Tabuthema Sterben: Wohin, wenn es soweit ist
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Tabuthema Sterben: Wohin, wenn es soweit ist
14 | Elbe-Saale Rundblick Volksstimme Montag, 4. Januar 2016 Tabuthema Sterben: Wohin, wenn es soweit ist Wenn es nicht mehr um die Heilung, sondern die letzten Wochen in Würde geht / Die entscheidende Rolle der Hospiz- und Palliativarbeit Selbstbestimmung bis zum Tod: Wo will ich sterben? Darf ich die medizinische Versorgung ablehnen? Und wer hilft mir bei der Entscheidung? Ein Richtig oder Falsch gibt es beim Thema Sterben nicht. Aber es gibt Optionen. Die Leiterin des Palliativ-Netzwerkes und ein Palliativmediziner über die letzten Wochen im Leben. Ort entscheidend“, erklärt Netzwerk-Leiterin Friedersdorf. Habe ich meinen Frieden? Kann ich in Ruhe gehen? Es sind Antworten auf diese Fragen, die im Sterbeprozess bedeutend sind. „Sterben ist keine Krankheit, es gehört zum Leben. Wir haben das verlernt.“ Tabea Friedersdorf sitzt in ihrem Büro im Erdgeschoss des Hospizes auf dem Gelände der Pfeifferschen Stiftungen in Magdeburg. In den Zimmern nebenan leben Menschen, die wissen, dass ihnen nur noch wenige Wochen bleiben. Von Franziska Ellrich Kein medizinischer Eingriff Sterben gegen den Patientenwillen gehört zum Leben. Über das Leben reden wir gern, über Die letzte Phase im Leben. den Tod nicht. Aber würdevoll Eine Zeit, in der die Menschen sterben - was ist das und wie auch weiterhin eigene Verantist es möglich? Ohne Fragen wortung übernehmen sollen. keine Antworten. „Würde ist „Und selber für sich entscheiimmer das, was der Einzelne den“, findet Tabea Friedersdorf. als würdig empfindet“, sagt Ta- „Auch wenn es leichter fällt zu bea Friedersdorf. Sie leitet das sagen: Du entscheidest!“ Es ist Netzwerk Spezialisierte am- eine Gratwanderung zwischen bulante Palliativversorgung. der Angst, von medizinischen Ihre Mitarbeiter sind vor Ort, Geräten abhängig zu sein, und wenn Menschen in ihren letz- dem ungebrochenen Überleten Tagen und Stunden Hilfe benswillen. brauchen. Ich kann zum HerzschrittDas Palliativnetzmacher ja oder nein sawerk ist im Auftrag der gen. Ich kann die ChePfeifferschen Stiftunmotherapie ablehnen. gen im Salzlandkreis, in Und ich kann die TabMagdeburg und der Börletten gegen Bluthochde im Einsatz. Die Heldruck absetzen. „Die fer sind rund um die Uhr Patienten sollten sich erreichbar. Ärzte stehen Tabea Frie- kundig machen, was abrufbereit. Pfarrer, dersdorf bedeutet was“, erklärt Psychologen oder SterTabea Friedersdorf. Die bebegleiter kommen, wenn die Aufklärung durch den behanBetroffenen Nähe, ein offenes delnden Arzt ist für PalliativOhr und Rat brauchen. Das mediziner Rehwinkel dabei Palliativnetzwerk macht ein die wichtigste Voraussetzung. Sterben zuhause möglich. „Wie ehrlich, wie realistisch Geht es nach Tabea Frie- klärt der Arzt über die Chandersdorf, wäre das bekannte cen einer Behandlung auf?“, Zuhause für viele Menschen hinterfragt Rehwinkel. Und der richtige Ort zum Sterben. macht an einem Beispiel deutDiese Erfahrung hat auch Pal- lich: Stellt ein Arzt die Diagliativmediziner Doktor med. nose Krebs, kann es entweder Ralf Rehwinkel gemacht: „Die heißen, die Heilungschancen meisten wollen in ihren eige- mit Hilfe einer Chemotherapie nen vier Wänden sein.“ Der sind hoch oder aber eben eher Mediziner ist Chefarzt in der gering. Ist eine Heilung nicht Klinik für Anästhesiologie, mehr möglich, beginnt Schmerz- und Palliativmedi- die Palliativarbeit. zin am Ameos-Klinikum Staßfurt. Auch er ist Teil des Palliativnetzwerkes. Nicht nur die Patienten im Klinikum betreut Rehwinkel medizinisch, sondern er kommt zu den Betroffenen nach Hause. Wenn die Schmerzen unerträglich sind, sogar mitten in der Nacht. Ob Zuhause, im Seniorenheim, Hospiz oder Krankenhaus - „beim Sterben ist nicht der Schönebeck/Staßfurt l Tabea Friedersdorf macht deutlich, was die Palliativmedizin will. Dabei steht nicht mehr die Verlängerung der Überlebenszeit um jeden Preis im Vordergrund, sondern die Lebensqualität, das Befinden des schwer kranken Patienten. Wie definiert Ralf Rehwinkel ein Sterben in Würde? „Ohne Qual und Leid.