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Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Montag, 27.01.2003 Nr.21 22 Applaus, Applaus Die 38. Solothurner Filmtage sind zu Ende gegangen Klatschsucht heisst die Tugend, die das Solothurner Publikum nun seit einigen Jahren schon befallen hat. Allem wird applaudiert. Gnadenlos. Der Jungregisseur wird von der Ansagerin aufs Podium gebeten? Donnernder Applaus. Er dankt «ma mère, ma grand-mère usw.», wie der alte Charmeur Daniel Schmid anlässlich der Verleihung des Schweizer Filmpreises in der Reithalle sagte? Jetzt erst recht. Die zwei Minuten sind um, der Film ist fertig? Der Saal kann kaum mehr an sich halten. – Manchmal hat man sie sich geradezu zurückgewünscht, die Idioten von früher, die die schönsten Stellen, die berührendsten Momente mit ihren Pfiffen aufs politisch korrekte Mass zu trimmen suchten. Heute ist es so, dass beispielsweise die Schauspielerin Pascale Rocard (die Tochter von Michel Rocard) ihre erste Filmregie vorführen darf, «Un océan de blé», eine zwölfminütige Peinlichkeit, die von Groschenromandrama bis geleckter Werbefilmästhetik nichts auslässt – und der Saal? Schweigt er betroffen still, wenn er schon nicht pfeifen will? Haben wir ein scheues Buh gehört? Ach wo. Freundlichst wird demokratischer Beifall gespendet. Damit wir uns recht verstehen: Es ist völlig in Ordnung, dass dieser Film, zu dem sich verschiedene weitere Beispiele anführen liessen, von der Auswahlkommission ins Programm aufgenommen wurde. Da ist alles professionell gearbeitet. Nur eines ist er nicht: ein Versprechen auf die Zukunft. Die gab's auch. Zweifellos «On dirait le sud» von Vincent Pluss, der Überraschungssieger beim diesjährigen Schweizer Filmpreis. Bereits die zehnte filmische Arbeit des 1969 geborenen Genfers, der insbesondere mit seinen Tanzvideos aufgefallen ist, zeugt dieser erste (kurze) Langspielfilm nicht nur vom Mut zur Improvisation, sondern auch vom Sinn für Choreographie. So muten die Bewegungen der «entfesselten» Kamera, wenn sie ihren Protagonisten in ein alltagsgesättigtes Familiendrama folgt, der hektische Schnitt nach einem etwas harzigen Beginn stets organisch an. Schade nur, dass der Schluss kein Ende ist, auch kein offenes. Da ist dem Autor schlicht das Magnetband ausgegangen, wenn er den Vater mit den beiden Kindern im Apfelbäumchen sitzen lässt, während Mutter, Geliebter und Publikum ratlos hinterherschauen. Eine ausnehmend schöne Arbeit ist «Ich hiess © 2003 Neue Zürcher Zeitung AG Sabina Spielrein» von Elisabeth Marton geworden. Befremdlich muten einzig jene leider zahlreichen Passagen an, die mit einem jeder Logik zuwiderlaufenden «russischen» Akzent gesprochen werden. Anstatt das bekannte Lied der von ihrem Arzt und Geliebten C. G. Jung samt Freud betrogenen Analytikerin anzustimmen, wurde hier ein ebenso poetisch schwebendes wie differenziertes, historisch aufschlussreiches Zeitbild geschaffen. Eine muntere Sache ist «1/2 Miete» von Marc Ottiker, dem seit längerem in Berlin lebenden Zürcher, von dem wir zuletzt die erstaunliche Berliner Studie «Nah am Wasser» (1994) sahen. Da verschlägt es einen Berliner Hacker «auf der Flucht» aus koproduktionstechnischen Gründen nach Köln, wo er sich zum Teil im Split-Screen in verschiedenen Wohnungen herumtreibt, in der Regel ohne von deren leicht verschrobenen Besitzern gesehen zu werden. Happy End garantiert. Auch bei den Kurzspielfilmen dominierte das Muntere, Komische, mitunter auch etwas Aufgesetzte. Nicht so allerdings bei «Joshua» von Andreas Müller. In einer leeren, kalten Landschaft mit einer baufälligen Hütte und einem sinnlosen Schlagbaum spielen der neue Zöllner, die Leiche des Vorgängers, eine unbekannte Frau, zwei Uniformierte und ein unheimlich geschlechtsloser Zwerg eine Art Endspiel der Täuschungen, das eine kinematographisch beeindruckende Atmosphäre der Beklemmung schafft. Ebenfalls Absolvent der Filmklasse der Zürcher Hochschule für Gestaltung und Kunst, ebenfalls mit seinem Film für den Schweizer Filmpreis nominiert, unternimmt Benjamin Kempf in «Exit» den nicht