wir kennen da beispielsweise die klassischen Techniken der Lasurmalerei oder der Aquarellmalerei. Verwendung findet der Begriff Technik allerdings auch für die bekannten grafischen
Verfahren der Lithografie, der Radierung oder des Holzschnittes. Als dritter Komplex sind
dann die Maschinen als technische Hilfsmittel wie Fotoapparat, Kopierer und Computer
mit ihren jeweiligen Verfahren in die bildende Kunst getreten.
Das heißt – um kurz nachzufragen – Sie sehen die Medienkunst nicht als
eigenständige Kunstgattung?
Ich persönlich habe mich immer als bildender Künstler verstanden. Natürlich sind meine
Werkzeuge und Stilmittel nicht die im klassischen Sinne. Es entsteht bei meiner Arbeit
auch nicht das bekannte Produkt eines bildenden Künstlers: ein abgeschlossenes Rechteck. Es entstehen offene Systeme, in denen man nicht immer den selben Zustand erlebt –
Systeme, in die man eingreifen kann. Dennoch sehe ich eine problemlose Einbindung in
die künstlerische Tradition in ihrer ganzen Vielfalt. Die Bemühung, sich abzugrenzen, war
vor allem deshalb notwendig, um in den Anfangstagen die Anforderungen an das neue
Medium gegen alles Misstrauen von außen formulieren und diskutieren zu können.
Zurück zur Ausgangsfrage: Prägen die aktuellen technischen Vorgaben den
künstlerischen Prozess nachhaltiger als der Künstler selbst?
Diese Gefahr besteht in der Tat. Das hat seine Ursache in der Notwendigkeit, dass der
Computer exakt definierte Parameter benötigt. Bis zur Entwicklung des Computers ließen
alle der genannten Techniken und auch technischen Geräte Experimente zu. Das heißt:
man konnte gegen die gewöhnlichen Gebrauchsanweisungen experimentelle Resultate
erzielen. Ausgangspunkt für diese Experimente war in sehr vielen Fällen die Betonung der
Schwächen der jeweiligen Technik. Das Bedauerliche am Computer ist: er lässt keine fehlerhafte Bedienung zu. Er ist abhängig von einem präzise arbeitenden Programm. Durch
die Programmierung, ebenso wie sie bei der Erstellung interaktiver Installationen, Teil des
Arbeitsprozesses ist, ergeben sich klar definierte Anforderungen. Der Rechner produziert
bei Programmfehlern kein fehlerhaftes Ergebnis, sondern er stürzt ab und es gibt über-
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haupt kein Resultat. Diese Einschränkung ist für einen experimentellen Ansatz sehr verhängnisvoll. Plötzlich muss ein künstlerischer Prozess sehr planmäßig vonstatten gehen.
Der Akt des ‚gegen-die-Vorgaben-Arbeitens‘ fällt, wenn die Programmierung einbezogen
wird, damit weitest gehend weg. Es kommt zu einer Art Stil-Diktatur.
Hat nicht jede uns bekannte künstlerische Technik zu stilbildenden Einschränkungen
geführt?
Nicht in dieser drastischen Form. Denn es gab, wie erwähnt, immer ein Resultat. Selbst
die unsachgemäßeste Bearbeitung eines Lithografiesteines oder auch eines Kopierers
bringt einen Abzug hervor. Er ist ohne materielle Einschränkung vorhanden, selbst wenn
ich ihn nach einem Papierstau aus dem Innersten des Kopierers herauskratzen muss. Es
liegt dann in der Entscheidung des Produzenten, ob er das Produkt als ,gültig‘ empfindet
oder nicht, ob er es vernichten oder weiter bearbeiteten will. Der Computer dagegen ist
außer Stande ein Ergebnis zu präsentieren, wenn ein für ihn wesentlicher Parameter nicht
präzise definiert wurde. Der daraus resultierende Fehler muss nicht auf der Stelle offensichtlich werden. Er kann beispielsweise erst beim Abspielen auf einer anderen Plattform,
bzw. unter Verwendung eines anderen Browsers auftreten. Dann wiederum gibt es plötzlich und überraschenderweise einen Absturz, obwohl das Programm unter anderen Bedingungen bereits hervorragend lief. Dies ist – wie ich finde – ein eklatanter Unterschied
zu den stilbildenden Einschränkungen anderer Techniken. Etwas überspitzt gesagt: Der
entscheidende Prozess bei interaktiven Anwendungen liegt im Bemühen, überhaupt ein
funktionstüchtiges, sichtbares Ergebnis zu produzieren.