“ Dem Mediziner fällt die Definition nicht leicht. „Wir reden in Sachen Sterben immer über etwas, das wir alle noch nie erfahren haben.“ Als Palliativarzt habe er schon Patienten erlebt, die, obwohl die verschriebenen Medikamente eigentlich jegliche Form des körperlichen Schmerzes vermeiden, unbedingt sterben wollten, ihn um Hilfe gebeten haben. Das ist der Punkt, an dem Ärzte wie Ralf Rehwinkel in einen Zwiespalt geraten. Jemanden absichtlich zu töten, ist nie eine Option. „Das dürfen wir nicht“, macht Rehwinkel deutlich. Das Ziel des Palliativteams auf seiner Station sei sogar genau das Gegenteil: „Wir wollen die Patienten ohne Schmerzen nach Hause entlassen, sie sollen nicht hier bei uns sterben.“ Die Beihilfe zum Suizid wird den Medizinern durch die Ärztekammer ganz klar untersagt. Das neue Bundesgesetz zum Thema Sterbehilfe bleibt in diesem Punkt schwammig, untersagt nur die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“. Wann handelt ein Arzt geschäftsmäßig? Für die gelernte Krankenschwester Tabea Friedersdorf steht fest: Will man den Ärzten rechtliche Sicherheit verschaffen, müssten die Ärztekammern ihr Standesrecht überarbeiten. Doch was für Tabea Friedersdorf noch viel entscheidender ist: „Wenn ein Mensch heute sterben will, heißt das nicht, dass er morgen auch noch so denkt.“ Seit 15 Jahren arbeitet Friedersdorf im Palliativbereich und Chefarzt Doktor Ralf Rehwinkel hat immer wieder Menschen getroffen, die an einem Tag verzweifelt um den Tod gefleht haben und nur wenige Stunden später wieder in zufriedener Verfassung waren. Wie viel Einfluss von außen dabei eine Rolle spielt, hat die 57-Jährige öfter erfahren. Tabea Friedersdorf spricht von Familienangehörigen, die sie gebeten haben, ihren Verwandten „endlich zu erlösen“. Er würde es nicht mehr aushalten. Als sie selbst den jungen Mann in seinem Zimmer im Hospiz besucht, begegnet ihr ein lächelnder, lebensfroher Mensch. Ein Zusammenspiel aus Medizin und Seelsorge Nur ganz selten habe Tabea Friedersdorf erlebt, dass Patienten ganz und gar aufgegeben haben. Aber auch dann „gibt es Wege“. Friedersdorf spricht von Sedierung. Dabei kommen Medikamente zum Einsatz, die das Bewusstsein sterbender Patienten dämpfen, um Schmerzen oder Angst in der letzten Lebensphase zu lindern. Um genau zu wissen, was der Betroffene jetzt benötigt, braucht es die verschiedenen Disziplinen in der Palliativarbeit. Sowohl zur Station von Ralf Rehwinkel als auch zum Palliativnetzwerk-Team von Tabea Friedersdorf gehören Psychologen, Pfarrer, Seelsorger. Die Ärzte und Pfleger haben alle eine spezielle palliative Ausbildung absolviert. Doch was bedeutet es für die Mitarbeiter, die täglich mit dem Sterben konfrontiert sind? Wie schafft man das? „Wer in diesem Bereich arbeitet, muss gut bei sich sein“, sagt Tabea Friedersdorf. Man muss gut aufeinander aufpassen, niemand darf „mitsterben“. Wenn Chefarzt Ralf Rehwinkel seine Station betritt, begrüßt er die Schwestern freundlich, streicht einer älteren Patientin liebevoll über die Wange. „Sie haben es aber gemütlich.“ Die Frau liegt in einem Sessel, eingewickelt in eine warme Bettdecke. Rehwinkel rückt die gemütlichen Ledersessel für den Besuch der Angehörigen zurecht. Acht Betten gibt es auf der Station, wenn Verwandte wollen, können sie mit im Zimmer übernachten. „Wir wollen, dass es hier ein bisschen behaglicher aussieht, nicht sofort wie im Krankenhaus.“ Der Doktor spricht von einer 30-jährigen Patientin auf seiner Station, eine Mutter von drei Kindern. „So etwas geht den Schwestern natürlich besonders nahe.