Das Grab in Tennessee

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Das Grab in Tennessee
Das Grab in Tennessee
Bodo Steinberg
1. Auflage 2015
© 2015 Marsh & Marsh Verlag
ISBN: 978-3-945295-29-8
Autor: Bodo Steinberg
Coverfoto: Bodo Steinberg
Coveranpassung:
wolfsto (Marsh & Marsh)
HP des Autors:
http://steinberg.persimplex.de
www.marsh-marsh.de
[email protected]
Das Grab in Tennessee
Inhaltsverzeichnis
1. Kapitel
Die Geburtstagsfeier
7
2. Kapitel
Somerville, Tennessee
21
3. Kapitel
Der Tod kam durch die Hintertür
62
4. Kapitel
Der Watov Clan
104
5. Kapitel
Zurück in die Vergangenheit
128
6. Kapitel
Alles ist nicht genug
172
7. Kapitel
Das Grab in Tennessee
206
8. Kapitel
Der Neubeginn
251
Nachtrag
273
5
1. Kapitel
Die Geburtstagsfeier
Wenn ich geahnt hätte, was für ein Drama die Nachforschungen über die
Familie meines 1978 in Somerville verstorbenen Vaters auslösen würden, ich
hätte die Finger davon gelassen. Aber wer konnte damals, im Herbst 2006,
schon damit rechnen, dass es im Verlauf dieser Geschichte Tote und einen
grausamen, weit zurückliegenden Mordfall geben würde, der mir bis heute
eine Gänsehaut über den Rücken jagt, wenn ich an die Reise nach Tennessee
denke? Dabei begann alles eigentlich vollkommen harmlos. Es war am 28.
Oktober 2006, als ich zu der Geburtstagsfeier einer guten Bekannten ging.
Nach langer Zeit wieder mal alleine, weil sich einen Monat zuvor meine Frau
von mir getrennt hatte. Nach über vierundzwanzig gemeinsamen Jahren.
Vielleicht nicht ganz unerwartet, doch in der Konsequenz und Endgültigkeit
doch überraschend und für mich ohne erkennbare Vorwarnung. Ich war
daher nicht gerade in der besten Stimmung und hatte mir fest vorgenommen,
schon bald wieder zu gehen, um ungestört meine Wunden lecken zu können.
Bis auf die Gastgeberin, deren Mann und den 12-jährigen Sohn waren
mir die Geburtstagsgäste unbekannt. Wenn ich mich richtig erinnere, so
waren es vierzehn Erwachsene und drei oder vier Kinder. Im Grunde alles
sympathische, weltoffene Menschen, unter denen sich nicht einmal einer der
sonst auf jeder Feier so unvermeidlichen „Besserwisser“ befand, die ihre
Meinung jedem und allem überstülpen wollen. Und ich muss sagen, ich
fühlte mich trotz meiner angeschlagenen Stimmungslage gut aufgehoben in
dieser Runde.
Nach dem Nachmittagskaffee bildeten sich, über das ganze Haus verteilt,
kleinere Gesprächsgruppen. Einige standen in der Küche zusammen, die
Raucher versammelten sich auf der Terrasse und ich gesellte mich zu fünf
Leuten, die in einer gemütlichen Wohnzimmerecke auf schweren Ledersesseln
und einer Couch bei gedämpftem Licht und einem vorzüglichen Cognac
und italienischem Rotwein beisammensaßen. Man diskutierte über Politik,
Sport, Kindererziehung und die aufkommende Gewalt an den Schulen, bis
ein geplagter Hauptschullehrer plötzlich damit anfing, über die gute alte Zeit
zu schwärmen, in der angeblich alles besser, friedlicher und harmonischer
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zugegangen war als heute.