Wir haben es also tatsächlich mit einem »Neuen Medium« zu tun?
Neu ist auf jeden Fall, dass wir mit einer Apparatur ausgestattet sind, die sowohl Werkzeug als auch Ausgabemedium in Einem und darüber hinaus Transportmittel ist. Es ist
eine Art geschlossenes System. Daher wird auch sehr schnell verständlich, warum sich
alles den Reglementierungen des Gerätes unterzuordnen hat. Offensichtlich wird dabei
aber auch, dass sich diese eigenen Gesetzmäßigkeiten von denen des herkömmlichen
künstlerischen Arbeitsprozesses deutlich unterscheiden.
Der Computer ist für Sie also keine Wunschmaschine?
Was mich reizt, ist die Ambivalenz dieses Gerätes. Einerseits bietet es eine unglaubliche
Fülle an Möglichkeiten und andererseits gilt es, mit den eklatanten Einschränkungen der
Programme umzugehen. Diese Mischung hat eine große Aussagekraft über das Verhältnis
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von Mensch und Maschine und natürlich auch über das Verhältnis von Kunst und Technik.
Aus diesem Grunde bietet der Computer den interessantesten Ansatzpunkt für eine aktuelle künstlerische Produktion.
Das bezieht sich auf den Inhalt oder auf die Technik oder auf beides?
Ich bin kein Techniker. Mich beschäftigen technische Fragen nur insoweit, wie sie bei der
Umsetzung meiner Arbeit unbedingt erforderlich sind. Interessant sind die Fragestellungen in erster Linie inhaltlich. Welche Hoffnungen und Ängste begleiten den Einsatz der
Technik? Dahinter verbirgt sich natürlich ein umfangreicher Themenkomplex. Vieles müsste man beispielsweise über die Erfordernisse des modernen Berufs- und Gesellschaftslebens sagen. Dies lasse ich hier aber absichtlich unbesprochen. Anregender für mich ist
die Betrachtung des Einsatzes der Medien im privaten Umfeld.
Von Anfang an wurden immense Summen in die Entwicklung der
Unterhaltungssoftware gesteckt...
Ein bemerkenswertes Phänomen stellen dabei Computerspiele dar. Auch hier gibt es
wiederum die unterschiedlichsten Kategorien von Spielen. Eines der ersten und auch
bekanntesten Computerspielen ist ,Solitaire‘. Warum spielt man es am Rechner? Was
ist der Mehrwert, den der Spieler am Monitor gegenüber dem Patience-Spieler am Tisch
hat? Er muss die Karten nicht nach jedem Spiel mischen und neu auf dem Tisch verteilen. Er kann wesentlich schneller mehrere Spiele hintereinander spielen. Er kann seine
Freizeit scheinbar effizienter nutzen. Zugleich vergibt er sich aber damit die Möglichkeit,
durch regelwidriges Verhalten doch noch zu einem Erfolgserlebnis zu gelangen. Denn der
Computer ist ein unbestechlicher Schiedsrichter. Selbst wenn nur noch drei Karten nicht
aufgedeckt sind und das Programm es nicht erlaubt sie umzudrehen, hat der Spieler keine
Chance irgendetwas für seinen Sieg zu unternehmen. Ich finde das deprimierend!
