Magisterarbeit Druckfassung

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Magisterarbeit Druckfassung
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Ingo Herrmann
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1
Einleitung
1
2
Francesco Vezzoli
4
3
2.1
Sexualität und Pornographie im Werk Vezzolis
6
2.2
Populärkultur im Werk Vezzolis
9
2.3
Selbstinszenierung Vezzolis in seinem Werk
Entstehungsgeschichte des Films (Gore Vidal’s) Caligula
3.1
4
5
6
7
14
15
Die Etablierung des pornographischen Films……………………….
während der 1970er Jahre
16
3.2
Die Entstehungsgeschichte
22
3.3
Der historische Caligula und Zusammenfassung der Handlung 28
Beschreibung und Analyse des Trailers
30
4.1
Zur Entstehungsgeschichte des Trailers
32
4.2
Der Trailer als Kategorie des Films
34
4.3
Analyse und Beschreibung des Trailers
38
4.4
Anlehnungen an die Vorlage
50
4.5
Zwischenfazit
52
Der Aspekt des Pornographischen in Vezzolis Trailer
55
5.1
Der Einfluss Gore Vidals
55
5.2
Die feministische Pornographie-Kritik
61
5.3
Der Wahrheitsgehalt der filmischen Bilder
64
5.4
Vezzolis Herangehensweise
68
Stars und Populärkultur
73
6.1
Sex Sells – Sexualität und Werbung
74
6.2
Kulturindustrialisierung und Celebrity Culture
76
6.2.1
Celebrity Logik – Allgemeines zum Star
81
6.2.2
Stars in der Kunstwelt
82
6.3
Pornographie und Modefotographie
87
6.4
Die Dekonstruktion des Kunstmarktes
91
Fazit - Der Papst als Medienstar
96
Literaturverzeichnis
ii
Abbildungsverzeichnis
xi
-i-
Ingo Herrmann
1
Einleitung
Ausgangspunkt dieser Arbeit war die Frage nach dem künstlerischen
Wesen der Pornographie. Im Spätsommer 2006 unternahm die britische
Polizei eine fragwürdige Aktion, die mich auf das Thema aufmerksam
machte. Sie beschlagnahmte eine Fotografie Nan Goldins, die zusammen
mit weiteren Bildern im Baltic Centre of Contemporary Art in Gateshead
(Nordengland) ausgestellt werden sollte. Die Aufnahme trägt den Titel
Klara and Edda belly-dancing und zeigt zwei spielende Mädchen im Alter
von circa vier und acht Jahren. Eines der Mädchen ist mit Wickeltüchern
umhüllt und tanzt stehend, während das andere sich auf dem Boden
liegend mit nackten geöffneten Beinen dem Betrachter zuwendet. Obwohl
das Bild 1999 in der Londoner Galerie White Cube verkauft wurde und
tausendfach in den Bildbänden Nan Goldins reproduziert ist, lautete der
Vorwurf auf Kinderpornographie.1 Die Beschlagnahmung: Eine Farce, die
für mich die Frage nach dem Unterschied von Pornographie und Kunst
aufwarf, eine Frage die historisch betrachtet immer wieder gestellt wurde.
Regelmäßig wurden Kunstwerke als pornographisch stigmatisiert. Zur
Illustration seien, ohne darauf nähr eingehen zu wollen, Bronzinos
Allegorie der Liebe und Courbets Ursprung der Welt erwähnt.
Schließlich war es ein Besuch im Museum Ludwig in Köln, der im Frühjahr
2008 Anstoß für die vorliegende Arbeit gab. Zu dieser Zeit war das Ziel
einer Magisterarbeit zu erahnen, wenn auch nicht greifbar, so dass kurz
nach diesem „musealen Erstkontakt“ einige Eindrücke des hier zu
besprechenden Werks schriftlich festgehalten wurden, die als Grundlage
in der vorliegenden Arbeit Verwendung fanden. Das Werk, welches einen
derartigen
Eindruck
hinterlassen
hatte,
war
Francesco
Vezzolis
Videoarbeit Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula aus dem Jahr
2005. Weder Künstler, noch Caligula oder der gleichnamige Film aus dem
Jahr 1979 (Caligula) waren mir zu diesem Zeitpunkt hinlänglich bekannt,
als das ich Vezzolis Trailer hätte einordnen können. Vielmehr waren es
die Unmittelbarkeit der Darbietung in einem kinoähnlichen Raum, die
1
Vgl. Voss, Julia: „Pornographie-Vorwurf - Wie schuldig ist der Betrachter?“, erschienen
in: Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28. September 2007, S.33.
-1-
Ingo Herrmann
nackten Körper und die Präsentation einer solchen „Filmvorschau“ in
einem Museum, die mich faszinierten. Meine Begleitung war ebenso
angetan wie irritiert, tat den Trailer jedoch als schlechten Museumsscherz
ab und ging weiter. Ich blieb sitzen und war beim zweiten Betrachten von
der Geschwindigkeit der Schnitte, den Bildern und der LeinwandAtmosphäre noch beeindruckter als zuvor. Hatte Helen Mirren nicht
gerade einen Oscar für ihre Rolle in The Queen bekommen? Benicio del
Torro ist doch der durchgeknallte Drogendoktor aus Fear and Loathing in
Las Vegas? Und ist Courtney Love nicht dieses verrückte Starlett, das
während eines Live-Interviews mit Madonna volltrunken in das Gespräch
platzte? Alle samt Stars und gemeinsam in einem – PORNOFILM?
Zeit ging ins Land und der Film und die Notizen auf meiner Festplatte
waren schon in Vergessenheit geraten, als mir Vezzolis Stickbilder in
einem Katalog der Leipziger Galerie für zeitgenössische Kunst zufällig in
die Hand fielen. Wer ist dieser Italiener und was hat es eigentlich mit
diesem Trailer auf sich?
Die eingehende Beschäftigung mit Vezzolis Trailer zeigte schließlich, dass
es ihm nicht vordergründig um Pornographie geht. Vielmehr verwendet er
das Pornographische als ein bewusstes künstlerisches Mittel, dessen
genaue Funktion in dieser Arbeit herausgearbeitet werden soll. Zugleich
thematisiert Vezzoli einen anderen Aspekt, der mit der Beteiligung der
oben erwähnten Stars am deutlichsten Ausdruck findet. Nach einem
ersten einleitenden Teil, in dem die Person und das Werk Vezzolis kurz
vorgestellt werden und die Beschreibung des Trailers vorgenommen wird,
sollen in einem zweiten Teil die beiden Aspekte in den Vordergrund treten.
Diese ließen sich mit den gleichermaßen treffenden wie ungeeigneten
Schlagworten (1) Pornographie und (2) Stars, als auch mit den ebenfalls
(un)geeigneten Begriffen (1) Feminismus und (2) Populärkultur umreißen.
Ersterer steht dabei für das Genre von Vezzolis Vorlage und die damit
verbundenen Diskurse. Der 1979 veröffentlichte Film wird gemeinhin als
pornographisch bezeichnet, auch wenn dies heute aus mehreren Gründen
nur noch bedingt nachzuvollziehen ist. In diesem Abschnitt wird schließlich
die Gedankenwelt Gore Vidals aufgegriffen, der nicht nur an prominenter
-2-
Ingo Herrmann
Stelle in Vezzolis Trailer auftaucht und dem Vezzoli einen ganzen
Werkzyklus widmete (The Gore Vidal Trilogy, 2006), sondern sich auch als
Drehbuchautor für den 1979 entstandenen Film verantwortlich zeigt. Damit
stellt er einen Angelpunkt zwischen Original und Remake dar. Neben
seiner Beteiligung an beiden Filmen hat er sich früh als Vorreiter der
Sexuellen Revolution hervorgetan, weshalb untersucht werden soll,
inwiefern seine Positionen zu Sexualität und Pornographie Einfluss auf
beide Werke genommen haben. Zwar hat Vidal sich auch zum
Feminismus geäußert, jedoch scheint Vezzoli diese Auseinandersetzung
weiter getrieben zu haben, weshalb abschließend eine eingehendere
Betrachtung der feministischen Pornographie-Kritik als lohnenswert für
den Fortgang der Untersuchung erscheint.
Während dieser erste Aspekt eine historische Perspektive einnimmt, zielt
der zweite auf ein zeitgenössischeres Thema – die Populärkultur.
Ausgehend von den Thesen zur Industrialisierung des Kulturbetriebs
(Adorno, Horkheimer, Löwenthal) soll vor allem der Einfluss dieses
Gedankens auf den Bereich der Kunst aufgezeigt werden. Diese
Beziehung von Kunst und Populärkultur stellt Vezzoli nicht nur durch die
von ihm gewählten populärkulturellen Formate her (im Fall der zu
besprechenden Arbeit z.B. den Trailer), sondern wird auch in diversen
Interviews von ihm angesprochen und nicht zuletzt durch die Zahl der
Mitwirkenden Stars und Celebritys unterstrichen. Abschließend soll ein
Zusammenhang zwischen diesen beiden Aspekten herausgearbeitet
werden, der Populärkultur, Kunst und Pornographie in Beziehung setzt.
Um das Verständnis und die Lesbarkeit der Arbeit zu erhöhen, sei ihr ein
Link vorangestellt, der auf eine im Internet verfügbare Version des Trailers
verweist. Auch wenn die Betrachtung dieses Videos keinesfalls die
Betrachtung z. B. im Museum Ludwig in Köln ersetzen kann, gewinnt
jener Leser einen Eindruck, der das Werk nicht vor Augen hat,
beziehungsweise kann sich wichtige Details ins Gedächtnis rufen.
http://torontoist.com/2007/09/francesco_vezzo.php
-3-
Ingo Herrmann
2
Francesco Vezzoli
Francesco Vezzolis Trailer for a Remake of Gore Vidal's Caligula (digitale
Projektion auf Leinwand in einem kinoähnlichen Ambiente, 5:00 Minuten)
wurde erstmals im Sommer des Jahres 2005 auf der Biennale in Venedig
gezeigt, wo er von der internationalen Presse als „hottest ticket“ gefeiert
wurde. Ein Jahr später erlebte der Trailer einen weiteren fulminanten
Erfolg auf der Whitney Biennial „Day and Night“ im Whitney Museum of
American Art in New York, bei der Vezzoli als einer der Höhepunkte
beschrieben wurde.2 Seit dieser Zeit ist Vezzoli verstärkt in hochkarätigen
Ausstellungen präsent, feierte weitere Erfolge mit Filmen wie
Marlene
Redux: A True Hollywood Story! (2006), einer Anlehnung an Maximilian
Schells Dokumentation Marlene von 1984, oder Democrazy! (2007), zwei
fiktiven
US-Wahlkampfspots
französischen
Philosophen
in
denen Sharon
Stone
gegen
den
Bernard-Henri
Lévy
um
die
Präsidentschaftskandidatur buhlt, wobei die beiden Videos parallel
abgespielt werden und beide Darsteller ähnlich inhaltsleere Floskeln
formulieren.3
Vezzoli wurde 1971 in Brescia, einer kleinen Stadt in Norditalien, geboren,
studierte von 1992 bis 1995 an der Central St. Martin's School of Art in
London (Bachelor) und lebt in Mailand und New York.4 Der Großteil seiner
neueren Arbeiten beruht auf bewegten Bildern, vornehmlich Film und
Video. Allerdings ist er kein ausschließlicher Film- und Videokünstler,
sondern debütierte international im Sommer 2001 auf der Biennale in
Venedig mit seiner Arbeit long live embroidery!, in der Veruschka von
Lehndorf, ein Top-Modell der 1960er und 1970er Jahre, vier Tage lang auf
einem Podest für die Besucher stickte. Hinter ihr hingen die PortaitStickereien von berühmten Schauspielerinnen der 1970er Jahre, die
Vezzoli seit seiner Studienzeit von vielen Stars angefertigt hatte.5 Aber
2
Vgl. z.B. http://www.nytimes.com/2006/02/26/arts/design/26yabl.html (am 21.Februar
2008).
3
Vgl. http://www.pinakothek.de/pinakothek-der-moderne/html/kalender/kalender_index.
php?haupt=ausstellungen&sub=moderne (am 21.Februar 2009).
4
Vgl. http://www.gagosian.com/artists/francesco-vezzoli/ (am 01.Dezember 2008).
5
Vgl. http://www.designboom.com/snapshots/venezia/vezzoli.html (am 01.November
2008).
-4-
Ingo Herrmann
auch ein sexueller Aspekt taucht bereits in den Stickereien auf. 2004
stellte Vezzoli 120 Sedute di Sodoma (Die 120 Stühle von Sodom) aus.
120 mit Frauengesichtern bestickte Stuhl-Sitzflächen, für die Vezzoli
folgende Quelle angibt:
„I began by making needlepoint copies of prostitutes' calling
cards that I found in telephone booths in London. Coming from
an artistic Italian background, the idea was for me to perform a
conceptual act, applying a visual, practical, openly domestic bythe-fireplace kind of language to a sexual one. Then I found that
using this language of needlepoint unleashed very strong
reactions from people. Some read it as a statement on sexuality
or on the appropriation of a feminine language.”6
Für den Sommer 2008 plante Vezzoli mit Unterstützung der PradaFoundation eine Wiederauflage des Kinsey-Reports in verschiedenen
Museen, dessen Realisierung jedoch bisher (Frühjahr 2009) aussteht.7
Stattdessen entwarf er eine Werbekampagne für ein fiktives Parfüm
(Greed!), für das er einen von Roman Polanski gedrehten und mit Natalie
Portman und Michelle Williams besetzten Werbefilm produzierte.8
Vezzolis Werk scheint im Wesentlichen von einigen Themen dominiert, die
sich beim Betrachten sukzessive erschließen: Sexualität, Pornographie,
Starkult, das Mediensystem, welches diesen Kult hervorbringt, Kinofilme –
vor allem italienische Filme der 1970er Jahre – aber auch Werbung und
Kunst sind Themen mit denen er sich künstlerisch befasst. Um diese
spezielle Vielfalt überschaubar zu gestalten, sollen zwei Überbegriffe zur
Strukturierung dienen, die sich in einzelnen Aspekten durch die gesamte
Arbeit
ziehen:
Populärkultur
und
Sexualität
beziehungsweise
Pornographie.
Allein diese Unterteilung zöge ausschweifende Bibliographien nach sich,
deren Bewältigung allerdings nicht Anliegen dieser Arbeit sein kann.
Vielmehr sind diese Begriffe sehr offen, sodass sich unterschiedliche
Phänomene
mit
einem
Schlagwort
6
versehen
lassen.
Detaillierte
Celant, Germano: Interview mit Francesco Vezzoli - proof that experimentation is alive
and well in art, erschienen in: Interview, Mai 2004, S.74.
7
Vgl. http://www.nytimes.com/2008/03/23/magazine/23prada-t.html (am 04.November
2008).
8
http://themoment.blogs.nytimes.com/2009/02/10/art-show-francesco-vezzolis-eau-defaux/ (am 18.Februar 2009)
-5-
Ingo Herrmann
Diskursanalysen, insbesondere zur Darstellung von Nacktheit, Erotik,
Sexualität und Pornographie, unterbleiben ebenso wie eine nähre
Auseinandersetzung mit populärkulturellen Ausdrucksformen (Werbung,
Kino, Stars etc.).
Vielmehr geben die nachfolgenden Punkte einen kurzen Überblick über
Vezzolis Werk, wobei keinesfalls alle Werke Erwähnung finden, sondern
lediglich solche, die im Œuvre von Bedeutung sind. Diese Bedeutsamkeit
wurde anhand der Häufigkeit der Erwähnung in den ausgewerteten
Quellen festgemacht oder betrifft Einzelwerke die für die spätere
Argumentation notwendig erscheinen. Schließlich befindet sich am Ende
ein Punkt, der sich mit Vezzolis Selbstinszenierung in einigen seiner
Werke befasst.
2.1
Sexualität und Pornographie im Werk Vezzolis
Nicht in all seinen Werken setzt sich Vezzoli so offensichtlich mit
Sexualität und Pornographie auseinander wie in seinem Trailer for a
Remake of Gore Vidal's Caligula. Ein Werk, das ähnlich offensiv an diese
Thematik heranzutreten scheint, ist The Bruce Nauman Trilogy aus dem
Jahr 2006, die unter anderem ein Remake von Bruce Naumans Bouncing
Balls aus dem Jahr 1969 mit dem gleichen Titel enthält. Nauman spielte in
seinem stummen schwarz/weiß Film Bouncing Balls einhändig mit dem
eigenen Hodensack, während er auf einem Stuhl zu sitzen scheint. Die
Hoden werden in Nahaufnahme neun Minuten ohne Schnitt und
Perspektivwechsel gezeigt, wobei der Film häufig als ironische Referenz
zu einem seiner früheren Filme betrachtet wird – „Bouncing Two Balls
Between the Floor and Ceiling with Changing Rhythms“. Naumans
„Bouncing Balls“ wurde mit einer industriellen Slow-Motion Kamera
gedreht, ein Aufnahmeverfahren, bei dem mit 1000 bis 4000 Bildern pro
Sekunde gedreht wird, so dass die eigentliche Aufnahmezeit des Films
lediglich 6 Sekunden betrug, der Film jedoch über neun Minuten in
regulärer 26-Bilder-pro-Sekunde-Geschwindigkeit abgespielt wird. „The
action is really slowed down a lot […] Sometimes it is so slow that you
-6-
Ingo Herrmann
don’t really see any motion but you sort of notice the thing is different from
time to time.”9
Vezzolis Film zeigt dagegen nicht die Hoden des Künstlers, sondern die
Hoden eines von Vezzoli engagierten Pornostars – Brad Rock –, der seine
glatt geölten Testikel in dem 7:52 Minuten langen Farbfilm zu Musik von
Mozart nach links und rechts schaukeln lässt. Im Gegensatz zu Naumans
Film gibt es bei Vezzoli Perspektivwechsel, Schnitt und Zoom, zudem ist
der Film farbig, mit einer Tonspur unterlegt und nicht von einer
Hochgeschwindigkeitskamera aufgenommen.
In anderen Werken erfolgt die Thematisierung von Sexualität weitaus
subtiler, wie beispielsweise in Marlene Redux: A True Hollywood Story!
(2006).
Die
vermeintliche
Anlehnung
an
Maximilian
Schells
Dokumentation Marlene von 1984 handelt – wider Erwarten – im
Wesentlichen von Vezzoli selbst und seinem Leben als realer und fiktiver
Kunst-(Super)-Star. Zum Einen wird in diesem Film ausführlich auf
Bouncing Balls und Vezzolis Sexualleben eingegangen, zum Anderen
stellt Vezzoli sein Personal vor. Beispielsweise wird Brad Rock interviewt –
der Darsteller aus Bouncing Balls – aber auch ein männlicher
Prostituierter und ein Stripper werden nach Vezzolis Persönlichkeit befragt
(Vezzoli ist homosexuell und der Film gibt vor, beide hätten Dienste für ihn
erbracht). Alle im Film gezeigten Personen existieren jedoch nach einer
Recherche des Verfassers nicht. Zwar drehte Brad Rock diverse
homosexuelle Pornos, jedoch ist dieser Name – wie fast immer in diesem
Genre – fiktiv, wie auch Vezzolis Agentin, der Stripper und Freunde die im
Film gezeigt werden nicht existieren.10 Einzig Vezzoli ist – als vermeintlich
Verschiedener – eine reale Person und hochangesehener Künstler.
Infolge von Sexeskapaden mit dem Stricher wird Vezzoli am Ende des
Films schließlich ermordet aufgefunden.
9
Nauman zitiert nach: Bruggen, Coosje van: Sounddance, erschienen in: Morgan, Robert
C. (Hrsg.) – Bruce Nauman, Baltimore, 2002, S.43-69.
10
Gemäß den Recherchen des Verfassers.
-7-
Ingo Herrmann
Im
November
2007
Ausstellungseröffnung
der
Pinakothek
gestaltet
Vezzoli
–
aus
Anlass
einer
in
der
Moderne (München) – das
Magazin der Süddeutschen
Zeitung.
Auch
thematisiert
er
indem
eine
er
hier
Sexualität
fingierte
Anzeige
des
Auktionshauses
Sotheby’s
schalten lässt, in der sich
ein
Cowboy
vor
einem Abbildung 1: Anita Ekkberg auf der Mae-West
Gemälde selbst befriedigt.11 Couch
Wenige Wochen zuvor inszeniert er im New Yorker Guggenheim die
Performance Right you are, if you think you are. Basierend auf einem
Theaterstück von Luigi Pirandello, saßen 10 Hollywood-Stars im Kreis und
lasen den Text des Stückes, bis Cate Blanchett die Spirale im
Guggenheim (New York) unter Blitzlichtgewitter hinab schritt und die
Schlusssequenzen des Stückes sprach. Neben Cate Blanchett, Natalie
Portman und weitern Stars, saß Anita Ekberg – Sexsymbol der 1950er
Jahre – am prominentesten platziert auf einer Mae-West Couch.12 Diese
Couch,
ein
Tribut
Salvador
Dalis
an
die
Schauspielerin
und
Drehbuchautorin, die im Amerika der 1930er Jahre immer wieder durch
den Bruch sexueller Tabus hervorstach, diente Vezzoli, wie er selbst sagt,
zur „…Überblendung gleich zweier Sexsymbole…“.13
Weiterhin plante Vezzoli für Sommer 2008 ein Projekt, welches mit
Unterstützung der Prada Foundation durchgeführt werden sollte und als
eine Art „Neuauflage“ der Kinsey-Befragung konzipiert war. Alfred Charles
11
Vgl. Mayer, Christian: „Softporno im Medienzirkus“, erschienen in: Süddeutsche
Zeitung, 17.November 2007, S.28.
12
Vgl. Vezzoli, Francesco: "Ich will anderen ihre Persönlichkeit stehlen" - Der Künstler
Francesco Vezzoli über sein Werk, die Arbeit mit Hollywood-Stars und seine
Performance "Eine Nacht in New York", erschienen in: Süddeutsche Zeitung Magazin,
14.November 2007, S.17.
13
Ebd.
-8-
Ingo Herrmann
Kinsey gründete 1947 an der Universität von Indiana das „Institut für
Sexualforschung“ und veröffentlichte nach der Befragung von 18.000
Personen
1948
und
1954
die
bekannten
„Kinsey-Reports“
über
Bisexualität, das Masturbationsverhalten, sowie die Paraphilien der
Amerikaner, die zu heftigen Auseinandersetzungen innerhalb der USamerikanischen Gesellschaft führten und heute als einer der Auslöser der
Sexuellen Revolution in den 1960er Jahren angesehen werden.14
Bei der Neuauflage sollten Museumsbesucher ebenfalls über einen
Fragebogen nach ihrem sexuellen Verhalten befragt werden, wobei
Vezzoli die Fetische und Perversionen der Museumsbesucher fokussieren
wollte.15 „Just imagine me as a slimmer, more glamorous Michael Moore. I
want to do a visually over-alluring Kinsey Report – a scientific survey of
contemporary sexuality, a film with nail-me-to-the-wall politics and nail-meto-the-couch images.”16
Ein letzter Hinweis auf Vezzolis Interesse an Sexualität ist seine BachelorThesis an der Central St. Martin's School of Art in London, in der er sich
mit
homosexuellen
Subtexten
in
brasilianischen
Telenovelas
auseinandersetzte.17
2.2
Populärkultur im Werk Vezzolis
Ohne dass auf diese näher eingegangen wurde, thematisierte Vezzoli in
allen bis hier aufgeführten Arbeiten Aspekte der Sexualität. Bereits an
dieser Stelle kann jedoch auf die beständige Verknüpfung des Themas mit
populärkulturellen
Gesichtspunkten
hingewiesen
werden,
die
im
Folgenden aufgezeigt werden sollen.
Populärkultur umfasst für Vezzoli im Wesentlichen vier Bereiche: Kino,
Stars, Medien und Kunst, wobei es immer wieder Überschneidungen gibt.
Einige Arbeiten Vezzolis nehmen direkten Bezug auf das – vor allem
14
Vgl. Bullough, Vern L.: Alfred Kinsey and the Kinsey Report - historical overview and
lasting contributions; erschienen in: The Journal of Sex Research, Vol. 35, 1998, S.14.
15
Vgl. http://artforum.com/diary/id=11804 (am 21.Februar 2008).
16
Ebd.
17
Vgl. Larroca, Amy: The Italian Rapscallion - Performance artist Francesco Vezzoli has
his celebrity cake and eats it, too, erschienen in: New York Times Magazine, 18.
Oktober 2007, S.20.
-9-
Ingo Herrmann
italienische – Kino, insbesondere auf Pier Paolo Pasolini. Dabei
beschränkt sich Vezzoli nicht auf das Medium Film, sondern bezieht
beispielsweise Filmtitel Pasolinis in sein Stickwerk ein: Die 120 Sedute di
Sodoma (dt. Die 120 Stühle von Sodom) verbindet Vezzoli in Interviews
mit dem Skandalfilm Salo' o le 120 giornate di Sodoma (dt. Salo’ oder die
120 Tage von Sodom, 1975) Pasolinis,18 der bis heute wegen der offenen
Darstellung von Vergewaltigung, Folter und Mord in Ausschnitten verboten
ist.19
Comizi di non amore (engl. Non-Love-Meetings) ist ein weiterer Film, mit
dem Vezzoli Bezug auf Pasolini nimmt. Pasolini drehte 1964 einen
Dokumentarfilm mit dem Titel Comizi d’amore (dt. Gastmahl der Liebe,
1964), für den er sechs Monate durch Italien reiste und Menschen zu ihren
Einstellungen über Liebe und Sexualität befragte.20 Vezzolis Comizi di non
amore ist dagegen einer Reality-TV Fernsehsendung nachempfunden, mit
der er auf den Plakaten des Caligula-Trailers und im Trailer selbst wirbt.
Über diesen Film in Form einer Sendung spricht Vezzoli in einem
ausführlichen Interview mit Germano Celant:
“Vezzoli: I brought the idea of creating what we can call a
celebrity dating show to the table. It's a reality show in which
people tell their life stories. By bringing their individual realities
onto the scene, various women court potential dates. Then
there's the celebrity aspect of it, meaning that some of the
contestants are icons […] We started with Catherine Deneuve,
a woman who in Belle de Jour [1967] does needlepoint and has
daring fantasies. Then there are Antonella Lualdi, who serves
as the bridge with Comizi d'Amore, because she is the only
woman in my project who was interviewed by Pasolini for his
film; Terry Schiavo, an ex-TV hostess, and for me, the
stereotypical ordinary girl who ends up "networkified"; and
Marianne Faithfull, the wild rock icon, the woman famous for
18
Vgl. Frisch, Anette: Francesco Vezzoli, erschienen in: Flash Art International - The
world's leading art magazine, Band 236, 2004, S. 96 – 99.
19
Vgl. Tagesanzeiger: Strafanzeige gegen Xenix, erschienen in: Tagesanzeiger
(Zürich), 12.Februar 2007, S.9; Der Film ist in der so genannten Republik von Salò,
einem faschistischen Marionettenstaat im von Nazideutschland besetzten Norditalien
angesiedelt. Die Vertreter dieses Regimes halten heranwachsende Männer und Frauen,
die teilweise gewaltsam entführt wurden, mit Waffengewalt gefangen und werden als
moralisch und sexuell verkommen charakterisiert. Die Behandlung der Gefangenen wird
ins Extreme gesteigert, so bekommen sie Exkremente zu essen und werden wie Tiere an
der Leine geführt, vergewaltigt und am Ende brutal gefoltert und ermordet. (Vgl.
Labenski, Jürgen; Krusche, Dieter: Reclams Filmführer, Stuttgart, 1993, S.277f.).
20
Vgl. Ebd., S.275f.
- 10 -
Ingo Herrmann
being censored. […] Then I finish the program with Jeanne
Moreau, a cinema icon […].
Germano Celant: So these icons are courted, but you have
arranged courtships that are in fact traps.
Vezzoli: Yes. For each actress there are three suitors, and the
behavior of these suitors, good or bad, always represents a
challenge, with the goal of creating a revealing moment. For
example, for Antonella Lualdi there are three strippers; for
Deneuve there are three presumably die-hard fans; for Terry
Schiavo there are two heterosexual men and a lesbian; for
Marianne Faithfull there are two young men and a transvestite.
The actresses don't have the faintest idea who their suitors will
be, so their reactions are real.
Germano Celant: So while Pasolini was simply recording
reactions, you are creating content for the reactions. For
instance, you know that certain subjects – homosexuality,
transvestism, etc. – can stimulate certain reactions. You
construct these variants intentionally as well as the response of
the audience.”21
Zusammen mit einem von Vezzoli in Auftrag gegebenen handgewebten
Woll-Gobelin La fine di Canterbury (410 cm x 700 cm) bildeten diese drei
Werke eine Ausstellung mit dem Titel Trilogia della Morte, die im Rahmen
der 51. Internationalen Kunstausstellung in Venedig 2005 in der
Fondazione Giorgio Cini gezeigt wurde.
Im Januar 2008 verfasst Vezzoli für eine Woche den The-Moment-Blog
der New York Times22, der regelmäßig Akteure der Modebranche, der
Kunstwelt oder des Lifestyle-Bereichs einlädt, frei gewählte Themen zu
besprechen. Vezzoli schreibt in diesem Blog am ersten Tag, dem
14.Januar 2008:
“I have never done a blog before, and I was then wondering
what I should write about. Being quite sure you couldn’t care
less about my thoughts about art or pop culture, my question
now is: what can I share with the readers that they may not
know already? So, what about a little bit of visual Italian culture?
I would like you to see, if you wish, some videos related to my
favorite Italian actresses and/or singers — one for each day of
my participation on this blog. By the way, they are real icons in
Italy, and especially gay icons, for several reasons.”23
21
Celant, Germano: Interview mit Francesco Vezzoli - proof that experimentation is alive
and well in art, erschienen in: Interview, Mai 2004, S.85.
22
Vgl. http://themoment.blogs.nytimes.com/ (am 02.Februar 2008)
23
http://themoment.blogs.nytimes.com/author/francescovezzolinyt/ (am 03.Februar
2008).
- 11 -
Ingo Herrmann
Er stellt neben Anna Magnani, Silvana Mangano, Monica Vitti und Anita
Ekberg am letzten Tag eine Reihe von italienischen Fernsehshows vor,
mit der Begründung “…they all exude a very unique sense of perversely
provincial glamour that I still have never found anywhere else.”24
Er berührt in seinem Blog neben den bereits benannten Themen
Pornographie, Sexualität und Kino also einen weiteren Aspekt, der sich
regelmäßig in seinem Werk finden lässt: den Starkult. Die meisten dieser
von ihm erwähnten Ikonen hat Vezzoli auch in Form von „Walk-of-Fame“Sternen oder in schlichten Rechtecken gestickt, womit er sich in diesem
Fall auf einen speziellen italienischen Kontext bezieht, der sich einem
fremden – nicht italienischen – Betrachter nicht sofort erschließt.
Deutlicher wird der Star-Charakter aber in anderen Stickbildern wie denen
von Joan Crawford, Liz Taylor, Romy Schneider, Veruschka von Lehndorff
oder den ehemaligen US-Präsidentengattinnen, da sie im gesamten
westlichen Kulturkreis noch „berühmtere“ Personen sind, als die
italienischen Diven.
