Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und
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Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und
Maria Jarn 600816-5646 Universität Stockholm C-Aufsatz Semester: 1/2007 Betreuer: Ulrich Krellner Thema: Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass Inhaltsverzeichnis 1.Einleitung........................................................................................................................ 3 2. Hintergrund................................................................................................................... 4 2.1 Günter Grass ............................................................................................................. 4 2.2 Historische Fakten .................................................................................................... 5 2.2.1 Wilhelm Gustloff ............................................................................................... 5 2.2.2 Wilhelm Gustloff (Schiff).................................................................................. 5 2.2.3 Die Versenkung ................................................................................................. 6 3. Die Novelle: Im Krebsgang ........................................................................................... 6 3.1 Inhalt ......................................................................................................................... 6 3. 2 Analyse der Novelle................................................................................................. 7 3.2.1 Erzählperspektive............................................................................................... 7 3.2.2 Erzählmethode ................................................................................................... 8 3.2.3 Figurendarstellung ............................................................................................. 9 Tulla ........................................................................................................................ 9 Paul ....................................................................................................................... 12 Konrad................................................................................................................... 13 4. Zusammenfassung ...................................................................................................... 16 Quellenangaben............................................................................................................... 19 2 1.Einleitung Das Thema des Aufsatzes ist Die Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in der Novelle Im Krebsgang1. In diesem Aufsatz beabsichtige ich zu untersuchen, wie sich Günter Grass mit diesem Thema beschäftigt, in Bezug auf die folgenden Aspekte: Erinnerung und Neonazismus. Die Hauptfragestellungen sind: Welche Möglichkeiten und/oder Probleme sind mit dem Erinnerungsprozess verbunden? Welchen Zweck hat die komplizierte Struktur der Erzählung mit der Mischung von Fiktion und Wirklichkeit? Warum entwickelt sich Pauls Sohn Konrad zu einem Neonazi, der am Ende seinen Feind-Freund David ermordet? Nach dem Abschnitt über Günter Grass habe ich einige historische Fakten beigefügt, um den Aufsatz leichter zugänglich zu machen. Die Novelle wird zuerst inhaltlich ganz kurz zusammengefasst und