„Noch vor dreißig, vierzig Jahren waren die Schüler wesentlich besser in
Deutsch, Geschichte und Mathe“, meinte er. „Es wäre damals undenkbar
gewesen, dass einer seinen Lehrer beschimpft oder sogar physisch attackiert
hätte. Heute wissen die meisten Schüler kaum etwas über Geografie, die
Geschichte ihres eigenen Landes und über andere Kulturen. Es interessiert
sie auch nicht die Bohne. Viel lieber hocken sie den halben Tag lang mit
Brutalospielen am PC oder genießen das Leben vor der Glotze. Aber wenn
sie ein Bewerbungsschreiben aufsetzen müssen, dann kommen auf einer
halben Seite 20 gravierende Rechtschreibfehler vor und die Personalchefs
schlagen entsetzt die Hände vors Gesicht.“
In meiner Ledersesselecke kam es zu spontaner Zustimmung, aber auch zu
lautstarken Protesten der jüngeren Generation. Es dauerte nicht lange, bis die
Mutter des Geburtstagkindes das Thema ansprach, was unsere Eltern nach
dem Krieg leisten mussten, um ihre Familien über Wasser zu halten, welche
Rolle damals die Väter als Ernährer und Beschützer hatten und wie sie ihre
Erziehungsansichten umzusetzen versuchten.
Jeder erzählte aus seinen meist persönlichen Erfahrungen, es wurde viel
gelacht, aber auch über Meinungsverschiedenheiten diskutiert, bis schließlich
alle darauf warteten, dass auch ich etwas zum Besten gab. Aber damit geriet
die Gesprächsrunde ziemlich abrupt ins Stocken. Denn mir wurde schon
während der Unterhaltung schnell bewusst, dass ich so gut wie nichts über
meinen Vater erzählen konnte. Das wenige, was ich wusste, stammte von
meiner Mutter.
Er war Amerikaner und nach dem Krieg bei der Militärpolizei in Schleißheim
tätig, wo sie ihn im Sommer 1945 auf dem Flughafen kennenlernte. Ihre guten
Englischkenntnisse verhalfen ihr damals zu einer der begehrtesten Stellen
in der Region, sie arbeitete als Flughafenangestellte der amerikanischen
Militärregierung. Ihr Arbeitsplatz war in einer Baracke gleich hinter dem
Hangar, den es heute noch gibt.
Über ein Jahr lang machte er ihr damals den Hof und umwarb sie mit
einer Hartnäckigkeit, bis sie irgendwann im Frühjahr 1946 inoffiziell
zusammenzogen. Inoffiziell deswegen, weil es von der damaligen
Militärregierung nicht gerne gesehen wurde, wenn sich Soldaten der Army
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auf ein festes Verhältnis mit deutschen Frauen einließen. Meine Mutter
wehrte sich lange, aber vergeblich, gegen ihre Gefühle, denn sie kannte das
gemeine, hinterhältige Getratsche der Leute im Ort und ihre verächtlichen
Blicke. Für sie war sie nichts weiter als eine von „diesen Amihuren“, die nur
wegen der besseren Verpflegung und anderer Vorteile mit einem GI ins Bett
stiegen. Mir war das, genauso wie meinem Vater, ziemlich egal; ich kam
trotzdem eineinhalb Jahre später auf die Welt.
1952 ging er wieder in seine Heimat nach Tennessee zurück. Eigentlich
sollte ich ihn dabei begleiten, aber meine Mutter hatte sich und mich am
Tag seines Abfluges bei einer Bekannten versteckt. Sie wollte, dass ich in
Deutschland aufwuchs. In meiner Erinnerung blieb ein stark verblasstes Bild
von ihm zurück. Meine Mutter hatte mir später von sich aus kaum etwas von
ihm erzählt. Sie gingen im Streit auseinander.
Meine Fragen nach ihm hielten sich in den ersten Jahren in Grenzen. Es
passierte für einen vierjährigen Jungen einfach zu viel an aufregenden
Dingen in dieser entbehrungsreichen, aber ungewöhnlich spannenden und
schicksalhaften Nachkriegszeit. Dass sich meine Mutter fast täglich mit ihren
Lebensmittelmarken anstellen musste, um ein paar Grundnahrungsmittel
zu ergattern, das ging fast unbemerkt an mir vorüber, aber die an uns
vorbeidonnernden amerikanischen Panzer, Lkw-Kolonnen und die Soldaten,
die auf ihren stählernen Ungetümen saßen und uns Kinder regelmäßig
mit Schokolade, Orangen und Keksen bewarfen, an die konnte ich mich
wesentlich besser erinnern.