Die momentan vieldiskutierten Schießspiele haben ebensolche Reglementierungen
in ihrem Quellcode. Sie decken sich allerdings nur sehr selten mit den genannten
moralischen Haltungen. Spielt diese Diskussion für Sie eine Rolle?
Die Tatsache, dass es verschiedenste Spiele gibt, gehört selbstverständlich in diese Debatte. Für ethische Wertungen sehe ich allerdings in unserem Zusammenhang vorerst
keine Notwendigkeit. Mich interessiert vielmehr die Frage: Warum lässt sich der Betrachter auf die eingeschränkte Form der technischen Interaktion ein? Warum akzeptiert er all
diese Bestimmungen und Regeln im Computerprogramm? Gleich vorab: Ich kann diese
Fragen natürlich nicht beantworten! Ich schließe aber daraus, dass es einen Willen zur
Virtualität gibt. Eine anregende Vorstellung dafür liefert mir die Spekulation über eine
Stellvertreterwelt. Eine in sich abgeschlossene Zone, in der ich verschiedenste Phantasien und Übungen praktizieren kann, die – aus welchen Gründen auch immer – nicht
in der realen Welt durchführbar sind. Aus dieser Vorstellung heraus wird vielleicht verständlich, warum ich eine vorschnelle moralische Bewertung ablehne. Ich müsste nämlich
dann auch meine Phantasien zensieren lassen, die wahrscheinlich auch nicht immer auf
Jedermanns Verständnis treffen würden.
Der »Wille zur Virtualität« – wie Sie es nennen – hat also schon etwas »Anrüchiges«?
Allgemein werden solche Bestrebungen erst einmal belächelt bzw. ängstlich verfolgt.
Deutlicher wird das Ganze, wenn wir die rein virtuellen Welten verlassen. Die Erfindung
des Tamagotchis brachte gehörige Aufregung in die verschiedensten Haushalte. Auf den
ersten Blick erscheint die Anschaffung eines künstlichen Haustiers natürlich absurd. Was
allerdings im einzelnen an Wünschen und Sehnsüchten dahinter verborgen ist, will ich hier
nicht in irgendeiner Form kommentieren. Es scheint aber tatsächlich so zu sein, dass es
emotionale Bindungen gibt. Das finde ich dann schon sehr bemerkenswert.
Der Computer übernimmt also die Rolle des Korrektors?
Sie sehen die virtuellen Welten, die Stellvertreterwelt als Flucht aus einer
unvollständigen realen Welt?
Im genannten Fall ist die Frage meiner Ansicht nach besonders spannend, denn der Computer bedient ja vorbildlich moralische Erwartungen. Er lässt pädagogisch wirksam meinen geplanten kleinen Betrug nicht zu. Das Programm allerdings im Hintergrund arbeitet
nur seine definierten Anweisungen ab. Ihm ist es völlig egal, ob das moralisch vertretbar
ist oder nicht. Es handelt sich also nicht um ein Korrektiv, sondern um festgelegte Einschränkungen, die ich akzeptieren muss. Bemerkenswert ist dabei die Bereitschaft, sich
Im Grunde genommen halte ich die Bemühungen um die virtuellen Stellvertreterwelten
nur für eine konsequente Weiterentwicklung unseres gesellschaftlichen Raumes. Denn
wir leben ja bereits – ganz real – in einer Welt voller Stellvertreter. Die Maschine vertritt
die Arbeitskraft, inzwischen teilweise auch den Menschen als Kontrollinstanz. Dienstleister und Agenturen übernehmen stellvertretend die Wahrung vielschichtigster Interessen.
Alle wesentlichen Bereiche des gesellschaftlichen Zusammenlebens sind in unserem
unter zusätzliche und nicht immer nachvollziehbare Gesetze unterzuordnen.
