Augsburger Allgemeine: "Münchhausen-Syndrom

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Augsburger Allgemeine: "Münchhausen-Syndrom
20. Dezember 2013 07:19 Uhr
Münchhausen-Syndrom: Das gefährliche
Spiel mit der Krankheit
Eigentlich ist eine Klinik nicht unbedingt ein Sehnsuchtsort. Und doch gibt es
Menschen, die alles tun, um dort behandelt zu werden. Von Angela Stoll
Die meisten Menschen sind froh, wenn sie gesund sind und nicht ins Krankenhaus
müssen. Wer an einer artifiziellen Störung leidet, tut dagegen alles dafür, um
ärztliche Behandlung zu erreichen
„Die bittere Wahrheit ist, dass ich viele Jahre meines Lebens damit zugebracht habe,
mich selbst krank zu machen. Ich lag 30- bis 40- mal im Krankenhaus, hatte zahllose
Operationen und Untersuchungen, mir wurden buchstäblich hunderte von
Medikamenten verschrieben. Keiner der Ärzte ahnte, dass ich selbst die Ursache
meiner Krankheiten war.“ So beginnt der Bericht einer Patientin namens Nellie, die
der amerikanische Psychiater Marc Feldman in seinem Buch „Wenn Menschen krank
spielen“ zu Wort kommen lässt.
Sie täuschen Krankheiten vor oder fügen sich Schmerzen zu
Sie täuschte Unterleibsschmerzen vor, mischte Blut in ihre Urinprobe, fügte sich mit
Ofenreiniger Brandmale auf den Armen zu oder spritzte sich Bakterien in die
Blutbahn, nur um ins Krankenhaus zu kommen. „(…) Kranksein war für mich zum
Lebensstil geworden, und ich konnte nicht aufhören“, berichtet sie. Erst als sie
beinah an einer Blutvergiftung gestorben wäre, nahm ihr Leben eine Wende: Sie
offenbarte sich einer Ärztin und kam in psychiatrische Behandlung.
Fachbegriff: artifizielle Störung
Nellie litt an einer schweren Form einer artifiziellen Störung. Davon spricht man,
wenn Menschen Symptome vortäuschen oder selbst erzeugen, um krank zu
erscheinen. Oft werden sie dadurch tatsächlich krank – manchmal geraten sie sogar
in Lebensgefahr.
Betroffen sind 0,5 bis 2 Prozent der Patienten
Schätzungsweise 0,5 bis zwei Prozent der allgemeinmedizinischen Patienten leiden
an dieser Störung. „Das sind etwa so viele wie bei Magersucht“, sagt Professor
Annegret Eckhardt-Henn, Ärztliche Direktorin der Klinik für Psychosomatische
Medizin und Psychotherapie am Klinikum Stuttgart.
"Sie reisen oft von Klinik zu Klinik, sind also ständig auf Tour"
Landläufig spricht man auch vom Münchhausen-Syndrom, angelehnt an die
Lügengeschichten, die dem Baron Münchhausen zugeschrieben werden. Experten
betonen aber, dass das Münchhausen-Syndrom nur eine spezielle, sehr seltene
Form einer artifiziellen Störung ist. Die Betroffenen täuschen nicht nur Symptome
vor, sondern denken sich auch immer neue, oft aufsehenerregende
Lebensgeschichten aus. „Typisch sind für sie auch ständige Beziehungsabbrüche.
Sie reisen oft von Klinik zu Klinik, sind also ständig auf Tour“, erklärt Eckhardt-Henn.
Manchmal geben sie sich sogar als Mediziner aus.
Betroffene täuschen Ärzte, indem sie sich über Krankheiten informieren
Die meisten Patienten mit artifiziellen Störungen sind aber eher sozial angepasst und
treten unauffällig auf. Etwa 80 Prozent sind weiblich. „Sie kommen aus allen
gesellschaftlichen Schichten und kennen sich in der Medizin gut aus“, berichtet
Eckhardt-Henn, die sich seit 35 Jahren mit diesen Phänomenen beschäftigt. Nach
ihren Erfahrungen informieren sich die Betroffenen im Internet oft genau über
bestimmte Krankheiten, sodass es ihnen gut gelingt, Ärzte zu täuschen. Nicht selten
arbeiten sie im Medizinbetrieb.
Fast alle Krankheiten denkbar
Täuschungsversuche sind bei so gut wie allen Krankheiten denkbar. Oft wird die
Haut manipuliert: „Es kommt zum Beispiel vor, dass Patienten heimlich Wunden
verunreinigen, um den Heilungsprozess zu verzögern“, berichtet der Psychiater
Professor Hans Stoffels, Chefarzt der „Park-Klinik Sophie Charlotte“ in Berlin. „Ich
habe auch schon erlebt, dass sich eine Patientin Blut abgezapft hat, um eine
künstliche Anämie zu erzeugen.“ Durch solche Maßnahmen würde der Arzt
gezwungen, die Sache durch weitere, zum Teil invasive Untersuchungen abzuklären.