Aber die Nachkriegszeit hatte auch ihre kleinen und großen Dramen. Überall
lagen Granaten, Flugzeugbomben und andere „Blindgänger“ herum, von
denen manche erst Jahre nach Ende des Krieges ihre späten Opfer fanden. So
wie meinen damaligen großen Blutsbruder Horst Weber, der immer auf mich
aufpasste, der jeden verprügelte, der mir „blöd kam“, und dem vor meinen
Augen eine explodierende Granate, auf die er versehentlich getreten war, das
rechte Bein wegriss.
Wenn ich trotz dieser Ereignisse, die mich oft Tag und Nacht beschäftigten,
doch einmal etwas mehr über meinen „Dad“ wissen wollte, wurde meine
Neugier von meiner Mutter sehr schnell auf andere, wie sie meinte,
„wichtigere“ Dinge gelenkt.
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Als wir 1953 nach München umzogen und meine Mutter nur ein halbes Jahr
später einen gut aussehenden Witwer mit drei Kindern heiratete, hatte sie
auch ganz andere Sorgen, als sich um meine Fragen nach einem Mann
zu kümmern, der für sie längst Vergangenheit war. Die Gegenwart war
aufreibend und zeitfüllend genug.
Unsere neu zusammengewürfelte Familie hatte nur begrenzte finanzielle
Mittel zur Verfügung. Trotzdem erlebte ich eine herrliche, unvergleichliche
Kindheit und Jugend. Zu verdanken hatte ich das vor allem meinem „neuen
Vater“, einem 35-jährigen in München-Sendling geborenen Mann, der in der
McGraw-Kaserne bei den Amerikanern arbeitete. Er war etwa 1,80 Meter
groß, hatte schwarze, lockige Haare, einen dunklen Teint und sah aus wie ein
Filmschauspieler. Fand ich jedenfalls.
Er ließ mir genügend Freiräume, um mich auszutoben und entwickeln zu
können. Und uns verband von Anfang an eine gegenseitige, unkomplizierte
Zuneigung.
Wir lebten am Stadtrand von München, in Obergiesing, umgeben von großen
Grünanlagen, wild wachsenden Wiesen und Wald. Und die herrliche Natur
in den Isarauen konnte man in fünfzehn Minuten mit dem Fahrrad erreichen.
Bestimmt lag es damals auch an der Art meines Stiefvaters, dass ich die
Fragen nach meinem „Erzeuger“ verdrängte. Ich vermisste als Kind nichts,
er ersetzte mir den Vater, gab mir Liebe und Geborgenheit.
Aber die Stimme des Blutes lässt sich auf Dauer doch nie vollkommen zum
Schweigen bringen, wie es so pathetisch heißt.
Je älter ich wurde, je mehr wollte ich über meinen Vater wissen. Es muss so
um das Jahr 1980 gewesen sein, als ich meine Mutter wieder mit Fragen „nach
ihm“ zu quälen begann. Es war wie immer ein sehr anstrengendes Frage- und
Antwortspiel. Die wichtigsten Daten, die ich ihr entlocken konnte, gab ich
weiter an eine Englisch sprechende Freundin, die für mich einen Suchbrief
formulierte. Voller Hoffnungen und wunderschönen Fantasien, wie unser
Wiedersehen aussehen würde, schickte ich ihn an das „National Personnel
Records Center“, Abteilung Military Personnel, nach St. Luis. Denn mein
Vater war Offizier in der Air Force, und diese Zentrale besaß ein Archiv über
Militärangehörige, die meine Suche nach ihm beenden sollte. Nach über drei
Monaten erhielt ich endlich eine Antwort aus den USA.
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Ich erinnere mich noch genau an den Tag, als ich den braunen DIN A4Umschlag aus dem Briefkasten holte, den Absender „The United States
of America, Official Business“ las, ihn noch im Treppenhaus aufriss und
überflog.
Es waren nur vier handgeschriebene Zeilen und ich brauchte für den
niederschmetternden Inhalt keinen Übersetzer. Was „he is died“ bedeutete,
war mir auch bei meinen begrenzten Englischkenntnissen bewusst. Er war
am 15. Juni 1978 gestorben.