danach folgt die Analyse der Erzählperspektive, Erzählmethode und der fiktiven Hauptpersonen Tulla, Paul und Konrad sowie ihrer Beziehungen zu einander und einigen Nebenfiguren. Das Buch Im Krebsgang ist ziemlich neu herausgekommen, deswegen gab es Schwierigkeiten, Quellen in Schweden zu finden. Mit Hilfe der „Kungliga Bilioteket“ in Stockholm gelang es mir, einige Artikel aus Deutschland zu bekommen, obwohl alles, was ich bestellte, nicht rechtzeitig erlangte. Es wäre falsch zu behaupten, dass die Quellen einander gegenüberstehen. Sie beleuchten vielmehr verschiedene Aspekte der Erzählung. 1 „Ähnlich wie in früheren Werken beschäftigt sich Grass hier sehr ausführlich mit der Wirkung der Vergangenheit auf die Gegenwart und mit deren Verarbeitung“, http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Gustloff, 04 März 2007 3 2. Hintergrund 2.1 Günter Grass Günter Grass wurde am 16. Oktober 1927 in Langfuhr, einem Stadtteil von Danzig2, geboren. Als 16-Jähriger wurde er 1944 zum Kriegsdienst einberufen3. Nach einer Verwundung geriet er 1945 in amerikanische Kriegsgefangenschaft. Die Jahre 1946 bis 1947 absolvierte er eine Steinmetzlehre und danach studierte er Bildhauerei und Grafik in Düsseldorf und Berlin. Nach einigen schriftstellerischen Versuchen wird er zur Gruppe 474 eingeladen. Die Treffen der Gruppe 47 waren für Grass und seine literarische Karriere sehr wichtig5. 1954 heiratete er die Schweizer Ballettstudentin Anna Schwarz. Sie zogen nach Paris, weil sie dort ihre Ausbildung fortsetzen wollte. In Paris arbeitete Grass an seinem ersten Roman der Blechtrommel. Der Roman erschien 1959 und Grass erreichte damit seinen literarischen Durchbruch. Die deutsche Nachkriegsliteratur gewann auch durch Die Blechtrommel internationale Beachtung. Die Blechtrommel, Katz und Maus (1961) und Hundejahre (1963) gehören zu der sogenannten Danziger Trilogie. Die selbständigen Werke spielen in Danzig, der Heimat von Grass, und stehen in einem Zusammenhang von Ereignissen, Figuren und Zeitumständen6. Grass interessiert sich für Politik und war zwischen den Jahren 1982-1993 Mitglied der SPD. Er verließ die Partei aus Protest gegen ihre Asylpolitik. Er ist ein sehr erfolgreicher Schriftsteller, aber er ist auch harter Kritik ausgesetzt worden7 z.B. wegen seines Romans Ein Weites Feld (1995), der die Probleme in Zusammenhang mit der Wiedervereinigung Deutschlands darstellte. 1999 wurde ihm den Nobelpreis verliehen, mit u.a. der 2 Heute ist diese Stadt polnisch und heißt Gdansk. Bis 2006 hat Grass sich als Flakhelfer im Krieg dargestellt. Erst in seinem Roman Beim Häuten der Zwiebel (2006) hat er zugegeben, dass er in den letzten Kriegsmonaten bei der Waffen-SS gedient hat. (Dirk Kurbjuweit u.a., Fehlbar und verstrickt, Der Spiegel 34/2006) 4 Gruppe von deutschsprachigen Schriftstellern, die von Hans Werner Richter und Alfred Andersch 1947 gegründet wurde. Die Gruppe hatte sehr großen Einfluss auf die bundesdeutsche Literatur: „Sehr schnell setzte die enorme Wirkung der Gruppe 47 ein. Bald zählte die gesamte bundesdeutsche Autorenelite – und so bestimmte sie die Gegenwartsliteratur der Bundesrepublik bis weit in die 1960er Jahre hinein, wobei ihre politische Bedeutung jedoch gering blieb“, Mario Fuhrländer, Haremberg Das Buch der 1000 Bücher, Dortmund, Haremberg Kommunikation Verlags- und Medien GmbH & Co, 2002, S. 430 5 Michael Jürgs, Bürger Grass Biografie eines deutschen