In dem 2007 im Guggenheim (New York) von Vezzoli inszenierten
Theaterstück Right you are, if you think you are. von Luigi Pirandello geht
Vezzoli ebenfalls – wenn nicht sogar vordergründig – auf das Starsystem
ein:
„Es geht um Wahrheit vs. Fake, um Gossip vs. Realität, eine
Frau, die die Wahrheit repräsentiert, und zugleich die Wahrheit
ohne Gesicht. Die Schauspieler sind auf einer Bühne
versammelt, um ein Stück von Luigi Pirandello aufzuführen, ‚So
ist es (wenn es Ihnen so scheint)’. Die Leute auf der Bühne
reden stundenlang nur Gossip, Gossip, Gossip über eine Frau,
die von Cate Blanchett gespielt wird. Darüber, ob sie die Frau
eines älteren Mannes ist oder die Tochter von jemand anderem.
Wenn sie selbst auf die Bühne kommt, stellt sie die Wahrheit
dar. Aber wenn sie den Satz sagt: »Ich bin, wer ihr denkt, dass
ich bin, aber ich selbst bin nichts«, dann geht es um das
Scheitern an der eigenen öffentlichen Identität.“25
24
Ebd.
Decker, Julia; Liebs, Holger: "Ich will anderen ihre Persönlichkeit stehlen" Der Künstler
Francesco Vezzoli über sein Werk, die Arbeit mit Hollywood-Stars und seine
Performance "Eine Nacht in New York" für das SZ-Magazin, erschienen in: Süddeutsche
Zeitung Magazin, 15.11.2007, S.22.
25
- 12 -
Ingo Herrmann
Ein wichtiger Aspekt seiner Arbeiten ist also die Einbeziehung
internationaler Stars. So gewann er Heltmut Berger, Anita Ekberg, Benicio
del Toro, Cate Blanchett, Sharon Stone, Hellen Mirren und andere, um in
seinen Projekten mitzuwirken. In Interviews nach der Bereitschaft der
Stars gefragt, in seinen Projekten mitzuarbeiten, gibt er immer dieselbe
Antwort: Er schickt Blumen, schreibt Briefe und bietet ausführliche
Gespräche über das Projekt an, immer unter der Prämisse, dass er keine
Gage zahlt und die Namen aller beteiligten Personen gleichrangig
nebeneinander stehen. "Everyone worked for free. They are all my
partners in crime."26
Miuccia Prada – Sammlerin und Gönnerin Vezzolis – fasst Vezzolis
Bemühen nochmals zusammen: “I very much appreciate Francesco’s
work, because of the strong political content that is generally
underestimated. What people get is usually the involvement of famous
people, but what is really powerful in his work is the deconstruction of the
mediatic system.”27
Diese Dekonstruktion, auf die am Schluss der Arbeit noch ausführlich
eingegangen wird, vollzieht sich aber nicht nur durch die Übernahme von
inhaltlichen Komponenten wie den Schauspielern oder deren Abbildern,
sondern wird auch strukturell aufgenommen. Beispielsweise greift er das
seit 1990 verstärkt auftretende TV-Format des Reality-TV in Comizi di non
amore auf, verwendet die Werbeform des Trailers in Trailer for a Remake
of Gore Vidal's Caligula oder übernimmt stilistische Elemente der
Musiksender VH1 und MTV, wie das einblenden von Zusatzinformationen
durch poppige Blasen in Marlene Redux: A True Hollywood Story!.
Überhaupt kann ein regelmäßiger Rückgriff Vezzolis auf Werbeformate
festgestellt werden. Neben dem zu besprechenden Trailer, wird auch
durch den bereits kurz erwähnten und ebenso fingierten Wahlwerbespot
Democrazy! ein gesamtes Werk in einen Werbekontext versetzt.
Schließlich betrifft sein neustes Projekt ein (fiktives) Parfüm – Greed! –
das in einer ebenso fingierten Kampagne beworben wird.28
26
Larocca, Amy (2007): a.a.O., S.20.
Ebd.
28
Vgl. „Wer bekommt den Duft der Gier?“, erschienen in: Art-Magazin, Ausgabe 02/2009,
S.107.
27
- 13 -
Ingo Herrmann
2.3
Selbstinszenierung Vezzolis in seinem Werk
Trotz – oder gerade wegen – des inszenierten Starkults, setzt sich Vezzoli
in einigen seiner Werke selbst in Szene. So erscheint er z.B. in Trailer for
a Remake of Gore Vidal's Caligula als Caligula oder in Marlene Redux: A
True Hollywood Story!. In letztgenanntem ist seine eigene Person Thema
des gesamten Films, der Macher taucht jedoch nicht persönlich darin auf,
da sein fingierter Tod das Erscheinen in der ebenso fingierten posthumen
Würdigung ausschließt.
Ohne auf die – mittlerweile fast verstummte Kritik – am Kunstmarkt der
Zeit von 2003 bis 200829 einzugehen und den vermeintlichen Wandel hin
zu einem „Starsystem“ kommentieren zu wollen,30 kann festgestellt
werden, dass Vezzoli eine Position zum Kunstmarktgeschehen bezieht,
ohne jedoch eine argwöhnische Haltung gegenüber diesem einzunehmen.
Vielmehr bezieht er den Kunstmarkt durch das Erscheinen in eigenen
Werken ein und reflektiert ihn, indem er ihn vorführt: "For me, the art world
has become a place that has turned itself, willingly or not, into some sort of
entertainment industry […] I hate being in my work, but I think it is more
meaningful if I become the subject of my own critique."31 Deshalb bezahlte
er die Kosten für den Caligula Trailer in Höhe von US$ 120.000 – nach
Aussage in einigen Interviews – selbst "…to protect the project's
integrity…",32 und macht damit die Freiheit geltend, die auch Bob
Guccione als Produzent von Vezzolis Vorlage 1979 in Anspruch nahm:
Die vollständige Selbstfinanzierung.
Um den reflektierten Prozess zu verdeutlichen, den Vezzoli durchläuft um
seine
Positionierung
im
Trailer
endgültig
29
zu
klären,
sei
ein
Diese Kritik betrifft vorallem die Preisbildung über die sich Künstler wie David Hockney
und Markus Lüpertz u.a. geäußert haben, Vgl. beispielhaft: Mercker, Florian; Mues,
Gabor: Ausweichmanöver – Nicht nur David Hockney übt Kritik, erschienen in:
Frankfurter Allgemeine Zeitung, 28.01.2006, S.31 oder Gohlke, Gerrit: Documenta 12 –
Oder – Warum der Kunstmarkt die Kritik braucht – Auto-Motor-Sport, erschienen auf:
Artnet,
http://www.artnet.de/magazin/kommentar/gohlke/gohlke07-06-07.asp
(am
25.März 2009).
30
Vgl. Pelikan, Werner: Mythen und Mythenbildung in Kunst und Werbung - Grundmuster
der Kommunikation, Thesen und Beispiele (Diss. Universität Kassel), Kassel, 2005, S.87.
31
Yablonsky, Linda: Caligula' Gives a Toga Party (but No One's Really Invited),
erschienen in: New York Times, 26.Februar 2006, S.27.
32
Ebd.
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Ingo Herrmann
Interviewausschnitt zitiert, in dem er auf eine Frage zu Comizi di non
amore und sein eigenes Erscheinen in diesem Film gefragt wird:
“Germano Celant: In Pasolini's film we see him asking
questions. He sets the public apart from himself so there's no
risk of his body or his feelings showing up in the film, but you
put yourself in the audience. In doing so, you agree to follow the
tradition of someone like Robert Mapplethorpe, who let himself
be photographed in erotic moments, and even as he was dying.
In other words you become a part of your own product.
Vezzoli: Yes. In fact, before filming began I asked myself,
‘Where do I put myself in the production - with the contestants,
with the celebrities? Why am I here, what have I been doing on
this project for 12 months?’ And the answer was that I had been
a part of the audience; I had been watching these programs. So
I knew that I needed to be there.”33
Allerdings erscheint er nicht ausschließlich in seinen Video-Arbeiten,
sondern auch in seinem Stick-Œuvre. So besitzt beispielsweise die
Galerie für zeitgenössische Kunst (Leipzig) zwei auf Gaze gedruckte
Fotografien Vezzolis (Abbildung 16: Francesco by Francesco: Before and
After (2002), s/w, 61x83cm). Eines der Bilder zeigt Vezzoli in lockerer
Alltagspose mit Dreitagebart und offenem Hemd, den Blick dem
Betrachter zugewandt. Das andere Bild dagegen zeigt Vezzoli als
gepflegte androgyne Erscheinung mit frisierten Haaren, glatt geschminkter
Gesichtshaut und weißer Fliege. Auf das Before-Bild hat Vezzoli, ähnlich
den Fotographien berühmter Film-Diven, Tränen unter seine eigenen
Augen gestickt, auf dem After-Bild ist ein silbrig-glänzender Faden als
gestickter Lidschatten zu erkennen.34
3
Entstehungsgeschichte des Films (Gore Vidal’s) Caligula
Die Entstehung des 1977 abgedrehten und 1980 veröffentlichen Films
(Gore Vidal’s) Caligula, der als Vorlage für Vezzolis Arbeit zu betrachten
ist, da es sich gemäß der Werksbezeichnung um ein Remake handelt, ist
an die Entwicklung des pornographischen Genres gebunden, aber nicht
33
Celant, Germano (2004): a.a.O., S.88.
Vgl. GfZK, Sammeln – Sammlungskatalog der Galerie für Zeitgenössische Kunst
Leipzig, Inventarnummer-Nr.112, Leipzig, 2002.
34
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Ingo Herrmann
ausschließlich durch dieses bestimmt. Das Time Magazine beschreibt die
Entstehung des Films als “…attempt to fuse the historical epic with the
porno film at a time when it seemed possible that serious cinema might go
hard-core.”35 Daher erscheint es zunächst sinnvoll, bereits an dieser Stelle
einen Überblick über die Geschichte des amerikanischen Pornofilms zu
geben,
um
anschließend
die
konkrete
Entstehungsgeschichte
zu
betrachten. Abschließend soll in einem sehr knappen Abriss der
wesentliche Handlungsstrang des Films wiedergegeben werden und auf
die
Rezeption
der
historischen
Persönlichkeit
Kaiser
Caligulas
eingegangen werden.
3.1
Die Etablierung des pornographischen Films während der
1970er Jahre
Spätestens seit dem Jahr 1970 hat sich der pornographische Film für
öffentliche Vorführungen in Kinos in den USA etabliert und sah sich
zunehmend mit einem Qualität fordernden Markt konfrontiert. Zur gleichen
Zeit erschienen die letzten Filme, die noch der Tradition des White
Coaters verpflichtet waren: Weiß-bekittelte Schauspieler, die als Arzt den
Film einleiteten, anschließend die dargestellten Sexualakte erläuterten,
Überleitungen kommentierten, um damit dem Anspruch des Films nach
Wissenschaftlichkeit und Dokumentation gerecht zu werden, Distanz zu
wahren und schließlich den Film nicht den Zensurbehörden anheimfallen
zu lassen.36 Eine Vielzahl von Autoren sah diesen Wandel als Ergebnis
der kulturellen Umbrüche Ende der 1960er bis Anfang der 1970er Jahre.
So
führt
beispielsweise
Seesslen
die
abnehmende
Zahl
der
pornographischen Filme mit dokumentarischem Charakter auf diesen
Wandel zurück in dem ein Trend zum „Bruch mit der Wirklichkeit“
vorherrschte.
35
Corliss, Richard: Caligula (Rezension zur Imperial DVD-Edition), erschienen in: Times
Magazine, 02.Oktober 2007, S.88.
36
Vgl. Stevenson, Jack: And God created Europe – How European Sexual Myth Was
Created and Sold To Post-War American Movie Audiences, erschienen in: Fleshpot –
Cinema’s Sexual Myth Maker’s & Taboo Breakers, London, 2000, S.47.
- 16 -
Ingo Herrmann
„Zu Beginn der siebziger Jahre war das Publikum soweit, nicht
mehr nach der Wirklichkeit der gezeigten Sexualität zu fragen,
alles Interesse an der Authentizität zu verlieren. […] Der Weg
mußte also […] vom dokumentarischen, distanzierenden zum
inszenierten pornographischen Film führen, der auf alles
verzichten
konnte,
was
seinem
eigentlichen
Ziel
entgegenstand: den Zuschauer in einen Zustand sexueller
Erregung zu versetzen, in dem er alles andere vergessen
konnte.“37
Die neuen Filme, die am Ende dieser dokumentarischen Ära stehen,
zeichnen sich, so Seesslen, im Wesentlichen durch drei Aspekte von ihren
Vorgängern aus: (1) Sie erreichen das technische und ästhetische Niveau
eines zeitgleich entstandenen Hollywood-Films, (2) sie besitzen narrative
Handlungsstrukturen und (3) bringen Stars hervor.38
Diese drei Kriterien der neuen Ära erfüllt auch der Caligula-Film, obwohl er
keine professionalisierten Stars hervorbringt, sondern bereits etablierte –
und weithin sogar als seriös zu bezeichnende – Schauspieler in einen
pornographischen Kontext integriert. Allerdings ist die Entwicklung des
Genres verkürzt dargestellt, wenn allein der kulturelle Wandel betrachtet
wird, vielmehr sind verschiedene Aspekte relevant.
Die Periode der frühen 1920er bis in die späten 1950er Jahre wird als Zeit
der klassischen exploitation Filme beschrieben, die sich gegen den Hays
Code (auch Production Code) der großen Hollywood-Studios wanden und
die Zensurbehörden zu umgehen suchten. Der Hays Code war eine bis
1967 gültige Zusammenstellung von Richtlinien zur Produktion von
Spielfilmen, vor allem im Hinblick auf die moralisch akzeptable Darstellung
von Kriminalität und sexuellen Inhalten. Die Motion Picture Producers and
Distributors of America Inc. (MPPDA), der Dachverband der USamerikanischen Filmproduktionsfirmen, übernahm den Kodex 1930 auf
Grund der drohenden Zensurgesetze von Seiten der Regierung und
erklärte ihn ab 1934 für Mitglieder zur Pflicht.39 Diese exploitation Filme
zeigten also gegen den Code verstoßende Szenen aus Nudisten-Camps,
Striptease-Tänzerinnen, Geburten usw. die zudem häufig mit einem
37
Seesslen, Georg: Der pornographische Film, Frankfurt (Main) / Berlin, 1993, S.225f.
Vgl. Ebd., S.226f.
39
Vgl. Doherty, Thomas Patrick: Pre-Code Hollywood – Sex, Immorality and Insurrection
in American Cinema - 1930-1934, New York, 1999, S.6ff.
38
- 17 -
Ingo Herrmann
einleitenden Kommentar versehen waren, der ebenso als Provokation und
– wie oben erwähnt – als Legitimationsversuch für das eigene „Genre“
verstanden wurde. Ab den 1950er Jahren wurde der Einfluss des
Studiosystems in Hollywood schwächer und die ersten exploitationThemen tauchten in regulären Filmen auf, häufig Komödien in denen über
Zweideutigkeiten gelacht wurde, die jedoch frei von sexuell expliziten
Situationen waren.40 Die dargestellte Nacktheit entwickelte sich von
Rückansichten,
über
Frontalansichten
und
schließlich
simulierter
Sexualität zu „sexploitation“-Filmen.41
Bedingt durch die geringen Produktionen in Hollywood und den geringen
Import ausländischer Filme, nahmen kleinere Kinobetreiber Ende der
1950er Jahre häufiger diese sexploitation Filme ins Programm. Zeitgleich
stieg die Anzahl der Kinos in Amerika bis in die 1980er Jahre
kontinuierlich an, wovon die Anzahl der Art Cinemas wie die Art Theater
Guild oder Pussycat profitierten.42 Die Erfolge der sexploitation Filme in
kleineren Kinos vor Augen, ließen die Bedenken der Betreiber größerer
Kinos ansteigen, die letztlich in einer Kampagne des Präsidenten der
Motion Picture Association of America (MPAA) – Jack Valenti – gegen die
Etablierung in großen Kinos mündete. Der Erfolg konnte jedoch auch dort
nicht aufgehalten werden, so dass 1968 – ein Jahr nach Ersetzung des
Hays Code durch ein System der Altersbeschränkung43 – bereits 32 Filme
und 1969 135 Filme bei den Verleihern waren.44
Die Produktionskosten für die sexploitation Filme schwankten von
5.000 USD für kleinere Produktionen, über 15.000 bis 40.000 USD für den
überwiegenden Teil bis zu mehr als 100.000 USD für aufwendige
Farbproduktionen. Als herausragende Persönlichkeit, vor allem den
wirtschaftlichen Erfolg betreffend, sei Russ Meyer erwähnt, der mit Filmen
wie The Immoral Mr.Teas (1959, Produktionskosten 24.000 USD) oder
40
Vgl. Schaefer, Eric: Gauging a Revolution – 16mm Film and the Rise oft he
Pornographic Feature, erschienen in: Williams, Linda [Hrsg.]: Porn Studies, London,
2004, S.372ff.
41
Vgl. Ebd., S.375ff.
42
Eine Entwicklung der Kinolandschaft in den Vereinigten Staaten lässt sich an den
Daten des Cinema-Treasure nachvollziehen (Vgl. http://cinematreasures.org/theater/ (am
28. Februar 2008).
43
Vgl. Doherty, Thomas Patrick (1999): a.a.O., S.24.
44
Vgl. Schaefer (2004): a.a.O.,S.374.
- 18 -
Ingo Herrmann
Vixen (1968, Produktionskosten 76.000 USD) das vierzig- bis achtzigfache
der Produktionskosten einspielte.45 Seit 1970 zerfaserte die sexploitationIndustrie in Billigproduzenten und Qualitätsproduzenten, was sich
ebenfalls in der Kinolandschaft widerspiegelte, mit dem Ergebnis, dass
kleine verruchte Kinos meist billig produziertes Material zeigten und große
Ketten wie Pussycat die Qualitätsproduktionen.46
Weiterhin gibt es seit 1923 den standardisierten 16 mm Film als
Amateurausrüstung, der ab dieser Zeit als Freizeitprodukt vor allem auf
Haushalte der oberen Mittelklasse ausgerichtet war. Mit dieser Ausrüstung
konnte nicht nur selbst gefilmt, sondern konnten auch Filme abgespielt
werden, was früh in ein System des Kleinst-Verleih gipfelte, das unter
anderem art studies bereithielt. Diese handlungslosen drei- bis zehnminütigen Filme sollten Künstlern zu Studienzwecken dienen und zeigten
häufig ein oder zwei Frauen „…lounging around on a set, in an apartment,
or in a landscape.“47
Als in den 1950er Jahren, nicht zuletzt bedingt durch den Krieg, 16 mm
Filme in einem semiprofessionellen Rahmen Verwendung fanden, wurden
diese Filme auch außerhalb des privaten Hauses gezeigt und entwickelten
sich zu expliziteren beaver films, die immer häufiger in Kinos liefen und
den art studies strukturell sehr ähnelten.48
Die Betreiber der Art Cinemas (z.B. Pussycat) wollten ihre Kinosäle nicht
von 35 mm auf 16 mm umrüsten, da sich die 16 mm Filme technisch nicht
in allen Räumlichkeiten optimal nutzen ließen (vor allem in Bezug auf die
Helligkeit) und die vorhandene 35mm Technik die notwendige Auslastung
der Kinos sicherstellte. Daher entstanden ab Mitte der 1960er Jahre
kleinere storefront cinemas, häufig nicht mehr als größere Räume mit
einem Projektor, in denen zunehmend explizitere beavers gezeigt wurden
(z.B. männliche Nacktheit ohne Erektion und Frauen mit gespreizten
Beinen, die sich über den Schambereich reiben). Der Erfolg dieser
45
Vgl. http://movies.nytimes.com/person/102677/Russ-Meyer (am 17.Oktober 2008);
Allerdings ist bis heute der Film mit dem höchsten Kosten/Einspielverhältnis Deep Throat
(1972), dessen 25.000 USD Produktionskosten einem Einspielergebnis von 600 Millionen
USD gegenüberstehen.
46
Vgl. Schaefer (2004): a.a.O.,S.373ff.
47
Ebd., S.375.
48
Vgl. Ebd., S.376.
- 19 -
Ingo Herrmann
ansteigenden Explizitheit und der damit verbundene wirtschaftliche Erfolg
der storefront Kinos führten schließlich zu einer Übernahme in größere
Produktionen, die aufgrund Ihrer narrativen Handlungsstrukturen eher den
rechtlichen Bestimmungen entsprachen, als die Filme der storefront Kinos.
Die narrative Handlungsstruktur eines Filmes war ein wichtiges Indiz für
die literarisch-künstlerische Qualität eines Films und verdrängte, wie oben
erwähnt,
die
vermeintlich
dokumentarisch-wissenschaftlichen
White
Coater Filme. Im Jahr 1964 verkündete der Supreme Court der
Vereinigten Staaten schließlich den Jacobellis-standard der wegbereitend
für die Legalisierung von Pornographie war, da der Supreme Court der
USA damit erstmals einen Standard für Pornographie festlegte:
“A work cannot be proscribed unless it is ‘utterly without
redeeming social importance’, and, hence, material that deals
with sex in a manner that advocates ideas, or that has literary
or scientific or artistic value or any other form of social
importance, may not be held obscene and denied constitutional
protection.”49
Der pornographische Film der 1970er Jahre speist sich demnach aus zwei
Quellen: Einerseits aus den „soften“ sexploitation Filmen wie Russ Meyers
The Immoral Mr.Teas, die sich in ihrer Ästhetik an den überbrachten
Hollywood-Filmen orientierten und einen hohen Bekanntheitsgrad sowie
Popularität genossen. Andererseits aus den immer expliziter werdenden
und schließlich in Hard-Core Features mündenden beavers. Die
zunehmende Akzeptanz der Filme ist allerdings nicht allein, wie Seesslen
ausführt,
auf
den
kulturellen
Wandel
Ende
der
1960er
Jahre
zurückzuführen, sondern ist von verschiedenen Aspekten beeinflusst. Zum
einen von den 16 mm Filmen, die mit semiprofessioneller Technik die
neuen Grenzen des pornographischen Films definierten, sowohl was die
sexuelle Explizitheit als auch die Länge der Filme betraf (von ca.
10 Minuten auf eine Stunde). Zum anderen von der Kinolandschaft, die
durch Entstehung von neuen Ketten, und sehr kleinen storefront Kinos
eine breitere Zuschauerschaft an die Filme heranführte, und schließlich
vom Staat und den Gerichten, die die Produktion und Vorführung von
pornographischen Filmen durch rechtliche Standards beeinflussten.
49
US Supreme Court Cases & Opinions, Volume 378, Jacobellis v. Ohio, 1964, S.184.
- 20 -
Ingo Herrmann
Bedingt durch diese Entwicklung entstand ab Anfang der 1970er Jahre ein
Starsystem. Die große Beliebtheit der Filme lässt die Darsteller aus der
Anonymität heraustreten und zugleich stellen die Qualitätsansprüche an
die neuen Filme höhere Anforderungen an die Darsteller. Diese
professionalisierten sich, waren nur noch selten Gelegenheitsdarsteller
und stets in der Lage zu tun, was der Regisseur von ihnen verlangte. Die
Beschränkung auf ein professionalisiertes Personal erhöhte wiederum
deren
Wiedererkennungswert
und
die
steigende
gesellschaftliche
Akzeptanz des pornographischen Films führte zu Berichten über sie in
Zeitschriften und öffentlichen Auftritten.50 Diese Entwicklung findet mit
Deep Throat (1972) ihren vorläufigen Höhepunkt. In den Folgejahren
erweitert sich das pornographische Spektrum zwar inhaltlich, viel
entscheidender sind dann jedoch die forcierten Vermarktungsaktivitäten
die mit Caligula in einen massiven Verkaufserfolg münden.
Produzent Guccione betrieb neben einer mythenbildenden Pressearbeit,
der Umgehung des unumstößlichen X-Ratings durch die MPAA, dem
Engagement von hochkarätigen Schauspielern und schließlich der
Einbettung in das zu dieser Zeit beliebte Historien-Genre eine auf
Verkaufserfolg zielende Strategie, die den mehr zufällig popularisierten
Film Deep Throat weit hinter sich lassen wollte.51
Diese weiterschreitende Entwicklung ist nicht zuletzt in dem persönlichen
finanziellen
Engagement
Gucciones
begründet,
der
den
Film
vollumfänglich finanzierte. In einem Ausschnitt aus dem PenthouseInterview von 1980 wird zudem ein Punkt der Vermarktungsstrategie
angesprochen – die Pressearbeit.
"Guccione: For one thing, you avoid the constant little
masturbatory rituals of wining and dining them throughout the
production; you keep them away from the set, away from the
actors and the crew; you forbid anyone to talk to them, and you
don't circulate handouts, press releases, or production stills.
Penthouse: You're talking about a complete press blackout.
isn't that dangerous? Weren't you fearful of being ignored
completely?
50
51
Vgl. Seesslen (1993): a.a.O., S.227ff.
Vgl. Interview mit Guccione auf der DVD Caligula – Imperial Edition, 2008.
- 21 -
Ingo Herrmann
Guccione: I didn't think of it in those terms. As an editor and
journalist myself, I knew that such an action would intrigue
them, heighten their curiosity, and provoke them to chase every
little bit of rumor and speculation that a film like Caligula,
produced by a company like Penthouse, would generate. The
tighter we clamped down on security, the more they wrote.
Rumors - in some cases bordering on lunacy - were rampant.
There was talk of bestiality, girls screwing horses and dogs,
nonstop orgies involving hundreds of people, animals being
slain on camera, children being sexually violated while their
parents were present and looking on, et cetera, et cetera."52
Allerdings steht diese Pressearbeit nicht allein als Erfolgsgarant, sondern
ist Teil eines ganzen Sets von Maßnahmen die Guccione geplant hatte.
Neben den mitwirkenden Stars, dem berühmten Drehbuchautor, dem
Oscar-gekröntem Art-Director und der professionellen „hollywoodesken“
Produktion ist es schließlich auch das Genre des pornographischen Films,
das zum Erfolg des Films beigetragen hat.
3.2
Die Entstehungsgeschichte53
Die Entstehungsgeschichte von Vezzolis Bezugsfilm beginnt im Jahr 1972
als Roberto Rossellini das ursprüngliche Treatment54 für den Film
verfasste. Dessen Neffe, Franco Rossellini, nahm sich des Treatments an
und brachte es zu Gore Vidal, einem bis heute angesehenen
Intellektuellen, Schriftsteller, Kritiker und Kenner Amerikas. Dieser schrieb
unter Anderem für das Penthouse-Magazin und war mit dem Gründer und
Herausgeber des Magazins, Bob Guccione, bekannt. Beide hatten bereits
Kontakte zum Film. Guccione finanzierte beispielsweise 1974 Roman
Polanskis "Chinatown" und erklärte sich bereit, auch das gesamte Budget
52
Guccione, Bob: Interview, erschienen in: Penthouse Magazine, Mai 1980, S.116.
Ein sehr guten Überblick über die Filmgeschichte und Rezeption gibt das 2008
erschienene Buch von Hawes, William: Caligula and the Fight for Artistic Freedom – The
Making, Marketing and Impact of the Bob Guccione Film, Jefferson, 2008; daneben sind
vorallem Artikel des TIME Magazine relevant, die die Entstehungsgeschichte regelmäßig
kommentierten, und Interviews der Beteiligten – neben den Schauspielern insbesondere
Guccione und Brass.
54
Im Film die Zwischenstufe zwischen Exposé und Drehbuch in dem Schauplätze und
Charaktere umrissen sind.
53
- 22 -
Ingo Herrmann
für Caligula zur Verfügung zu stellen,55 erbat sich allerdings als Produzent
erhebliche Mitspracherechte bei der Ausgestaltung des Films. Zwei
Bedingungen wurden festgelegt: der Film musste als extravagantes,
prächtiges und luxuriöses Historiendrama daherkommen, wie sie im
Hollywood der 1950er und 1960er Jahren entstanden waren. Weiterhin
verlangte Guccione, dass Sexszenen in den Film geschnitten werden, um
Werbung für seine Magazine zu machen. „Guccione's vision was clear, he
wanted a legitimate film with hard core content […] a Blue movie with
Stars…”,56 also eine Verschmelzung der Ästhetik und Inhalte der
storefront-Produktionen
mit
der
Ästhetik,
den
Inhalten
und
den
Verwertungsmechanismen des Hollywood-Kinos. In einem Interview
macht er seinen Qualitätsanspruch, keinen Standard-Porno-Film zu
drehen, sondern etwas Außergewöhnliches zu schaffen, anhand der
Produktionskosten deutlich:
"The final cost of the film comes in at a little over $17.5 million.
But if you take into consideration interest on money - which, for
accounting purposes, is not only proper but necessary - it will
come in at around $22 million. That's quite a staggering sum to
make an ‘obscene film’. That is why I say that if it was our
intention to make an obscene film we certainly wouldn't have
spent that kind of money. For that kind of money, I could have
made over 200 porno films."57
Vidal verfasste 1975 das Drehbuch und der Mailänder Tinto Brass, der
gerade mit Salon Kitty Aufmerksamkeit erregte, wurde als Regisseur
verpflichtet. Als Darsteller wurden einige der damals besten britischen
Schauspieler engagierte, Malcolm McDowell als Caligula, Peter O'Toole
als Tiberius sowie John Gielgud als Nerva (das Angebot der Rolle des
Tiberius lehnte er mit der Begründung der Brisanz des Films für seine
Karriere ab).58
Nach heftigen Auseinandersetzungen über das Drehbuch im Jahr 1976
verließ Vidal das Filmprojekt. Brass empfand das Drehbuch Vidals als zu
bieder: "It was the work of an aging arteriosclerotic, Vidal redid it five
55
Das Budget des Film belief sich auf 17,5 Millionen USD, die tatsächlichen Kosten Ende
1979 betrugen schließlich 22 Millionen USD.
56
Hawes, William (2008): a.a.O., S.43ff.
57
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.115.
58
Vgl. “Will the Real Caligula Stand Up?”, erschienen in: Time Magazine, 03.Januar
1977, S.69.
- 23 -
Ingo Herrmann
times, but it was still absurd."59 Schließlich schrieb Brass selbst,
zusammen mit Malcolm McDowell das Drehbuch um, worauf Vidal unter
Angebot des Honorarverzichts die Streichung seines Namens forderte.
McDowell rechtfertigte die weitreichendere Sexualisierung des Stoffes mit
dem Verweis auf den vermeintlichen Zeitgeist der römischen Epoche: "To
the Romans, sex was like driving a car."60 Über das Ergebnis schreibt das
TIME Magazine 1977: “Where Vidal was liberal with sex scenes, Brass
has been profligate: there are enough orgies to satisfy even Guccione,
and phalluses in all sizes decorate walls, dinner plates and nearly
everything else — with naked girls taking up the spaces in between.”61
Vidal störten allerdings weniger die drastischeren sexuellen Bezüge des
überarbeiteten Drehbuchs als vielmehr die Verkehrung seiner Intention:
"…they are playing scenes backward, reversing their meanings.“62 Zudem
fühlte er seinen Namen missbraucht: "It's called Gore Vidal's Caligula and
not just Caligula, since that gives me some control…".63 Im Verlauf der
Dreharbeiten wurde Vidal schließlich vom Drehort verwiesen und beteiligte
Schauspieler verweigerten sich gegen Regieanweisungen. Trotz der
letztlich durchgesetzten Streichung von Vidals Namen aus dem Titel des
Films, verwendete Guccione seinen Namen aus Marketing-Gründen
weiter.