Ich fühlte mich, als hätte mir jemand die Tür vor der Nase zugeschlagen. Die
schon so lange in mir eingesperrte und immer wieder verdrängte Sehnsucht,
ihn endlich kennenzulernen, fraß sich wie eine anschwellende Brandung,
unabhängig von Verstand und Vergangenheit, in meinen Kopf. Wochenlang
konnte ich an nichts anderes denken als daran, dass der Weg zu ihm endgültig
und vorzeitig beendet worden war. Wir würden uns in diesem Leben nie
mehr sehen, nie mehr die Chance haben, uns wirklich kennenzulernen. Ich
hatte, warum auch immer, viel zu lange gezögert.
An was er gestorben war, wo er beerdigt worden war, sein letzter Wohnort
und ob er eine Familie gehabt hatte, all das blieb auch nach einem weiteren
Schreiben an das „National Personnel Records Center“ unbeantwortet. Gab
es dafür einen Grund?
Er wurde nur 56 Jahre alt! Bestimmt kein normales Alter, um von dieser Welt
abzutreten. Ich machte mir meine eigenen Gedanken darüber.
1996 starb mein Stiefvater nach einer Hüftgelenksoperation. Er war nach
dem „erfolgreichen Eingriff“ (Ärztejargon) nicht mehr aus der Narkose
erwacht und monatelang ins Koma gefallen. Er starb, ohne noch einmal das
Bewusstsein erlangt zu haben, geräuschlos wie ein verwelktes Blatt, das vom
Baum fällt.
Ich konnte es lange nicht begreifen, dass viele Menschen, die ihn kannten,
kaum Notiz davon nahmen. Wo blieben in seinen schweren letzten
Tagen die sogenannten „besten Freunde“, die zahlreichen Kriegs- und
Schützenkameraden, die inzwischen erfolgreiche Geschäftsleute oder
wichtige Persönlichkeiten des öffentlichen Lebens waren?
Sie beschäftigten sich wahrscheinlich, wie die meisten, ausschließlich mit
ihrem eigenen Leben, den kleinen und großen Verdiensten um die Welt und
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mit dem alltäglichen Hinterherhecheln nach Glück, Geld und Anerkennung.
Bei der Beerdigung, auf der plötzlich hunderte „Schützenkameraden“,
Fahnenträger und vorher nie gesehene Personen einen bunten und imposanten
Abschiedszirkus veranstalteten, wurde mir schmerzhaft bewusst, wie
geräuschlos und vollkommen nebensächlich das Leben jeden Tag irgendwo
verlischt und im Nichts verschwindet.
Als ich im Oktober 2006 nachts von der Geburtstagsfeier nach Hause fuhr,
ließen mich die Fragen nach meinem Vater und seiner mir vollkommen
unbekannten Familie im fernen Amerika nicht mehr los.
Gleich am nächsten Tag fuhr ich zu meiner Mutter und bat sie, mir alles,
wirklich alles, über meinen Vater und die Watovs zu erzählen. Aber sie
war einsilbig wie immer, sie wollte nicht, dass ich Nachforschungen über
ihn anstellte. Und auch meine aufkommende Verärgerung über ihre sture
Haltung änderte nichts an dieser Einstellung. Und so war es nicht viel, was
ich ihr damals an Neuigkeiten entlocken konnte.
„Lass dieses ständige Nachbohren und Rumwühlen in der Vergangenheit.
Was vorbei ist, ist vorbei. Ich denke nicht gerne an diese Zeit zurück.“
Sie sagte es mit ihrer rauen, brüchigen Stimme, und ein feuchter Glanz in
ihren Augen erklärte mehr als tausend Worte. Von wegen alles vorbei, alles
Steinzeit und schon lange vergessen.
„Dein Vater war ein sehr emotionaler und krankhaft eifersüchtiger Mann.
Wenn mich ein Bekannter nur ein paar Sekunden länger ansah, als er es für
angemessen hielt, stellte er ihn sofort zur Rede oder brach eine Prügelei
vom Zaun. Er ging auch sonst keinem Streit aus dem Weg, ja er suchte in
berüchtigten Lokalen und Bars sogar danach. Natürlich nannte das dein Vater
mir gegenüber ganz anders. Er sprach immer davon, dass er seine Landsleute
im Zaum halten müsse. Er wollte ihnen nur Grenzen aufzeigen, die sie nie
überschreiten durften, um zu unzivilisierten, wilden Tieren zu werden.