Dichters, München, C. Bertelmann Verlag 2002 6 http://de.wikipedia.org/wiki/Danziger_Trilogie, 21 März 2007 7 Michael Jürgs, Vgl. Fußnote 5, S.402f 3 4 Begründung: „[Die Literatur bleibt eine Macht], solange sie daran erinnert, was Menschen sich beeilen zu vergessen“8. Die Novelle Im Krebsgang erschien 2002. Grass verwendet in dieser Novelle einen auf die Wirklichkeit bezogenen Bericht über die Versenkung des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff und die damit verbundenen historischen Personen als Rahmenhandlung für eine fiktive Erzählung der Familie Pokriefke. Ursula (Tulla) Pokriefke, bekannt aus der Danziger Trilogie, taucht dieses Mal als Mutter und Oma auf. 2.2 Historische Fakten 2.2.1 Wilhelm Gustloff Wilhelm Gustloff wurde am 30. Januar in Schwerin geboren. Er war Leiter der NSDAPAuslandsorganisation in der Schweiz9. 1936 wurde er von einem jüdischen Medizinstudenten, David Frankfurter, erschossen. Danach wurde er von der nationalsozialistischen Propaganda zum ,,Blutzeugen der Bewegung“10 erklärt. 2.2.2 Wilhelm Gustloff (Schiff) Das KdF-Schiff11 sollte nach dem Führer Adolf Hitler benannt werden, aber Adolf Hitler ließ das Schiff persönlich in „Wilhelm Gustloff“ umbenennen. Vor dem Krieg diente das Schiff als Kreuzfahrtschiff für Reisen nach Italien und Norwegen. Es war auf 413 Besatzungsmitglieder und 1463 Passagiere ausgelegt. Eine Besonderheit mit dem Schiff war, dass es nur eine einzige Passagierklasse gab. Während des zweiten Weltkrieges wurde das Schiff als Lazarettschiff und später als Wohnschiff für die 2.U-BootLehrdivision in damaligen Gotenhafen12 genutzt. 8 Rüdiger Krohn, Lexikon der Deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945 Band 1 A-J, München, Nymphenburger Verlag, 2003, S. 429 9 http://de.wikipedia.org/wiki/Im_Krebsgang, 04 März 2007 10 Begriff von der Zeit des Nationalsozialismus für eine Person, die während des Kampes der nationalsozialistischen Bewegung gewaltsam ums Leben kam. 11 Die Nationalsozialistische Organisation „Kraft durch Freude“ 12 Heute ist diese Stadt polnisch und heißt Gdynia. 5 2.2.3 Die Versenkung Anfang des Jahres 1945 befanden sich viele Menschen in Ostpreußen vom übrigen Deutschland abgeschnitten. Als man entschloss, die 2,5 Millionen Menschen in das westliche Deutschland zu bringen, sollte auch das Schiff Wilhelm Gustloff für diesen Zweck benutzt werden. Als das Schiff am 30. Januar 1945 von dem sowjetischen U-Boot S13 mit dem Kapitän Alexander Marinesko versenkt wurde, waren offiziell 7956 Menschen an Bord des Schiffes registriert. Es wird behauptet13, dass etwa 10400 Menschen sich damals auf dem Schiff befunden hätten, weil zusätzlich etwa 2500 Flüchtlinge nach der offiziellen Zählung an Bord drängten. Die Mehrheit waren Zivilisten (8800), hauptsächlich Frauen und Kinder, aber auch Verwunderten, Marinenhelferinnen und 918 Soldaten aus der 2. ULehrdivision. Nur 1252 Menschen konnten von anderen Schiffen gerettet werden. Mit etwa 9000 Toten gilt diese Seekatastrophe bis heute als die größte der Seefahrtsgeschichte. 