“ Rehwinkel achtet darauf, dass in ganz regelmäßigen Runden über das Erlebte gesprochen wird. An manchen Tagen kommt sogar ein externer „Supervisor“, der mit den Mitarbeitern redet. Um dann denen, die täglich anderen die Angst nehmen, selbst Ängste zu nehmen. Der 1980 verstorbene Schriftsteller aus der Schweiz Friedrich Dürrenmatt hat es einmal auf den Punkt gebracht: „Der Mensch ist das einzige Lebewesen, das weiß, dass es sterben wird. Die Verdrängung dieses Wissens ist das einzige Drama des Menschen.‘‘ Sterbehilfe in der Diskussion Bei der aktiven Sterbehilfe wird einem Patienten ein unmittelbar tödlich wirkendes Mittel verabreicht. Das ist in Deutschland ausnahmslos verboten. Unter passiver Sterbehilfe versteht man den Verzicht auf lebensverlängernde Maßnahmen oder deren Beendigung. Der Patient kann jederzeit Maßnahmen ablehnen. Es wird kein tötendes Mittel eingesetzt, sondern man lässt vielmehr den natürlichen Sterbeprozess geschehen. Falls der Betroffene nicht mehr einwilligungsfähig ist, kommt es auf seinen früher geäußerten Willen in Form der Patientenverfügung an. Fehlt eine solche, entscheidet der Vorsorgebevollmächtigte. Mit der Beihilfe zum Suizid ist gemeint, dass dem Betroffenen ein Mittel nicht aktiv verabreicht wird, sondern ‚nur‘ zur Verfügung gestellt. Der Patient nimmt dies selbst ein. Die Bundesärztekammer hat sich eindeutig positioniert und erklärt, dass die Beihilfe zum Freitod gegen das ärztliche Ethos verstößt. Ärzten ist in Deutschland die Beihilfe zur Selbsttötung durch die Berufsordnung verboten. Organisationen, die diese Beihilfe möglich gemacht haben, sollen mit der aktuellen Gesetzgebung des Bundestages verboten werden. Der angenommene Gesetzentwurf vom November 2015: Ziel ist es, die Entwicklung der Beihilfe zum Suizid zu einem Dienstleistungsangebot der gesundheitlichen Versorgung zu verhindern. Die „geschäftsmäßige Sterbehilfe“ wird verboten. Kritiker bemängeln, dass nicht klar geregelt ist, wann die Beihilfe als geschäftsmäßig gilt. Der Unterschied der Sterbehilfe zur Palliativmedizin: Die Intention besteht bei der Palliativmedizin in der Linderung von Beschwerden des Patienten, ist nicht auf den Tod gerichtet. Die Palliativmedizin legt den Fokus weg von der Behandlung und will unheilbar Kranke dabei unterstützen, ihre letzten Wochen mit einer möglichst hohen Lebensqualität zu erleben, selbstbestimmt und ohne unnötiges Leid. Der Blick zu den Nachbarn: In den Niederlanden und Belgien sind Tötung auf Verlangen und ärztlich assistierter Suizid nicht strafbar, wenn strenge Sicherheitskriterien befolgt werden. Auch in der Schweiz können Ärzte schwerkranken Patienten ein Medikament zum Suizid verordnen. Im Interview Andrea Junghans, Case-Managerin Case-Manager als Fels in der Brandung Andrea Junghans arbeitet als Case-Managerin für die Pfeifferschen Stiftungen. Von ihrem Büro im Gebäude der Stiftung Staßfurter Waisenhaus aus koordiniert die 26-Jährige den Hospiz- und Palliativstützpunkt für den Salzlandkreis. Wie funktioniert die Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung? Mit Andrea Junghans sprach Volksstimme-Mitarbeiter Massimo Rogacki. Volksstimme: Frau Junghans, was ist Ihre Aufgabe als Case-Manager? Andrea Junghans: Von unserem Stützpunkt in Staßfurt aus delegieren wir die Arbeit der Partner vor Ort. Die Partner des SAPV-Netzes (Spezialisierte Ambulante Palliativversorgung, d. Red.) sind Palliativmediziner, Pflegedienste, ambulante Hospizdienste, Sanitätshäuser, Apotheken. Hinzu kommen dann noch Psychologen, Seelsorger, Pfarrer. Deren Arbeit und Einsatz beim Patienten koordinieren wir. Wie sieht ein typischer Tagesablauf bei Ihnen aus? Der Tag heute begann um 8.30 Uhr mit einem Patientengespräch. Dabei haben ich und eine Ärztin mit Angehörigen eines Patienten beraten, ob eine Bestrahlung weitergeführt werden soll