"We agreed to drop his name from the title provided he give up
his 10 percent share of the profits. This was over and above the
200-plus thousand we paid him to write the script, and his name
was one of the things we were paying for. We continue to carry
his credit in the main body of opening credits, however,
because he is the author of the original screenplay, whether he
likes it or not."64
Maria Schneider, die den Film verließ und durch Teresa Ann Savoy ersetzt
wurde, nannte den Film ”…a grotesque pornographic movie. For an
enormous amount of money they're asking people to prostitute
themselves. I was ready and willing to act, but not to take my clothes off
59
Ebd.
Ebd. – Nach Veröffentlichung des Films distanziert sich McDowell allerdings von dem
Film und schreibt sein Engagement seinen damaligen Drogen- und Alkoholproblemen zu.
61
Ebd.
62
Ebd.
63
„People“, erschienen in: Time Magazine, 30.August 1976, S.103.
64
Bob Guccione (1980): a.a.O., S.113.
60
- 24 -
Ingo Herrmann
and do whatever they wanted me to."65 Als Art Director wurde der
mehrfach Oscar-prämierte Italiener Danilo Donati engagiert, der sich im
Wesentlichen für die Gestaltung des Sets verantwortlich zeigte. Die
Dreharbeiten fanden schließlich vom 05.August bis 24.Dezember 1976 im
Dear Studio in Rom statt.66
Am
Drehort
herrschte
auf
Anweisung
Gucciones
höchste
Sicherheitsstufe,67 und Hawes zitiert einen Beteiligten:
“Bob wanted complete secrecy and armed guards were posted
around the clock. As well, there was a complete press black-out,
except for a small select few, mostly the European press. Many
North American press members tried out for parts in the movie,
but they were found out in time! The complete press black-out
was a smart gesture of Bob Guccione's part. This kept people
guessing to what was going on. Rumours flew, and some of
them were pretty wild. It was said that girls were screwing dogs
and horses, orgies with hundreds of people, animals killed on
camera, children being sexually molested, etc.”68
Eine Schwierigkeit bei der heutigen Auseinandersetzung mit dem Film
besteht in den unterschiedlichen Schnittfassungen, die zu einem großen
Teil nicht mehr verfügbar sind. Diese Unübersichtlichkeit hat mehrere
Ursachen. Die Streitigkeiten beschränkten sich nicht auf Schauspieler und
Drehbuchautor, sondern weiteten sich nach dem Ende der Dreharbeiten
auf einen Streit zwischen Produzent und Finanzier Guccione und
Regisseur Brass aus. Nachdem Guccione feststellte, dass Brass, statt
Einstellungen mit den von ihm ausgesuchten Darstellerinnen, ganze
Szenen mit "... old women - fat, ugly, and wrinkled old women – [gedreht
hatte] to play the kind of sensual roles [Guccione] had provided the Pets
for…"69 , entschloss sich Guccione, Brass vorläufig vom Schnitt
auszuschließen und selbst nochmals nach Rom zu reisen um eigene
Hardcore-Szenen mit seinen Darstellerinnen aufzunehmen. Als Brass sich
schließlich weigerte diese Szenen in das Bestandsmaterial hinein zu
65
„People“, erschienen in: Time Magazine, 30.August 1976, S.103.
Vgl. Hawes, William (2008): a.a.O., S.63ff.
67
Interview mit Guccione auf der DVD Caligula – Imperial Edition.
68
Hawes, William (2008): a.a.O., S.68ff.
69
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.148.
66
- 25 -
Ingo Herrmann
montieren, wurde er von Guccione entlassen.70 Brass formulierte seine
Perspektive folgendermaßen: "In my own mind, the film should have been
a film on the orgy of power, in their version, it became the power of the
orgy."71 Die Klagen, die in Folge zwischen Produzent und Regisseur,
sowie zwischen Drehbuchautor und Produzent anhängig wurden,
verhinderten nicht die mehrmalige Vorführung einer 210-minütigen
Vorstellung beim Cannes Trade Festival im Jahre 1979, die längste
bekannte Version überhaupt, die schließlich von der Polizei wegen
Obszönität nach sechs Tagen auf der Leinwand unterbunden wurde.72
Derzeit
befinden
sich
mindestens
13
Fassungen
auf
DVD
beziehungsweise VHS im Umlauf, wobei die längste mit einer Laufzeit von
152 Minuten weit von der 210-minütigen Version von Cannes entfernt ist
(Deutschland: 142 Minuten). Die herausgeschnittenen Szenen dürften
größtenteils
klassische
Porno-Szenen
sein,
die
zugunsten
einer
„kinofähigen“ Version nicht mehr verfügbar sind.73
Zurück in den USA legt Guccione den Film aufgrund seiner Erfahrungen in
Europa, nicht der MPAA vor, sondern verleiht ihm selbst ein MA-Rating
(Mature Audience), übernimmt zudem ein Kino, welches er von Grund auf
saniert und zeigt den Film dort für den vergleichsweise teuren
Eintrittspreis von 7,50 USD.
"No, the film won't have any rating at all. We're not submitting it
to the M.P.A.A., because they can only give it an ‘X,’ and an X
rating would be demeaning and unfair to Caligula. The
conventional connotation is still the $100,000 made-in-a-motel
epic, and that, next to Caligula, is like a street rumble next to
the Second World War. The film has all the customary
requirements and caveats for sexually explicit cinematic
material. You'll have to be 18 years or older to be able to see it.
But it does not have an X rating - we've given it our own rating:
an M.A., for mature audiences."74
In den ersten Wochen spielt Caligula 225.105 USD ein, bekommt, nicht
zuletzt durch die koordinierte Pressearbeit Gucciones in Italien, viel
Aufmerksamkeit, wird in der Presse allerdings eher negativ rezensiert und
70
Vgl. Hawes, William (2008): a.a.O. S.72ff. sowie Witcombe, Rick Trader: The New
Italian Cinema - Studies in Dance and Despair, New York, 1982, S.254ff.
71
Corliss, Richard: a.a.O., S.88.
72
Hawes, William (2008): a.a.O., S.87.
73
Vgl. ebd., S.155.
74
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.S.113.
- 26 -
Ingo Herrmann
kommt nach einigen Wochen in Gucciones eigenem Kino in den regulären
Filmverleih, wo er dennoch extrem erfolgreich wird.75
In diesem Zusammenhang scheint die Eigenwahrnehmung Gucciones
interessant, der sich in der Zeit vor der Gründung des Penthouse als
Künstler
betrachtete,
der
sich
mit
der
Macht
der
Kunstkritiker
auseinandersetzte. Diese Deutungsmacht scheint er nach der Gründung
von Penthouse und schließlich auch mit Caligula umgehen zu wollen,
indem er sich nicht mehr von einem fremden Urteil abhängig zu machen
glaubt, weil er einen Kinofilm dreht. Stattdessen setzt er auf seine eigenen
planerischen und unternehmerischen Fähigkeiten und möchte einen
pornographischen Film ähnlich einem Hollywood-Film vermarkten:
„I lived and worked among other artists, and although, by
choice, I never exhibited my work, many of my friends did. I was
acutely aware of the social and economic impact of the art
critics' reviews on their lives and work. And I grew to detest that
fraudulent power. Like theater critics, their importance was
magnified out of all proportion to their knowledge, their skills,
and their sensitivity to art, and yet they could wipe out an entire
career - financially, at least - with a single stroke of the pen. So
what did they really know? They knew more about the practical
history of art than any artist I ever knew and they were
particularly expert in that precious, pseudo-philosophical idiom
by which art critics seem to communicate exclusively with art
critics. But they couldn't paint, and they couldn't draw, and out
of their rage and frustration their venomous credo grew: ''lf you
can't join 'em...fight 'em.''
In most respects, movie critics are similar, but they lack the
power of the other two. The other two have widespread gaps in
public comprehension going for them. They deal in illusions and
metaphors. The more vapid the work, the more voluminous and
incomprehensible the comment. But the movies - no! The
medium is too popular, too accessible, too fundamental in its
appeal, to rely on the tastes of increasingly higher authorities.
Movie critics are insignificant by comparison. I don't know of
one single example of any film that has succeeded or failed as
a result of a critic's opinion.”76
75
76
Hawes, William (2008): a.a.O., S.90ff.
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.S.117.
- 27 -
Ingo Herrmann
3.3
Der historische Caligula und Zusammenfassung der Handlung
Das Leben der historischen Gestalt des römischen Kaisers Gaius Caesar
Augustus Germanicus, genannt Caligula, lässt sich in drei Zahlen kurz
darstellen: Zwei Jahre nach seiner Geburt 12 n.Chr. stirbt sein
Urgroßvater Augustus und gibt die Herrschaft an Tiberius ab. Augustus
hatte die Alleinherrschaft in der römischen Republik erobert und hinterließ
seinem Ur-Enkel – nach der Herrschaft des Tiberius – 37 n.Chr. ein
neuartiges Regierungssystem, welches republikanische Traditionen mit
einem neuartigen Prinzipaten-System verband. Daraus resultierend
ergaben sich permanente Spannungen zwischen dem Senatsadel – der
bis dahin das römische Reich regierte – und dem Kaiser.
Augustus wird nach derzeitigem Forschungsstand als geschickter
Herrscher beschrieben, der diese Spannungen auszugleichen wusste.
Tiberius, sein direkter Nachfolger, verwendete diese Spannungen, indem
er sich das Machtstreben einzelner Senatoren – deren Stellung nicht
zuletzt vom Kaiser abhing – zu Nütze machte und deren gegenseitige
Denunziationen
als
Grund
zur
Hinrichtung
einiger
(denunzierter)
Senatoren und Mitglieder der Kaiserfamilie nutzte.
Caligula profilierte sich in seiner kurzen Herrschaft durch den Bau eines
neuen Hafens und neuer Aquädukte in Rom sowie durch die Sicherung
der Reichsgrenzen und die Planung des Germanenfeldzugs. Weniger
geschickt erwies er sich allerdings im Umgang mit den Senatoren,
beachtete das bis dahin etablierte Zeremoniell nicht, bis schließlich die
Spannungen in einen latenten Konflikt mündeten, der zwei Jahre nach
Amtsantritt eskalierte. Eine aufgedeckte Verschwörung führte zu einer
Rede Caligulas vor dem Senat, in der er den Senatoren heimtückisches
Verhalten vorwarf und Gerichtsakten zitierte, die ihre Denunziationen
unter Tiberius öffentlich machten. Damit machte er die Spannungen
zwischen zwei Institutionen öffentlich sichtbar, stellte die Senatoren bloß
und
proklamierte
ein
offenes
Kaisertum
(anstatt
der
bis
dahin
bestehenden Verbindung). Er entmachtete den Senat und die alten
Adelsfamilien und schuf ein neues Zeremoniell bis er schließlich Opfer
- 28 -
Ingo Herrmann
einer Verschwörung der Prätorianergarde wurde, deren Vorsteher Caligula
41 n.Chr. ermordete.77
Diese Interpretation des Lebens Caligulas geht wesentlich auf eine
Biografie Winterlings zurück, der Caligula als herrschaftsbewussten Kaiser
beschreibt und damit die Charakterisierung als wahnsinnigen Herrscher
relativiert. Vielmehr ist die „wahnsinnige“ Interpretation als historische
Verzerrung der verprellten Senatoren zu betrachten. Diese frühere
Interpretation ging immer wieder auf die sexuellen Ausschweifungen, die
sexuelle Beziehung Caligulas zu seiner Schwester, das dekadente
Hofleben, die sexuellen Exzesse und schlussendlich auf die Ernennung
eines Pferdes zum Konsul ein.78
Die
Verarbeitung
des
Caligula-Stoffes
diente
sich
somit
in
der
Vergangenheit als Möglichkeit an, eine bestimmte Art von Herrschaft als
entartet,
dunkel
und
wahnsinnig
zu
charakterisieren.
Das
am
umfänglichsten dokumentierte Beispiel ist eine Essay-Studie Ludwig
Quiddes über Caligula, in der er den deutschen Kaiser Wilhelm II. kritisiert
ohne Wilhelm II. auch nur zu erwähnen, worauf Quidde von der Berliner
Staatsanwaltschaft wegen Majestätsbeleidigung angeklagt wurde und alle
seine offiziellen Ämter verlor.79 Diesen Mythos des verrückten Kaisers
greifen auch Vidal, Brass und Guccione auf.
Die Handlung des Films ist im Rom des Jahres 37 n.Chr. angesiedelt. Der
syphiliskranke Kaiser Tiberius sucht einen geeigneten Thronfolger, da
seine verbliebenen nahen Verwandten ungeeignet erscheinen. In dem
Film holt er Gaius (Caligula) zu sich, der eine Chance sieht und diese
ergreift, indem er Tiberius umbringt und den Siegelring des Cäsaren und
damit die Herrschaft an sich reißt. Caligula erklärt seine Schwester
Drusilla zu seiner Geliebten, und gerät im Verlauf des Films in eine immer
größer werdende Abhängigkeit zu ihr. Das Leben in Rom ist fortan durch
77
Vgl. Winterling, Aloys: Caligula – Eine Biographie, München, 2003, S.51-174 sowie
Winterling, Aloys: Caligula, erschienen in: Müller-Wirth, Moritz; Willmann, Urs (Hrsg.):
Das zweite Gesicht, Reinbeck, 2005, S.37-46.
78
Vgl. Kissel, Theodor: Kaiser zwischen Genie und Wahn – Caligula, Nero und Elagabal,
Düsseldorf, 2006, S.11-19.
79
Quidde, Ludwig: Caligula – Eine Studie über römischen Cäsarenwahnsinn, Leipzig,
1894.
- 29 -
Ingo Herrmann
Dekadenz, Ausschweifungen und moralischen Niedergang geprägt, immer
mehr bisher geltende Regeln werden übergangen und ignoriert.
Beispielsweise fordert Caligula von einem Paar, bei deren Hochzeit er
beiwohnt, noch während der Feierlichkeiten in einem Separée sexuelle
Unterwerfung – die ihm gewährt wird – um schließlich den Bräutigam zu
ermorden; unliebsame Senatoren lässt er verbannen oder ermorden,
deren Ehefrauen werden zur Prostitution gezwungen. Höhepunkt des
Films und auch der Barbarei ist eine riesige Sensenmaschine mit der im
Boden einer Arena eingegrabene Verräter geköpft werden. Widerstand
gegen Caligula formiert sich erst, als er sich zum Gott ernennt, und
daraufhin von seiner Leibgarde ermordet wird. Nachfolger wird sein Onkel
Claudius.
Im Verlauf der Dreharbeiten scheint sich jedoch der Fokus des
Produzenten und Regisseurs gewandelt zu haben, wenn McDowell in
einem Interview sagt: „In my own mind, the film should have been a film
on the orgy of power, in their version it became the power of orgy.“80 Auch
wenn der Fokus des Films damit vom Aspekt der Macht verstärkt auf die
sexuellen Ausschweifungen gerichtet wird, verbleibt er doch im Rahmen
der überbrachten Caligula-Rezeption (nicht zuletzt deutlich gemacht durch
die Einstellung Caligulas mit einem Pferd im Bett), in die sich schließlich
auch Vezzolis Trailer ordnen lässt.
4
Beschreibung und Analyse des Trailers
Im Folgenden soll der Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula von
Francesco Vezzoli beschrieben werden. Allerdings soll keine klassische
filmwissenschaftliche oder medienwissenschaftliche Beschreibung des
Films
erfolgen,
da
ein
Großteil
der
dort
betrachteten
Aspekte
(überwiegend technische Details, Schnitte, Montagen) für die vorliegende
Arbeit nicht relevant ist. Vielmehr soll der folgende Abschnitt einen
Gesamteindruck vermitteln, also einem Betrachter, der das Werk nicht vor
80
Corliss, Richard (2007): a.a.O., S.88.
- 30 -
Ingo Herrmann
Augen hat, ein Bild (beziehungsweise einen Film) vermitteln und für die
weitere Analyse bedeutsame Einstellungen, Sequenzen, Schnitte und
andere Besonderheiten hervorheben.81
Die Analyseaspekte, die Hediger für Trailer vorschlägt – einen
morphologischen und einen wirkungsästhetischen – sind für die
vorliegende
Arbeit
schwierig
zu
handhaben,
da
sie
einer
filmwissenschaftlich-technischen Analyse den Vorzug geben und für die
kunsthistorische Untersuchung dagegen eher hinderlich erscheinen.
Dennoch sollen seine Aspekte – wenn auch in abgewandelter Form –
Verwendung
finden,
wobei
chronologisch
die
Analyse
mit
der
Beschreibung verknüpft wird. Der morphologische Aspekt des Trailers soll
dabei zeigen, was der Trailer mit dem Film tut, um seine Wirkung zu
erzielen, also welche formalen und rhetorischen Muster er verwendet. Der
wirkungsästhetische Aspekt befasst sich dagegen mit der Frage, was der
Trailer mit dem Publikum tut, also inwiefern die Form des Trailers
besonders geeignet ist, das Bedürfnis nach dem Filmsehen zu wecken.
Für den morphologischen Aspekt ergibt sich die Schwierigkeit, dass der
Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula keine direkte filmische
Grundlage hat, folglich nicht untersucht werden kann. Dennoch sollen, die
formalen Aspekte des Trailers erfasst werden, wohingegen für die
strukturellen Aspekte (Struktur-Plot-Kriterien) der 1979 entstandene
Bezugsfilm von Tinto Brass (vgl. Kapitel 3) und die dazu veröffentlichten
Trailer als Grundlage der Analyse herangezogen werden. Quelle dafür ist
die 142-minütige englischsprachige Schnittversion; als Trailer werden vier
auf youtube.com verfügbare Versionen von unterschiedlicher Länge
einbezogen, die im englischsprachigen Raum Verwendung fanden.82
Der wirkungsästhetische Aspekt basiert auf der Annahme, dass zwischen
psychischer Wirkung und Formgestalt ein Zusammenhang besteht, der
81
Vgl. zum Beispiel Fischer, Ralf Michael: Filmanalyse, erschienen in: Kunsthistorische
Arbeitsblätter, 10/2003, S.27ff. oder Gibbs, John: Mise-en-scène - film style and
interpretation, London, 2002, S.8ff.
82
(1)
Caligula
(1979)
Roadshow
Trailer
(Version
1),
http://de.youtube.com/watch?v=kdAEQF-cJWA, Länge: 0:26 min, (2) Caligula (1979) Trailer (Version 2) http://de.youtube.com/watch?v=pH00lr8fuII, Länge: 1:07 min, (3)
Caligula (1979) - Trailer (Version 3), http://de.youtube.com/watch?v=NFfiAZ7YSc4,
Länge:
1:00
min,
(4)
Caligula
(1979)
Trailer
(Version
4),
http://de.youtube.com/watch?v=_JoPwCZDEKQ, Länge: 1:50 (alle am 03.Juli 2008).
- 31 -
Ingo Herrmann
analysierbar
ist.
Dazu
ist
ein
häufig
bestätigter
Eindruck
vorwegzuschicken: Der Film wird als mitreißend, in den Bann ziehend,
fesselnd, packend und ergreifend beschrieben. Dieses packende Element
herauszuarbeiten braucht allerdings nicht Zweck dieser Analyse sein,
sondern müsste – wie erwähnt – in einer filmwissenschaftlichen
Untersuchung erörtert werden. Vielmehr ist der Film, wie weiter unten
beschrieben, von Werbeprofis gedreht und per se auf eine emotionale
Wirkung aus, die aber keine spezifisch künstlerische Qualität Vezzolis ist,
sondern dem Kontext der Entstehung und den beteiligten Experten
zuzurechnen ist. Stattdessen sollen allgemeine Begriffe wie eben
„packendes Element“ oder „dekadente Atmosphäre“ herangezogen
werden, die – trotz ihres Mangels an Präzision – für die nachfolgende
Beschreibung ausreichend erscheinen. Im Zweifelsfall ist dem Text ein
Film-Still beigefügt oder werden wichtige Sachverhalte näher erläutert.
Vor
der
Beschreibung
soll
jedoch
noch
kurz
auf
die
Entstehungsgeschichte des Trailers eingegangen und die Rolle des
Trailers als Kategorie des Films erläutert werden, da der Trailer – wie
Videoclips, Fernsehwerbung, Musikvideos usw. – ganz bestimmte
Eigenschaften aufweist, die ihn als Trailer kennzeichnen und Erwähnung
finden sollten.
4.1
Zur Entstehungsgeschichte des Trailers
Der Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula wurde nicht von Vezzoli
selbst gedreht, sondern von einem auf die Produktion von Kurzfilmen
spezialisierten Unternehmen namens Crossroads Films Inc., welches
neben Vezzolis Caligula Trailer auch Democrazy! für ihn produzierte. In
einer
Selbstcharakterisierung
beschreibt
sich
das
Unternehmen
folgendermaßen:
„A multimedia and content creation firm, Crossroads offers a
clear vision, innovative leadership, and unparalleled reach into
the entertainment talent pool. With headquarters in New York,
Los Angeles, Chicago, London, and an affiliate office in Toronto,
Crossroads has six divisions: Film, Television, Commercials,
Music Videos, New Media, and Creative Services. All offer
- 32 -
Ingo Herrmann
exclusive talent featuring some of the world’s top directors,
show creators, writers, and producers.
Founded in 1989, Crossroads has been a consistent leader in
the development and production of feature films and television
programming, as well as producing award-winning commercial
and music video content for top-tier brands, agencies and
performing artists.”83
Der ausführende Produzent für Crossroads war Joseph Uliano, einer der
renommiertesten Produzenten für Werbefilme, Musik-Videos, Kurzfilme
und Videokunst (Uliano hat neben Vezzoli noch einen Film für Baz
Luhrmann produziert). Auch als Art Director war nicht Vezzoli selbst aktiv,
sondern wurde mit Matthias Vriens einer der hochkarätigsten WerbeFotografen der Welt engagiert, der nicht nur für die New York Times und
viele internationale Magazine fotografiert, sondern zudem Art Director bei
Jil Sander ist. Weiterhin seien Donatella Versace, für das Kostümdesign,
und Paul Laufer, verantwortlich für die Kameraarbeit, erwähnt – beide
ausgewiesene Experten in ihrem Metier.
In den wichtigen Rollen treten in Vezzolis Trailer ausschließlich sehr
bekannte Schauspieler beziehungsweise Stars auf, zudem konnte er zwei
der Darsteller aus dem Guccione Film von 1979 gewinnen, Helen Mirren
und Adriana Asti.
Als Drehort wurde – abweichend vom Originalfilm – nicht Italien gewählt,
sondern eine neo-römische Villa auf dem Sunset-Boulevard in Los
Angeles. Die Produktionskosten betrugen 120.000 USD.84
Auch wenn diese Auflistung von Namen der beteiligten Personen vor und
hinter der Kamera in einer kunsthistorischen Arbeit eher obskur anmuten
mag, sind sie jedoch bereits integraler Bestandteil des Werkes und neben
dem entstandenen Film essentiell für die Bedeutung des Werkes.
83
84
http://www.crossroads.com (besucht am 21.November 2008).
Vgl. Yablonsky, Linda (2006): a.a.O., S.27.
- 33 -
Ingo Herrmann
FILM 1979
TRAILER VEZZOLI
-
Name
-
Name
Rolle
Rolle
Adriana Asti
Justine Bateman
w - Ennia
w - Attia
w
Malcolm McDowell
m - Caligula
m
w
Teresa Ann Savoy
w - Drusilla
w
Karen Black
w - Agrippina
w
Guido Mannari
m - Macro
m
Barbara Bouchet
w - Caesonia
w
John Gielgud
m - Nerva
m
Gerard Butler
m - Chaerea
m
Peter O'Toole
m - Tiberius
m
Benicio Del Toro
m - Macro
m
Giancarlo Badessi
m - Claudius
m
Milla Jovovich
w
w
w
w
Druscilla
Caligula
Tiberia
Priestes
Greek
m - Slave
w - Messalina
w
m
m
Bruno Brive
Adriana Asti
Leopoldo Trieste
m - Gemellus m
w
w - Ennia
m - Charicles m
w
Paolo Bonacelli
m - Chaerea
m
m
w
Francesco Vezzoli
m - Claudius
w - T. Tilberg
m - Caligula
m
w
m
John Steiner
Mirella D'Angelo
Helen Mirren
Rick Parets
Paula Mitchell
m
w
w
m
w
m
w
Gore Vidal
m - Gore Vidal
m
Legende:
m = männlich
Courtney Love
Helen Mirren
Mia Moretti
Michael Okarma
Michelle Phillips
Glenn Shadix
Tasha Tilberg
-
-
Longinus m
Livia
w
Caesonia w
Mnester
Subura
w = weiblich
Tabelle 1: Übersicht der wichtigsten Darsteller (w – weiblich / m – männlich)
4.2
Der Trailer als Kategorie des Films
Trailer bedeutet in etwa „Anhängsel“ und meinte ursprünglich einen
schwarzen Filmstreifen, der zur Schonung am Ende der Filmrolle
angeklebt wurde. Ungefähr ab 1912 wird mit dem Begriff auch ein
Abspann mit einer Werbebotschaft assoziiert. Erstmals werden Trailer in
diesem Sinn in Fortsetzungsfilmen verwendet, wo sie jeweils am Ende
einer Episode auf die nachfolgende verweisen. Vorfilme, die aus
Filmausschnitten bestehen, tauchten erstmals 1916 auf, kurz nachdem
sich der Langspielfilm als Standardformat etabliert hatte, setzten sich
jedoch erst 1919 durch, als sie in den USA regelmäßig Verwendung
fanden.
Der Kinotrailer ist seit dieser Zeit ein Schlüsselelement der Filmwerbung.
Er sorgt für ein Viertel bis zu einem Drittel des Umsatzes, beansprucht
jedoch nur ein bis vier Prozent der Gesamtkosten. Kein anderes
- 34 -
Ingo Herrmann
Werbemittel erreicht damit mehr potentielle Zuschauer zu einem
günstigeren Preis als der Kinotrailer.85
Wie bereits erwähnt, sind Trailer Filmwerbung und werden gelegentlich als
Werbung für narrativ strukturierte Wissensfelder charakterisiert, die über
die Preisgabe von Informationen und den gleichzeitigen Mangel der
Informationspreisgabe ein Bedürfnis wecken, das Produkt ‚Film’ zu
konsumieren. Dazu wird das Filmmaterial für den Trailer in einen anderen
Kontext versetzt, erhält eine andere Bedeutung und die entsprechende
Wiederholung einer Sequenz im eigentlichen Film geht mit einer
Veränderung des Sinngehalts einher. Unwichtige Nebenfiguren werden zu
Bösewichten stilisiert, Sätze aus klärenden Gesprächen bekommen den
Charakter
von
Mordbefehlen,
eine
unbedeutende
Geste
einen
pathetischen Charakter etc. Damit unterscheiden sich Trailer von z.B.
Probepackungen dahingehend, dass sie nicht die Möglichkeit offerieren,
ein „Mehr“ desselben Produkts in gleicher Qualität zu erwerben.
Stattdessen stehen Trailer für sich selbst, obwohl sie natürlich dem Film
verpflichtet bleiben.86 Da sich Trailer in aller Regel an ein Publikum
richten, welches den Film noch nicht gesehen hat, und demnach der
Versuch unternommen wird, eine adäquate Vorstellung des Films zu
vermitteln, ist es durchaus gerechtfertigt den Trailer zu untersuchen, ohne
den jeweiligen Film zu betrachten. Die Möglichkeit der Betrachtung des
Trailers als eigenständiges Analyseobjekt macht ihn zu einer Kategorie
des Films.
Der Kinotrailer entsteht unabhängig von der Produktion des Films und
steht nicht im Zusammenhang mit dem Werbewert des Filmmaterials,
welches der Regisseur liefert. Vielmehr werden unabhängige TrailerProduzenten herangezogen, die erstens ein unbefangenes Verhältnis zum
Film haben und zweitens wissen, wie ein Trailer auszusehen hat und
folglich nicht gänzlich auf Material des Films verzichten können, häufig
aber zusätzliche Szenen drehen, die nicht für den Film, sondern
85
Vgl. Hediger, Vinzenz: Verführung zum Film – Der amerikanischer Kinotrailer seit 1912,
Züricher Filmstudien, Band 5, Zürich, 2001, S.13. In den letzten Jahren dürfte sich diese
Zahl zugunsten von Internet-Marketing verschoben haben.
86
Vgl. Ebd., S.24.
- 35 -
Ingo Herrmann
ausschließlich für den Trailer bestimmt sind. Die Trailererstellung wird
demnach als regel- und konzeptgeleiteter Prozess charakterisiert, der in
uniforme Strukturen mündet, die sich allerdings im Verlauf der letzten 100
Jahre gewandelt haben. Diese Annahme der Schablonenhaftigkeit der
Trailerproduktion, die einem bestimmten Muster folgt, um den Film – je
nach verwendeter Schablone – für einen bestimmten Typ von Rezipient
als sehenswert oder nicht sehenswert erscheinen zu lassen, soll, vor
allem mit Verweis auf die Ergebnisse von Staiger (1990), im Folgenden
vorausgesetzt werden.87
Einer der ersten Wissenschaftler der sich bereits Anfang der 1950er Jahre
mit Werbung als Kunst auseinander setzte war Marshall McLuhan. Er war
der Ansicht, Werbung und Kunst hätten dieselbe Absicht, nämlich einen
Effekt beim Publikum zu evozieren, den er auf den Einsatz identischer
Techniken zurückführte. McLuhan war zu dieser Zeit noch kein
„Medienguru“, sondern Literaturwissenschaftler und spricht daher im
Wesentlichen von literarischen Techniken, wie dem Aufbau und der
Struktur von Erzählungen, antiker Rhetorik und Dramentheorie.88
In Spielfilmen ist schließlich regelmäßig die Drei- oder Fünf-Akt-Struktur
anzutreffen, die auf der antiken Rhetorik basiert. Beginnend mit der (1)
Einleitung
(exordium/prooemium),
in
der
versucht
wird,
die
Aufmerksamkeit der Zuschauer zu erlangen, (2) der Erzählung (narratio),
die eine Schilderung des Umstandes ist, (3) der Gliederung (propositio),
(4) der Beweisführung (argumentatio), in der für die Glaubwürdigkeit der
eigenen Sache argumentiert wird und schließlich (5) dem Redeschluss
(peroratio/conclusio), der die Fünf-Akt-Struktur schließt.89
Diese Fünf-Akt-Struktur wird in ähnlicher Form auch im Trailer
angewandt,90 wobei Hediger präzisere Begriffe für den Trailer entwickelt
und verwendet hat, als es andere Autoren getan haben. So spricht er von
87
Vgl. Staiger, Janet: Announcing Wares, Winning Patrons, Voicing Ideals – Thinking
about the History and Theory of Film Advertising, erschienen in: Cinema Journal,
Vol.29/3, 1990, S.17ff.