Kulturkreis an Spezialisten delegiert. Und nun scheint die Möglichkeit gegeben, auch für
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emotionale Bindungen und für die Phantasie Stellvertreter zu schaffen. Der Wunsch danach ist ja nicht neu. Jedem fallen literarische Vorbilder ein, die stellvertretend Aufgaben
übernommen haben. Mir ist nach wie vor der Versuch Kokoschkas sehr eindrücklich, der
sich seine Geliebte als bis in alle Details realistische Puppe nachbauen ließ, nachdem sie
ihn verlassen hatte. Es bleibt natürlich die reine Spekulation zu fragen, ob er die elektronischen Möglichkeiten heutzutage dafür nutzen würde. Denkbar wäre es.
Fallen die verschiedensten Internetforen, die inzwischen eine thematische Breite von
Spezialisten- bis zu Selbstmordforen abdecken, für Sie unter diesen Zusammenhang?
hilfeforen bis hin zu den von Ihnen genannten Selbstmordforen. Es ist ja nicht neu, dass
Menschen nach Adressaten suchen, denen sie anonym ihre innersten Befindlichkeiten
anvertrauen wollen. Neu ist allerdings das Angebot, dass man als User live dabei sein
kann, wenn extreme Lebenssituationen anonym besprochen werden.
Dabei besteht natürlich die Gefahr des gläsernen Menschen. Sind also die UrÄngste der Science Fiction-Literatur gar nicht so abstrus? Denn wer garantiert die
Anonymität?
Wir füttern Geräte, die immer kleiner werden mit persönlichen Problemen, die scheinbar
immer größer werden. Die Vorstellung, dass es so etwas wie eine Computersimulation
individuellen Lebens geben könnte, scheint viele Anhänger zu haben. Was wäre wenn?
Die Angst des Menschen vor seiner eigenen Schöpfung ist ein wesentlicher Punkt im Verhältnis von Mensch und Maschine. Das Medium selbst ist allerdings für mich dabei der uninteressantere Part. Beleuchtenswert ist die Angst. Denn darüber artikuliert sich Menschsein. Es besteht eine Ambivalenz zwischen ,sich ausliefern wollen‘ und ,ausgeliefert sein‘.
Gleich einem Schachprogramm bestünde die Möglichkeit, unterschiedlichste Varianten
der eigenen Vita mit mehren Zügen im voraus einmal durchrechnen zu lassen. Es entstün-
Auch diese Ängste gab es schon lange Zeit vor der Entwicklung des Computers. Wiederum sei auf die bekannten literarischen Gestalten verwiesen. Aus deren literarischem
de eine Art Entscheidungshilfe. Ähnlich fungieren bereits die Foren. Das betrifft Selbst-
Erfolg kann man schließen, dass vielen Lesern diese Gedanken auch damals nicht fremd
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Golem 20 : 01,
in der ehemaligen Plagwitzer Fabrik, Leipzig, 2001
waren. Das Überraschende für uns besteht nun darin, dass wir ohne eine Vorauswahl, die
bis dahin unter anderem die Verleger trafen, plötzlich beinahe alles, was irgendjemand
veröffentlichen will, im Internet mitlesen können und man natürlich davon ausgehen kann,
dass es dann auch da gespeichert bleibt. Letztlich muss aber diese Entscheidung jeder
selbst treffen, ob und was er ins Netz stellt, und was er im Netz ansieht.
Da Sie in Ihren Antworten jeder eindeutigen Bewertung ausweichen, stelle ich
die Frage ganz direkt: Entwickeln Sie aus dem von Ihnen Gesagtem für sich eine
pessimistische Weltsicht?
Ganz eindeutig: Nein. Denn die Entwicklungen verlaufen wunderbarerweise wesentlich
vielschichtiger, als ich mir das vorstellen kann. Das sind für mich ja nur Gedankenmodelle.
Ich habe den Vorteil selektieren zu können. Ich muss nichts bewerten. Ich kann mir bestimmte Aspekte heraussuchen, die ich dann wiederum überspitze oder abstrahiere, die
mich weiter in meiner Arbeit beschäftigen oder die ich fallen lasse.