oder eine Versorgung mit SAPV schon notwendig ist. In der Regel stellt man zunächst seine Arbeit vor und trifft sich zur Beratung zuhause beim Patienten. SAPV bedeutet immer „aufsuchend“. Das entspricht unserem Auftrag. Am Nachmittag eines typischen Arbeitstages fahre ich dann gemeinsam mit einem Arzt Visiten oder Neuaufnahmen. Die bereits aufgenommenen Patienten werden einmal in der Woche besucht. Nebenbei gibt es natürlich immer Administratives zu erledigen, Beantragungen bei Krankenkassen etwa. Wie gehen Sie vor Ort auf die Patienten ein? Und wie stimmen Sie sich mit den Angehörigen ab? Wenn ich mit dem Arzt unterwegs bin, wird beim Patienten nach der sogenannten Symptomlast gefragt. Gibt es beispielsweise Übelkeit, Erbrechen? Wie kommen Patienten mit der Medikation zurecht? Man muss schauen, ob die Bedarfsmedikation reicht - wenn die Schmerzen ganz groß sind. Jeder Patient, der über die SAPV versorgt wird, sollte überdies einen Notfallplan zuhause haben, damit Krisen geschultert werden können. Notfallplan heißt: Bei Schmerzen dieses Medikament verabreichen, bei Luftnot folgendes. Den Behandlungsplan stellt natürlich der Arzt auf. Was ich mache, ist immer auch konkret mit den Angehörigen zu schauen: Wie kann ich die Situation weiter verbessern? Können wir beispielsweise einen ehrenamtlichen Hospizdienst dazunehmen. Und eine wichtige Frage: Wie geht es eigentlich den Angehörigen? Und wie geht es den meisten Angehörigen? Viele sind schon verzweifelt. Wir haben auch einen Psychologen im Team, der helfen kann. Es gibt ja auch Fälle, in denen etwa kleine Kinder mit dem Sterben ihres Vaters oder der Mutter konfrontiert werden. Da muss man schauen, ob auch sie Betreuung benötigen. Und das ist es, was ein Case-Manager können muss. Der Palliativmediziner betrachtet in der Regel als erstes den Patienten und stellt den Behandlungsplan auf. Es ist aber wichtig, das gesamte System im Blick zu haben, damit sie die Versorgung zu Hause schaffen können. Es ist ja ein Familien-System. Sie sprachen die Rolle des Arztes an. Akzeptiert dieser einen Entscheider wie den Case-Manager an seiner Seite? Es ist ein Austausch. Der Arzt ist natürlich derjenige, der verordnet und entscheidet. Er stellt einen Notfallplan auf. Ich kann immer nur Empfehlungen geben. Etwa: Benötigen sie zusätzlich einen Psychologen? Dann koordiniere ich und stelle die Verbindung her. Die meisten Palliativmediziner haben jedoch ein großes Vertrauen in unser Case-Management. Auch, weil sie spüren, dass es eine riesige Entlastung für sie bietet. Palliative Versorgung ist immer Teamarbeit. Die 15 Ärzte in unserem Netz wissen, dass bei uns alle Fäden zusammenlaufen. Die ersten Ansprechpartner der Patienten sind wir. Als Case-Manager muss ich vorausschauend alle Notfälle bedenken und eigentlich auf alle Krisen vorbereitet sein. Wenn eine Krise nicht zu bewältigen ist, rufen wir die Palliativmediziner hinzu, die auch 24 Stunden rufbereit zur Verfügung stehen. Sie betreuen ausschließlich sterbende Menschen? Können Sie das am Abend abschütteln? Ich habe in der Ausbildung als Palliativ-Care-Fachkraft Techniken erlernt, die beim Abschalten helfen. Ich muss lernen: Wie trenne ich Emotionen von der Persönlichkeit, ohne abzustumpfen. Das heißt dann nicht, dass ich kein Mitgefühl habe oder nicht auch mal weinen darf. Im Ernstfall können wir auf sogenannte Supervisoren zurückgreifen. Die stehen uns zur Seite, wenn es doch mal zu viel wird. Wichtig ist auch in Dienst- oder Fallbesprechungen der Austausch untereinander. Das macht vieles einfacher. Schließlich ist der Case-Manager immer der Fels in der Brandung. Kontakt zu Andrea Junghans: Hospiz- und Palliativstützpunkt Staßfurt, Kalkstraße 10, 39418 Staßfurt, Telefon (03925) 85 94 10, E-Mail: [email protected], mehr Informationen gibt es online unter www. pfeiffersche-stiftungen.de. ➡