unbedenklichen Versuch, ein altes Paar gemeinsam Sterbehilfe in Anspruch nehmen zu lassen. Das ist wohl in den komischen Momenten am überzeugendsten, für die Stephanie Glaser und Walo Lüönd als altes Paar sorgen. Eine Erzählung von Michail Sostschenko hat Christina Zulauf zu ihrer gelungenen Abschlussarbeit an der St. Petersburger Regiefachklasse für Kino und Fernsehen inspiriert. Unübersehbar atmet «Das Passphoto» in Bildsprache und Typenzeichnung den Geist der versöhnlichen Groteske des Altmeisters der sowjetischen Satire. Das vergangene Jahr war für den Dokumentarfilm ein sehr ergiebiges gewesen. Die nun in Solothurn uraufgeführten Produktionen haben zwar Blatt 1 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON nichts Ausserordentliches gezeigt, aber erneut die Vielfalt des dokumentarischen Schaffens hierzulande belegt. Beat Kuert ist in allen seinen Filmen ein «Unzeitgemässer» gewesen. Das war 1974, bei «Mulungu», schon so, und unzeitgemäss in seinem ausgeklügelten kinematographischen Zugriff ist auch das Videoporträt «Der Tulpenbaum», das er mit Simone Kriesemer zusammen von der hochbetagten Zürcher Lyrikerin Henriette Hardmeier, einer eindrücklichen Frau, realisiert hat. Nach jahrelanger Pause hat sich auch Johannes Flütsch, ein anderer Unzeitgemässer, zurückgemeldet, mit einem Film, der wie gewohnt einen Randständigen zeigt und der – begreiflicherweise – grossen Applaus entgegennehmen durfte. «Geschichten vom Fälscher» porträtiert einen Virtuosen der Radiernadel, der mit jeder Schweizer Banknote fertig würde, wäre da nicht eine Realität, die bloss Geld und nicht Kunst will. Wirklich Sinn für seine Kunst hat einzig der Mann, der ihn hinter Schloss und Riegel gebracht hatte: «Der Fälscher und sein Häscher». Eigentlich überraschend, dass zwei wahre Symbole schweizerischen Brauchtums ihre Sänger erst jetzt gefunden haben: das Schwingen und das Alphorn. In «Die Wägsten und Besten des Landes» begibt sich Matthias von Gunten nach Aus- © 2003 Neue Zürcher Zeitung AG Montag, 27.01.2003 Nr.21 22 flügen in den Kosmos und in die Frühgeschichte des Menschen wieder einmal auf die Reise ins Landesinnere. Die beiden Schwinger, die er in Appenzell und in der Innerschweiz findet und die er bei ihren Vorbereitungen aufs «Eidgenössische» von Nyon im letzten Jahr begleitet, verkörpern dabei in keiner Weise das Bild des rückständigen Berglers. Dramatisch, spannend dann die Schlussgänge im Wettkampf, der die Helden als verletzungsgeplagte Spitzensportler ohne Siegerkranz entlässt. Ebenfalls in die Innerschweiz führt der Film von Stefan Schwietert. Nach «A Tickle in the Heart» und «El accordeón del diablo» hat er sich mit «Das Alphorn» erneut der Musik zugewandt. Der Film zeigt auf schöne Weise, wie das Archaische dieses Instruments, das in die Zeiten vor der grossen «Temperierung» in der abendländischen Musik zurückweist, zugleich seine Modernität ausmacht. Und indem er einen höchst überzeugenden Vertreter der «traditionellen» Spielweise einführt, gelingt ihm auch das Kunststück, der Position des Jodlerverbands gerecht zu werden, der zuvor arg hat Federn lassen müssen. Applaus, Applaus. Christoph Egger Blatt 2 Neue Z}rcer Zeitung FEUILLETON Montag, 27.01.2003 Nr.21 22 Solothurner Preisträger (sda) Neben dem Schweizer Filmpreis sind auch dieses Jahr wieder zahlreiche weitere Preise verliehen worden. Der mit 15 000 Franken dotierte Nachwuchspreis Suissimage/SSA für den besten Nachwuchskurzfilm wurde Benjamin Kempf für «Exit» zugesprochen. Als bester Animationsfilm wurde «Gefangen» von Michael Bolliger mit 10 000 Franken ausgezeichnet; der Film erhielt auch den mit 5000 Franken dotierten Publikumspreis. Die mit je 5000 Franken verbundenen UBS-Anerkennungspreise gingen an den Cutter Bernhard Lehner, den Produzenten Alfi Sinniger sowie den Regisseur Alexander J. Seiler. Den mit 10 000 Franken dotierten Preis für Filmtechnik erhielt der Toningenieur François Musy. Der mit 10 000 Franken verbundene Preis der Gemeinden im Wasseramt schliesslich ging an den Filmemacher Erich Langjahr. © 2003 Neue Zürcher Zeitung AG Blatt 1