88
McLuhan, Marshall: Die mechanische Braut - Volkskultur des industriellen Menschen,
Amsterdam, 1996 [engl. 1951], S.95ff.
89
Field, Syd (2000). Das Drehbuch, erschienen in: Meyer, Andreas; Witte, Gunther;
Henke, Gebhard (Hrsg.): Drehbuchschreiben für Fernsehen und Film – Ein Handbuch für
die Praxis, München, 2000, S. 53.
90
Cowgill, Linda J.: Wie man Kurzfilme schreibt, Frankfurt (Main), 2001, S.75ff.
- 36 -
Ingo Herrmann
einer Vierteilung des Trailers: (1) Im Intro wird das Thema des Films
eingeführt, das hauptsächliche Verkaufsargument genannt und eine Frage
aufgeworfen. (2) Im Titel wird zumeist der Filmtitel erstmals genannt, und
häufig die zuvor im Intro aufgeworfene Frage beantwortet. (3) In der
Durchführung, die als Hauptteil das Thema des Intros ausarbeitet, findet
eine Reihe von Szenen und eine Passage aus zusammenfassenden Titeln
Verwendung, wobei regelmäßig eine Cast-Liste91 benannt wird. (4) Im
Endtitel wird abschließend noch einmal der Titel des Films erwähnt.92
Gelegentlich wird vom Trailer noch der Teaser unterschieden, der sich
dahingehend
vom
Trailer
unterscheidet,
dass
kein
Filmmaterial
Verwendung findet, sondern ausschließlich aus exklusiv gedrehtem
Material eine Montage entsteht. Obwohl Vezzolis Trailer somit eher als
Teaser zu charakterisieren wäre, da alles Filmmaterial ausschließlich für
den „Trailer“ produziert wurde, soll diese Unterscheidung im vorliegenden
Fall nicht weiter verfolgt werden. Beide, Trailer wie Teaser, verfolgen ein
identisches Ziel. Ein Unterschied besteht lediglich in der zeitlichen Abfolge
ihres Erscheinens im Kino, wobei der Teaser als erster Kontaktpunkt zum
Zuschauer Interesse wecken soll, der Trailer dagegen zu einem späteren
Zeitpunkt als Werbung für das Produkt daherkommt.93
Eine letzte Besonderheit des betrachteten Trailers ist die Präsentation als
Fake-Trailer, also ein Trailer zu einem nicht existierenden Film. Ähnliche
Fake-Trailer werden seit wenigen Jahren in Umlauf gebracht und wurden
spätestens 2007 auch kommerziell verwertet. Beispielsweise kündigten
neben einer Reihe echter Trailer vier Fake-Trailer im Sommer 2007 den
neuen Film von Quentin Tarantino und Robert Rodriguez Grindhouse
(bestehend aus: Planet Terror und Death Proof) an.94 Alle Fake-Trailer
wurden ausschließlich im Internet veröffentlicht und wurden in diversen
Filmforen ausgiebig diskutiert, bis sich nach einigen Wochen die
Autorenschaft Tarantinos und Rodriguez’ bestätigte. Dennoch – oder
91
Eine Auflistung beteiligter Personen am Ende des Films beziehungsweise eine
Aufzählung der Schauspieler im Trailer.
92
Vgl. Hediger, Vinzenz (2001): a.a.O., S.41f.
93
Vgl. Sturm, Robert; Zirbik, Jürgen: Lexikon elektronischer Medien. Radio – Fernsehen
– Internet, Konstanz, 2001, S.205.
94
Vgl. http://de.youtube.com/watch?v=sPmL_W96l80 (am 10.Oktober 2008).
- 37 -
Ingo Herrmann
besser: deswegen – entfaltete sich die erwünschte Werbewirkung, da
diese Werbeform unter dem Begriff des „viralen Marketing“ zu verorten ist.
4.3
Analyse und Beschreibung des Trailers
Der Trailer for a Remake of Gore Vidal’s Caligula ist mit einer Spieldauer
von 5:00 Minuten95 mehr als doppelt so lang wie aktuelle Kinotrailer, deren
Spieldauer sich auf 1:00 bis 2:30 Minuten beläuft. Die maximale Länge für
einen Trailer ergibt sich aus dem Advertising Handbook der MPAA 2006 in
dem es heißt: „The length of the trailer must not exceed two minutes, thirty
seconds.“96 An diese Empfehlung halten sich die meisten Produzenten,
auch unabhängige, da anderenfalls ein Verleih der „Vorschau“ nicht
stattfindet und damit eine Bewerbung des Films unterbleibt.
Den Beginn des Trailers bildet eine grüne Leinwand auf der eine
Texteinblendung zu lesen ist (vgl. Abbildung 2): „The following preview
has been approved for all audiences by the Motion Picture Association of
America.“97
Diese
verbindliche
Selbstverpflichtungserklärung
der
Einblendung
Mitglieder
der
geht
Motion
auf
die
Picture
Association of America zurück, die 1968 als Nachfolgeregelung für den
Hays Code unter Jack Valenti eingeführt wurde und ein System der
altersmäßigen Selbstbeschränkung darstellt.
“Trailers are approved only for ‘All Audiences’ or for ‘Restricted
Audiences’ […]. Trailers […] must be suitable for all audiences,
regardless of the content of the […] motion picture. Use of the
official MPAA trailer tags is required on all trailers. In order to
facilitate the trailer-approval process, rough cuts may be
submitted before a composite. While trailers may be submitted
in various formats, final approval is always withheld until the
trailer is submitted in its final form, on 35mm film or such other
format as is acceptable to the Advertising Administration.”98
95
Die Angaben über die Länge des Films variieren. Während die New York Times von
5:30 Minuten Spiellänge berichtet, beträgt die Spieldauer des Trailers im Museum Ludwig
in Köln lediglich 5:00 Minuten. Die Schnittfassungen unterscheiden sich dahingehende,
dass in der längeren Fassung der abschließende Kommentar Caligulas (Courtney Love)
ausführlicher ausfällt und die Cast-List in einer abgewandelten Reihenfolge erscheint.
Beide Versionen liegen dem Verfasser vor.
96
Vgl. MPAA-Advertising Handbook 2006, Encio, 2006, S.20.
97
Vgl. MPAA-Advertising Handbook (2006): a.a.O., S.29.
98
Ebd., S.22
- 38 -
Ingo Herrmann
Abbildung 2: Trailer Tag Caligula (Vezzoli-Trailer)
Abbildung 3: Trailer Tag 'Restricted Audiences'
Dabei sind „Scenes with sexual activity, ménage à trois, group sex or
nudity of any kind; Sexual references involving minors [unacceptable for
use in an ‘All Audience’ trailer]…”.99 Zudem müssen Restricted Audience
Trailer "...eliminate all scenes containing strong sex or excessive violence
[...] genitalia/pubic hair; use of sexually connotative words; sexual
intercourse, fondling or masturbation...".100
99
Ebd., S.23.
Ebd., S.24.
100
- 39 -
Ingo Herrmann
Die Erwähnung dieses Trailer-Tags erscheint deswegen von Bedeutung,
weil das Caligula Remake ein All Audiences Tag zeigt, obwohl der Trailer
durchaus anstößige Szenen beinhaltet. Eine Anfrage bei der MPAA ergab
dabei die unrechtmäßige Verwendung des Trailer-Tags in Vezzolis Film,
die wohl bewusst von Vezzoli als Anspielung auf den Verzicht Gucciones
bewertet werden kann, seinen Caligula-Film der MPAA vorzulegen und
stattdessen einem Eigen-Rating zu unterwerfen (Mature Audiences).
Die erste Einstellung des Trailers beginnt schließlich mit einer Blende und
dem endorsement101 Gore Vidals. Der Verfasser des ursprünglichen
Drehbuchs aus dem Jahr 1975 erscheint in der Bildmitte auf einem Stuhl
sitzend in einer Art Säulengang und wird durch Namenseinblendung als
Gore Vidal ausgewiesen. Der rechte Bildvordergrund ist bestimmt durch
eine Harfe, deren Resonanzkasten aus dem off screen space in die zweite
Bildebene strebt, in der Gore Vidal einige einleitende Worte spricht: „What
is the point of telling the story of someone who is – somewhat – insane
and a very dark point in human history? I think the answer to that is: Every
point in human history is – dark.”102 Links hinter Vidal steht eine Büste auf
ionischem Sockel vor einer Balustrade, die den Blick in einen Garten
eröffnet. Die Einstellung ist geprägt von der horizontalen Nahsicht Vidals
ohne Kamerabewegung.
101
Auftritt eines Stars mit direkter Ansprache an das Publikum.
Alle Folgenden Zitate der Darsteller sind dem Trailer entnommen, sofern sie nicht
gesondert gekennzeichnet sind. Die Interpunktion der Zitate stammt vom Verfasser und
kann Stellenweise fehlerhaft sein, da verschiedene Sprechweisen (beziehungsweise
Hörweisen) eine abweichende Interpunktion zuließen.
102
- 40 -
Ingo Herrmann
Abbildung 4: Endorsement 'Gore Vidal'
Mit der leise einsetzenden Musik wird auf eine Studio-Label-SignetAnimation übergeblendet, die sich häufig zu Beginn eines Trailers
befindet.
Es
zeigt
eine
Weltkugel
mit
Strahlenaura
vor
einem
sternenbesetzten schwarzen Hintergrund in der eine Nadel steckt. Die
Einstichstelle befindet sich auf dem amerikanischen Kontinent ungefähr in
der Region New Yorks und ist von tiefroter Farbe umgeben. Über diese
Weltkugel spannt sich der Schriftzug „Needlework Pictures“. Das Signet
erinnert durch (1) die Verwendung der Weltkugel mit Strahlenaura vor
schwarzem
Hintergrund
und
(2)
die
UNIVERSAL Studio-Label.
- 41 -
Typographie
stark
an
das
Ingo Herrmann
Abbildung 5: Needlework Pictures Studio Label
Abbildung 6: Universal Pictures Studio Label
Die nächste Sequenz besteht aus mehreren Einstellungen, die rhytmisiert
mittels kurzer, kräftiger Trommelschläge, durch Schwarzblenden montiert
sind und nur durch Texteinblendungen unterbrochen werden. Die ersten
Einstellungen zeigen Teile der Architektur und einige Soldaten am
Swimming-Pool und werden durch einen einführenden Text auf dunklem,
wolkendurchsetztem
Hintergrund,
der
von
einer
nicht
bekannten
männlichen Erzählerstimme verlesen wird, unterbrochen: „Throughout the
course of human history, there have been only three truely great
stories…“. Der Erzähler weiter: „The first was the immaculate birth of
christ…“, worauf Einstellungen einer Sex-Orgie folgen, „…the second was
- 42 -
Ingo Herrmann
the untimely death of christ…“, gefolgt von weiteren Einstellungen der
Orgie; „…and the third and greatest by far…”, worauf eine Einstellung den
Unterleib einer Person mit umgeschnalltem goldenen Dildo zeigt
„…belonged to this man.“
Abbildung 7: Vezzoli als 'Caligula'
Ein rasanter Kameraschwenk, der das Bild mittels Wischblende bis zur
Unkenntlichkeit verwischt, führt zu den nächsten beiden Einstellungen, in
der sich Caligula (hier Francesco Vezzoli selbst), flankiert von zwei
nackten, sich küssenden Männerpaaren, geschafft auf dem Boden räkelt.
Die Zweite, vom rechten Leinwandrand in die Erste einfließend, eine
Großaufnahme von Druscilla (Milla Jovovich), die lasziv Caligulas Namen
nennt und damit die Geschichte Caligulas (beziehungsweise Vezzolis) zur
größten der „three truely great stories“ zu erklären scheint.
Damit ergibt sich bis zu diesem Punkt eine Übereinstimmung mit der zu
erwartenden Struktur: Das Thema des vermeintlichen Films ist durch Gore
Vidal eingeführt (der „dark point“ in der Geschichte der Menschheit), eine
Eingangsfrage wurde aufgeworfen (Welcher Mann ist die „great story“ und
der „dark point“?) und beantwortet (Caligula!). Allerdings sind Intro und
Titel im vorliegenden Fall durch eine implizite Frage-Antwort-Beziehung
- 43 -
Ingo Herrmann
zusammengezogen und könnten als Exposition bezeichnet werden, was
auch von Hediger als Variante angesehen wird.103
Es folgt der dritte und längste Teil, die Durchführung. Beginnend mit einer
Sequenz aus 20 Einstellungen, die erneut durch Musik rhythmisiert sind,
wird ein abstrakter Ort beschrieben, an dem die Handlung spielt. „It was a
place, thick with lust…“ – worauf zwei lediglich in Chiffon gekleidete,
halbnackte Frauen tanzend vor einem Brunnen gezeigt werden –
„…overflowing with passion…“ – worauf ein Mann, beim passieren eines
weiteren Mannes, wollüstig in eine Hand voll Beeren beißt und diesem
nachschaut – „…dominated by corrupt power…“ – worauf ein Soldat
gewaltsam einen Frauenkopf zu sich heranzieht –
„…and sadistic
pleasures…“ – worauf eine Einstellung Tiberias (Hellen Mirren) mit weißer
Toga folgt, die zwei, lediglich mit grobmaschigen Kettenhemden
bekleidete Männer an einer Leine führt.
Bild und Musik bedingen in diesem Teil einander, unterstützen die
Schnittfrequenz und rhythmisieren das Geschehen. Die letzten 5
Einstellungen, die einen Dialog vorbereiten, zeigen einen Mann, der grazil
vor der Kamera tanzt und eine homosexuelle Sex-Orgie, woran sich ein
Dialog zwischen Claudius (Glenn Shadix) und Agrippina (Karen Black)
anschließt: Agrippina: „I hear, you have a taste of young boys…“ Claudius:
(schelmenhaft verneinend); Gelächter von beiden.
Nach einem Szenenwechsel durch einen vertikalen Passierschwenk, aus
einem prächtig eingerichteten Schlafzimmer in den nächtlich beleuchteten
Außenbereich mit Swimming-pool, setzt stark dramatisierende Musik ein,
die an Hitchcocks „Psycho“ erinnert und eine neue Sequenz einleitet.
Sieben Einstellungen zeigen die sexuellen Ausuferungen um den Pool,
wobei verschiedene Einstellungsgrößen und Kameraperspektiven immer
an eine bewegungslose Kamera gebunden sind. Das Ambiente bleibt –
wie bei allen Sequenzen des Trailers – luxuriös und prächtig: mit Gold
beschlagene Möbeln und edel anmutende Stoffe.
103
Vgl. Hediger, Vinzenz (2001): a.a.O., S.42.
- 44 -
Ingo Herrmann
Anstatt lediglich weitere unterhaltsame Sequenzen, wie die zwischen
Claudius und Agrippina, aneinanderzureihen, verweist die Erzählerstimme
bereits auf den Regisseur des Films, indem ein Referenzwerk Vezzolis
benannt wird: „From the creator of the international smash-hit ‚Comizi di
non amore’“, worauf eine kurzer Wortwechsel zwischen Agrippina:
„Caligula will be emperor soon,“ und Messalina (Michelle Phillips): „I knew
you had something planned.“ folgt, und die Erzählerstimme fortfährt:
“…comes the delirious re-imagining of the film that scandalized the world.“
Neben Großaufnahmen der jeweils sprechenden Personen werden erneut
ausgiebige Sexszenen gezeigt, sowie eine – verglichen mit anderen –
lange Einstellung einer Frau, die zwischen zwei weiteren Personen lustvoll
deren umgebundene goldene Dildos in den Mund nimmt.
Abbildung 8: Frau mit Gold-Dildos
Vor einem opulenten Hintergrund erscheint abschließend Druscilla neben
einem mit einer Toga bekleideten Mann und spricht zu einer Person im off
screen space: „You don’t want her? I thought you like virgins.“;
unbekannte Person: „Kill her!“; Drucilla: „Amateur!“
Nach dieser Einstellung beginnt der zweite Abschnitt der Durchführung,
und die Erzählerstimme leitet zur Vorstellung der darstellenden Personen
- 45 -
Ingo Herrmann
(Cast-Liste) über, die ebenfalls an dieser Stelle als Trailer-typisch
bezeichnet werden kann. „With an international cast of superstars, more
decadent than your wildest dreams.” Die bisher gezeigten Darsteller
werden in schnellen Schnitten erneut präsentiert und die Sequenz endet
mit einer Einstellung Tiberias, flankiert von zwei Säulen und ihren
Kettenhemd tragenden Sklaven, die schallend in den Garten des
Anwesens den Namen Caligulas ruft.
Folgend werden von der Erzählerstimme die Darsteller und ihre jeweilige
Rolle mit einem Satz charakterisiert, die anschließend durch einen, meist
in Großaufnahme gezeigten, rollenspezifischen Kommentar illustriert wird:
Erzählerstimme: „The ravishing Helen Mirren as the empress Tiberias in
her triumphically return to the world of Caligula.”104 Tiberias: “We stole the
wealth of the world, we had to conquer the earth and – look at us.”
Erzählerstimme: “The notorious Karen Black as Agrippina.” Agrippina: “I’m
nursing a viper at the bosom of rome…” Erzählerstimme: “The incompable
Milla Jovovich as Druscilla, Caligulas depraved sister.” Druscilla: “You
don’t won’t me to be a wife to you?! You’re vile!” Erzählerstimme: “The
extraordinary Benicio del Toro as Macro, the General Caligula betrayed.”
Marco: “The emperor knows everything taking place in Rome. Not only
words and deeds but thoughts and feelings…. His spy’s are everywhere.”
Erzählerstimme: “And the charming Adriana Asti as Ennia, Macros
lascivious wife.”105 Ennia: “Calligola, giurami che mi ami, giuralo!”106
Die folgenden Darsteller werden ohne zusätzlich beschreibende Adjektive
vorgestellt,
ohne
ihnen
Raum
für
einen
eigenen
Sprechanteil
einzuräumen. Erzählerstimme: “With Glenn Shadix as Claudius, Michelle
Phillips as Messalina, Gerad Butler as Chaerea, Barbara Bouchet as
Caesonia and Tasha Tilberg in her eagerly anticipated first lesbian screen
cast.”
104
Helen Mirren hatte bereits eine Hauptrolle im Bezugsfilm, weshalb hier von einem
‚return’ die Rede ist.
105
Adriana Asti hatte spielte bereits die Ennia im Bezugsfilm.
106
Calligola, schwöre mir, dass du mich liebst, schwöre! (Übersetzung des Verfassers)
- 46 -
Ingo Herrmann
Abbildung 9: Helen Mirren mit Kettenhemd-Sklaven
Alle Darsteller werden in einem sexualisierten oder dekadenten Rahmen
gezeigt. Helen Mirren führt erneut ihre Kettenhemd tragenden Sklaven
und Adriana Asti sitzt vor einem masturbierenden Mann, dessen Ejakulat
sie im Anschluss in ihrem Gesicht verreibt. “In a movie so passionate in it’s
extremes, you can literally feel it coating you and the taboo.”
Abbildung 10: Sexorgie
- 47 -
Ingo Herrmann
Während die Erzählerstimme diesen dritten Teil des Films beendet, und in
den Endtitel überleitet, werden wiederum einige Einstellungen von Orgien
gezeigt. „Beyond sensuality, there is sexuality…“ – Orgieneinstellungen –
„…beyond sexuality, there is perversity…“ – weitere Orgieneinstellungen –
„…beyond perversity, there is only…“. Dieser Satz wird nicht von der
Erzählerstimme vollendet, sondern es werden einige der oben genannten
Personen gezeigt, die hysterisch Caligulas Namen schreien.
Diese
Reihe
von
Szenen
und
Texteinblendungen
kann
als
zusammenfassende Passage aus Titeln verstanden werden, die ähnlich
der Exposition, auf Caligula als End- und Höhepunkt hinstreben. Die
Abschließende Titelnennung wird dabei nicht ausschließlich von den
Darstellern vorgenommen, sondern erscheint zudem als Key Art, das
jedoch nicht Caligula zeigt und einen Verweis zu dem ähnlichen Key Art
des Originalfilms herstellt, sondern Papst Johannes Paul II. unter dem der
Name CALIGULA geschrieben steht (vgl. Abbildung 11).
Abbildung 11: Key Art Caligula (Vezzoli-Trailer)
- 48 -
Ingo Herrmann
Abbildung 12: Key Art Caligula (Original-Trailer)
Das Emblem wird langsam ausgeblendet, während die Erzählerstimme zur
vermeintlich letzten Einstellung überleitet: „Gore Vidals Caligula.“ Worauf
die Stimme Gore Vidals erklingt: „Coming soon, to a theatre – near you.“,
die Kamera fährt nah an Vidals Gesicht und ein schwarzer Abspann
erscheint, auf dem einige Sekunden eine Liste aller beteiligten Personen
erscheint.
Doch anstatt der Trailer nach diesem Abspann erneut beginnt – was in
einer ähnlichen Ausstellungssituation zu erwarten wäre – erscheint ein
Treppenaufgang, flankiert von zwei Büsten. Links kommt eine Frau ins
Bild
die
entschlossen
die
Treppe
hinaufgeht
und
durch
eine
Begleitbewegung von der Kamera verfolgt wird. Während dieser
Einstellung erklingt dumpfe Cellomusik und die hysterischen Schreie mit
denen der dritte Abschnitt endet. Sie betritt das Haus durch die Tür und
wendet sich plötzlich zur Kamera: „Caligula? I am Caligula!...“ – ähnlich
wie bei der Vorstellung der Darsteller wird ihr Name, Courtney Love,
eingeblendet –„…I have existed from the morning of the world and I will
exist until the last star falls from the night… [verrücktes Lachen] I am not
mad, I know what I speak. I exist as no woman has existed before, and I
exist as no woman ever exists again. Therefore I am fate. Therefore I am
God. Therefore I am Caligula.“107 Während sie diesen letzten Satz sagt,
107
In einer anderen Schnittversion sagt sie „Caligula? I am Caligula!...“ – ähnlich wie bei
der Vorstellung der Darsteller wird ihr Name, Courtney Love, eingeblendet – „… I shine
- 49 -
Ingo Herrmann
schlägt sie die Tür mit einem lauten Knall vor der Kamera zu, es erscheint
kein weiterer Abspann.
4.4
Anlehnungen an die Vorlage
Vezzoli lehnt sein Trailer-Remake nicht nur stark an die Vorlage von 1979
an, sondern übernimmt fast alle Elemente seines Fake-Trailers aus den
Trailern der Vorlage. Diese Übernahmen sollen als Quelle zumindest kurz
Erwähnung finden, wobei mindestens einer der herausgearbeiteten
Aspekte, ein struktureller, ein motivischer, ein dialogischer und ein
musikalischer vorgestellt werden soll.
Strukturell gleicht sich die Exposition des Trailers durch Gore Vidal und
die ihm nachfolgende anonyme Sprecherstimme mit der Exposition des
historischen Trailers durch Bob Guccione. In beiden Fällen tritt ein
unmittelbar an der Entstehung des Films Beteiligter in Erscheinung, um
den Film einzuleiten – bei Vezzoli Gore Vidal „in persona“, in der
historischen Vorlage der Produzent Guccione als sich selbst vorstellende
Sprecherstimme („My name is Bob Guccione. I promised a new kind of
motion picture, a picture so controversial, so innovative in it’s magnitude
that it would fundamentally change the viewing habits of the theatre going
public.”) Beide kündigen den Film als etwas Außergewöhnliches an,
preisen ihn als „controversial“ und „extraordinary“, wobei die anonyme
Sprecherstimme, die auf Vidal folgt, sich nicht auf den Film bezieht,
sondern über die Person Caligula spricht, was Guccione erst etwas später
vornimmt, wenn er Caligula charakterisiert (in allen Trailer-Versionen
beschreibt er Caligula folgendermaßen: „No treachery could equal his evil,
no evil was more treacherous.”). Dennoch ist hier eine strukturelle
Anlehnung Vezzolis an seine Vorlage erkennbar.
as the moon does amongst the lesser fires, the moon is full tonight. Diana is watching
me, and no one fools or withstands me, a little mad. I can not sleep, I can not sleep. All I
can do is stare at the golden eye as it gazes down at the Capitoline Hill. The wretched
most [unverständlich] poorest cripple beggar in Rome can sleep, but I can not. How
lonely it is, to be a god. Diana is watching me. No, I am not mad, I know what I’m saying.
All there is - is fate. I exist as no woman has existed before. And I exist as no woman
ever exist again. Therefore I am fate. Therefore I am God.“
- 50 -
Ingo Herrmann
Motivisch lehnt sich Vezzoli dahingehend an das Original an, dass die
Atmosphäre nicht nur eine ähnlich dekadente ist, sondern Requisiten, wie
beispielsweise das Bett Drucillas, nach der Vorlage inszeniert zu sein
scheinen. Am deutlichsten wird die Motivübernahme am Beispiel der PoolSzenen. Sowohl in der Vorlage, als auch in Vezzolis Trailer gibt es
Einstellungen, die das Gesäß einer Frau kurz vor dem Abtauchen in den
Pool in voller Größe präsentieren und in beiden Filmen fast austauschbar
anmuten.
Auf dialogischer Ebene haben einige Einstellungen fragmentarischen
Charakter und sind den Trailern der Vorlage bis hin zur Intonation
übernommen. Als Beispiel für die Übernahme eines solchen DialogAusschnittes ist beispielsweise Druscillas Ausruf an Caligula „You
Amateur!“ der sowohl in einem der Original-Trailer wie auch in Vezzolis
Trailer vorkommt. Diese ist mit exakter Kameraeinstellung (amerikanisch)
und Intonation montiert, nur dass Vezzoli die Reaktion Caligulas auf
diesen Angriff – er schlägt seiner Schwester ins Gesicht – ausspart und
stattdessen Druscilla aus ihrer passiven Rolle in einer aggressiven
Drohgebärde zeigt.
Eine andere Textstelle, die sowohl im Original- wie im Fake-Trailer
vorkommt, ist eine Einstellung Caligulas: Courtney Love sagt in Vezzolis
Trailer „Caligula? I am Caligula! I have existed from the morning of the
world and I will exist until the last star falls from the night. I am not mad, I
know what I speak […] I am God. Therefore I am Caligula.“ Im Original
steht Malcom McDowell in der Halle der Senatoren und erklärt: “I have
existed from the morning of the world and I will exist until the last star falls
from the heavens…” womit ein eindeutiger Bezug hergestellt ist.
Selbst auf musikalischer Ebene werden Melodien des Original-Films
verwendet, wenn auch selten als reine Übernahme. Vielmehr sind die
historischen Melodien neu abgemischt und mit anderen, modernen
Sound-Bites an aktuelle Filmmusiken angepasst. Beispielsweise erklingt
als Überleitung vom endorsement Vidals auf die nächste Einstellung, eine
Melodie, die im Original-Film als Motiv für das „Orgien-Schiff“ verwendet
- 51 -
Ingo Herrmann
wird,108 bei Vezzoli jedoch nur kurz anklingt, um schließlich durch dumpfe
Bass-Trommeln ergänzt zu werden, die dem Gesamtklang einen
spannungssteigernden Effekt verleihen.
Abschließend sei an dieser Stelle noch auf zwei Abweichungen
hingewiesen,
die
den
Trailer
maßgeblich
von
seiner
Vorlage
unterscheiden. Zum einen integriert Vezzoli die Darstellung von
Homosexualität. Seine Orgien-Einstellungen sind meist homosexuelle, in
denen eindeutig Männer-Paare dargestellt werden, oder aber nicht
eindeutig zu zuordnen, wenn Darsteller die goldenen Dildos tragen.
Zudem ist der Trailer weitaus schneller geschnitten als die Trailer zum
Ursprungsfilm oder der Ursprungsfilm selbst, was wahrscheinlich den
derzeitigen Sehgewohnheiten entspricht.
4.5
Zwischenfazit
Staiger
verweist
auf
die
Funktion
von
Filmwerbung
als
Standardisierungsversprechen. Diese Standardisierung wird über eine
Denotationsbeziehung dem Film zugeschrieben, der schließlich als so
standardisiert wahrgenommen werden soll, wie es der Trailer vorzugeben
scheint. Wird von gewohnten Konstruktionsmustern abgewichen, verweist
man bereits auf den außergewöhnlichen Charakter des Films.109
Vezzolis
Trailer
verbleibt
im
Rahmen
der
überbrachten
Konstruktionsmuster von klassischen Hollywood-Trailern, da sich eine
Struktur bestehend aus Exposition, Titel, Durchführung und Endtitel mit
den jeweiligen Charakteristika nachweisen lässt. Einzig die Szene von
Courtney Love als Caligula sticht aus dieser Standardisierung hervor, da
sie sich an den „Closing Credit“ anschließt. Allerdings bleibt auch diese
Besonderheit nicht ohne cineastische Vorlage. So wird bei einigen
modernen
Hollywood-Filmen
an
den
Abspann
entweder
eine
Schlüsselszene gestellt, die eine komplexe Handlung auflöst, oder
alternativ ein Sketch beziehungsweise sogenannte „Outtakes“, die
lediglich Unterhaltungswert besitzen.
108
109
Vgl. http://de.youtube.com/watch?v=hVRhhomrfIY (am 08.Dezember 2008).
Vgl. Staiger, Janet (1990): a.a.O., S.27f.
- 52 -
Ingo Herrmann
Neben diesem Aspekt spricht Guccione in allen Original-Trailern im
Rahmen seines verbalen endorsements einen bereits erwähnten Punkt
an, der den Streit zwischen allen beteiligten Personen geprägt hat: Die
Verwertbarkeit und „Kinofähigkeit“ des Films und die z.B. damit
verbundene Pressearbeit. Im endorsement der historischen CaligulaTrailer sagt Guccione den Satz:„They spoke of it first in whispers, than it
took the media by storm.“, womit sowohl die Untertanen Caligulas gemeint
sein könnten, die über die Machtanmaßungen Caligulas tuschelten, wie
auch die amerikanische Presse, die sich vor dem Erscheinen des Films in
wüsten Spekulationen über den Inhalt erging. Guccione thematisiert damit
beiläufig die eigenen Verwertungsmechanismen, für die er sich selbst in
unzähligen Interviews rühmte. In einer Sonderausgabe seines PenthouseMagazins geht er mehrfach auf den kommerziellen Charakter des Films
ein: " [...] I don't think Caligula qualifies under the heading of bad art. It
was a huge commercial undertaking, and at the same time we wanted to
make a serious statement."110
Neben diesem hollywoodesken Standardisierungsversprechen hinsichtlich
seines vermeintlichen „Anschauungswertes“ und der „Verwertbarkeit“
ergibt sich über die angedeutete „Explizitheit“ ein Bezug auf den
pornographischen Film und schließlich, durch die Anlehnung an die
Vorlage Gucciones, eine Verbindung zum historisch-pornographischen
Epos. Damit provoziert Vezzoli eine Doppeldeutigkeit, die Guccione in
allen Trailern zur historischen Vorlage offensichtlich machte: Die
Verschmelzung der beiden Genres, einen “…attempt to fuse the historical
epic with the porno film at a time when it seemed possible that serious
cinema might go hard-core.”111 Diese Verschränkungen von Pornographie,
Trailer-Standardisierung und Verwertbarkeit sollen im weiteren Verlauf der
Arbeit nähr untersucht werden.