„Wenn ein Patient auffällig viel Wissen hat und auf bestimmte Untersuchungen
pocht, sollte man als Arzt Verdacht schöpfen“, sagt Stoffels.
Oft sind Kindheitserfahrungen der Grund
Mit Simulanten darf man diese Menschen nicht verwechseln. Simulanten spielen
Krankheiten bewusst vor, um etwa finanziell davon zu profitieren oder nicht in die
Arbeit gehen zu müssen. Patienten mit artifiziellen Störungen beschreiben ihr
Verhalten dagegen oft als Zwang oder Sucht, aus der sie sich nicht befreien können.
Ihre Motive erscheinen schwer verständlich. „Den merkwürdigen Wunsch, unbedingt
Patient sein zu wollen, kann man sich nur erklären, wenn man die Biografien
anschaut“, sagt Stoffels. „Meist gab es dramatische Vorfälle in der Kindheit.“ So sind
viele – auch Feldmans Patientin Nellie – in ihrer Kindheit misshandelt oder stark
vernachlässigt worden. Zärtlichkeit und Geborgenheit mussten sie entbehren, wie
Stoffels erklärt. Hinter dem Wunsch, sich untersuchen und behandeln zu lassen,
stecke denn auch die Sehnsucht nach körperlicher Zuwendung: „Es handelt sich um
einen Hilfeschrei nach Beziehung“, betont Stoffels.
Wunsch nach Aufmerksamkeit?
Feldman erklärt das Verhalten der Patienten vor allem mit dem Wunsch nach
Aufmerksamkeit, Mitleid und Zuwendung. Diese Erklärung hält Eckhardt-Henn aber
für zu einfach: „Darum geht es nur an der Oberfläche. Fürsorge könnte man auch
leichter bekommen.“ Etwa 30 Prozent der Betroffenen legten ein lebensbedrohliches
Verhalten an den Tag. So spritzte sich eine ihrer Patientinnen eine Kotlösung in die
Venen und erzeugte dadurch eine schwere Blutvergiftung. Eine andere Patientin
brach sich regelmäßig den Arm, indem sie ihn in eine Zugtür klemmte. In zehn
Jahren brachte sie es auf rund 400 Krankenhausaufenthalte.
Ob den Betroffenen bewusst ist, was sie tun, lässt sich schwer sagen. Offenbar
leiden sie oft an einem Gefühl der Entfremdung (Depersonalisation), wenn sie ihrem
Körper schaden.
Ein anderer Fall: das "Münchhausen-Stellvertreter-Syndrom"
Eine andere Form von artifizieller Störung ist das „Münchhausen-StellvertreterSyndrom“: Dabei täuschen die Betroffenen vor, dass ein Schutzbefohlener, in der
Regel ihr Kind, krank sei. Mütter behaupten zum Beispiel, ihr Kind habe einen
Krampfanfall oder Atemstillstand gehabt und verleiten Ärzte dazu, es entsprechend
zu behandeln. Dahinter steckt nach Feldmans Auffassung der Wunsch, als
aufopferungsvolle Mutter anerkannt und bewundert zu werden.
Auch Machtgefühle und der Versuch, eine Paarbeziehung durch Konzentration auf
ein krankes Kind zu kitten, können eine Rolle spielen. Meistens sind die Täterinnen –
fast immer handelt es sich um Frauen – in ihrer Kindheit misshandelt worden und
geben ihre traumatischen Erfahrungen weiter. Für die Kinder ist die Opferrolle fatal:
Man rechnet, dass 5 bis 30 Prozent an den Folgen der Misshandlungen sterben,
andere überleben schwer traumatisiert.
Viel Fingerspitzengefühl notwendig
Den Betroffenen zu helfen, ist schwierig. Zuerst muss man sie überhaupt dazu
bringen, sich behandeln zu lassen. Dafür ist viel Fingerspitzengefühl nötig. Wenn die
Patienten direkt mit dem Verdacht konfrontiert werden, streiten sie oft alles ab und
ergreifen die Flucht. Und selbst wenn Einsicht da ist, gibt es zumindest für echte
Münchhausen-Patienten „keine wirklich guten Therapiekonzepte“, wie EckhardtHenn sagt. Sie seien in einer Klinik, die auf schwere Persönlichkeitsstörungen
spezialisiert sei, am besten aufgehoben. Bei anderen Patienten mit artifiziellen
Störungen könne eine Verhaltenstherapie, die mit einer tiefenpsychologischen
Therapie kombiniert werde, helfen.