Seine Brutalität und sein tanzender Gummiknüppel als MP waren in der
ganzen Gegend gefürchtet. Betrunkene oder randalierende GI’s verdrückten
sich lieber durch den Hintereingang oder das Toilettenfenster, wenn er mit
seinem Bruder ein Lokal betrat, als den beiden zu begegnen. Es wäre nicht
gut gegangen, wenn ich ihm mit dir in die USA gefolgt wäre. Ich weiß es.
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Glaub mir, es wäre nicht gut gegangen …“ Sie schüttelte den Kopf und sah
mich mit großen, traurigen Augen an. Es schien, als wäre die Zeit nach dem
Krieg wieder plötzlich und heftig aus der Erinnerung aufgetaucht. Und es
war nicht viel stehengeblieben von ihrem Schutzwall, den sie jahrzehntelang
um sich aufgebaut hatte. Einmal sich zurückerinnern, und schon lag alles in
Trümmern. Sie hatte nichts verarbeitet, nur verdrängt. 60 Jahre lang.
Doch nach diesem Tag, an dem ich für einen kurzen Moment in ihr gut
gehütetes „Verlies“ blicken konnte, hüllte sie sich wieder in ihr Schweigen
und begann damit, ihren eingestürzten Wall Stein für Stein wieder aufzubauen,
um sich dahinter zu verkriechen. Und ich konnte nichts dagegen tun.
An wirklichen Fakten wusste ich bis zu diesem Tag, dass mein Vater drei Jahre
nach seiner Rückkehr in Tennessee eine Barbara Ann geheiratet hatte, dass er
am 15. Juni 1978 im Alter von 56 Jahren in Somerville, seinem Geburtsort,
gestorben war und dass es einen jüngeren Bruder mit dem Namen Frank gab.
Ob er noch weitere Geschwister oder Kinder hatte, wie seine Eltern hießen,
wo die Familie lebte, das alles lag nach wie vor im Dunklen.
Geburtstag, Geburtsort, Todesdatum, von 1942 bis 1952 bei der Army, zuletzt
als MP in Oberschleißheim tätig, eine Sozialversicherungsnummer und ein
Bruder, von dem ich außer dem Namen nichts wusste. Sollte das wirklich
alles sein, was ich über meinen Vater und seine Familie in Erfahrung bringen
konnte? Nein, damit wollte ich mich nicht zufriedengeben. Jetzt nicht mehr.
Am nächsten Tag versuchte ich über das Internet mehr zu erfahren. Ich gab
über die beiden großen Suchmaschinen seinen Familiennamen, Somerville
und Tennessee ein. Die Ausbeute war ziemlich mager. Dazu kam, dass mir
meine unzureichenden Englischkenntnisse ein paar Hürden in den Weg
legten, die ich ohne zusätzliche Übersetzungshilfe nicht überwinden konnte.
Aber ich hatte Glück. Meine Bekannte, die mich zu ihrer Geburtstagsfeier
eingeladen hatte, sprach sehr gut Englisch und sie war bereit, mich bei meiner
Suche tatkräftig zu unterstützen. Sie fand über ein Familienregister heraus,
dass es drei Familien mit dem Namen Watov in Somerville gab. Bei zweien
war sogar eine Internetadresse angegeben.
Sie übersetzte meine Schreiben ins Englische, schickte zwei an die Watovs
mit der E-Mail-Adresse und eines an eine Genealogy-Company, die sich
angeboten hatte, mir bei meinen Familiennachforschungen zu helfen. Aber
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auch nach wochenlangem Warten und mühevollem hin und her Mailen kam
ich keinen Schritt weiter. Entweder erhielt ich gar keine Antwort oder eine, mit
der ich nicht viel anfangen konnte. Und als mir die amerikanische GenealogyCompany endlich mitteilte, welchen Betrag sie sich für ihre Bemühungen
vorstellte, da war auch klar, dass ich auf diese professionelle Hilfe verzichten
musste. Meine Enttäuschungen wurden täglich größer, die Misserfolge
häuften sich. Immerhin gelang es uns irgendwann herauszufinden, dass es
ein Watov-Familiengrab in Somerville gab. Aber mein Vater wurde nicht
darin, sondern an einem anderen, vollkommen abseits gelegenen Platz dieses
Friedhofs beerdigt. Natürlich stellten sich dabei unweigerlich die Fragen:
Warum war das so? Und woran war er gestorben mit nur 56 Jahren?