Wie oben erwähnt, hat Vezzoli sich bereits mehrfach mit standardisierten
Prozessen
wie
Wahlwerbung,
Produktwerbung,
Filmwerbung
usw.
auseinandergesetzt. Diese Kreation von (vorgeblichen) Produkten unter
110
111
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.113.
Corliss, Richard (2007): a.a.O., S.88.
- 53 -
Ingo Herrmann
Einbezug populärkultureller Aspekte, soll sich in den folgenden Kapiteln
an das eingangs kurz als Sexualität beziehungsweise Pornographie
bezeichnete Thema anschließen.
- 54 -
Ingo Herrmann
5
Der Aspekt des Pornographischen in Vezzolis Trailer
Wie eingangs erwähnt, sind die pornographischen Aspekte zu vielfältig,
als dass sie alle in einem knappen Kapitel behandelt werden könnten.
Daher gilt es, einige herauszugreifen, die schwerpunktmäßig betrachtet
werden sollen. Da Gore Vidal einen Angelpunkt in der Beziehung
zwischen den beiden bereits erwähnten Filmen – dem Trailer und
Gucciones Vorlage – darstellt, scheint es sinnvoll, seine Positionen näher
zu untersuchen. Hinzu kommt der Fakt, dass Vidal nicht nur für das
Drehbuch des ursprünglichen Films verantwortlich war, sondern sich
zudem in einer Vielzahl von Essays und Romanen diesem Thema
gewidmet hat. Daher sollen seine Einstellungen zum Thema Pornographie
und vor allem zum Thema Feminismus und Sexualität herausgearbeitet
werden, die Vezzolis Arbeit nicht unerheblich beeinflusst haben dürften.
5.1
Der Einfluss Gore Vidals
Gore Vidal scheint für Vezzoli eine besondere Bedeutung zu haben. “Who
but Gore? Gore is the intellectual and cultural bridge between Italy and
America, who else - what gay man - could represent the link between
cinema, literature, history - everything I care about? Only Gore. He is the
master.”112 Die intellektuelle Brückenfunktion die Vezzoli Vidal zuweist, ist
auf seine langjährige Verbundenheit mit Italien zurückzuführen, wo er seit
den 1960er Jahren bis 2005 ein Haus in Ravello bewohnte und Kontakte
zu vielen Künstlern und Intellektuellen beider Länder unterhielt.113
In seinen Memoiren beschreibt sich Gore Vidal als Vorreiter der sexuellen
Befreiung, der bereits in den Nachkriegsjahren in Paris und New York ein
ausschweifendes Sexualleben mit einer Vielzahl junger Männer unterhielt
und dort seine Homosexualität offen auslebte. 1948 veröffentlichte er –
23-jährig – seinen dritten Roman The City and the Pillar (dt.
112
„Friends and Romans“, erschienen auf: Artforum: http://artforum.com/diary/id=10798 –
(am 31.März 2008).
113
Vgl. Vidal, Gore: Palimpsest – Memoiren, Hamburg, 1996, S.9ff.
- 55 -
Ingo Herrmann
Geschlossener Kreis), eine im homosexuellen Milieu angesiedelte
Handlung,
die
ihm herbe Kritiken
einbrachte,
heute
jedoch
als
Ausgangspunkt einer spezifisch homosexuellen Literatur angesehen
wird.114 Früh ist er mit Hollywood konfrontiert, arbeitet in den späten
1950er Jahren am Drehbuch von Ben Hur mit und 1970 wird schließlich
einer seiner Romane (Myra Breckinridge) verfilmt – mit dem Ergebnis der
Indizierung des Films wegen Jugendgefährdung.
Vidal traf sich mehrmals mit Alfred Charles Kinsey, der kurz vor ihrem
ersten Zusammentreffen den ersten Teil seiner Sexualforschungen
vorstellte, in denen er auf die Bisexualität, das Masturbationsverhalten
sowie die Paraphilien der männlichen Amerikaner verwies.115
Neben
Sexualität setzte sich Vidal jedoch ebenso intensiv mit historischen
Themen auseinander (abgesehen von Ben-Hur, Caligula und Julian, in
denen er die Antike thematisiert, vor allem mit der amerikanischen
Geschichte und den Präsidenten), aber auch zu zeitgeschichtlichen
Themen bezieht er regelmäßig Stellung.
Vezzoli scheint sich intensiv mit Vidals Schriften auseinander gesetzt zu
haben und nicht zuletzt deswegen die Person Gore Vidal in den Trailer
eingebunden zu haben. Sex, Kino und Kunst sind bei Vidal sehr präsente
Themen: „Sex and art always took precedence over the cinema.“116 Über
die US-Präsidentschaftswahlen schreibt Vidal in Screening History (1992)
„…presidential
elections
[are]
fast-moving
fictions
[…]
empty
of
117
content…“
, womit sich der Betrachter an Vezzolis Wahlspots mit Stone
und Levy erinnert fühlt und bereits eine Medienkritik zu erahnen ist. Allein
deswegen scheint es gegeben, sich näher mit Vidals Schriften
auseinander zu setzen, um die eigentliche Intention des von ihm
verfassten
und
bis
heute
unveröffentlichten
Caligula-Skripts
herauszuarbeiten. Das Originalskript kann dabei nicht herangezogen
werden, da es Vidal nicht veröffentlichte und Willam Howard lediglich
einen Roman anhand der Filmvorlage verfasste (Gore Vidal’s Caligula – A
114
Vgl. Heller, Arnold: Der amerikanische Roman nach 1945, Zürich, 1987, S.48.
Vgl. Vidal, Gore (1996):a.a.O., S.109ff.
116
http://movies.nytimes.com/person/115406/Gore-Vidal/biography (am 25.Januar 2009).
117
Vidal, Gore: Screening History, New York, 1992, S.73.
115
- 56 -
Ingo Herrmann
Novel based on Gore Vidal’s Original Screenplay),118 der jedoch gemäß
Vidals Aussagen am Film orientiert ist und den Sinn seiner ursprünglichen
Szenen verkehrt. Daher sollen im Folgenden die Essays Vidals zu den
Themen Sexualität und Pornographie herangezogen werden, um einen
Klärungsversuch zu unternehmen. Zuvor sei ein Gesprächsausschnitt aus
einem Interview mit Hollis Alpert und Jan Kadar zitiert, in dem sich Vidal
auch über die Dreharbeiten zu Caligula äußert:
“Now I know quite a lot about movies. I know how they're put
together. Yet I go from disaster to disaster. Obviously, I’m
getting stupider. This time I have to get my name out of the title.
[…] I'll probably have to sue to change the title of a movie.
Penthouse Films picked an Italian director, Tinto Brass. I said:
“All right, if we can use him as a pencil, take him." I mean, he's
a competent cameraman and editor. He's made about ten
pictures, each failed. Failure is a habit people seldom break.
That’s another thing to remember when you're picking a
director. Peter O'Toole, who played Tiberius in Caligula,
referred to Tinto Brass as ‘Tinto Zinc.’ O’Toole has a nice sense
of the way the world should be ordered. ‘In a well-run world,’ he
said, ‘this man should be cleaning windows in Venice. Instead,
here he is spending $8 million and destroying a script.’ Bob
Guccione of Penthouse - the mag for the gynaecological set - is
actually quite visual-minded and not entirely stupid; I thought
that if the two of us had control of the picture, it would work. The
script was strong, which is why we got O'Toole and John
Gielgud and Malcolm McDowell and so on. [...]”119
Vidal sieht den Grund seines Scheiterns in diesem Filmprojekt also im
Wesentlichen in der Zusammenarbeit von Brass und Guccione begründet,
einer Paarung von Unfähigkeit (Brass) und visueller Orientierung
(Guccione), die sein „starkes“ Skript sinnentraubte.
Ein möglicher Hinweis auf die Intentionen des ursprünglich „starken“
Skripts findet sich in einer Rezension Vidals von Robert Graves
Neuübersetzung des antiken De vita Caesarum von Sueton (engl. The
Twelve Caesars),
worin Vidal seine Perspektive auf
die antike
Gesellschaft und deren Einstellung zur Sexualität darstellt. Er stellt
118
Zwar wurde ein Buch zum Film veröffentlicht, was allerdings lediglich eine Wiedergabe
der Filmhandlung enthält, und ebenso wie der Film lediglich auf dem Skript Vidals basiert,
Vgl. Howard, Willam: Gore Vidal’s Caligula – A Novel based on Gore Vidal’s Original
Screenplay, Clayton, 1979.
119
Alpert, Hollis; Kadar, Jan: Dialog on Film – Gore Vidal, erschienen in: Peabody,
Richard; Ebersole, Lucinda (Hrsg.): Conversations with Gore Vidal, Jackson, 2005, S.69f.
- 57 -
Ingo Herrmann
heraus, dass ein anderer Rezensent dieser Neuübersetzung Suetons,
lediglich einen der Caesaren – Claudius – als „sexually regular‘“
charakterisierte, während die verbleibenden Elf als abnormal bezeichnet
wurden. Vidal sieht hingegen – wohl als Reaktion auf die als Anfeindung
empfundene Rezension – in der Vielfalt der Sexualitäten der Zeit von 49
v.Chr. bis 96 n.Chr., also die Zeit die Sueton in seinem Werk überblickt,
ein Abbild der sexuellen Vielfalt einer Epoche. „They were, after all a
representative lot. They differed from us – and their contemporaries – only
in the fact of power, which made it possible for each to act out his most
recondite sexual fantasies.”120 Sueton zeigt damit, so Vidals Interpretation,
eine andere Welt als die des Amerika der späten 1950er Jahre, wo eine
heterosexuelle
Normierung
zwar
Homosexualität
zuließ,
jedoch
ausschließlich als gesellschaftlichen Randbereich, der nur neben der
Familie als absolutem Zentrum existieren konnte. Die Caesaren-Zeit, die
Sueton beschreibt, sei dagegen von sexueller Freiheit geprägt gewesen.
„And though some of the Caesars quite obviously preferred woman to men
[…], their sexual crisscrossing is extraordinary in its lack of pattern.“121
Neben diesem sexuellen Aspekt zieht Vidal zudem einen Vergleich der
Caesaren mit den Politikern seiner Zeit. Die Caesaren seien häufig der
Allmacht ihres Amtes verfallen und wurden oft Opfer ihrer Untertanen
(neun der zwölf wurden ermordet).
„Most of the world today is governed by Caesars. Men are more
and more treated as things. […Suetonius] reflects not only them
but ourselves: half-tamed creatures, whose great moral task it is
to hold in balance the angel and the monster within – for we are
both, and to ignore this duality is to invite disaster.”122
Mit dieser Dualität von sexueller Beschränkung gegen sexuelle Freiheit,
sowie uneingeschränkter Macht, Machtbesessenheit und Machterhalt
gegen „Macht-um-des-guten-Herrschens-Willen“, präsentiert Vidal sein
Menschenbild:
In
jedem
Menschen
ist
eine
Bandbreite
von
Handlungsalternativen vorhanden, die nicht durch einen Zeitgeist
beschränkt werden, sondern allein durch die jeweilige Person selbst.
120
Vidal, Gore: The Twelve Caesars (The Nation, 1959 [1952]), erschienen in: Vidal,
Gore: United States – Essays 1952-1992, London, 2008, S.524f.
121
Ebd., S.525.
122
Ebd., S.528.
- 58 -
Ingo Herrmann
Dieses Aktivierungspotential des einzelnen Menschen zeigt er in einem
Essay, in dem er 1971 seine Position zum Feminismus erklärt, als dessen
Vertreter er sich positioniert (vgl. hierfür auch Punkt 5.2): „The
Patriarchalists have been conditioned to think of woman as, at best,
breeders of sons; at worst, objects to be poked, humiliated, killed.“123
Frauen waren – sexuell wie machtökonomisch – unterdrückt und wurden
Ende der 1960er Jahre durch das Engagement einzelner Frauen „befreit“.
Die Situation der Frauen war – so Vidal – auf den Kapitalismus und die
Stellung des Mannes zurückzuführen.
„In a society where men have an overriding interest in the
acquisition of wealth, and where woman themselves have
become a form of property, the link between sexuality and
money becomes inextricable. […] Most men buy their wives,
though neither party would admit to the nature of transaction,
preferring such euphemisms as Marvin is a good provider and
Maroin is built. […] Needless to say, if you buy a woman you
don’t want anyone else using her. To assure your rights, you
must uphold all the taboos against any form of sex outside
marriage.”124
Auch wenn er so explizit Stellung zum Thema Feminismus bezieht,
werden die Frauen in der Pornographie nicht erwähnt, wohl nicht zuletzt
deswegen, weil Dworkins „Pornography - Men Possessing Women“ erst
1976 die Rolle der Frau im Pornofilm endgültig in den feministischen
Diskurs einführt.125 Bis dahin ist ein Aufsatz von besonderer Relevanz, der
Vidals Einstellung Ende der 1960er Jahre wiedergibt. In diesem Essay
„Pornography“ (1966) setzt er sich für einen entspannteren Umgang mit
Pornographie ein und spricht sich für eine qualitative Pornographie aus,
die sich nicht auf die Abbildung des sexuellen Akts, vor allem der
Genitalien beschränkt, sondern die Inszenierung eines Charakters zulässt.
„In most pornography, physical descriptions tend to be sketchy.
Hardcore pornographers seldom particularize. Inevitably,
genitals are massive, but since we never get a good look at the
bodies to which they are attached, the effect is so impersonal
123
Vidal, Gore: Feminism And It’s Discontents (The New York Review of Books, July 22,
1971), erschienen in: Vidal, Gore: United States – Essays 1952-1992, London, 2008,
S.584.
124
Ebd., S.588.
125
Zwar veröffentlicht Dworkin bereits 1974 „Woman Hating: A Radical Look at
Sexuality“, allerdings ohne die breite Resonanz die das 1976 erschiene „Pornography Men Possessing Women“ erfahren wird.
- 59 -
Ingo Herrmann
that one soon longs to […] those more modest yet entirely
tangible archetypes, the girl and boy next door, two creatures far
more apt to figure in the heated theater of the mind than the
voluptuous grotesques of the pulp writer’s imagination.”126
An anderer Stelle führt er weiter aus, dass eine Beschränkung auf
heterosexuelle Pornographie eine Einengung des Genres bedeutet und
zieht dafür erneut die Zeit der Antike heran:
„But in the world of pre-Christian cities, it never occurred to
anyone that a homosexual act was less ‚natural‘ than a
heterosexual one. It was simply a matter of taste. From
Archilochus to Apuleius, this acceptance of the way people
actually are is implicit in what the writers wrote. Suetonius
records that of his twelve emperors, eleven went from boys to
girls and back again without Suetonius ever finding anything
remarkable in their ‘polymorphous perverse’ behavior.”127
In seinem bekanntesten Aufsatz „Sex is Politics” (1979) setzt Vidal sich mit
den Einstellungen der amerikanischen Gesellschaft auseinander. Neben
der Rolle der Frauen, der Institution der Familie und Ehe beschäftigt sich
Vidal intensiv mit Homosexualität. Er weist Anklagen, wie die des
Journalisten Joseph Epstein, entschieden zurück, der in einem Artikel
folgende Aussage machte: „If I had the power to do so, I would wish
homosexuality off the earth. I would do so because I think that it brings
infinitely more pain than pleasure to those who are forced to live with it.”128
Neben dieser Rolle als früher Aktivist der Homosexuellenbewegung kann
Vidal als
Verfechter einer Pornographie bezeichnet
werden,
die
verschiedene Sexualitäten zulässt und sich nicht auf eine handlungs- und
charakterlose Genitalschau beschränkt. Die häufige Thematisierung der
Antike (auch in „Sex is Politics“ argumentiert er mit antiken Quellen) deutet
zudem auf seine Interpretation dieser Zeit als einer freien und sexuell
unbeschränkten Epoche.
Da, wie bereits erwähnt, Dworkins Buch erst 1976 erscheinen wird, kann
diese Auffassung von Pornographie für Vidal zumindest bis dahin als
wohlwollend beschrieben werden. Das Zerwürfnis mit Guccione und Brass
126
Vidal, Gore: Pornography (New York Review of Books, March 31, 1966), erschienen
in: Vidal, Gore: United States – Essays 1952-1992, London, 2008, S.563.
127
Ebd., S.567.
128
Vidal, Gore: Sex is Politics (Playboy, January, 1979), erschienen in: Vidal, Gore:
United States – Essays 1952-1992, London, 2008, S.551.
- 60 -
Ingo Herrmann
ist demnach unter anderem auf die Beschränkung dieser Perspektive auf
eine rein heterosexuelle Interpretation dieses „Kaiserzeitalters“ unter
Caligula zurückzuführen. Die von Vidal angesprochene „Sinnverkehrung“
der Szenen bezieht sich folglich auf eine Verkürzung seines Skripts,
welches neben der zum Teil verwirklichten Handlungsorientierung (unter
Einbindung von Hardcore-Szenen) auch homosexuelle und feministische
Inhalte berücksichtigt hätte. Dass Guccione Vidals Skript als zu
homosexuell empfand, formuliert er explizit in einem Interview:
"The first few drafts were too strong, particularly in terms of
violence and homosexuality. […] Actually, we had to remove a
lot of the material that Gore had originally written into the script,
so the film is now somewhat more sensual than the original
version. In fact […] there were practically no heterosexual
scenes at all. Every sex scene Vidal wrote was homosexual in
content."129
Allerdings geht Guccione an keiner Stelle näher auf das Zerwürfnis ein
und spricht Vidal – auch nach der Klage – seine größte Bewunderung aus.
Diese These des unverwirklichten Idealskripts – auch wenn nicht endgültig
belegbar – wird nicht nur durch die Schriften Vidals und Gucciones
knappe Äußerung gestützt, sondern bereits durch den Fakt seiner
Beteiligung und Initiation dieses Filmprojekts, bei dem er schließlich die
Realisierung seiner Jahre zuvor schriftlich fixierten Positionen angestrebt
haben dürfte. Die oben erwähnte Bewunderung Vezzolis und die
Zusammenarbeit mit Vidal, das endorsement und die strukturellen
Anlehnungen an den Ursprungsfilm sprechen schließlich für eine intensive
Auseinandersetzung Vezzolis mit Vidals Ideenwelt, die in dem zu
betrachtenden Trailer Niederschlag gefunden hat.
5.2
Die feministische Pornographie-Kritik
Ein Aspekt, der bei näherer Auseinandersetzung mit Vezzolis Werk
hervortritt, betrifft die feministische Pornographie-Kritik. Im selben Jahr, als
Guccione und Rossellini „Caligula“ veröffentlichen, erscheint von der
amerikanischen Soziologin, Frauenrechtlerin und Schriftstellerin Andrea
129
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.118.
- 61 -
Ingo Herrmann
Dworkin ein Buch mit dem Titel „Pornography - Men Possessing
Women“130. In dem Buch arbeitet Dworkin einen direkten Zusammenhang
zwischen Pornographie und sexueller Gewalt gegen Frauen heraus.
Einige Jahre zuvor hatte sie bereits ihre grundlegenden Thesen zur
Pornographie publiziert. So 1974 „Woman Hating: A Radical Look at
Sexuality“ und 1976 „Our Blood: Prophesies and Discourses on Sexual
Politics“, zu einer Zeit also, als der pornographische Film kontinuierlich
Akzeptanz in größeren Kinos fand.
Die
feministische
Pornographie-Kritik
hat
sich
seitdem
beständig
ausdifferenziert, teilt jedoch heute die grundlegende Einschätzung,
Pornographie sei ein besonders deutlicher Ausdruck des patriarchalischen
Sexismus gegen die mittlerweile verbesserte Situation von Frauen.131
Gemeinsam mit der Juristin Catherine MacKinnon arbeitete Dworkin 1982
einen Gesetzesentwurf aus, dessen Hauptanliegen darin bestand,
darzulegen, dass Pornographie nicht lediglich Worte oder Bilder sind,
sondern
eine
„verleumdende
Rede“
(„Hate
Speech“),
die
die
Menschenwürde von Frauen angreife und mit ihrer aggressiven Haltung
auf die Wirklichkeit zurückwirkt in der Frauen leben.132 PornographieVerstöße sollten nicht mehr vom Strafgesetzbuch geregelt werden um als
anstößig unter die Zensur zu fallen, sondern Frauen, die sich von
Pornographie beeinträchtigt oder geschädigt fühlten, sollten sich direkt auf
das Zivilgesetz berufen können, um so ihr Recht auf Menschenwürde und
Gleichbehandlung einklagen zu können.133
130
Vgl. Dworkin, Andrea: Pornografie - Männer beherrschen Frauen, Frankfurt/Main,
1990.
131
Vgl. ebd., S.6ff.
132
Vgl. ebd., S.18.
133
Vgl. Bremme, Bettina: Sexualität im Zerrspiegel - Die Debatte um Pornographie,
Münster/New York, 1990, S.225; Die „klassischen“ Pornographie-Gegnerinnen stammten
vornehmlich aus dem religiös-konservativen Milieu, wozu sich ein neues linksprogressives Milieu gesellte, das sehr ungewöhnliche Verbindungen beider nach sich
zog. Feministische Pornographie-Gegnerinnen verwiesen vor allem auf die
Frauenfeindlichkeit von Pornographie und stilisierten den als natürlich inszenierten
Masochismus der Frau im pornographischen Film zum Vorbild für Sexual- und
Gewaltverbrechen an Frauen oder sahen darin zumindest die Zementierung der
untergeordneten gesellschaftlichen Position der Frau. Konservative PornographieGegnerinnen sahen hingegen durch die Pornographie überbrachte Familienwerte
bedroht. Zudem lief die Darstellung von vorgeblich hemmungsloser Sexualität
konservativen Moralvorstellungen zuwider. (Vgl. ebd., S.197)
- 62 -
Ingo Herrmann
Die Juristin Drucilla Cornell und die Filmwissenschaftlerin Linda Williams
sind zwei weitere bedeutende Frauen, die im Kontext der Debatte um
Feminismus und Pornographie wichtige Beiträge geleistet haben.
Cornells setzt sich im Wesentlichen mit juristischen Möglichkeiten
auseinander, z.B. plädiert sie für die Einrichtung von Zonen, auf die
Pornographie beschränkt bleiben soll, um Frauen davor zu schützen,
ständig Bildern ausgesetzt zu sein, die Männerfantasien widerspiegeln.
Ein weiteres Augenmerk liegt auf der Befreiung des weiblichen
Imaginären. Für Cornell ist Pornographie vor allem durch eine
Monopolisierung des „kulturellen Imaginären“ durch in erster Linie von
heterosexuellen Männern stammende Vorstellungen und Fantasien
problematisch. Dieses überwiegend „männliche Imaginäre“ erscheine, so
Cornell, als das „Eine Imaginäre“ und zudem als geschlechtsneutral.
Daher hält sie eine Erweiterung dieses „hegemonialen Imaginären“ durch
Frauen aber auch durch Schwule und insbesondere auch lesbische
Frauen
für
weit
wirksamer
als
eine
Beschränkung
männlicher
134
Fantasien.
Im Unterschied widmet sich Linda Williams der Analyse und Interpretation
von pornographischen Filmen aus filmwissenschaftlicher Perspektive. Sie
untersucht den Pornofilm auf seine genrespezifischen Strukturen und
charakterisiert ihn – nicht zuletzt in Anlehnung an Foucault und die oben
erwähnten White-Coaters – als „…Suche nach dem Wissen der Lust.“135
Die „…immer detailliertere [...] Erforschung der wissenschaftlichen
Wahrheit der Sexualität…“136 mit all ihren diskursiven Konstruktionen sieht
sie als wichtige Voraussetzung für die Entstehung des harten Pornofilms.
Allerdings weist auch sie darauf hin, dass die im pornographischen Film
unternommene Suche nach dem Wissen über Sexualität nicht von einer
geschlechtsneutralen Perspektive aus unternommen wird. Dass „…die
Lösungen für das Problem Sex zumeist vom herrschenden Machtwissen
134
Cornell, Drucilla: Die Versuchung der Pornographie, Frankfurt/Main, 1997, S.76ff.
Williams, Linda: Hard Core - Macht, Lust und die Traditionen des pornographischen
Films, Basel/Frankfurt/Main, 1995, S. 67.
136
Ebd., S. 65.
135
- 63 -
Ingo Herrmann
männlicher
Subjektivität
her
konstruiert
werden,
sollte
nicht
verwundern.“137
Neuere Filmproduktionen und Literatur von Frauen, die sich mit weiblicher
Sexualität auseinandersetzen, wurden in den letzten Jahren zum Anlass
genommen, sich erneut mit dem Thema Pornografie zu beschäftigen. So
entdeckten die Literaturwissenschaftlerinnen Elisabeth Bronfen und
Barbara Vinken das subversive Potenzial in Pornographieentwürfen von
Frauen. Beiden geht es vornehmlich um die weibliche Aneignung und
schließlich
um
die
Umcodierung
pornographischer
Modelle,
die
Jahrhunderte lang von Männern entworfen und weitergegeben wurden.
Beide sind davon überzeugt, dass Frauen sich männlich geprägter
Pornographiecodes
bemächtigen
und
sie
„…in
verschiebender,
parodistischer Aneignung subvertieren und damit womöglich eine
‚weibliche‘ pornographische (Kunst-) Sprache finden…“138 können.
Auch
Vezzoli
versucht
in
seinem
genderorientierten
Ansatz
die
Pornographie dekonstruktivistisch gegen den Strich zu lesen und dabei
die Machtökonomie der zugrunde liegenden Geschlechterkonstruktionen
offen zu legen. Dabei thematisiert er zwei Aspekte: Die Herausstellung
des
Geschlechts
im
pornographischen
Film
und
die
Herrschaftsbeziehungen zwischen Männern und Frauen – zwei Aspekte,
die auch Vidal in seinen Essays aufgreift. Zuvor soll allerdings noch auf
den „Wahrheitsgehalt“ der pornographischen Bilder eingegangen werden,
der mit diesen Themen verschränkt zu sein scheint und für die folgende
Argumentation wichtig ist.
5.3
Der Wahrheitsgehalt der filmischen Bilder
Seit der Entstehung des pornographischen Films steht das Geschlecht im
Mittelpunkt. Die Herausstellung des Geschlechts wie sie im Pornofilm
137
Ebd., S. 200.
Bronfen, Elisabeth: „Anpassung oder Intervention. Gedanken zu einer weiblichen
Filmsprache der Erotik“, erschienen in: Screening Gender - Geschlechterkonstruktionen
im Kinofilm, Freiburger Frauen Studien, Ausgabe 14, Freiburg, 2004, S.46.
138
- 64 -
Ingo Herrmann
vorgenommen wird – zu Beginn als meat shot, ab den 1960er Jahren als
money shot –, ist auch in der Kunstgeschichte bekannt. „…[Mit] einer
unbegreiflichen Vergesslichkeit hat der Künstler […] vernachlässigt, die
Füße, die Beine, die Schenkel, den Bauch, den Nacken und den Kopf
wiederzugeben…“139 erstaunte sich Maxime du Camp über Gustave
Courbets Gemälde L’Origine du monde aus dem Jahr 1866, der damit ein
eher spätes Beispiel für die Fokussierung auf das Geschlecht beisteuerte.
Und trotz dieser vermeintlichen Verspätung wäre es die realistische
Darstellung des weiblichen Genitals gewesen, die seinerzeit einen
Aufschrei provoziert hätte.
Die Auftragsarbeit für den wohlhabenden türkischen Kunstsammler Khalil
Bey war lange Zeit nur Sachverständigen und wenigen Connaisseurs
bekannt und vorbehalten, wurde hinter anderen Bildern versteckt, hinter
Vorhängen getarnt und war nie für die Öffentlichkeit bestimmt. Dennoch
gelangte das Gemälde, nachdem es von Bey versteigert werden musste,
in verschiedene Sammlungen und wurde nach dem Tod des letzten
Besitzers, des französischen Psychoanalytikers Jacques Lacan, öffentlich
verfügbar, bis es schließlich 1995 in das Musée d’Orsay (Paris) gelangte,
wo es seitdem ausgestellt wird – wider der ursprünglichen Privatheit, die
das Gemälde ursprünglich beanspruchte.140
Dieser
ursprünglichen
Privatheit
des
Geschlechts
steht
der
pornographische Film in Nichts nach, denn auch er wurde um die
Jahrhundertwende ausschließlich im exklusiven Kreis wohlhabender
Herrenclubs konsumiert. Und ebenso wie die Exklusivität des Herrenclubs
zahlreichen Möglichkeiten gewichen ist, das Geschlecht aus allen
Perspektiven
zu
betrachten
(seit
wenigen
Jahren
selbst
ohne
schambehafteten Gang zur Videokabine, Hotelkasse usw. durch einen
Klick auf explizite Internetseiten), so wird Courbets Gemälde in einer viel
besuchten, öffentlich zugänglichen Sammlung präsentiert.
139
Zitiert nach Badelt, Sandra: Die Nackte Wahrheit, erschienen in: Badelt, Sandra;
Wismer, Beat (Hrsg.): Diana und Actaeon – Der verbotene Blick auf die Nacktheit,
Stuttgart, 2008, S.199.
140
Günter Metken geht ausführlich auf die Geschichte und Rezeption des Werkes ein,
Vgl. Metken, Günter: Gustave Courbet. Der Ursprung der Welt. Ein Lust-Stück,
München/New-York, 1997.
- 65 -
Ingo Herrmann
Wenige Jahre nach der Fertigstellung von Courbets Gemälde entwickelte
sich in Amerika ein Vorläufer des Kinos, mit dem der Fotograph Muybridge
Bewegungsabläufe von Pferden festhalten konnte; ein Ereignis, welches
Albert Goldbarth in seinem Gedicht als „The Origins of Porn“ beschreibt:
„1878, Muybridges Photoserie über Pferde:
Wenn wir das Pferd studieren, verstehen wir,
wie die Pornographie auf die Erfindung
der Photographie folgte. Da ist ein dunkler auffälliger Muskel,
von Flanken umrahmt. Da ist
die Frage, eine akademische Frage, an welcher Stelle
die Brust einer Frau den höchsten Punkt erreicht,
wenn sie springt? In den frühen Versuchen mit der Stoppuhr
fiel das Licht an der Brust herab wie Steinschlag. Da ist
die Frage nach der Zeit, da ist die Genauigkeit der Sepia.
Das Pulver explodiert:
Im Vordergrund – zwei Liebende / ein Korb / roter Wein.
Dahinter ein gestoppter, schäumender Vollblüter.
Gibt es einen Moment, in dem alle vier Hufe in der Luft sind?