3. Die Novelle: Im Krebsgang 3.1 Inhalt Die Rahmenhandlung besteht aus einem auf historische Ereignisse bezogenen Bericht der Versenkung des klassenlosen ehemaligen „KdF-Schiffes“ Wilhelm Gustloff, das damals als Flüchtlingsschiff benutzt wurde. In diesem Bericht wird das Schicksal der historischen Personen Wilhelm Gustloff, David Frankfurter und Alexander Marinesko beschrieben. Einer der Überlebenden ist die fiktive Hauptperson Tulla Pokriefke. Gleich nach ihrer Rettung bringt sie ihren unehelichen Sohn Paul zur Welt. Sie kommen danach als Umsiedler nach Schwerin in die spätere DDR14, wo Tulla auch bleibt. Es gelingt ihrem Sohn Paul kurz vor dem Mauerbau15, die DDR zu verlassen. Im Westen schlägt er 13 http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Gustloff_%28Schiff%29, 04 März 2007 DDR: Die Deutsche Demokratische Republik bestand vom 7. Oktober 1949 bis zum 2. Oktober 1990 15 Die Berliner Mauer war Teil der innerdeutschen Grenze zwischen West und Ost-Berlin und die umgebende Gebiet der DDR. Die Mauer existierte vom 13. August 1961 bis zum 9. November 1989. Sie 14 6 sich als mittelmäßiger Journalist durch. Sie fordert ihn unaufhörlich auf, über die Seekatastrophe zu schreiben, aber er weigert sich, weil er schon als Junge genug von Tullas Gustloff-Geschichten gehört hatte. Erst als 50jähriger, geschieden mit einem Sohn, der in einer anderen Stadt bei seiner Mutter wohnt, fängt er mit der Recherche für einen Artikel über die Gustloff-Katastrophe an. Im Internet findet er die Website „www.blutzeuge.de“, auf deren der 1936 von dem Juden David Frankfurter ermordeten Nazi Wilhelm Gustloff als Märtyrer gefeiert wird. Paul folgt dem virtuellen Streit zwischen den Feind-Freuden mit Chatnamen Wilhelm und David. Er entdeckt später, dass hinter dem Chatnamen Wilhelm, sein Sohn Konrad steckt. Als Konrad und David, Alias Wolfgang Stremplin, sich persönlich begegnen, erschießt Konrad David (Wolfgang), um den Blutzeugen zu rächen. Es stellt sich dann heraus, dass Wolfgang Stremplin kein Jude war, sondern dass er sich nur als Jude im Internet ausgegeben hat. Konrad wird zu 7 Jahren Gefängnis verurteilt. Am Ende der Erzählung erfährt Paul, wie sein Sohn als neuer Blutzeuge auf die Webseite „www.kameradschaft-konrad-pokriefke.de“ gefeiert wird. Das Buch endet mit den Wörtern: „Das hört nie auf. Nie hört das auf“16. 3. 2 Analyse der Novelle 3.2.1 Erzählperspektive „Warum erst jetzt“ „ sagte jemand, der nicht ich bin“ (S. 7) mit diesen Wörtern beginnt die Erzählung. Der Ich-Erzähler Paul Pokriefke hat einen (oder mehrere) „Gesprächspartner“, die nicht direkt in der Handlung teilnehmen. Der „Gesprächspartner“ wird abwechselnd „er“, „jemand“, „der Alte“ oder „der Arbeitgeber“ genannt. Es geht auf Seite 77 hervor, dass hinter „er“ das Alter Ego von Günter Grass steckt. „Gleich nach Erschienen des Wälzers ‚Hundejahre’ sei ihm diese Stoffmasse auferlegt worden. Er – wer sonst?“. „Er“ und „jemand“ sprechen direkt mit dem IchErzähler, aber es kommt auch vor, dass z.B. „der Alte“ oder „der Arbeitgeber“ direkt mit war eines der bekanntesten Symbole für den Kalten Krieg. Bei dem Versuch über die Mauer zu kommen, wurden viele Menschen getötet. 16 Grass, Günter. Im Krebsgang. Göttingen: Steidl Verlag 2002, S. 216 7 dem Ich-Erzähler spricht. Rüdiger Krohn behauptet, dass hinter „dem Alten“ „das Alter Ego des Autors greifbar [werde]“ 17. Adolf Höfer ist der Meinung, dass Grass sich hinter allen den oben genannten Personen selbst verberge und dass es nur eine Person sei. Die Ursache zu diesem Kunstgriff, meint Höfer, sei die Möglichkeit für Grass „die Schwierigkeit und Notwendigkeit der gewählten Thematik eingehend zu kommentieren.