Sind das Themen, die Sie in Ihrer konkreten künstlerischen Arbeit beschäftigen?
Diese Frage lässt sich nicht ganz eindeutig beantworten. Einerseits entstehen die angedeuteten Reflexionen natürlich aus meiner Arbeit heraus, beziehungsweise aus ihrem Umfeld. Das ist nun mal das Gebiet, auf dem ich arbeite. Da macht man sich zwangsläufig so
seine Gedanken. Andererseits ist meine eigentliche Arbeit davon grundverschieden. Mein
Anliegen ist es nicht, Reflexionen umzusetzen, sondern ich reflektiere bei der Arbeit über
die Arbeit. Dabei genügt als Anlass meistens schon die Sensation des Machens.
Ich setze mich in erster Linie mit dem Raum, in dem künstliche Welten durch Informationen menschlichem Bewusstsein fassbar und erlebbar gemacht werden, auseinander.
Dieser Schnittpunkt soll sinnlich wahrnehmbar werden und zwar so, dass die ihm eigene
Dimension spürbar bleibt. Ein Ansatzpunkt dafür ist die Zusammenschau immaterieller
und materieller Strukturen. Im Augenblick ihres Zusammentreffens erhoffe ich mir: den
Ausblick in uns unbekannte Räume.
Wenn Sie zum Beispiel ein Projekt wie »Golem 20 : 0« im Jahr 200 mit dem Schauspielhaus Leipzig realisieren, muss es doch aber gemeinsame inhaltliche Rahmenbedingungen und Aufgabenstellungen geben?
Ergebnisse und lässt sich durchaus auch von den unfertigen Entwürfen inspirieren. Es
war in diesem Falle relativ schnell klar, dass eine virtuelle, steuerbare Figur entwickelt
werden soll, die in die Handlung integriert werden kann. Nun hätte also die Planung übergangslos in die Umsetzung übergehen können. Im Laufe des Prozesses entdeckte ich
aber, dass die entstehende Figur ein wesentlich größeres Potenzial besitzt, als nur als
‚virtuelle Puppe‘ aufzutreten. So begannen die ersten Wandlungen. Mit der Zeit wurde
mir deutlich, dass gerade diese Wandlungen der Figur das wesentliche Element werden
musste, dass mit ihnen noch mehr transportiert werden kann, als nur ein mitspielendes
Bühnenbild. Solche Abläufe eines Prozesses sind nicht immer vorhersehbar, geschweige
denn planbar – von mir jedenfalls nicht. Dafür ist es gut, wenn man keine zu klaren Vorstellungen hat. Das Anliegen war es dann, ein eigenständiges sinnliches Erleben mit einer
virtuellen Figur zu ermöglichen. Und ich bin dann der, den das, was man sieht, am meisten
interessiert.
Wenn man mit technischen Medien arbeitet, gehört ja auch die ganze Logistik
der Geräteausleihe dazu. Da müssen ja rechtzeitig Bestellungen und technische
Absprachen eingeleitet werden. Kann man in einem solchen Arbeitsprozess tatsächlich
unvorhergesehene Entwicklungen einfließen lassen?
Es wird oft angenommen, dass ein assoziativ geprägtes Arbeiten etwas Nebulöses hervorbringen muss. Es ist aber nur eine Arbeitsweise, mit der ich persönlich am besten
vorankomme. Die Projekte, die entstanden sind haben dann – hoffe ich – schon etwas
sehr Konkretes, wie zum Beispiel die ,Kammer der Effizienz‘, oder ,Stecker 3‘. Es gibt
so etwas wie eine Grundidee und zu der gehört auch eine Vorstellung, wie sie realisiert
werden könnte. Von da aus bewege ich mich dann sehr langsam mit dem was ich habe:
einem Raum, Apparaturen, einem unvollständigen Programm und wachsenden Zweifeln
auf ein Ergebnis hin.