Das einzige, was mir spontan dazu einfiel, waren Krankheit, Unfall, oder
er wurde das Opfer eines Gewaltverbrechens. Auch Selbstmord kam in
Betracht. Was wusste ich schon, unter welchen Umständen er zuletzt lebte,
welche Schicksalsschläge er zu verkraften hatte? Das würde eventuell sogar
sein abseits gelegenes Grab erklären.
Dass es noch einen ganz anderen realistischen, aber schrecklichen Todesgrund
geben konnte, das erfuhr ich erst viel später. Er kam mir zu diesem frühen
Zeitpunkt meiner Nachforschungen nicht für den Bruchteil einer Sekunde in
den Sinn.
Nach diesen ersten Tagen und Wochen der Spurensuche konnte ich kaum
noch ruhig schlafen. Es war eine Art Fieber, ein Gemisch aus Neugier,
Abenteuerlust und Sehnsucht, das mich gepackt hatte und nicht mehr
losließ. Am Tag und teilweise auch in der Nacht hing ich stundenlang im
Internet. Und in meinen unruhigen Schlafphasen hatte ich die unglaublichsten
Albträume und Phantasievorstellungen, wie das Zusammentreffen mit
meiner amerikanischen Familie stattfand. Aber meine Hoffnungen auf
eine Kontaktaufnahme mit einem Watov aus der direkten Linie meines
Vaters oder zumindest zur nächsten Generation wurden auch durch die
selbstlose Unterstützung meiner Bekannten nicht erfüllt. Sie setzte ihr
ganzes Wissen und Können in ihrer Freizeit ein, durchforstete das Internet
bis in die geheimsten Winkel, doch ihre Nachforschungen erwiesen sich als
zeitaufwendig, kompliziert und teilweise auch als zu teuer.
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Als wir nach fünf Wochen nur unwesentlich weitergekommen waren,
entschloss ich mich dazu, einfach nach Tennessee zu fliegen, um direkt vor
Ort weiterzusuchen. Zumindest das Grab meines Vaters würde ich sehen, ich
konnte mich endlich von ihm verabschieden, wenn auch nicht so, wie ich es
mir gewünscht hatte.
Vielleicht war es auch möglich, ehemalige Nachbarn, Kneipenbesitzer und
Geschäftsleute aus der näheren Umgebung zu befragen. Oder den Pfarrer der
Kirche, vielleicht konnte ich darüber etwas über seine Familie in Erfahrung
bringen?
Einwohnermeldeämter oder Rathäuser wie in Deutschland,, die man mit
solchen Fragen aufsuchen kann, gibt es in den Vereinigten Staaten leider
nicht, wie ich leidvoll erfahren musste. Dort kann sich jeder da niederlassen
und leben, wo er möchte, ohne sich bei einer Behörde zu melden. Es war mir
darum schon bewusst, dass es unter Umständen ein mühsamer „Hürdenlauf“
werden könnte, der in Somerville auf mich wartete.
Meine Neugier und vor allem meine Ungeduld stiegen trotzdem langsam ins
Unermessliche. Am liebsten wäre ich sofort in ein Flugzeug gestiegen und
nach Tennessee geflogen. Aber ich brauchte auf jeden Fall einen Dolmetscher,
und noch hatte ich nicht die geringste Ahnung, was solch ein Flug und der
Aufenthalt dort kosten würden. Doch das empfand ich inzwischen als relativ
kleines Problem, so etwas konnte mich zum damaligen Zeitpunkt nicht mehr
von meinem im Kopf längst entschiedenen Abenteuer abhalten. Ich wollte
nach Somerville, nein, ich musste nach Somerville, egal, welche Hindernisse
noch zu überwinden waren.
Doch es wurde schon von Beginn an schwieriger als ich gedacht hatte. Vor
allem die Suche nach einem geeigneten Dolmetscher entpuppte sich als sehr
problematisch.