“ 18 Der Ich-Erzähler erklärt, weshalb „er“ selbst nicht früher über die Katastrophe geschrieben hat: „Sein Versäumnis, bedauerlich, mehr noch sein Versagen. Doch wolle er sich nicht rausreden, nur zugeben, dass er gegen Mitte der sechziger Jahre die Vergangenheit sattgehabt, ihn die gefräßige, immerfort jetztjetztjetzt sagende Gegenwart gehindert habe“ (S 77). Krohn meint, dass Günter Grass selbst daran Schuld fühle, „vor allem in Blick auf die unterbliebene Aufarbeitung der Flüchtlingstragödien zu Kriegsende“ 19. Wie auch „er“(Günter Grass) Im Krebsgang sagt: „Niemals, sagte er, hätte man über so viel Leid, nur weil die eigene Schuld übermächtig und bekennende Reue in all den Jahren vordringlich gewesen sei, schweigen, das gemiedene Thema den Rechtsgestrickten überlassen dürfen. Dieses Versäumnis sei bodenlos“ (S. 99). Die Gespräche zwischen dem Ich-Erzähler und dem „Gesprächspartner“ führen auch die Handlung der Novelle weiter, indem „er“ direkte Fragen über z.B. Pauls Erinnerung seiner Kindheit stellt, und dass „er“ verlangt, dass Paul über die Katastrophe schreiben soll. „Er“ beurteilt auch das Agieren von Paul und nennt ihn z.B. „einen verspäteten Vater“ (S. 176), weil Paul erst während des Prozesses seinem Sohn Konrad näher kam. Das, was wir über die anderen fiktiven Hauptpersonen zu wissen bekommen, besteht sowohl aus Zitaten anderer Personen als auch den Gedanken des Ich-Erzählers über diese Personen. 3.2.2 Erzählmethode Die dokumentarische Rahmenhandlung der historischen Personen wird gleichzeitig mit der fiktiven Geschichte erzählt. Zuerst trifft der Höhepunkt der historischen Geschichte, 17 Rüdiger Krohn, Vgl. Fußnote 8, S. 430 Adolf Höfer, Die Entdeckung der deutschen Kriegsopfer in der Gegenwartsliteratur. Eine Studie der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass und ihrer Vorgeschichte, Literatur für Leser, Heft 3, 2003, S. 188 19 Rüdiger Krohn, Vgl Fußnote 8, S. 430. 18 8 der Versenkung von Wilhelm Gustloff am 30. Januar 1945. Danach kommt der Höhepunkt der fiktiven Geschichte mit dem Zusammentreffen zwischen Konrad und David (Wolfgang) am 20. April 199720 in Schwerin. Die beiden Geschichten werden abwechselnd mit fiktiven und historischen Zurückblicken gemischt. In der Novelle wird auch diese Methode beschrieben: „Aber noch weiß ich nicht, ob, wie gelernt, erst das eine, dann das andere und danach dieser oder jener Lebenslauf abgespult werden soll, oder ob ich der Zeit eher schrägläufig in die Quere kommen muss, etwa nach Art der Krebse, die den Rückwärtsgang seitlich ausscherend vortäuscht, doch ziemlich schnell vorankommen.“ (S. 8) Adolf Höfer behauptet, dass diese Methode des Autors oder Ich-Erzählers „bei seiner literarischen Auseinandersetzung mit Vergangenheit und Gegegenwart [...] dem ganzen Buch den Titel gegeben [habe]: die Vergangenheits- und Gegenwartsbewältigung verläuft im Krebsgang“ 21. Höfer ist der Meinung, dass die unterschiedliche Perspektive des Buches einen „differenzierteren Blick auf das Geschehen ermöglich[e]“22. Drei verschiedene historische Ereignisse am 30. Januar verschiedener Jahre werden in der Novelle in Verbindung gesetzt: 1895 der Geburt Wilhelm Gustloffs, 1933 die Machtergreifung Hitlers und 1945 die Versenkung des Flüchtlingsschiffes Wilhelm Gustloff. In der Novelle wird dieser Zufall als „ein Zeichen des allgemeinen Untergangs“ (S. 11) erklärt. 