Der Titel ›Maschinenatem‹ müsste demzufolge Ihrem Arbeiten sehr nahe kommen?
Ja, denn es liegen sehr viele Ansätze darin. Ich könnte beispielsweise fragen: Atmen Menschen anders im Beisein von Maschinen? Schneller, höher, weiter? Was atmen Maschinen ein und aus – Informationen?
Die wesentlichste Voraussetzung ist ein Grundvertrauen in die Arbeit des jeweils Anderen; auch und vor allem in Momenten, in denen noch alles offen ist. Nebenher bedarf es
natürlich sehr pragmatischer Absprachen. Es gibt Terminpläne, man diskutiert über erste
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folgende:
Die elektronische Tapete, 2002
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Bibliografie
Tjark Ihmels / Michael Touma / Tim von Veh (Hrsg.): Die Leiche Elvis. Leipzig 1991.
Jacob Richard: Bilder aus Staub und Haarspray. In: SAX. Ausgabe Nr. 10/Oktober.
Dresden 1992.
Franziska Morgner: Der starke Kontrast betont ihre Werke. Michael Touma und Tjark
Ihmels stellen gemeinsam aus. In: Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 03. 08. 1993.
Leipzig 1993. — Oper Leipzig (Hrsg.): Blickwechsel – Instant Recognition.
Katalog zur Ausstellung im Frederic R. Mann Auditorium, Tel Aviv, 18. 5. 1993 –
7. 6. 1993. Leipzig 1993. — Siegrid Kühn: Kunst als Brücke zur Versöhnung. Arbeiten
von zwölf sächsischen Künstlern waren für vier Wochen in Israel ausgestellt. In:
Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 30. 06. 1993. Leipzig 1993. — Jacob Richard:
Kopierter Prozess. In: SAX. Ausgabe Nr. 8 / August. Dresden 1993. — Tjark
Ihmels / Michael Touma (Hrsg.): Der andere Raum. Leipzig, Prozess-Verlag, 1993.
Thomas R. Irmer: Der andere Raum. Auf Werbeleuchtflächen durchbrechen Tjark
Ihmels und Micha Touma alle hier bisher bekannten Dimensionen einer Ausstellung.
In: Kreuzer. Ausgabe April. Leipzig 1994. — Anja Busse: Altäre der Marktwirtschaft.
In: Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 16. /17. 04. 1994. Leipzig 1994. — Ralf
Koch: High-Tech für die Sinne. »Der andere Raum« – eine Installation in Leipzig. In:
Neues Deutschland. Ausgabe vom 23. /24. 04. 1994. Berlin 1994. – Ralf Koch:
40mal High-Tech für die Sinne. »Der andere Raum« – Tjark Ihmels' und Micha
Toumas Stadt-Installation. In: Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 14. 04. 1994.
Leipzig 1994. — Ralf Koch: Der andere Raum. In: Neue bildende Kunst. Ausgabe
5 / 94. Berlin 1994. — Greg Bond: Der andere Raum. In: Fama. Heft 9 / August
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Thomas R. Irmer: Mit der Maus die Kunst
verändern. Die Veteranen benutzen die cd-rom als originäres künstlerisches Medium.
(3. Jahrgang). Dresden 1994. —
In: Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 05. 04. 1994. Leipzig 1994. — Thomas R.
Irmer: Bilder, Filme, Leute: Alles fließt. In: Tagesspiegel. Ausgabe vom 27. 10. 1994.
Berlin 1994. — Alexis Canem: Kunst digital. In: Frankfurter Rundschau. Ausgabe
vom 07. 11. 1994. Frankfurt am Main 1994. — Craig Harris: »Die Veteranen«
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Angeles. — Craig Harris: »Die Veteranen« – a conversation about cd-rom art. In:
Leonardo Electronic Almanach. Ausgabe 2 / 11. Los Angeles. — Dieter Daniels
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1994.
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geistert durch die »Kunsträume« einer einstigen Fabrik. In: Leipziger Volkszeitung.