Der Mann meiner Bekannten war wenig begeistert von der Idee, dass ich
mit seiner Frau in die USA reisen wollte, was ich durchaus nachempfinden
konnte. Meine Mutter, noch immer verbittert, wollte nicht. Und auch in
meiner näheren und weiteren Bekanntschaft fand sich selbst bei intensivster
Suche niemand, der für eine solche Exkursion infrage kommen würde.
Denn es musste schon jemand sein, dem ich vertrauen konnte, der sehr gut
Englisch sprach, selbst ein Interesse an der ganzen Sache hatte und der Zeit
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und Geld für zumindest eine Woche Tennessee mitbringen würde. Und diese
Voraussetzungen alle unter einen Hut zu bringen, das erwies sich als sehr
schwierig.
Inzwischen war es Dezember geworden und mir wurde schmerzhaft bewusst,
dass ich in diesem Jahr den Flug vergessen konnte. Auch aus finanziellen
Gründen. Im Internet fand ich kein einziges Angebot unter 780 Euro nach
Memphis hin und zurück. Wenn man den Leihwagen, die Übernachtungen,
die Selbstversorgung und das Geld für ein paar Ausflüge auf dem Mississippi,
in den Great Smoky Nationalpark oder nach Nashville (wenn man schon mal
in Tennessee war) dazurechnete, so war schnell klar, dass ich mich zumindest
bis zum Frühjahr 2007 zügeln musste, um genügend Geld anzusparen.
Völlig überraschend fand sich Mitte Dezember doch noch ein geeigneter
Begleiter für meine „Abenteuerreise“, an den ich vorher überhaupt nicht
gedacht hatte. Thomas Weißenberger, der 17-jährige Sohn unseres Nachbarn,
hatte, wie es auf dem Land üblich ist, um sieben Ecken von meinem Vorhaben
erfahren. Er sprach mich vor der Garage an, als ich gerade ins Auto steigen
wollte.
„Hallo Ralph. Ich habe gehört, dass du in Amerika deinen Vater suchen
willst?“
Ich mochte Thomas, wir hatten einen guten Draht zueinander und schon
mehrere Ausflüge zu Burgen oder mittelalterlichen Städten gemacht. Er konnte
sich, genau wie ich, für Geschichte und die Suche nach längst versunkenen
Welten begeistern und ... er hatte auf dem Gymnasium immer eine glatte
Eins in Englisch, wie mir spontan einfiel, als er vor mir stand! Aber genau
an diesem Tag, an dem er mich ansprach, hatte ich ein paar wichtige,
unaufschiebbare Termine zu erledigen. Wir verabredeten uns darum an
einem Samstagnachmittag, kurz vor Weihnachten.
Bei einer Tasse heißem Tee und vorweihnachtlichem Gebäck erklärte ich
ihm nicht ohne Hintergedanken, wie ich zugeben muss, was ich vor hatte
und zeigte ihm in einem gut sortierten Album die schon leicht vergilbten
Schwarzweißfotografien von meinem Vater, meiner Mutter und von mir in
Oberschleißheim.
Ich musste nicht lange um den heißen Brei reden. Und das Beste dabei: Seine
spontane Begeisterung und sein Optimismus wirkten total ansteckend. Meine
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langsam aufkommenden Zweifel, ob es doch noch was werden würde mit
meiner kurzfristig angestrebten Tennessee-Reise waren im Handumdrehen
verflogen.
Doch eine „Kleinigkeit“ galt es noch zu klären: Er hatte kein Geld. Er besaß
nur knapp zweihundert Euro auf einem Sparbuch, von seinem Vater für ihn
angelegt, das er inzwischen immer wieder für dringend notwendige Ausgaben
strapaziert hatte.
Nach kurzer Überlegung und einem kritischen Blick auf meinen Kontostand
bot ich ihm an, den Flug zu bezahlen. Den Rest und vor allem das Einverständnis,
mich begleiten du dürfen, musste sein Vater beisteuern.