3.2.3 Figurendarstellung Tulla Tulla ist die Hauptperson der Erzählung. Sie spricht nicht Hochdeutsch sondern „Langfurisch“, wie es aus den Zitaten hervorgeht. Erst 17 Jahre alt überlebt sie die Gustloff-Katastrophe, obwohl sie hochschwanger ist und während dieser Nacht bringt sie ihren Sohn Paul zur Welt. Es wird nie festgestellt, wer Pauls Vater ist und ob Tulla es selbst weiß. Ihre Eltern sind bei der Versenkung ums Leben gekommen. Vor dem Krieg gelang es ihren Eltern, an einer KdF-Kreuzfahrt der klassenlosen Wilhelm Gustloff nach 20 Adolf Hitlers Geburtstag. Adolf Höfer, Vgl Fußnote 18, S 193 22 Adolf Höfer, Vgl Fußnote 18, S 192 21 9 Norwegen mitzukommen. Schon als kleines Kind hörte Tulla ihre Geschichten über das Schiff. Nach dem Krieg lernt sie das Tischlerhandwerk und als Tulla und Paul als Umsiedler nach Schwerin kommen, wird ihr eine Lehrstelle bei einem Meister zugewiesen. Sie hat große Hoffnung auf ihren Sohn und sagt zu den Nachbarn: „Main Paulchen is was janz Besonderes!“ (S. 42) „ Von saine Jeburt hab ech jewußt, aus dem Bengel wir mal ne richtge Beriemthait“ (S. 42) Als Paul bei ihrer Freundin Jenny in West-Berlin wohnt und da in die Schule geht, lässt seine Mutter ihm durch seine Freundin mitteilen: „Er muß, lernen! Dafür, nur dafür hab ich den Jungen in den Westen geschickt, damit er was aus sich macht…“ (S. 19) und „Ech leb nur noch dafier , dass mein Sohn aines Tages mecht Zeugnis ablegen“ (S. 19). Diese Besessenheit von Tulla auf die Katastrophe fährt fort, auch als Paul fertig Journalist geworden ist. Tulla meint, dass es auch seine Pflicht sei als Überlebender, darüber zu berichten: „wie aisig die See jewesen is und wie die Kinderchen alle koppunter. Das musste aufschraiben. Bisteons schuldig als glicklich Iberlebender.“ (S. 31). Die DDR gehörte zur sowjetischen Besatzungszone. Der sowjetische Kapitän Marinesko hat den Befehl zur Versenkung des Schiffes gegeben. Über die Katastrophe dürfte Tulla in der DDR nicht reden, wie sie selbst sagt: „ieber die Justloff nich reden jedurft hat. Bai ons im Osten sowieso nich. Ond bai dir in Westen ham se, wenn ieberhaupt von frieher, denn immerzu nur von andre schlimme Sachen, von Auschwitz und so was jeredet. Main Gottchen! Was ham die sich aufjeregt bai ons im Parteikollektiv, als ech mal kurz was Positives ieber Kaadeffschiffe jesagt hab, dass nämlich die Justloff ein klassenloses Schiff jewesen is…“ [...]. Muß fast wie bai ons inne Deedeär jewesen sain, nur scheener noch…“ (S. 50) Einer der Überlebenden (S. 62) Heinz Schön hat mehrere Bücher über die Katastrophe geschrieben. Paul meint, dass seine Mutter „ihre Freude“ (S. 62) daran hätte haben können. Aber das Buch war in der DDR „unerwünscht“ (S. 62). Der Film über die Katastrophe Nacht fiel über Gotenhafen, der gegen Ende der fünfziger Jahre gedreht wurde, wurde in der DDR nicht zur Aufführung freigegeben. Im Westen lief der Film mit „mäßigem Erfolg“ (S.113) und danach „wie das Unglücksschiff, vergessen und allenfalls Ablagerung in Archiven“ (S. 113). Peter Arends behauptet, dass der Neonazismus in Deutschland der Gegenwart sich von unterdrückten Erinnerungen, der Unfähigkeit zu trauern, dem Schweigen und dem Tabu ähnlicher Themen schüre, wie z.B. die 10 Versenkung der Wilhelm Gustloff 23. Arends meint, dass Grass in der Novelle feststelle, wenn in Deutschland nur über die Deutschen als Täter während der Nazizeit diskutiert werde und die Erinnerung der deutschen Opfer Tabu sei, dann könne das was unterdrückt sei zu Überreaktionen führen wie Konrads Neonazismus oder Wolfgangs Philosemitismus. Höfer ist auch der Meinung Arends bezüglich