Und so erfinden wir die Pornographie.“141
(Albert Goldbarth, ‚The Origins of Porn‘)
Edward Muybridge beantwortete die von Leland Stanford aufgeworfene
Frage, ob ein Pferd im Galopp alle vier Hufe in der Luft habe oder ob
immer ein Huf am Boden bliebe, zugunsten des Freiflugs. Damit hatte er
dem in Entstehung begriffenen Medium des Films einen gewissen
„Wahrheitsgehalt“
zugewiesen,
da
die
aufeinander
folgenden
Fotographien bewiesen, dass es tatsächlich einen Moment gab, in dem
alle Hufe des Pferdes in der Luft waren. Dies war bis dahin für das
menschliche Auge jedoch mehr erahnbar als wirklich sichtbar. Diese
Inspektions- und Dokumentationskraft wurde binnen kurzer Zeit auch
genutzt um menschliche Bewegungsabläufe festzuhalten – nicht zuletzt
nackte Menschen in expliziten Situationen.142 Die Frage mit welchem
Zweck diese Motive von Muybridge und seinen Nachfolgern aufgezeichnet
wurden, ob es nun reine Bewegungsstudien des nackten Körpers oder
erste erotisch-pornographische Anklänge der Filmkunst waren, ist müßig
141
Die deutsche Übersetzung des Gedichts ist abgedruckt in: Williams, Linda (1995):
a.a.O., S.65.
142
Vgl. Williams, Linda: Hard Core, Frankfurt (Main), 1995, S.65ff.
- 66 -
Ingo Herrmann
zu beantworten. Fakt ist der Wahrheitsgehalt, der sich von diesem
Moment
an
mit
dem
bewegten
Bild
verbindet
und
zahlreiche
„akademische Fragen“ beantwortet (ein Fakt, der – wie bereits erwähnt –
in den White Coaters der 1960er Jahre immer noch nachwirkt).
Die
Pornographie-Kritikerinnen
verweisen
schließlich
auf
einen
Sachverhalt, der sich beim häufigen Betrachten von Pornographie eröffnet
und den bereits Freud ausführlich analysiert hatte. Der Mann hat den
Phallus, die Frau dagegen ist definiert über die Abwesenheit eben jenes
Phallus. Folglich ist der Mann für die Feministinnen im pornographischen
Film klar repräsentierbar (der erigierte und ejakulierende Penis, der money
shot), die Frau dagegen nicht, sie bleibt ein Fragezeichen, eine Nicht-zuSehende. Die feministische Kritik, die sich daraus entwickelt, ist recht
eingängig: Der männliche Zuschauer, der sich mit dem Träger des Phallus
identifiziert, besitzt die Frau stellvertretend durch den männlichen
Darsteller, penetriert sie und degradiert sie somit zum Objekt. Die
Herausstellung des Geschlechts wird demnach als Gewaltakt begriffen,
der die Frau verletzt.
Dies
allein
wäre
jedoch
aus
feministischer
Perspektive
weniger
kritikwürdig, stünde nicht der Wahrheitsgehalt des gezeigten Bildes, der
sich aus den oben ausgeführten Ursprüngen des Films und der
vermeintlichen „Beweiskraft“ seiner Bilder ergibt, mit der narrationslosen
„Geschlechtsschau“ des pornographischen Films Ende der 1960er,
Anfang der 1970er Jahre im Zusammenhang. Schließlich ist es der
pornographische Film, der sich bis dahin weitestgehend die Authentizität
der
Bilder
erhalten
hat
und
sich
gegenüber
„hollywoodesken“
Inszenierungen verwehrt hat. Hinzu kamen schlechte Schauspieler und
eine amateurhafte Technik, die den Eindruck der Authentizität durch
Laienhaftigkeit noch unterstützen und den vermeintlichen Wahrheitsgehalt
der pornographischen Bilder noch erhöhten.
- 67 -
Ingo Herrmann
5.4
Vezzolis Herangehensweise
Der von Vezzoli geschaffene Trailer kann, wie die Vorlage auch, als
hollywoodesk inszeniert bezeichnet werden. Vezzoli erreicht dies zum
einen durch die strukturelle Anlehnung an einen Kino-Trailer und zum
anderen durch die inhaltliche Anlehnung an den Originalfilm. Beide
unterscheiden sich oberflächlich nur durch zeitgenössische Anpassungen,
verbergen jedoch nicht ihren Inszenierungscharakter, womit sich der zuvor
besprochene „Wahrheitsgehalt“ des filmischen Bildes für beide relativiert –
ein Phänomen für das nicht Guccione verantwortlich zu machen ist,
sondern das sich weitaus früher entwickelt hat (siehe oben). Diese
Relativierung des „Wahrheitsgehalts“ ist wiederum auch auf das Wesen
des
Trailers
als
Film-Werbung
zurückzuführen,
die
per
se
auf
Überzeugungskraft und Emotionalität zielt.
Vezzoli übernimmt also zunächst das Denksystem und Vokabular
Hollywoods, wie auch Guccione und Brass den pornographischen Film an
die Strukturen des historischen Hollywoodfilms anlehnten. Die komplexe
Handlung, die Beteiligung von bekannten Schauspielern, die Anlehnung
an das Genre des Historienfilms, allesamt Charakteristika mit denen sich
beide Filme vom Wahrheitsgehalt des Bildes distanzieren und „Hollywood“
adaptieren. Darüber hinaus wird allerdings die vermeintlich perfekte – aber
inszeniert unwirkliche – Oberfläche durch Störelemente aufgebrochen.
Von diesen Störelementen sollen vier erwähnt werden: Die Verwendung
von Vidals Namen, die Integration von Homosexualität, die bereits oben
erwähnte
Herausstellung
des
Geschlechts
und
schließlich
die
Herrschaftsbeziehungen zwischen Männern und Frauen.
So gewann Vezzoli Gore Vidal, dessen Trennung vom ursprünglichen
Filmprojekt sich in der Änderung des Titels wiederspiegelt. Ursprünglich
sollte der Film ‚Gore Vidals Caligula’ heißen, dieser Titel wurde jedoch
aufgrund der Streitigkeiten zwischen Vidal, Brass und Guccione in
Caligula (dt. Caligula – Aufstieg und Fall eines Tyrannen) abgeändert.
Vezzoli nimmt den ursprünglichen Titel wieder auf, indem er seinen Trailer
„Remake of Gore Vidals Caligula“ betitelt. Genau genommen mangelt es
Vezzolis Trailer damit an einer filmischen Vorlage, da Bezug auf einen
- 68 -
Ingo Herrmann
Vorgängerfilm genommen wird, der – zumindest rechtlich – nicht existierte.
Damit distanziert sich Vezzoli von seiner Vorlage und wendet sich eher
dem oben erwähnten „Idealskript“ Vidals zu.
Wichtiger als der namensrechtliche Aspekt erscheinen die inhaltlichen
Aspekte zu sein, die Vezzoli verarbeitet. Wie oben ausgeführt, kann man
eine recht konkrete Gedankenwelt Gore Vidals zu Beginn der 1970er
Jahre
rekonstruieren.
Vidal
lässt
sich
als
Vorkämpfer
der
Homosexuellenbewegung, als Befürworter einer Pornographie, die sich
nicht auf reine Geschlechtsschau beschränkt, sondern Charaktere zulässt
und schließlich als Vertreter des Feminismus charakterisieren. “Who but
Gore? Gore is the intellectual and cultural bridge between Italy and
America, who else - what gay man - could represent the link between
cinema, literature, history - everything I care about? Only Gore. He is the
master.”143 Dieser Satz spricht nicht nur die Bewunderung an, die Vezzoli
Vidal entgegenbringt, sondern ist zudem Hinweis auf die intensive
Auseinandersetzung mit seinem Werk, die in Vezzolis Remake-Trailer
Form annimmt.
Zum einen ist der Trailer nicht nur mit einigen homosexuellen Szenen
ausgestattet, sondern er wird vielmehr von homosexuellen Bildern
bestimmt. Neben küssenden Männerpaaren, Männern die sich lustvoll
nachblicken und sogar einem Dialog zwischen Karen Black als Agrippina
(„I hear, you have a taste of young boys…“) und Glenn Shadix als
Claudius (schelmenhaft verneinend), scheint hiermit Vidals ursprüngliches
Ideal einer nicht festgelegten Sexualität verwirklicht, eines „sexual
crisscrossing“, das keinen Unterschied zwischen der Sexualität von Mann
und Frau, Frau und Frau oder Mann und Mann macht.
Weiterhin vermeidet Vezzoli die Darstellung von Genitalien in seinem
Trailer. Auch wenn in manchen Einstellungen die Möglichkeit bestanden
hätte diese expliziter zu zeigen, beschränkt er sich z.B. auf die Sklaven
mit denen Tiberia (Helen Mirren) über das Anwesen schreitet. Stattdessen
sind im Film mehrmals künstliche Geschlechtsteile zu sehen, goldene
Dildos. Diese dienen allerdings nicht als Ersatz für die echten männlichen
Geschlechtsteile, sondern werden von Frauen getragen, womit Vezzoli
143
http://artforum.com/diary/id=10798 (am 31.März 2008).
- 69 -
Ingo Herrmann
jegliche Zuordnung von Geschlecht und Sexualität überblendet, da Frauen
mit goldenen Dildos Sex mit Männern haben, aber auch mit Frauen die
kein Dildo umgeschnallt haben usw. Der goldene Phallus gerät damit zu
einer symbolischen Farce, die das Geschlecht, welches in unzähligen
pornographischen Filmen ins Zentrum der Aufmerksamkeit gerückt wird,
vergoldet in Szene setzt. Des Weiteren wird die konkrete Zuschreibung
von Geschlechtern zu einem Rätsel, was wiederum die feministische
Pornographie-Kritik in Frage stellt.
Schließlich vertauscht Vezzoli noch einige Rollen des Films und besetzt
eine eigentlich männliche Rolle mit einer Frau und eine weitere männliche
Rolle doppelt mit einem Mann und einer Frau. So ist Tiberius, der Kaiser
den Caligula historisch beerbt, historisch ein Mann, wird bei Vezzoli
jedoch zu Tiberia. Caligula selbst – historisch ebenfalls ein Mann – wird
einerseits von Vezzoli gespielt (am Beginn des Trailers) und am Ende von
Courtney Love dargestellt. Auffällig ist hierbei, dass allein die beiden
Kaiser,
also
Tiberius
und
Caligula,
diesem
Geschlechterwandel
unterzogen werden, alle anderen Charaktere bekommen – zumindest in
der Cast List – eine eindeutige Rolle zugewiesen, auch wenn dies im
Hinblick auf die Dildos manchmal undurchsichtig erscheint.
Vezzoli vollzieht damit die von Bronfen und Vinken erwähnte Aneignung
und Umcodierung des pornografischen Modells und bemächtigt sich eines
Pornographiecodes, um diesen – wenn nicht in eine weibliche, so doch in
eine homosexuelle „Sprache“ umzuformulieren. Ebenso könnte Vezzolis
Vorgehen
als
die
von
Cornell
angesprochene
Erweiterung
des
„hegemonialen Imaginären“ durch einen Homosexuellen interpretiert
werden, als deren gedanklicher Vorreiter Vidal zu bezeichnen wäre.
Beide Interpretationen würden auf eine Inszenierung einer „anderen
Realität“
als
der
heterosexuellen
hinauslaufen.
Neben
diesem
feministischen Ansatz, die Machtökonomie der zugrunde liegenden
Geschlechterkonstruktionen offen zu legen, und dem Bezug zu den
Positionen
Vidals
Wahrheitsgehalt
stellt
des
sich
damit
filmisch
auch
die
inszenierten
Frage
nach
Bildes.144
dem
Dieser
Wahrheitsgehalt war schon bei Guccione hinfällig, da nicht mehr „wahre“
144
Vgl. Bronfen, Elisabeth (2004): a.a.O., S.51.
- 70 -
Ingo Herrmann
Bilder Verwendung fanden, sondern eine Handlung inszeniert wurde.
Vezzoli geht jedoch nicht von einer Dichotomie wahr/unwahr aus, sondern
sieht
die
Ambivalenz
des
Bildes
in
seinem
permanenten
Inszenierungscharakter, der keine Wahrheit zulässt. Da sowohl ein – aus
feministischer Sicht – kritikwürdiges Bild inszeniert werden kann,
andererseits aber die Möglichkeit besteht, jenes Bild mittels einiger
Störelemente in eine andere „Sprache“ umzuformulieren, scheint es für
Vezzoli keine „wahren“ Bilder zu geben. Das Bild ist somit immer ein
„inszeniertes Bild“ und wird so von Vezzoli dekonstruiert.
Der Grund, warum das mutmaßliche Remake des Caligula-Films von 1979
als „Teaser“ zu einer Verwirklichung des von Vidal angedachten Skripts
bezeichnet werden kann, dessen Ideale von Guccione und Brass filmisch
nur unzureichend verwirklicht wurden, ist schließlich ein ökonomischer.
Eine derart liberale Einstellung bezüglich Homosexualität und sexueller
Freizügigkeit hätte einige der Zuschauer von Gucciones Film ferngehalten
und schließlich den Film und die immense Investition gefährdet. Dass der
Film zu einem nicht unerheblichen Teil ein „Investment“ war, äußerte
Guccione mehrfach in Interviews:
„We [Penthouse] were the single largest investor in such films
[and] made a lot of money. […] So, with that intent, I sought and
obtained both Franco's and Gore's agreement to weld scenes of
explicit sexuality […] to an otherwise establishmentarian project
- i.e, big stars, big budget, big profit et cetera, et cetera.”145
Jedoch liegt mit dem Trailer keinesfalls eine Beschränkung auf die
Verwirklichung eines vermutlich verworfenen Skripts oder die Antwort auf
die Realisierung eines „establishmentarian project“ vor. Vielmehr ist
Vezzolis Werk vielschichtiger.
Ausgangspunkt ist dabei erneut die Person Vidals. Nicht nur dessen
Beteiligung und Autorenschaft des Skripts brachten den Dreharbeiten
einen gewissen Grad an Aufmerksamkeit, sondern sogar der Rückzug
Vidals aus dem Film. Die Unterlassungsklage um die Namensänderung
etc. wurde ausführlich in der Presse, zum Beispiel im TIMES Magazine,
145
Guccione, Bob (1980): a.a.O., S.147.
- 71 -
Ingo Herrmann
kommentiert.146 Diese unterstrichen damit nur noch die mystifizierende
Werbestrategie Gucciones, der keine weiteren Informationen über den
Film herausgab und den Drehort von der Presse abschirmte, um bewusst
Gerüchte im Raum stehen zu lassen. Gerade diese MarketingBeweggründe Gucciones stellen einen herausragenden Moment dieses
Films dar. Guccione präsentiert erstmals den Hardcore-Porno einer
breiten Öffentlichkeit als gewinnorientierter Unternehmer und hebt die
langwährende
Trennung
von
Hollywood
und
Pornographie,
von
Inszenierung und Wahrheit endgültig auf. Zwar hatte ein Film wie Deep
Throat und viele seiner Nachfolger diese Trennung ebenfalls überwunden,
allerdings schaffte es keiner dieser Filme ein ähnlich bewusst kalkulierter,
breitenwirksamer Kinoerfolg zu werden wie Caligula, weil keiner zuvor ein
derartiges Marketing betrieb wie Guccione.
Vezzolis Entscheidung einen Trailer zu drehen, also Filmwerbung
thematisch in sein Projekt zu integrieren, ist auch auf die von Guccione
beschriebene Werbestrategie zurückzuführen. Zweck von Werbung
besteht in erster Linie darin, zum Konsum zu bewegen (oder in diesem
Fall zum Filmsehen zu animieren), indem sie die (1) Aufmerksamkeit des
Konsumenten
erregt.
Der
Konsument
ist
aber
aufgrund
des
Inszenierungscharakters der Bilder nicht mehr gehalten, sich mit einem
konkreten Objekt auseinanderzusetzen, sondern mit einer abstrakten
Idee.147
Der Zweck der Pornographie – die auch Teil dieser Idee des Trailers ist –
besteht in erster Linie darin, (2) sexuelle Erregung hervorzurufen, womit
abschließend Seesslens Analyse bestätigt werden kann, dass der
pornographische Film mit dokumentarischem Charakter einer Entwicklung
weicht,
die
als
„Bruch
mit
der
Wirklichkeit“
nicht
unzutreffend
charakterisiert ist.
„Zu Beginn der siebziger Jahre war das Publikum soweit, nicht
mehr nach der Wirklichkeit der gezeigten Sexualität zu fragen,
146
Vgl. z.B."Will the Real Caligula Stand Up?", erschienen in: Time Magazine, 03.Januar
1977, S.69
147
Vgl. Bliemel, Friedhelm; Kotler, Philip: Marketing Management – Analyse, Planung
und Verwirklichung, 10.Auflage, Stuttgart, 2001, S.17ff. sowie Meffert, Heribert;
Baumann, Christoph; Kirchgeorg, Manfred: Marketing – Grundlagen marktorientierter
Unternehmensführung – Konzepte, Instrumente, Praxisbeispiele, 10. Auflage,
Wiesbaden, 2008, S.623ff.
- 72 -
Ingo Herrmann
alles Interesse an der Authentizität zu verlieren. […] Der Weg
mußte also […] vom dokumentarischen, distanzierenden zum
inszenierten pornographischen Film führen, der auf alles
verzichten
konnte,
was
seinem
eigentlichen
Ziel
entgegenstand: den Zuschauer in einen Zustand sexueller
Erregung zu versetzen, in dem er alles andere vergessen
konnte.“148
Beide Aspekte verschränken sich in Vezzolis Trailer.
6
Stars und Populärkultur
Die oben ausgeführte Verknüpfung von Werbung, Sexualität und
Pornographie soll in diesem Kapitel näher untersucht werden. Die
Breitenwirksamkeit
konnte
Guccione
durch
die
bereits
erwähnte
Werbestrategie erreichen, allerdings ohne dabei nachhaltige Erfolge für
das Genre des pornographischen Films zu etablieren. Der Umsatz der
Pornoindustrie in den USA ist heutzutage zwar deutlich höher als der
Umsatz Hollywoods, allerdings erhalten nur wenige ausgenommene
Pornos Medienaufmerksamkeit, die ihnen größere Bekanntheit im
Rahmen
der
Medien
beschert,149
wohingegen
Hollywood-Filme
verhältnismäßig viel Aufmerksamkeit erhalten. Neben allen Leistungen
Gucciones ist der Erfolg des Caligula-Films aber nicht zuletzt auf die
Beteiligung von Stars zurückzuführen.
Vidal, O’Toole, Glielgud und McDowell waren allesamt „Stars“ und
sicherten – gerade in einem so anrüchigen Projekt – ein verhältnismäßig
hohes Maß an Aufmerksamkeit und damit einen immensen Werbewert.
Diese Tatsache greift auch Vezzoli auf, der, wie Guccione, eine Vielzahl
von Stars in sein Werk integriert und schließlich auch von deren
Bekanntheit profitiert. Wie Sexualität und Pornographie sind auch die
Stars Verkaufsargument des Caligula-Films, beziehungsweise war es
genau
diese
Kombination,
von
der
sich
Guccione
besondere
Aufmerksamkeit erhoffte. Daher soll in diesem Kapitel das Verhältnis von
148
Seesslen (1993): a.a.O., S.225f.
Heil, Christiane: Pornoindustrie - Die Nackten und die Toten, erschienen in:
Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung, 10.September 2006, Nr.36, S.60.
149
- 73 -
Ingo Herrmann
Stars und Sexualität in der Werbung erörtert werden. Anschließend wird in
einem
kurzen
theoretischen
Exkurs
auf
den
Begriff
der
Kulturindustrialisierung und des Stars eingegangen, wobei vor allem die
Stars in der Kunstwelt Erwähnung finden.
Um schließlich die Überschneidungen von Vezzolis Werk und der
Populärkultur
zu
verdeutlichen,
sollen
die
Zusammenhänge
von
zeitgenössischer Modefotographie und Kunst herausgearbeitet werden –
der Italiener Vezzoli unterhält schließlich gute persönliche Beziehungen zu
Prada, Gucci und Versace. Abschließend wird sein Ansatz verdeutlicht,
den Kunstmarkt – welcher ein wesentliches Thema des Trailers ist – bis
zur Entstehung im Jahr 2005 zu dekonstruieren.
6.1
Sex Sells – Sexualität und Werbung
Ein Aspekt, den es näher zu untersuchen lohnt und der sich dem
Betrachter mit der Erkenntnis, dass es sich bei Vezzolis Trailer im
weitesten Sinne um „Werbung“ handelt, beinahe aufdrängt, ist die
bekannte Werbestrategie der sexuellen Konnotation von Bildern. Diese
vermeintlich
verkaufsfördernde
Werbemaßnahme
lässt
sich
umgangssprachlich unter dem Schlagwort „Sex-sells“ subsumieren, was
mit einer allgemein um sich greifenden Sexualisierung in Verbindung
gebracht wird, die auch in der Werbewirtschaft Anwendung findet. Auch
wenn eine Korrelation zwischen aufreizendem Bild und Verkaufsförderung
nicht ausnahmslos wissenschaftlich bestätigt werden konnte, hat sich die
Anwendung in der Werbung seit dem Zweiten Weltkrieg fest etabliert.150
In diesem Kontext veröffentlichte Brooke eine Studie, in der er auf einen
entscheidenden Mechanismus der modernen Werbeindustrie verweist, der
Sexualität als scheinbares Kaufargument benutzt. Er überträgt dabei
Benjamins Aura-Begriff, also das Erlöschen der Aura, der Originalität
150
Vgl. Brooke, Collin Gifford: Sex(haustion) Sells – Marketing in a Saturated
Mediascape, erschienen in: Reichert, Tom; Lambiase, Jacqueline (Hrsg.): Sex in
Advertising – Perspectives on the Erotic Appeal, Mahwah / London, 2003, S.133ff.
- 74 -
Ingo Herrmann
eines Kunstwerks durch die technische Reproduzierbarkeit,151 auf die
Werbewirtschaft. Er zieht den Werbespot Two Kids von Pepsi heran.
„‘Two Kids’ opens out in the country, in an unnamed heartland
state. In the middle of this farmland, two preteen boys are
leaning against a fence watching the day pass. Up drives a red
sports car, and out steps [Cindy] Crawford, clad in a bikini top
and cut-off-shorts. She approaches a nearby vending machine,
selects a Pepsi, and the two boys are struck almost wordless.
The camera begins a slow pan up the length of Crawford’s body,
and the boys express their admiration, not for the supermodel
herself, but for the ‘new can’ design that Pepsi is debuting in the
commercial.”152
Dieser Werbefilm agiert auf mehreren Ebenen. Er reiht sich in eine
Schlange von unzähligen Filmen ein, die von sexualisierten Bildern
profitieren, indem der (vorwiegend) männliche Zuschauer aufgefordert ist,
eine Verbindung zwischen Crawford und Pepsi herzustellen. Ebenso ist
eine Strategie des „wink-marketing“ zu erkennen, indem der Betrachter
darüber schmunzeln soll, dass die Jungen, statt der schönen Crawford,
die Dose Cola bewundern. Brooke arbeitet eine weitere Interpretation
heraus.
„We pay more attention to Crawford, but the advertisement
implies that perhaps it is our urban cynicism, an attitude that
these country boys do not share, that effects our reception of the
scene. Rather than asking us to identify with the boys, this
commercial consciously introduces a gap between our
perception and theirs. Perhaps there is some homespun wisdom
in the boy’s observation, and there is something so special
about Pepsi that it is worth our attention despite Crawford’s
presence.”153
Brooke
stellt
demnach
auf
die
Zugänglichkeit
beziehungsweise
Unzugänglichkeit von Waren ab. Crawford erscheint dem Betrachter als
unerreichbares Objekt der Begierde, Pepsi hingegen ist ein verfügbares
Produkt, das in der Theorie der Werbenden als Surrogat für das
unbefriedigte Bedürfnis nach der aufreizenden Cindy Crawford dient und
151
Benjamin, Walter: Das Kunstwerk im Zeitalter seiner technischen Reproduzierbarkeit,
Frankfurt /Main,(1936) 2007
152
Brook (2003): a.a.O., S.141.
153
Ebd., S.141.
- 75 -
Ingo Herrmann
den „…circuit of desire…“154 komplettiert. Die Jungen – als Protagonisten
– nehmen das unbefriedigte Bedürfnis des Betrachters bereits vorweg.
„In such advertisements, it is not the sex that is selling us, but
rather the opportunity to avoid the inevitable compromise that
decades of sexuality charged advertisements have led us to
expect. By closing the circuit, these commercials vacate sex as
a category or an object of desire…”155
Vezzoli übernimmt die beschriebene Strategie für seinen Trailer, vereinigt
allerdings nicht Sex und Star in einer einzigen Person – wie es die Pepsi
Werbung mit Crawford macht –, sondern überspitzt die Werbewirkung von
Sex-sells, indem er eine Unzahl an Stars, Celebritys und Prominenten in
seinen Film integriert und diese in die aufreizende Rahmenhandlung eines
vermeintlich
pornographischen
Films
einbindet.
Hinzu
kommt
die
Inszenierung in dekadenten Bildern, die ein zusätzliches Bedürfnis
wecken. Dem Betrachter wird jedoch sowohl der Sex verweigert, da der
vermeintliche Film nie gedreht wird und der Betrachter sich mit dem Trailer
zufrieden geben muss, als auch die Nähe zu den im Film auftretenden
Stars.
Die
perfekten
Bilder
unterstützen
dabei
lediglich
den
Inszenierungscharakter des Werkes. Einzig der Trailer bleibt als
Verbindung zu den benannten Phänomenen bestehen und kann zur
Befriedigung der durch ihn hervorgerufenen Bedürfnisse dienen.
6.2
Kulturindustrialisierung und Celebrity Culture
Die Grundlagen für die Entwicklung hin zu den „idols of consumption“
liegen
in
den
frühen
1940er
Jahren,
als
der
deutschstämmige
Literatursoziologe Leo Löwenthal den Begriff prägte, der von diesem
Zeitpunkt
an
zur
Funktionserklärung
amerikanischer
Celebritys
herangezogen wurde. Er beobachtete erstmals, dass Celebritys häufiger
in nichtfunktionalen Zusammenhängen in Erscheinung treten und von ihrer
tatsächlichen und relevanten Stellung in der Gesellschaft abgekoppelt, in
einer „sphere of leisure time“ auftauchten. Biographien, so seine Analyse,
würden beispielsweise nicht mehr wegen ihres Vorbildcharakters und als
154
155
Ebd., S.143.
Ebd., S.143.
- 76 -
Ingo Herrmann
„Anleitung zum Erfolg“ gelesen, sondern zur reinen Unterhaltung. Damit,
so Löwenthal, fand ein Paradigmenwechsel von den "idols of production"
(wie z.B. Politikern oder Industriellen) zu den „idols of consumption“ (wie
z.B. Filmstars oder Sportlern) statt.156 Dieses Konzept wurde von Schülern
und Anhängern Löwenthals dahingehend erweitert, dass Celebritys in
einer
konsumgeprägten
Gesellschaft
eine
Vorbildfunktion
für
das
Konsumverhalten einnehmen.157
Etwa zur selben Zeit wie Löwenthal beschäftigen sich Theodor W. Adorno
und Max Horkheimer mit dem Begriff der Kulturindustrie. Dieser Begriff
bezeichnet die planmäßige Herstellung von Kulturerzeugnissen wie Film
oder Musik, die auf einen massenhaften Verbrauch zugeschnitten sind
und deren Konsumierung ihr Vorhandensein bestimmt.
„Die Kulturindustrie fügt Altgewohntes zu einer neuen Qualität
zusammen. In all ihren Sparten werden Produkte mehr oder
minder planvoll hergestellt, die auf den Konsum durch Massen
zugeschnitten sind und in weitem Maß diesen Konsum von sich
aus bestimmen. Die einzelnen Sparten gleichen der Struktur
nach einander oder passen wenigstens ineinander. Sie ordnen
sich fast lückenlos zum System. Das gestatten ihnen ebenso die
heutigen Mittel der Technik wie die Konzentration von Wirtschaft
und Verwaltung.“158
Diesen kulturindustriellen Produkten stehen die autonomen Kunstwerke
gegenüber,
wobei
sich
Adorno
und
Horkheimer
über
den
Konstruktionscharakter dieser idealtypischen Dichotomie bewusst waren.
„Die Autonomie der Kunstwerke, die freilich kaum je ganz rein herrschte
und stets von Wirkungszusammenhängen durchsetzt war, wird von der
Kulturindustrie tendenziell beseitigt…“.159 Damit meinen die Autoren den
Unterschied zwischen Kunst und Kulturindustrie, der für Adorno und
156
Vgl. Löwenthal, Leo: The Triumph of Mass Idols - Literature, Popular Culture, and
Society, Englewood Cliffs, 1961, S.52ff.
157
Vgl. Zelizer, Barbie: What's Rather Public About Dan Rather - TV Journalism and the
Emergence of Celebrity , erschienen in: Journal of Popular Film and Television, 17/2,
1989, S.74.
158
Adorno, Theodor W.: Résumé über Kulturindustrie, erschienen in: Adorno, Theodor
W.: Ohne Leitbild – Parva Ästhetica, Frankfurt/Main, 1967, S.60f.
159
Ebd., S.61.
- 77 -
Ingo Herrmann
Horkheimer
darin
besteht,
dass
Erstgenanntes
auch
Ware,
Zweitgenanntes dagegen nur Ware ist.160
Diese drei Autoren stellen in der Beschäftigung mit dem Schlagwort
Kulturindustrie stets einen Ausgangs- und Bezugspunkt dar und auch
spätere Untersuchungen stimmen noch damit überein, dass
„…the ownership and control of the means of production and of
distribution circuits, the trends toward the concentration and
internalization of the most representative firms, and the
subordination of creative artists to market forces or to more or
less overtly dictated consumer demand...”161
eine Gefährdung für die Kunst seien. Der hier zitierte UNESCO-Bericht ist
allerdings
weniger
kritisch,
was
die
vergangene
und
weniger
pessimistisch, was die weitere Entwicklung betrifft. Zum Einen hätten sich
Menschen mehr kulturelle Fähigkeiten und Wissen über Kultur durch den
Zugang zu Kunst, Büchern, Radio usw. angeeignet, zum Anderen sehen
die
Verfasser
des
Berichts
Entwicklungsmöglichkeiten
wie
die
Herausbildung nationaler Kulturcluster vor, die in ihrer Summe zumindest
internationale Vielfalt erhalten und nicht der Massenkultur anheim
fallen.162
Bei Adorno und Horkheimer findet sich die Anekdote des todkranken
Beethoven, der einen Roman von Walter Scott mit dem Ausruf: „Der Kerl
schreibt ja für Geld“ von sich schleudert, „…und gleichzeitig noch in der
Verwertung der letzten Quartette […] als überaus erfahrener und
hartnäckiger
Geschäftsmann
sich
zeigt…“.163
Diese
vermeintliche
Doppelmoral ist für Adorno und Horkheimer „…das großartigste Beispiel
der Einheit der Gegensätze Markt und Autonomie…“.164 Vom Künstler
verlangen sie, dass er diese Einheit in das Bewusstsein seiner Produktion
aufzunehmen habe.
160
Vgl. Negus, Keith: The Production of Culture, erschienen in: Gay, Paul du (Hrsg.):
Production of Culture / Culture of Production, London, 1997, S. 70ff.