Gerhard Weißenberger, der Vater von Thomas, war ein Mann, den ich nur
schwer einschätzen konnte. Durch den Kontakt, den wir seit vielen Jahren
zu ihm und seiner Familie hatten, wusste ich nur, dass er ein Freund von
schnellen und endgültigen Entscheidungen war. Ich war mir nicht sicher,
was er von unserem Plan halten würde, aber eines war klar: Die Frage, ob
eine solche Reise für seinen Jüngsten von Vorteil war oder nicht, die stellte
sich auf jeden Fall. Und darauf richtete ich meine Strategie aus. Wenn ich ihn
überzeugen wollte, musste es beim ersten Mal klappen. Eine zweite Chance
würde ich nicht bekommen.
Er hörte sich meine Geschichte durchaus interessiert und bei einem guten
Glas Bordeaux an. Ich schilderte ihm ausführlich, welche Ausflüge ich in
Tennessee machen wollte und dass die Nachforschungen nach der Familie
meines Vaters höchstens zwei, drei Tage in Anspruch nehmen würden.
Außerdem wäre eine Sprachauffrischung in einem Englisch sprechenden
Land immer ein Gewinn für Thomas.
„Und so billig wird dein Junge auch nie mehr in die USA fliegen können“,
versuchte ich ihn am Ende meiner Ausführungen auch noch mit der
finanziellen Seite zu ködern.
Meine „Honigfallen“ erwiesen sich als erfolgreiche Entscheidungshilfen und
bescherten mir die erhoffte Zusage. Nach kurzer Überlegung meinte er, dass
es wirklich nicht schaden könnte, wenn Thomas etwas mehr Praxis in der
englischen Sprache bekommt und sich den Wind um die Nase wehen lässt.
Außerdem wusste er, dass wir uns gut verstanden und dass sein Junge bei mir
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gut aufgehoben war.
Und so machte ich mich schon am darauffolgenden Tag im Internet gezielt
auf die Suche nach einem günstigen Flug, einem Leihwagen und einem guten
und bezahlbaren Hotel. In einer kleinen Buchhandlung in der Altstadt fand
ich geeignete Straßenpläne und Reiseführer.
Zwei Tage später war das Wichtigste besorgt, damit wir uns in Tennessee
gut zurechtfinden konnten. Auch ein interessantes Buch über das Heimatland
meines Vaters hatte ich gekauft, in das ich mich die nächsten Wochen immer
wieder vergrub. Schon nach den ersten Seiten war ich begeistert von dem,
was ich sah. Die Landschaften strahlten vor allem im Herbst und Frühjahr eine
geradezu majestätische Weite und Unberührtheit aus. Der Cumberland River
wand sich zumindest auf den Buchseiten durch rote Sandsteinschluchten
und dichte Laubwälder, und die bizarren Felsformationen, in Jahrhunderten
durch Wind, Wasser und Sonne geformt, erinnerten an Bilder aus Sagen und
Märchen.
Ich fühlte mich schon zu Hause, bevor ich das Land zum ersten Mal betreten
hatte. Und doch lag alles, was ich über das ferne Tennessee wusste und sah,
nur hochglanzgebunden auf meinen Knien.
Wir wählten den 4. April für unseren Abflugtag. Am 12. April sollte es wieder
nach Hause gehen. Der Termin lag in den Osterferien und würde daher perfekt
passen. Jetzt mussten wir nur noch zwei Flugtickets bekommen, was während
der Ferienzeit nicht ganz einfach war. Nach einigen vergeblichen Anläufen
hatte ich schließlich Erfolg. Ein kleines Reisebüro am Stadtrand konnte uns
noch zwei freie Plätze für einen Etappenflug nach Tennessee reservieren.
Die relativ preisgünstige Verbindung ging mit der Lufthansa um 8.30 Uhr
von München nach Frankfurt, wo wir erstmals umsteigen mussten. Drei
Stunden später würde uns die American Airlines über den großen Teich nach
Charlotte/North Carolina bringen. Dort sollten wir nach eineinhalb Stunden
Aufenthalt mit einer kleineren Maschine nach Memphis weiterfliegen.
Vorausgesetzt, wir kamen in der vorgesehenen Zeit in Charlotte an. Wenn
nicht, konnten wir erst vier Stunden später auf den Provinzflughafen in
Jackson ausweichen. Das alles war etwas umständlich, aber immerhin kamen
die Buchungsbestätigungen und Tickets pünktlich und wie vorhergesagt bei
mir an.
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