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In: Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 22. /23. 09. 2001. Leipzig 2001. — Hendrik
Pupat: Der Mensch unterwirft sich seiner eigenen Schöpfung. In: Leipziger Volkszeitung.
Ausgabe vom 29. /30. 09. 2001. Leipzig 2001. — Susanne Altmann: Login Name:
Golem. In: Kreuzer. Ausgabe 9 / 2001. Leipzig 2001. — Thomas R. Irmer: Reale
Untiefen. In: Theater der Zeit Ausgabe 11/2001. Berlin 2001. — Gila Volkmann:
Geleitwort. In: Kunsträume Leipzig e. V. (Hrsg.): Golem 20: 01. Dokumentation.
Leipzig 2001.
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Mediengestaltung (Hrsg.): Große Geste auf halb vier. Katalog zum generativen
Filmprojekt. Mainz 2005.
Peter Guth: Auf Spurensuche nach den Resten des gelebten Lebens. In: Leipziger
Volkszeitung. Ausgabe vom 26. 05. 1998. Leipzig 1998.
Susanne Altmann: Kolonie der Kreativen. In: Kreuzer. Ausgabe 12/2000. Leipzig
2000. — Jürgen Kleindienst: Kosmischer Realismus und Traumtänzer. In:
Leipziger Volkszeitung. Ausgabe vom 12. 12. 2000. Leipzig 2000. — Ulrich
Müller: Text. In: Stecker 3. Katalog zur Ausstellung. Galerie André Kermer.
9. Dezember 2000 – 19. Januar 2001. Leipzig 2000.
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61
Internationale Preise und
Anerkennungen
1995
European Multimedia Award ( EMMA ), Frankfurt am Main:
Lebenslauf
1963
geboren
1982
Studium der Theologie
Karl-Marx-Universität, Leipzig
1987
Diplom als Theologe
dreijährige Tätigkeit als Friedhofsarbeiter
1990
Studium der Malerei
Hochschule für Grafik und Buchkunst Leipzig
Best Interactivity
European Multimedia Award: Best Audio
European Multimedia Award: Golden Award of Excellence
Babblefish-Interactiva, Potsdam
Nagoya Biennale, Japan: Recommendatory Price
1994
Diplom als Maler / Grafiker
European Multimedia Award: Best Art & Culture
European Multimedia Award: Best Interactivity
1994
freischaffender Medienkünstler
1997
Ars Electronica, Linz: Honorable Mention
2000
Professur für interaktive Gestaltung
Fachhochschule Mainz
2000
Medienkunstpreis der Stadt München
2004
Red Dot Award, Essen: Anerkennung für » Bewegung – Veränderung «
1996
2001
62
Leiter des Institutes für Mediengestaltung
der Fachhochschule Mainz
63
Der Katalog erscheint anläßlich der Ausstellung
Tjark Ihmels Datensammler
06. November – 18. Dezember 2005, Nassauischer Kunstverein Wiesbaden
Herausgeber
Nassauischer Kunstverein Wiesbaden e. V.
Wilhelmstraße 15, 65185 Wiesbaden
http://www.kunstverein-wiesbaden.de/
Alle Arbeiten
Courtesy of Galerie André Kermer, Leipzig
Texte
Peter H. Forster, Mainz
Julia Riedel, Wiesbaden
Fotografien
Uwe Frauendorf, Leipzig, S . 38/39, 41, 51
Michel Mathke, Leipzig, S . 24
Silvia Schade, Leipzig, S . 50
Thilo Schmalfeld, Halle, S . 7
Grafische Gestaltung, Satz
Ronen Schmitz Even Zur, Mainz
besonderen Dank an
Graupner Archiv e. V. , Wiesbaden
ISBN 3–9810187–3–7
© 2005 bei den Herausgebern und Autoren
© 2005 für die abgebildeten Werke bei Tjark Ihmels VG Bild-Kunst, Bonn
Graupner Archiv e. V.