161
UNESCO: Culture Industries – a challenge for the future of culture, Paris, 1982, S.21.
162
Vgl. ebd., S.205-232.
163
Adorno, Theodor W.; Horkheimer, Max: Dialektik der Aufklärung, Gesammelte
Schriften, Band 3, Frankfurt/Main, 1997, S.181.
164
Ebd., S.181.
- 78 -
Ingo Herrmann
Durch die Verwendung eines standardisierten Trailers, der nicht nur
Inhalte seiner Vorlage übernimmt, sondern dazu fast alle Charakteristika
eines regulären Kinotrailers aufweist, könnte Vezzolis Caligula-Trailer bei
oberflächlicher Betrachtung als kulturindustrielles Produkt wahrgenommen
werden. Dass Vezzoli jedoch keine „Zwecklosigkeit für Zwecke“165
unterstellt werden kann, konnte bereits oben gezeigt werden. Vielmehr
verwendet er die Form eines Trailers und stattet diesen mit Störelementen
aus, die eine Dekonstruktion möglich machen, womit genau dieses
Bewusstsein der Einheit in den Trailer integriert wird.
In einem Interview in dem kanadischen Kunst-Magazin C: International
Contemporary Art über die Bedeutung von Mode ist folgender Ausschnitt
aus einem Gespräch zwischen dem kanadischen Journalisten Ryan
English und Vezzoli wiedergegeben:
“Ryan English: In Caligula all the costumes were designed by
Donatella Versace. You mentioned […] your interest in Vivienne
Westwood so I am just wondering, how does fashion inform your
aesthetic?
Vezzoli: Well, I think there was a very interesting article recently
in The New York Times that said whichever creative or
intellectual environment you inhabit there is still a kind of
intellectual complex towards fashion ... people still don't take it
seriously. Somehow, and you know, for once and forever, I'd like
to come out and say that – even though the intelligent people
may have said this many times – but fashion as a matter of fact,
is a cultural phenomenon, I mean a cultural department that is
as important as literature, as art, as cinema. You know, for me, it
simply is actually a kind of a ... creative place. The fact that you
have a fashion show every six months, you gather all the people
from the media in one place and you show the fruit of your
labour. It's a very modern creative department. And I don't see
why people […] have a kind of an issue of fear towards it. I
mean, I am greatly fascinated by fashion. Fashion has been an
inspiration for me like a matter of curiosity or interest. It's not
contemporary art. It is another discipline because, I think, every
discipline has its own critics, its own experts, its own historians
but, you know ... the history of fashion is so fascinating. Why be
afraid of it? If you like it, you try to use it and to involve it in your
language.
RE: Well, I think that is actually very refreshing because I think it
is true that it is somehow [considered] anti-intellectual.
165
Ebd., S.183.
- 79 -
Ingo Herrmann
FV: Well, my work is very much about confronting that fear.” 166
Diese Konfrontation beschränkt sich bei Vezzoli allerdings nicht auf den
Einbezug Donatella Versaces als Kostüm-Designerin, sondern ist
weitgreifender. Vezzoli beauftragte für den gesamten Produktionsprozess
nicht nur hoch professionalisierte Dienstleister des Mediengewerbes,
vielmehr engagierte er Stars. Sowohl Donatella Versace, Matthias Vriens
wie alle beteiligten Schauspieler sind „Stars“ in ihrem Wirkungsbereich.
Graw spricht in diesem Zusammenhang von einer Adaption der „CelebrityLogik“, die konstitutiv für die Mode- und Filmwelt sei und sich von einer
vereinzelten Ausnahmeerscheinung zu einer strukturellen Angleichung der
Kunstwelt an andere Kulturindustrien – wie der des Films – entwickelt
hat.167
Bevor das Phänomen „Star“ näher betrachtet werden kann, sollen noch
einige Worte zum Begriff „Star“ geäußert werden. Dieser lässt sich zwar
analytisch von „Prominenz“ und „Celebrity“ trennen, soll aber dennoch
nicht in dieser analytischen Strenge verwendet werden. Vielmehr werde
ich die Begriffe alle im Sinn von „Berühmtheit“ verwenden, was bei der
Vielzahl der Überschneidungen zwischen „Stars“, „Celebritys“ und
„Prominenten“ aber irrelevant erscheint.
„Während es sich bei dem Begriff Prominenz um den Versuch
einer relativ neutralen Beschreibung einer vornehmlich medial
gesetzten Relationalität handelt, so ist von Stars dann die Rede,
wenn in weitaus stärkerem Maße auf affektive und moralische
Beteiligung der Star-Nutzer verwiesen wird.“168
Mit anderen Worten ist der Star abhängig von seinen Fans, die ihn als
Projektionsfläche, Idol oder sonst einer Weise nutzen. Celebritys sind
hingegen „Stars ohne Produkt“. Während klassische Stars immer ein
Produkt oder eine Fähigkeit vertreten, sind Celebritys produktlos und
vertreten nur sich selbst als Produkt. Als prominentes Beispiel hierfür sei
166
English, Ryan: Crashing fashion: Ryan English talks to Italian artist Francesco Vezzoli
on the occasion of his recent show at the Power Plant in Toronto, erschienen in:
International Contemporary Art, Winter, 2007, S.47.
167
Vgl. Graw, Isabelle: Der große Preis – Kunst zwischen Markt und Celebrity Kultur,
Köln, 2008, S.126.
168
Keller, Katrin: Der Star und seine Nutzer – Starkult und Identität in der
Mediengesellschaft, Bielefeld, 2008, S.152.
- 80 -
Ingo Herrmann
Paris Hilton erwähnt, Courtney Love dagegen ist eine „Mischung“, da sie
sowohl Celebrity als auch Musik-„Star“ ist.
6.2.1 Celebrity Logik – Allgemeines zum Star
Die Etablierung des Stars wird fälschlicherweise häufig mit dem Hollywood
der 1910er und -20er Jahre in Zusammenhang gebracht, das durch das
Wachstum der Filmwirtschaft genug Potential besaß, ein Publikum
kontinuierlich mit Filmen zu versorgen und die Kostendeckung für eine
beständige Imageproduktion der Stars zu garantieren. Allerdings gab es in
Amerika spätestens seit den 1820er Jahren ein Starsystem, als
Schauspieler
von
Theatern
landesweite
Bekanntheit
erlangten.169
Vielmehr ist der Begriff des „modernen“ Stars durch Hollywoodfilme
geprägt worden, der den Star in drei in der Literatur verbreiteten
Funktionszusammenhängen verortet.170
Stars sind Produkte, die durch ihren Produktionswert zugleich eine
gewisse Qualitätsgarantie repräsentieren. Das Wissen, dass ein Star an
einem bestimmten Film beteiligt ist, wird – neben anderen Kriterien, wie
Genre, Regisseur usw. – benutzt, um die Erwartungen an den Film zu
steuern. Zudem dienen sie der Produktdifferenzierung, indem sie darauf
hindeuten, was das Besondere an einem bestimmten Film ist und was ihn
von anderen unterscheidet. Weiterhin sind Stars – wie oben bereits
erwähnt – idols of consumption. Dieser von Löwenthal entwickelte und
noch heute gebrauchte Begriff deutet darauf hin, dass Stars als öffentliche
und private Personen genutzt werden, um die Art und Weise, was und wie
man
konsumieren
soll,
zu
beeinflussen.
Daraus
folgend
haben
Filmwissenschaftler sich damit auseinandergesetzt, wie Filme als
„Schaufenster“ des Warenkonsums funktionieren.171
169
Vgl. Staiger, Janet: Das Starsystem und der klassische Hollywoodfilm, erschienen in:
Faulstich, Werner; Korte, Helmut (Hrsg.): Der Star – Geschichte, Rezeption, Bedeutung,
München, 1997, S.50.
170
Vgl. ebd., S.50 sowie Dyer, Richard: Stars, London, 1979, S.142ff.; Balio, Tino: Stars
in Business – The Founding of United Artists, erschienen in: Balio, Tino (Hrsg.): The
American Film Industry, Madison, 1985, S.156ff.
171
Vgl. deCordova, Richard: Picture Personalities – The Emergence of the Star System
in America, Urbana, 1990, S.50f.
- 81 -
Ingo Herrmann
Neben diesem Produktzusammenhang sind Stars aber auch in einem
Repräsentationssystem verortet. Stars sind demnach immer mit gewissen
Eigenschaften assoziiert, die sie in jeden Film mit hineinbringen, wodurch
die Narration im Film vereinfacht wird, da sie bereits auf einen Typus
festgelegt sind.
Schließlich dienen Stars, so Dyer, auch der Ideologie, indem sie als
„…Verkörperung von idealen Verhaltensweisen…“172 erscheinen, was sie
durch
Bestätigung,
Verführung,
Verklärung,
Verschiebung
oder
Verdrängung von gesellschaftlichen Widersprüchen erreichen. Schließlich
haben sie die Möglichkeit durch „…zauberhafte Versöhnung der scheinbar
unverträglichen Momente eines Widerspruchs…“173 das zu kompensieren,
was ihren Bewunderern im Leben fehlt.174 So verfolgen CelebrityMagazine die Sorgerechtsprozesse von Britney Spears, die Adoptionen
von Brad Pitt und den Drogenexzess und –entzug von Amy Winehouse in
Prägung aller Funktionszusammenhänge.
Ein weiterer relevanter Punkt ist die Verantwortlichkeit für die Produktion
des Starimages, die sich im vergangenen Jahrhundert wesentlich
zugunsten der Stars selbst verschoben hat. So bestand bis 1955 in den
USA ein Studio-System, welches das Star-Image mit den Erfordernissen
des Studios und der Persönlichkeit des Stars in Einklang brachte. Ab 1955
mit dem Zusammenbruch des Studio-Systems übernehmen die Stars
diese Rolle selbst oder übertragen diese Aufgaben an externe Experten,
Spin-Doctors, Journalisten, Fotografen etc.
6.2.2 Stars in der Kunstwelt
“I am trying to analyze the fact of celebrity culture […] it is more and more
strongly related to the dynamics of the art world.”175 wird Vezzoli mit
Hinweis auf die beständige Verwendung von Stars in seinen Arbeiten vom
New York Times Magazine zitiert. Immer werden Stars, Prominente oder
172
Dyer, Richard (1979): a.a.O., S.24.
Ebd., S.32.
174
Vgl. ebd., S.24ff.
175
http://nymag.com/arts/art/features/39577/index1.html (am 23.November 2008).
173
- 82 -
Ingo Herrmann
Celebritys
in
Vezzolis
Kunst
integriert.
Eine
beständige
Auseinandersetzung mit dem Starphänomen innerhalb der Kunstwelt
erscheint daher folgerichtig. Aber nicht nur die Auseinandersetzung mit
Stars, deren Funktionszusammenhänge hinlänglich bekannt sind, werden
thematisiert, sondern auch die Stilisierung des Künstlers als Star und
damit die Übernahme der kulturindustriellen Funktionslogiken auf die
Kunst.
Die
künstlerisch-starhafte
Selbststilisierung
ist
rückblickend
keine
Errungenschaft Vezzolis. Vielmehr weisen Studien bereits auf Albertis
Selbstbildnis von 1450 und Dürers christusgleiches Selbstbildnis von 1500
hin und sehen ab der Renaissance eine gewisse Kontinuität, die in der
Inszenierung Rembrandts und Rubens einen ersten Höhepunkt findet und
sich schließlich über Goyas „Traum der Vernunft“ bis in die Neuzeit hinein
zieht. Bis in die 1970er Jahre sind nach Schwarz Künstlertypen der alten
Generation anzutreffen: Beuys, der immer mit Hut zu sehen war, Markus
Lüpertz, meist elegant gekleidet mit Zigarre, James Lee Byars immer in
schwarz.176
Dieser Typus ändert sich spätestens mit Warhol und wandelt sich
endgültig in den 1970er Jahren hin zu den Star-Künstlern einer neuen
Generation, die Strategien des Konsumgütermarktes anwandten, sexuelle
Diskurse aufgriffen und provozierten.177
Dass Kunst in den vergangenen Jahren zu einem Masseninteresse
geworden ist, war nicht allein Ergebnis der provokanten Künstler neuen
Typs – exemplarisch sei Jeff Koons erwähnt –, sondern ist auch den
vermehrten Publikationen über Kunst geschuldet. Durch ein erhöhtes
Interesse der Allgemeinheit an Kunst erhalten schlusslogisch auch
Künstler eine erhöhte Aufmerksamkeit. Nicht nur, dass sie vermehrt in
Berichten
der
gängigen
Gesellschafts-
und
Nachrichtenmagazine
auftauchen (Amica, Bunte, Focus, Gala, Spiegel, Stern etc.), sondern
außerdem zu einem Idealbild des modernen Kreativ-Arbeiters verklärt
176
Vgl. Schwarz, Michael: Das Phänomen des Künstlerstars, erschienen in: Faulstich,
Werner; Korte, Helmut (Hrsg.): Der Star – Geschichte, Rezeption, Bedeutung, München,
1997, S.195ff.
177
Vgl. ebd., S.199ff.
- 83 -
Ingo Herrmann
werden, der unternehmerische Eigenverantwortlichkeit mit Kreativität
kombiniert.178
In der zeitgenössischen Kunst, so Steininger, „…gilt Startum als
selbstverständliche,
elementare
Konstante
im
Betrieb.
Aus
den
Bohemiens, verkannten Genies, Außenseitern, Visionären […] sind
strahlende ‚Siegertypen’ mit Charisma und Vermarktungskapazitäten
entstanden…“179
Allerdings reagieren Ausstellungen auf den veränderten Kunstmarkt mit
neuen Ausstellungskonzepten, wie beispielsweise die Stiftung Insel
Hombroich oder der Direktor der Frankfurter Schirn, Max Hollein, der Mitte
2006 die Ausstellung Anonym - In the Future No One Will Be Famous
konzipierte. Die Werke auf Hombroich und in der Frankfurter Schirn
werden
(Hombroich)
beziehungsweise
wurden
(Schirn)
ohne
Namensangaben präsentiert, mit dem Ziel, die Aufmerksamkeit der
Besucher wieder mehr auf die Ausstellungsstücke zu lenken, weg von der
„Marke“ des Künstlers, hin zum „Produkt“ Kunst.180
Diese Entwicklungen des Kunstmarkts bescherten – wie bereits oben
erwähnt – auch Vezzoli nach Präsentation seines Caligula-Trailers auf der
Biennale eine vermehrte Aufmerksamkeit, die neben Preissteigerungen
seiner Werke und erhöhter Publizität auch in einer Zusammenarbeit mit
der Gagosian Gallery mündete.
Wie in einigen seiner Vorgängerarbeiten erscheint Vezzoli auch in seinem
Caligula-Trailer persönlich, nimmt jedoch keine Hauptrolle ein, wie
beispielsweise Jeff Koons in seinen Arbeiten häufig als einziger Akteur
sichtbar wird. Bei der einstündigen Pilotsendung Comizi di non amore ist
Vezzoli lediglich kurz als Zuschauer im Publikum zu erkennen. In dem
Theaterstück Right you are, if you think you are – bei dem Vezzoli jede Art
von professioneller Aufzeichnung unterband – war er ebenfalls nur Teil
178
Vgl. Graw, Isabelle (2008): a.a.O., S.156ff.
Steininger, Florian: Der Künstler als Star – Galionsfiguren, Erscheinungen,
Maskeraden. erschienen in: Kunsthalle Wien, Superstars – Das Prinzip Prominenz – Von
Warhol bis Madonna (Ausstellungskatalog, 4.11.2005 – 22.02.2006), Ostfildern Ruit,
2005, S.160.
180
Vgl. Lanzke, Alice: Der neue Hype um die Kunst - http://www.ard.de//id=504732/7xrhop/index.html (am 25.September 2008).
179
- 84 -
Ingo Herrmann
des Publikums. Allein in seinem Film Marlene Redux: A True Hollywood
Story! wird seine Person ausführlich erwähnt, finden die meisten
bekannten Pressefotos Verwendung, wird ausführlich über sein Leben
berichtet, werden Kinderfotos gezeigt und vermeintliche Bekannte
interviewt. Am Ende des Films wird er tot im Swimming-Pool seines
Anwesens aufgefunden, ermordet von einem fiktiven Stricher. In seinem
Caligula-Trailer ist Vezzoli – wie bereits erwähnt – nur einen kurzen
Augenblick zu erkennen, wie er sich als Caligula zwischen zwei
küssenden Männerpaaren auf dem Boden räkelt und den Betrachter
anlächelt. Caligula erscheint im Film zweimal, einmal gespielt von Vezzoli
selbst, das zweite Mal, nach dem Abspann, dargestellt von Courtney
Love, die nun auch einen Sprechanteil hat: „Caligula? I am Caligula! I
have existed from the morning of the world and I will exist until the last star
falls from the night. I am not mad, I know what I speak […] I am God.
Therefore I am Caligula.“
Vezzoli konstruiert damit eine Beziehung, die drei Punkte umfasst: Er (1)
stellt sich als Person oder Künstler vergleichend neben (2) den Celebrity
Courtney Love und bringt beide (3) in Zusammenhang mit der historischen
Filmgestalt.
Die Beziehung von Courtney Love und der historischen (Film-)Gestalt
ergibt sich aus der identischen Wortwahl aus dem Bezugsfilm. So steht
Malcom McDowell in Vezzolis Vorlage in der Halle der Senatoren und
erklärt: “I have existed from the morning of the world and I will exist until
the last star falls from the heavens.”
Betrachtet man nun die Textebene unter der Voraussetzung, dass das
Gesagte mit dem Starsystem in Verbindung zu bringen ist, was aufgrund
der Fülle der beteiligten Stars sowie des herausragenden Celebritys
Courtney Love nicht ungewöhnlich erscheinen mag, so erscheint einem
der kurze Monolog als sprachliches Bild für den Status des Celebrity in der
Gesellschaft: „I will exist until the last star falls from the night“ ist demnach
nicht nur ein Bild für die bis zum Weltuntergang dauernde Macht des
römischen Kaisers, sondern ebenso eine Einschätzung der eigenen Lage
innerhalb des „star-system“, die nur solange Bestand hat, bis der letzte
- 85 -
Ingo Herrmann
Star vom „Celebrity-Himmel“ verschwunden ist. Das eigene „Scheinen“
sicherzustellen ist demnach auch Aufgabe jedes Stars.
Diese Interpretation wird unterstrichen durch die in Fußnote 107 erwähnte
Textvariation, der 5:30 Minuten-Version:
„… I shine as the moon does amongst the lesser fires. The
moon is full tonight. Diana is watching me, and no one fools or
withstands me, a little mad. I cannot sleep, I cannot sleep. All I
can do is stare at the golden eye as it gazes down at the
Capitoline Hill. The wretched most [unverständlich] poorest
cripple beggar in Rome can sleep, but I can not. How lonely it is,
to be a god. Diana is watching me. No, I am not mad, I know
what I’m saying. All there is - is fate. I exist as no woman has
existed before. And I exist as no woman ever exist again.
Therefore I am fate. Therefore I am God.“
Indem Vezzoli sich selbst als Künstler in einem seiner Kunstwerke mit
diesem Star-System in Verbindung bringt, könnte unter Einbezug der
bisherigen Ergebnisse, nicht zuletzt unter Beachtung der aktuellen
Publikationen zum Kunstmarkt, von einer Übernahme des Star-Systems in
das Kunst-System, von einer Verschränkung des Star-Mechanismus mit
der Kunstwelt, dem Kunstmarkt etc. gesprochen werden. Stars existieren
folglich nicht mehr nur im Film, in Musik, Mode oder als „produktlose“
Celebritys, sondern auch in der Sphäre der Kunst.
Vezzoli macht sich mit seinem Trailer also für einen Augenblick neben all
den anderen „echten“ Stars selbst zu einem Star und dekonstruiert damit
die Funktionsweise der Gegenwartskunst. Ähnlich ist die Inszenierung
seines Mordes durch einen Stricher in Marlene Redux eine direkte
Selbstverortung
als
großer
Regisseur
und
Nachfahre
Pasolinis.
Schließlich wurde Pier Paolo Pasolini 1975 durch einen Stricher ermordet,
wie auch Vezzoli in Marlene Redux von einem Stricher umgebracht wird.
Zugleich zeigt Vezzoli mit dem Trailer jedoch, wie er als Künstler auf
einem Kunstmarkt – trotz mutmaßlicher Subordination – künstlerische
Autonomie erhalten kann. Diese Autonomie besteht nicht darin, statt
Trailern und Wahlwerbespots nur noch vermeintlich nicht-verwertbare
Stickbilder zu fertigen, die seit seiner ersten Biennale-Beteiligung für circa
40.000 USD im Kunsthandel kursieren, sondern dass dieser Trailer, der
die Mechanismen des Kunstmarktes dekonstruiert, einen solchen
Werdegang nehmen konnte.
- 86 -
Ingo Herrmann
“From the beginning, the project was supposed to be critical.
When I showed the Caligula video, I thought I was making this
big challenge to the art world and that everyone would freak out
seeing it next to some iron sculpture or abstract painting. But the
incredible thing was that people just went into that room and sort
of loved it, which was very strange for me. I was thinking they
would see themselves, not Hollywood; I was talking about our
practice. Yet the art world seems so anesthetized, so ready to
swallow anything, that I'm not sure to what degree the new
project can be perceived as critical.”181
Vezzoli scheint nach dem großen Erfolg auf der Biennale und der Einsicht,
dass sein „kritischer Ansatz“ fehlgeschlagen war, sein ursprüngliches
Konzept erweitert zu haben. Diese Erweiterung hat zum Einen zur Folge,
dass der Vertrieb des Trailers durch die Gagosian Gallery ausschließlich
an private Sammlungen erfolgt (neben Ludwig und Guggenheim an einen
Unbekannten), und wird durch die zahlreichen Merchandising-Produkte
wie Filmplakate oder Offset-Drucke nur noch komplettiert.182 Damit behält
Vezzoli in seinen Arbeiten eine Konstanz bei: Bereits mit Francesco by
Francesco: Before and After (Vgl. Abbildung 16) verbildlicht er die
Notwendigkeit als Künstler zwei Gesichter zu haben, ein geschöntes und
ein vermeintlich „wahres“, persönliches. Er reiht sich so zwischen
Präsidentengattinnen und Filmstars in die Galerie der „Stars“, zeigt mit
dem „wahren“ Francesco jedoch das Bewusstsein um die künstliche
Oberflächlichkeit seines „Alter Ego“.
6.3
Pornographie und Modefotographie
In den vergangenen Jahren gab es zahlreiche Übertretungen und
Überschneidungen zwischen Mode, Werbung, Musik-Video, Kunst und
Pornographie. Diese Vermengung wurde 2004 in einem Artikel der
britischen Boulevard-Zeitung Sun zur Veröffentlichung des Toxic-Videos
von Britney Spears am treffendsten beschrieben: „A star is porn“.183 Doch
181
Vezzoli, Francesco, zitiert nach: Rothkopf, Scott: 1000 words - Francesco Vezzoli
talks about Democrazy, 2007, erschienen in: ArtForum, 07/2007, S.134.
182
Vgl. http.//www.gagosian.com (am 10.Oktober 2008).
183
http://www.thesun.co.uk/sol/homepage/features/life/article204870.ece (am 02.Januar
2009).
- 87 -
Ingo Herrmann
gibt es zwischen Vezzolis Trailer und der Musikindustrie nur einen
Kontaktpunkt – den Produzenten des Trailers, Joseph Uliano, der neben
Werbung auch Musikvideos produziert. Vielversprechender erscheint die
Betrachtung der Modeindustrie, da neben Vriens als ausgesprochenem
Modefotografen auch Versace als Kostümdesignerin in Erscheinung tritt
und Vezzoli zudem familiäre Kontakte zu Miuccia Prada – der
Gründererbin des italienischen Modekonzerns – unterhält, die viele seiner
frühen Arbeiten förderte und Vezzoli heute noch unterstützt. Weiterhin
wurde bereits auf einen Interviewausschnitt verwiesen (vgl. Fußnote 166),
in dem Vezzoli ausführlich auf die kulturelle Leitfunktion von Mode
verweist – trotz aller intellektuellen Komplexe die diesem Thema anhaften.
Betrachtet man die Entwicklung der Modefotografie von den 1990er
Jahren bis jetzt, lassen sich drei wesentliche Trends ausmachen. Der
„Heroin-Chic“ der frühen 1990er Jahre, die Pornographisierung der
Jahrtausendwende und schließlich die spätestens Ende 2008 proklamierte
Rückkehr zu bedeckten Körpern und Bescheidenheit.184
Der „Heroin-
Chic“ ist dabei gekennzeichnet durch magere Models, die sich durch
eingefallene Wangen, Hämatome, rote Risse und teilweise durch
herumliegende Spritzen, Aluminiumpapier und Löffel als Zugehörige zu
einem Drogenmilieu der Straße ausweisen. Gewalteinwirkung und
Drogenkonsum werden in den Fotographien bis zum vermeintlichen Exitus
gesteigert,
etwa
bei
Terry
Richardson,
der
ein
Model
durchgeschnittener Kehle im „kleinen Schwarzen“ inszeniert.
mit
185
Ein
Übergang weg vom Heroin-Chic hin zur Pornographisierung wird als steril,
klinisch und modernistisch beschrieben. Models werden als androgyne
starre
Wesen
in
minimalistischem
Ambiente
inszeniert
deren
Makellosigkeit so unnatürlich wirkt, dass der Betrachter geneigt ist zu
glauben, er blicke auf Roboter und nicht auf Menschen.
Die Pornographie hielt spätestens 1999 Einzug in die Modewelt, als Larry
Sultan eine Fotoserie in der „Vogue Hommes International“ veröffentlichte,
die während der Dreharbeiten zu einem Pornofilm am Drehort
184
Vgl. für die „Neue Bescheidenheit“ Lemle, Stefan im Interview mit Thomas Maier:
Workwear de Luxe, erschienen in: Gentelmans Quartely style, Nr.14, 2008, S.304-311.
185
Shevory, Thomas C.: Body/Politics – Studies in Reproduction, Production and
(Re)Construction, Westport, 2000, S.187f.
- 88 -
Ingo Herrmann
aufgenommen wurde.186 Dies erfuhr in den Folgejahren eine immer weiter
gehende Sexualisierung. Angefangen bei Terry Richardsons „PalmSpring“ Sisley Kampagne (vgl. Abbildung 13) über Matthias Vriens und
Alex Cayley setzten alle bekannten Fotografen auf Nacktheit und jedes
Label fokussierte einen Aspekt der sexuellen Ausschweifungen: „Versace
setzte auf Orgien, Ungaro auf Sodomie, Gucci auf Erektion sowie
lesbische Liebe, Yves Saint Laurent auf Selbstbefriedigung […] und Calvin
Klein […auf] Pädophilie-Inszenierungen.“187
Abbildung
13:
Terry
Richardson
-
Sisley-Kampagne
"Palm-Spring"
Frühjahr/Sommer 2000, unbekannte Maße
Seit 2007 verkünden immer mehr Labels den Rückzug von Nacktheit,
Obszönität und sexualisierten Bildern.
Zeitgleich werden Modefotografien in Museen ausgestellt, was nicht nur
die Brisanz der Visionen der Label-Inhaber unterstreicht, Jacken und
Mäntel wie Kunstwerke wahrzunehmen, die auch ohne Logo erkannt
werden und eine symbolische Wertigkeit aus sich heraus implizieren,
sondern vor allem die Verbindung der Modesphäre mit der Sphäre der
186
Vgl. http://www.forever-beauty.com/working-men/index.html (am 05.Januar 2009).
Liebs, Holger: Spul mal vor, Alter. Navigationshilfen in Babylon: Die Kunst als Global
Positioning System im Feld der Pornografie, erschienen in: Metelmann, Jörg (Hrsg.):
Porno Pop – Sex in der Oberflächenwelt (Reihe: Film-Medium-Diskurs, Band 8),
Würzburg, 2005, S.91.
187
- 89 -
Ingo Herrmann
Kunst. Diese Verbindung besteht aber nicht einseitig, sondern wird von
zwei Seiten vorangetrieben, von Künstlern sowie von Modefotografen,
wobei letztere Ziele verfolgen, die mehr werbestrategisch, als künstlerisch
bezeichnet werden müssen. Eine genaue Abgrenzung fällt jedoch
zunehmend schwerer, wie Salvemini beispielhaft an den Kampagnen des
italienischen Fotographen Oliviero Toscani für den Modekonzern United
Colors of Benetton veranschaulicht hat.188
Bei der Verquickung von Mode und Kunstwelt wird eine Ausstellung immer
wieder als Wegmarke beschrieben: Steven Meisel: Four Days in LA: The
Versace Pictures in der Londoner White Cube Gallery,189 in der Steven
Meisel – Hauptfotograf der Vogue – ausschließlich Auftragsarbeiten für
Versace zeigte. In Deutschland zeigten die Hamburger Deichtorhallen
2002 Archeology of Elegance190, in Berlin widmet die Galerie Kunstwerke
Terry Richardson 2003 eine Ausstellung,191 und 2008 war Richard Avedon
auch mit seinen Modefotografien im Gropius-Bau in Berlin zu sehen.
Umgekehrt arbeiten aber auch immer mehr Künstler als Modefotografen
und setzen sich – ebenfalls durch Auftrag bestimmt – beispielsweise mit
Pornographie, Sexualität und Körper auseinander. Schließlich werden
Fotos von Nan Goldin, Richard Prince und Cindy Sherman neben Bildern
von Matthias Vriens und Terry Richardson in „i-D“, „Vogue“, „Harper’s
Bazaar“ oder „Spin“ abgedruckt.192
Auch wenn diese Ausführungen etwas oberflächlich erscheinen, sollen sie
dennoch eines verdeutlichen: Eine zunehmende Verschränkung von
Kunst und Mode, wobei – wie Vezzoli sagt – keine Wertigkeit hinsichtlich
des symbolischen Kapitals besteht, welches die Kunst per se besitzt und
die Mode sich, nicht zuletzt durch die Verquickung mit der Kunst, gegen
den „intellektuellen Komplex“ anzueignen versucht. Dabei ist – wie oben
ausgeführt – nicht ausschließlich eine formale Ebene gemeint, dass
188
Vgl. Salvemini, Lorella Pagnucco: Toscani – Die Werbekampagnen für Benetton –
1984-2000, München, 2002.
189
Vgl. http://www.whitecube.com/exhibitions/theversacepictures/ (am 05.Januar 2009).
190
Vgl. http://www.deichtorhallen.de/106.html (am 05.Januar 2009).
191
Vgl. http://www.spiegel.de/kultur/gesellschaft/0,1518,270552,00.html (am 05.Januar
2009).
192
Liebs, Holger (2005): a.a.O., S.90ff.
- 90 -
Ingo Herrmann
beispielsweise beide – Kunst und Modefotographie – in denselben
Institutionen präsentiert werden, sondern mit den pornographischen
Anleihen beider Sphären auch eine inhaltlich-bildliche Ebene aufgezeigt.
Abbildung 14: Nan Goldin - Rise and Monty kissing, 1988, 69,5 x 101,6 cm
6.4
Die Dekonstruktion des Kunstmarktes
Betrachtet man die bisher von Vezzoli präsentierten Werke, lässt sich
neben anderen Parallelen ein Zusammenhang herausstellen, der im
Folgenden betrachtet werden soll. Comizi di non amore (2004) war eine
Pilotsendung für eine Reality-Show, die nicht im Fernsehen gesendet
werden würde; Democrazy! (2007) war eine Wahlkampagne für eine Wahl,
die nie stattfinden würde und Caligula (2005) war schließlich ein Trailer für
einen Film, der nie existieren würde. Die Pilotsendung, die politische
Kampagne wie auch der Trailer zielen also alle darauf ab, ein Produkt
erstellen zu wollen, was ausschließlich im Kopf des Künstlers und den
Köpfen der Betrachter entsteht.
Vezzoli hat sich mehrfach über den zeitgenössischen Kunstmarkt
geäußert, wohl nicht zuletzt deshalb, weil er spätestens seit Vorstellung
- 91 -
Ingo Herrmann
des Caligula-Trailers mit einer rasant ansteigenden internationalen
Aufmerksamkeit konfrontiert war und schließlich selbst von diesem Markt
profitiert hat. Die Kunstwelt “…has become such a self-promotional
universe that I've basically grown obsessed with deconstructing the very
means of promotion.”193 Das "desire for visibility", so seine Analyse, ist
allerdings kein Phänomen des Kunstmarktes, sondern ebenso der Politik,
der Religion und anderer gesellschaftlicher Subsysteme.
"For me, the art world has become a place that has turned itself, willingly
or not, into some sort of entertainment industry…"194, eine Äußerung, die,
betrachtet man den Caligula-Trailer, einer gewissen Ambivalenz nicht zu
entbehren vermag. Zum einen nutzt Vezzoli die Mechanismen der
Unterhaltungsindustrie und medientaugliche Bilder um seine eigene
Person und sein Werk zu thematisieren und durch provokante Anzeigen,
die gewählten Formate (Reality-Show, Trailer, Wahlwerbespot) und die
Zusammenarbeit mit Stars Aufmerksamkeit zu beanspruchen.195 Zum
anderen setzt er innerhalb seiner Arbeiten Störelemente ein, um die zuvor
verwendeten Mechanismen und Bilder, wenn nicht in Frage zu stellen, so
doch zumindest um sie offenzulegen, zu dekonstruieren. Die Einsicht in
das vermeintliche Scheitern seines Trailers (vgl. Fußnote 181) ist aber
nicht zuletzt auf seine Arbeitsweise zurückzuführen:
„I'm obsessed with the idea of speed. Let's face it, video art in
group shows can be boring. People have no time to look at it, so
you have to be honest with yourself and make something
watchable for the situation it's in. Just like a real TV spot, you've
got a minute to decide, end of story.”196
Der Versuch die Produktionsweisen der Medien (sei es Fernsehen, Kino,
Werbe-Fotografie oder Design) für seine künstlerischen Zwecke nutzbar
zu machen, kann aber nicht gänzlich als gescheitert betrachtet werden,
sondern ist lediglich Ausdruck der Ambivalenz des Werkes. Liefe der Film
– zwischen andere Filmvorschauen geschnitten – in einem Multiplex-Kino,
würde er sich – abgesehen von seiner Überlänge – auf den ersten Blick
193
Vezzoli, Francesco (2007): a.a.O., S.137.
Yablonsky, Linda (2006): a.a.O., S.27.
195
Vgl. http://www.sueddeutsche.de/muenchen/artikel/611/143293/ (am 23.November
2008).
196
Vezzoli, Francesco (2007): a.a.O., S.137.
194
- 92 -
Ingo Herrmann
nicht von „gewöhnlichen“ Trailern unterscheiden, was nicht verwundert, da
er nach ähnlichen Mustern konstruiert ist.
„There are so many exhibitions, and what do most people know
about them? The ad they see in Artforum. The campaign is all
people see. I mean, who of all the voters ever gets the chance
to actually see the candidate at a political rally? What will they
remember? The ads.”197
Die erläuterten Wirkungsmechanismen sind auch bei Betrachtern von
Kunst etabliert und funktionieren gleichfalls in Magazinen, im Kino oder
Museum. Der Trailer im Museum kann demnach nur deshalb seine
dekonstruktive Wirkung entfalten, weil er die Authentifizierungs-Strategien
der Medien verwendet und diese in einem Rahmen präsentiert, der nicht
mit den Erwartungen der Betrachter konform gehen dürfte.
Die Auseinandersetzung mit medial erzeugten Bildern, Superstars und
ihren Authentifizierungs-Strategien fand bereits durch die Pop-Art statt,
wurde von Fluxus und weiteren Gruppen aufgenommen und ist bis heute
Thema der Kunst.198 In den 1970er Jahren hat sich beispielsweise Cindy
Sherman mit medial erzeugten Bildern und ihren durch Standardisierung
erzeugten Effekten auseinandergesetzt. So sind Shermans Film-Stills ab
1977 Kompositionen, die tausendfach in Hollywood-Filmen und auf
dazugehörigen Filmplakaten der 1950er Jahre Verwendung fanden, und
den Betrachter die dargestellte Situation in Augenblicken erfassen lassen.
Die abgebildeten Personen waren an ähnlichen Orten mit ähnlichen
Methoden inszeniert, wie die Hollywood-Stars auf Filmplakaten, was zur
Folge hatte, dass die Sehgewohnheiten der Betrachter nicht sonderlich
herausgefordert wurden, sondern in bekannten Mustern verhaftet blieben.
Zugleich verwendete Sherman – wie Vezzoli – Störelemente, die die
perfekt anmutende Oberfläche aus sich heraus in Frage stellen, z.B. die
Kombination von schwarzem BH und weißem Slip (Still Nr.6) oder die viel
zu klein erscheinende Frau vor einem Stationsgebäude (Still Nr.44).199
197
Ebd., S.138.
Miessgang, Thomas: Das Theater der Illusionen – Deconstructing the Superstar: Body
Karaoke, Doppelgänger und der ironische Phallus – Glamourhelden auf dem Seziertisch
der Kunst, erschienen in: Kunsthalle Wien, Superstars – Das Prinzip Prominenz – Von
Warhol bis Madonna (Ausstellungskatalog, 4.11.2005 – 22.02.2006), Ostfildern Ruit,
2005, S.257.
199
Vgl. Vogel, Fritz-Franz: The Cindy Shermans – Inszenierte Identitäten –
Fotogeschichten von 1840 bis 2005, S.156.
198
- 93 -
Ingo Herrmann
Mit
der
Konstruktion
dieses
Wiedererkennungswertes
und
der
Verwendung von Störelementen dekonstruiert Sherman die angewandte
Authentifizierungs-Strategie, wie auch Vezzoli sie durch die Präsentation
vermeintlicher Werbung im Museum dekonstruiert.
Wenige Tage nach Beginn der Biennale in Venedig (12.Juni bis
06.November 2005), wo der Caligula-Trailer erstmals der Öffentlichkeit
präsentiert
wurde,
veröffentlichte
das
Art
Newspaper
in
einer
Sonderausgabe zur Art Basel einen Artikel, in dem auch Vezzoli
Erwähnung findet:.
„On the opening day of Art Basel, Turin gallerist Franco Noero is
standing at his booth when an American collector strides up to
him, asking about Francesco Vezzoli’s Flower arrangement,
homage to Bruce Nauman, a bouquet of 100 crimson roses
posed high upon a pedestal in a pastoral basket. ‘Are you
familiar with his work?’ Mr. Noero asks. The collector responds,
‘Well, I saw the video in Venice.’…”200
Damit verweist er auf den Caligula-Trailer und erwirbt gemäß Art
Newspaper das Bouquet für 25.000 USD ohne weitere Nachfragen über
Vezzoli.201 Folgt man Bourdieus Soziologie der symbolischen Formen, ist
ein Kunstwerk eine Art „kulturelles Kapital“, das Distinktion gewährt,202 da
– anders als beispielsweise bei einem Designermöbel – die Vorstellung
von
erkenntnistheoretischem
Mehrwert,
Wahrheit,
Einsichten
und
intellektuelle Leistungen mit ihm verknüpft sind. Auf dem Kunstmarkt
existieren – folgt man einem ökonomischen Gedanken – unterschiedliche
künstlerische Produkte, die nicht gleichermaßen anerkannt sind, sondern
"…auf dem Markt der symbolischen Güter einen höchst unterschiedlichen
materiellen und symbolischen Kurswert…"203 haben, der sich nicht zuletzt
über die Bekanntheit des Produktes, und demnach des Künstlers und
seines Werkes definiert.204 Vezzoli transformiert also die Biennale oder
das Museum in einen Marktplatz für Kunst, der einer Grundkonzeption im
200
Spiegler, Marc: The Venice Effect, erschienen in: The Art Newspaper, Special Art
Basel Edition, Mittwoch, 15.Juni 2005, S.1.
201
Vgl. ebd., S.1.
202
Bourdieu, Pierre: Soziologie der symbolischen Formen, Frankfurt/Main, 2000, S.60ff.
203
Ebd., S.63.
204
Für die Auseinandersetzung mit dem Symbolwert von Kunst Vgl. Graw, Isabelle
(2008): a.a.O., S.24ff.
- 94 -
Ingo Herrmann
Marketing folgt. Das Bedürfnis nach Distinktion wird in einen Wunsch
transformiert, also das Verlangen nach konkreter Befriedigung des
Bedürfnisses,
und
findet
in
der
Nachfrage
schließlich
seine
Befriedigung.205
Dossi arbeitete zudem die Rolle der „Tastemakers“ auf dem Kunstmarkt
heraus; Galeristen, Kritiker, Sammler und Kuratoren, die Kunst beurteilen,
kaufen oder beratend tätig werden und damit „Geschmack“ produzieren
und bestimmten Künstlern symbolische Werte zuweisen.206 Diese
symbolischen Werte des Kunstwerkes, den intellektuellen Anspruch, die
Sonderstellung, Singularität und das Einmaligkeitsversprechen von Kunst,
thematisiert Vezzoli. Er schafft selbst einen symbolischen Wert, beauftragt
professionelle
Produzenten
für
seinen
Trailer,
wählt
mit
einem
erfolgreichen Pornofilm der späten 1970er und frühen 1980er Jahre ein
provokatives, verkaufsfähiges Thema und vermittelt im Film durch den
baulichen Prunk, die vermeintliche Qualität des Gezeigten und die Vielzahl
der Stars eine Aura der Dekadenz. Dieser so von Vezzoli geschaffene
Wert wird augenblicklich zu einem Wunsch, der sich bereits wenige Tage
danach auf der Art Basel in einen Preis, Interesse an seiner Person,
Berichterstattung, also symbolisches Kapital konvertiert und schließlich
Nachfrage erzeugt.
Diese Konstellation entbehrt zugleich nicht einer gewissen Komik, da die
Form des Trailers nicht nur zur Bewerbung eines nicht existierenden Films
wird, sondern auch Werbung für Vezzoli selbst macht, für seine
Kunstwerke. Die Wahl des pornographischen Films als Thema des
Trailers
erscheint
dabei
ebenso
von
Bedeutung,
ist
doch
der
pornographische Film das Gegenstück zum symbolischen Wert eines
Kunstwerkes. Er erfüllt weder besondere intellektuelle Ansprüche, noch
hat er eine Sonderstellung neben andern pornographischen Filmen, oder
sticht durch Singularität und Einmaligkeitsversprechen hervor. Allerdings
nimmt der historische Caligula-Film im Genre der Pornographie einen
besonderen Platz ein, da Guccione einen pornographischen Film für einen
Massenmarkt schaffen wollte, der über verkaufsfördernde Stars, einen
205
206
Vgl. Bliemel, Friedhelm; Kotler, Philip (2001): a.a.O., S.13.
Vgl. Dossi, Piroschka: Hype – Kunst und Geld, München, 2007, S.12ff.
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Ingo Herrmann
berühmten Drehbuchautor und ein geplantes Marketing-Konzept zu einem
der erfolgreichsten Pornofilme werden sollte. Er bricht damit nicht nur
endgültig mit dem Wahrheitsdiktum des pornographischen Films, sondern
forciert
zudem
volle
Inszenierung
und
mediale
wie
monetäre
Verwertbarkeit.
7
Fazit - Der Papst als Medienstar
All die aufgezeigten Beziehungen zwischen Populärkultur, Kunst und
Pornographie wurden in den letzten Absätzen so ausführlich dargestellt,
dass sie hier nicht erneut Erwähnung finden sollen. Vielmehr soll die
Essenz der vorliegenden Arbeit an einer letzten Einstellung des Trailers
verdeutlicht werden. Vezzolis Trailer gipfelt abschließend in ein Signet das
statt Caligula – vgl. Abbildung 11: Key Art Caligula (Vezzoli-Trailer) und
Abbildung 12: Key Art Caligula (Original-Trailer) – Papst Johannes Paul II.
zeigt. Dieses Signet evoziert nicht zuletzt aufgrund der Thematik des
Trailers Überlegungen zur Rolle der Sexualität in der Kirche, der
Verbannung von Schwulen, der Rolle der Frau und dem beschränkten
Familienbild der katholischen Kirche usw. Allerdings würde Vezzolis
Intentionen damit, wenn nicht verfälscht, so doch verkürzt werden. Gemäß
dem Fall, diese Assoziationen mögen nicht gänzlich verkehrt sein, bilden
sie keinesfalls den Kern dieses Papst-Emblems im Caligula-Gewand.
Im Frühjahr des Jahres in dem Vezzolis Trailer entstand, am Nachmittag
des 2. April 2005 um 15:30 Uhr, soll Papst Johannes Paul II. seine letzten
Worte gesprochen haben. „Lasst mich in das Haus des Vaters gehen.“207
Um 21:37 Uhr verstarb er 84-jährig in seinen Privaträumen.208 Binnen
Stunden strömten nicht nur tausende Gläubige auf den Petersplatz in
Rom, sondern hatten sich hunderte Übertragungswagen auf einem Platz
vor der Engelsburg versammelt, Journalisten berichteten von einer
dreistöckigen Tribüne auf dem Petersplatz und die Weltöffentlichkeit
blickte nach Rom. Nur wenige Monate später versammelten sich in Köln
hunderttausende Jugendliche, um gemeinsam mit der katholischen Kirche
207
208
Acta Apostolicae Sedis (Commentarium Officiale), Band 97, Rom, 2005, S.783.
Vgl. ebd., S.785.
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Ingo Herrmann
den Weltjugendtag zu begehen. Anstatt des soeben verstorbenen
Johannes Paul II. kam Benedikt XVI.209
Der Tod Johannes Paul II. war eines der prägenden Medienereignisse des
Jahres 2005, dessen Inszenierung auf ebenjenen Papst Johannes Paul II.
zurückgeht, der rückblickend von der Literatur als „Medienpapst“
beschrieben wird.210 Dessen Enzyklika Redemptoris Missio
forcierte
Anfang der 1990er Jahre die Nutzbarmachung der Massenmedien für die
katholische Missionstätigkeit:
„Ein solcher erster Areopag der neuen Zeit ist die Welt der
Kommunikation, die die Menschheit immer mehr eint und - wie
man zu sagen pflegt - zu einem »Weltdorf« macht. Die Mittel
der sozialen Kommunikation spielen eine derartig wichtige
Rolle, daß sie für viele zum Hauptinstrument der Information
und Bildung, der Führung und Beratung für individuelles,
familiäres und soziales Verhalten geworden sind. Vor allem die
neuen Generationen wachsen in einer davon geprägten Welt
auf. Vielleicht ist dieser Areopag etwas vernachlässigt worden.
Man bevorzugt im allgemeinen andere Hilfsmittel für die
Verkündigung des Evangeliums und für die Bildung, während
die Massenmedien der Initiative einzelner oder kleiner Gruppen
überlassen werden und in der pastoralen Planung erst an
untergeordneter Stelle Eingang finden. Die Einbeziehung der
Massenmedien hat jedenfalls nicht nur den Zweck, die
Botschaft des Evangeliums vielen zugänglich zu machen. Es
handelt sich um eine weitaus tiefere Angelegenheit, da die
Evangelisierung der modernen Kultur selbst zum großen Teil
von ihrem Einfluß abhängt. Es genügt also nicht, sie nur zur
Verbreitung der christlichen Botschaft und der Lehre der Kirche
zu benutzen; sondern die Botschaft selbst muß in diese, von
der modernen Kommunikation geschaffene ‚neue Kultur’
integriert werden. Es ist ein komplexes Problem, da diese Kultur
noch vor ihren Inhalten aus der Tatsache selbst entsteht, daß
es neue Arten der Mitteilung in Verbindung mit einer neuen
Sprache, mit neuen Techniken und mit neuen psychologischen
Haltungen gibt."211
209
Vgl. Klenk, Christian: Ein deutscher Papst wird Medienstar - Benedikt XVI. und der
Kölner Weltjugendtag in der Presse, Berlin, 2008, S.13.
210
Vgl. Kallscheuer, Otto: Ein Medienpapst an Leib und Leben? Johannes Paul II. auf
Sendung, erschienen in: Communicatio Socialis, 38, 2005, S.262-280.
211
Johannes Paul II., Redemptoris Missio, Über die fortdauernde Gültigkeit des
missionarischen Auftrages, Vatican, 1991, Kapitel 4, Abschnitt 37c.
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Ingo Herrmann
Die mediale Inszenierung des Sterbens, der Aufbahrung und der
Bestattung Papst Johannes Pauls II. stellt somit einen Höhepunkt in der
Überführung der traditionellen kirchlichen Kultur in eine von den Medien
inszenierte
dar,
indem
der
Impulsgeber
der
massenmedialen
Nutzbarmachung eine letzte mediale Würdigung erfährt.
Der Tod Papst Johannes Paul II. mag für Vezzoli zur rechten Zeit
gekommen sein, nichtsdestotrotz lässt sich die vermeintlich zufällige
Integration des Papsts im Jahr seines medial begleiteten Todes auf einen
Aufsatz Pasolinis zurückführen. In Marlene Redux brachte sich Vezzoli –
wie oben erwähnt – mit Pasolini in Verbindung, wenn er sich (fiktiv) durch
einen Stricher ermorden lässt, wie auch Pasolini durch einen Stricher
ermordet
wurde.
Eben
dieser
Pasolini veröffentlichte am 17.Mai
1973 einen Artikel, in dem er auf
eine
Kritik
der
katholischen
Kirche
römischan
einer
Werbekampagne für eine Jeans
reagierte. Die als „blasphemisch“
kritisierte Werbe-Aufnahme zeigt
die Hinteransicht einer jungen
Frau in leichter Untersicht. Die
perfekten,
Rundungen
stellen
„…Aufruf
wohlgeformten
in
Großaufnahme
einen
unverkennbaren
zu
unverkrampfter
Sexualität dar.“212 Quer über das
Gesäß der Frau steht zudem eine
Abbildung 15: Werbung für 'Jesus Jeans'
Paraphrase Christi als Slogan für die beworbene Jesus Jeans: „Chi mi
ama mi segua“ (Wer mich liebt, der folge mir nach, Joh. 12, 26). In diesem
Artikel verweist Pasolini schließlich auf den Wandel der italienischen
Gesellschaft durch den Wandel der Konsumgewohnheiten. Die Menschen
erwiesen sich immer weniger empfänglich für kirchliche Werte, die sie in
der Vergangenheit prägten, und öffneten sich immer mehr einer „profanen
212
Vgl. Salvemini, Lorella Pagnucco (2002): a.a.O., S.11.
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Ingo Herrmann
Spiritualität“, deren Riten nicht mehr in der Kirche, sondern im Supermarkt
stattfinden.
„Es scheint verrückt […], aber der Fall der ‚Jesus Jeans‘ ist für
all das symptomatisch. […] Im Zynismus dieses Slogans liegt
eine absolut neue Dichte und Unschuld, auch wenn dieses
Neue vielleicht schon seit Jahrzehnten heranreift. Es beschreibt
mit lakonischer Selbstverständlichkeit ein Phänomen, das mit
einem Schlag fertig und als vollendete Tatsache in unser
Bewusstsein trat: Die neuen Industriellen und die neuen
Techniker sind völlig laizistisch, das heißt von einer Weltlichkeit,
die sich nicht mehr an der Religion misst.“213
Innerhalb der Profanisierung der Gesellschaft sieht er einen „neuen Wert“
der „…in der Entropie der bürgerlichen Gesellschaft entstanden ist, in der
Religion als Autorität und Form von Herrschaft verkümmert und bloß noch
als natürliche Basis für Massenkonsum und als missbrauchte Folklore
überlebt.“
214
Nach Pasolini überwältigt das neue Zeitalter des Konsums
alles und macht alles zur Ware. Diesem Schicksal kann sich auch die
Kirche nicht entziehen. Da es in Pasolinis Vorstellung keine Gläubigen,
sondern nur noch Konsumenten gibt, passt sie sich – um weiterzuleben –
den herrschenden Marketingstrategien an, womit sich schließlich auch der
Glaube unter die Konsumgüter einreihe. 215
Papst Benedikt XVI. greift die Thematisierung neuer Medien auf und führt
diese fort, beschreibt jedoch mit der Themenwahl zum Welttag der
Sozialen Kommunikationsmittel 2008 („Die Medien am Scheideweg
zwischen Selbstdarstellung und Dienst. Die Wahrheit suchen, um sie
mitzuteilen“) die Gratwanderung, die mit einer Nutzbarmachung der
Medien verbunden ist. Die „wahllose Selbstdarstellung“ und die „gute“ wie
„schlechte“ Dienstbarmachung stehen im Rahmen der Möglichkeiten, die
das Mediensystem den Menschen bietet. Der Beitrag, den die Medien
„…für den Nachrichtenfluss, für die Kenntnis der Fakten und die
Verbreitung des Wissens leisten können…“, ist, wie Benedikt XVI.
herausstellt, unbestreitbar, da sie „…zum Beispiel entscheidend zur
213
Pasolini, Pier Paolo: Linguistische Analyse eines Werbeslogans, erschienen in:
Kammerer, Peter (Hrsg.): Freibeuterschriften – Die Zerstörung der Kultur des einzelnen
durch die Konsumgesellschaft, Berlin, 1998, S.28ff.
214
Ebd., S.28f.
215
Vgl. ebd., S.29f.
- 99 -
Ingo Herrmann
Alphabetisierung und zur Sozialisierung wie auch zur Entwicklung der
Demokratie und des Dialogs unter den Völkern beigetragen [haben]…“.
Damit sind die Medien nicht nur „…Mittel zur Verbreitung der Ideen…“,
sondern
auch
„…Instrumente
im
Dienst
einer
gerechteren
und
solidarischeren Welt…“. Gleichzeitig weist er auf die Gefahr hin, die von
der Medienwelt aus Sicht der katholischen Kirche ausgeht und darin
besteht, das sie sich zu einem System entwickelt, welches vorwiegend
„…Kommunikation zu ideologischen Zwecken oder zur Platzierung von
Konsumprodukten durch eine obsessive Werbung…“ verfolgt.216
Auch wenn diese Botschaft Benedikt XVI. einige Jahre nach der
Veröffentlichung des Trailers verkündet wurde, fasst sie doch recht gut
den Kerngedanken von Vezzolis Werk zusammen.
Medien sind auch für Vezzoli dienstbare Instrumente, die neben der
Popularisierung von Kunst, Personen und sonstigen Inhalten, durch
immerwährende Wiederholung desselben Musters lediglich Oberflächen
produzieren. So etwa bei den Wahlwerbespots mit Stone und Levy, deren
Floskelhaftigkeit dem Betrachter durch gleichzeigte Projektion der beiden
ähnlichen Spots offenbar gemacht wird, oder auch der Produktwerbung für
ein nicht existierendes Parfüm – nur die Kampagne ist mediale Wahrheit.
Somit können die eingangs zitierten Zeilen von Miuccia Prada als Kern
von Vezzolis Werk bezeichnet werden: “I very much appreciate
Francesco’s work, because of the strong political content that is generally
underestimated. What people get is usually the involvement of famous
people, but what is really powerful in his work is the deconstruction of the
mediatic system.”217
216
Vgl. Botschaft von Papst Benedikt XVI. zum 42. Welttag der sozialen
Kommunikationsmittel - "Die Medien am Scheideweg zwischen Selbstdarstellung und
Dienst.
Die
Wahrheit
suchen,
um
sie
mitzuteilen.",
http://www.vatican.va/holy_father/benedict_xvi/messages/communications/documents/hf
_ben-xvi_mes_20080124_42nd-world-communications-day_ge.html (am 07.Oktober
2008).
217
Larocca, Amy (2007): a.a.O., S.20.
- 100 -
Ingo Herrmann
Abbildung 16: Francesco by Francesco: Before and After (2002)
Dass er sich als Künstler von den oben beschriebenen Mechanismen
nicht ausnimmt, verdeutlicht, neben der Präsenz in den eingangs
geschilderten Werken, am Besten das schon mehrfach erwähnte und im
Besitz der Galerie für zeitgenössische Kunst (Leipzig) befindliche Werk
Francesco by Francesco: Before and After (2002). Um als Künstler
wahrgenommen zu werden, muss er sich selbst und sein Werk bearbeiten
und medial inszenieren. „Before“ erscheint er – wie beschrieben – in
lockerer Alltagspose mit Dreitagebart und offenem Hemd, den Blick dem
Betrachter zugewandt. Auf dem „After“-Bild dagegen als gepflegte
androgyne
Erscheinung
mit
frisierten
Haaren,
glatt
geschminkter
Gesichtshaut und weißer Fliege. Die mit Silberfaden gestickte Träne auf
dem „Before“-Bild und ihre Transformation zu einem mit Silberfaden
gestickten Lidschatten im „After“-Bild, unterstreichen diesen Wandel
zusätzlich. Die persönliche Inszenierung geht dabei mit der des Werkes
einher. Kunst adaptiert Celebrity-Logik und verschmilzt mit Populärkultur,
wie auch die Kirche solche Mechanismen adaptiert und in manchen
südamerikanischen Kirchen Musik-CDs des Pfarrers verkauft werden. Der
Entwicklung zur medialen Inszenierung konnte sich auch die Pornographie
nicht entziehen. Zwar hatte man dem Film, seit Muybridge die von
- 101 -
Ingo Herrmann
Stanford aufgeworfenen Frage des Pferdes im Galopp beantwortete,
einen „Wahrheitsgehalt“ zugesprochen, diese „Wahrheit“ wurde jedoch im
Lauf der Entwicklung zugunsten des rein inszenierten und standardisierten
Films abgelöst. Der pornographische Film behielt lange Zeit diesen
„Wahrheitsmythos“ aufrecht, adaptierte jedoch spätestens in den 1960er
Jahren – z.B. über den Jacobellis-Standard – die narrativen HollywoodStrukturen. Spätestens seit Ende der 1960er Jahre ist dieser Prozess
abgeschlossen. Zwar gab es in den folgenden Jahren große Erfolge –
allen voran Deep Throat – die sehr erfolgreich im Kino liefen und sogar
Stars hervorbrachten, Caligula ist allerdings der erste groß inszenierte
Film, der das traditionelle „Hollywood“-Kino mit seinen „großen“ Stars und
das pornographische Genre verbindet. Damit gleicht sich auch die
Pornographie dem populärkulturellen Diktum der medialen Inszenierung
an. Vezzoli verbindet schließlich diese Entwicklungen und zeigt, dass die
Entwicklung einer inszenierten Oberfläche ein Diktum ist, dem sich weder
die Kunst noch die Kirche entziehen kann. Papst, Pornographie, Kino und
Kunst – alle adaptieren eine Strategie: Inszenierung.
- 102 -
Ingo Herrmann
Literaturverzeichnis
Eine ausführliche Bibliographie zu Vezzoli aktualisiert die Galerie Neu
(Berlin)
beständig
auf
ihrer
Homepage
(http://www.galerieneu.net/artists/show/id/17). Viele der dort aufgeführten
Beiträge
sind
allerdings
aus
populären
Medien
und
seltener
wissenschaftlichen Ursprungs, so dass deren Verwertbarkeit sich auf
einige Interview-Ausschnitte von Vezzoli beschränkt.
Aufgrund der besseren Verfügbarkeit beziehen sich viele Quellen auf das
Internet. Dahinter stehen zum einen Zeitschriftenartikel, die nicht anders
zitiert werden konnten, da z.B. Seitenzahlen usw. nicht verfügbar waren,
zum anderen Video-Ausschnitte und anderes. Trotz der Bedenken die sich
hinsichtlich der Zitierfähigkeit von Internetquellen ergeben, war der
Verfasser bemüht , stets mit dem nötigen quellenkritischen Bewusstsein
an diese heranzutreten uns auszuwerten. Dies trifft nicht zuletzt auf die
Abbildungen zu, die zwar zu einem großen Teil vom Verfasser als FilmStill angefertigt wurden, deren Grundlage jedoch ebenfalls dem Internet
entnommen ist.
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Kallscheuer, Otto: Ein Medienpapst an Leib und Leben? Johannes Paul
II. auf Sendung, erschienen in: Communicatio Socialis, 38, 2005, S.262280
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Lemle, Stefan im Interview mit Thomas Maier: Workwear de Luxe,
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Ingo Herrmann
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-x-
Ingo Herrmann
„„‹Ž†—‰•˜‡”œ‡‹ Š‹•
Abbildung 1: Anita Ekkberg auf der Mae-West Couch
(http://artforum.com/uploads/upload.000/id18865/article01_wide.jpg)
Abbildung 2: Trailer Tag Caligula (Vezzoli-Trailer) - Film Still
Abbildung 3: Trailer Tag 'Restricted Audiences'
(http://upload.wikimedia.org/wikipedia/en/6/6d/Redband.jpg)
Abbildung 4: Endorsement 'Gore Vidal' - Film Still
Abbildung 5: Needlework Pictures Studio Label - Film Still
Abbildung 6: Universal Pictures Studio Label
(http://www.universalstudios.com/)
Abbildung 7: Vezzoli als 'Caligula' - Film Still
Abbildung 8: Frau mit Gold-Dildos - Film Still
Abbildung 9: Helen Mirren mit Kettenhemd-Sklaven - Film Still
Abbildung 10: Sexorgie - Film Still
Abbildung 11: Key Art Caligula (Vezzoli-Trailer) - Film Still
Abbildung 12: Key Art Caligula (Original-Trailer) - Film Still (DVD)
Abbildung 13: Terry Richardson - Sisley-Kampagne "Palm-Spring",
Frühjahr/Sommer 2000, unbekannte Maße
(http://files.coloribus.com/files/paedia/print/part_19/196317/
preview_600_402.jpg)
Abbildung
14:
Nan
Goldin
-
Rise
and
Monty
kissing,
1988, 69,5 x 101,6 cm
(http://www.viennafair.at/wku/2008/nt/images/galerie/orginal/098.jpg)
Abbildung 15: Werbung für 'Jesus Jeans'
(Salvemini, L. P.: Toscani – Die Werbekampagnen für Benetton –
1984-2000, München, 2002, S.46)
Abbildung 16: Francesco by Francesco: Before and After (2002)
(Ausst.-Kat. The Needleworks of Francesco Vezzoli,
Zeitgenössische Kunst Leipzig, S.46/47)
- xi -
Galerie für