der Folgewirkung des Tabus und hebt hervor, dass Grass diese Gefahr ernst nehme. Dies zeige sich am Ende der Erzählung, wenn Konrad als Vorbild und neuer Führer im Internet geworben werde: „Wir glauben an Dich, wir warten auf Dich, wir folgen Dir“ (S. 216). Als die Grenze geöffnet wird und Tulla seinen Enkel Konrad trifft, beginnt sie stattdessen ihre Hoffnung auf ihn zu setzen, sie schenkt ihm einen Computer. Sie sagt zu Paul: “Na, vleicht wird mal main Konradchen eines Tages drieber was schraiben…“(S. 92) Rüdiger Krohn meint, dass das Besonderes des Buches „nicht so sehr in der Aufarbeitung des Vertriebenen liegt– Themas, das in der Nachkriegsliteratur auch vorher behandelt worden ist, sonder eher im veränderten Hallraum, auf den die Problematik im veränderten öffentlichen Bewusstsein des vereinigten Deutschland stießt“ 24. Pauls ausgesprochene Bitte, dass sie seinen Sohn mit „Vergangenheitsduseleien“ (S. 92) verschonen sollte, überhört sie. Tulla war mit der Zeit sehr enttäuscht von Paul und nennt ihn „ein[en] Schlappjä“ (S. 92). Martina Caspari meint, es sei kein Zufall, „dass die Mutter, der der Sohn kein Gehör schenkt, doch endlich Gehör bekommt – nämlich von der nächsten Generation, dem Sohn des vaterlosen Vaters, des Ich-Erzählers“ 25. Caspari erklärt auch wie Konrad das Thema veröffentliche, „dies schein[e] ihm nur im Rahmen neonationalsozialistischer Websites und Gruppen im Internet möglich“26, weil der Untergang der Wilhelm Gustloff sich „auch in der dritten Generation nicht in einem Kontext ‚erzählen’ ließt, der frei von rechtsextremer ideologischer Besetzung ist.“ 27. Paul sagt, dass Tulla schuld daran ist, dass es mit Konrad „danebenging“ (S. 68) und, dass das Unglück begann als Konrad den Computer bekam. 23 Peter O. Arnds, Representation, Subversion and Eugenics in Günter Grass The Tin Drum, Rochester NY USA, Camden House, 2004, S 154-159 24 Rüdiger Krohn, Vgl Fußnote 8, S.430 25 Martina Caspari, Im Krebsgang gegen den Strich: Das schwierige Geschäft des Erinnerns bei Günter Grass, Germanic Notes and Reviews, Volume 33, Number 2, S. 107 26 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S. 107 27 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S. 107 11 Paul Paul wächst ohne Vater und väterliche Vorbilder auf. Als „der Alte“ deutliche Erinnerungen seiner Kindheit von ihm verlangt, sagt Paul: „ Da gibt’s nichts zu erinnern“ (S. 54) und zum Thema vaterlos mit ziemlich harten Wörtern: „Einerlei, wer sie gestoßen hat, für mich hieß ihr beliebiges Angebot vaterlos geboren und aufgewachsen, um irgendwann Vater zu werden“ (S.151). Er sagt auch, dass er lieber „jenes Findelkind“(S. 142) gewesen wäre als von Tulla geboren. Fünfzehn Jahre alt hat er „die Nase voll“ (S. 57) von der DDR und auch von seiner Mutter: „Konnte das nicht mehr mitanhören, wenn sie mir, meistens sonntags, ihre Gustloff-Geschichten zu Klopsen und Stampfkartoffeln auftischte“(S. 57). Er arbeitet als Journalist für die Springer Presse28 aber auch für die taz29. Wie Martina Caspari es erklärt: „[Er] [zeige] sich merkwürdig richtungslos und wechselhaft, schreib[e] zunächst für die Springer-Presse und später, ohne dies als Bruch zu erleben, für die taz.“ 30. Caspari sagt auch, dass er „als er Zeuge der Auseinandersetzung seines Sohnes mit David [werde]“ auf dem Internet „seltsam positions- und sprachlos bleib[e]“31. Sie meint, dass „[e]r nie einen klaren Standpunkt bezieh[e]. In seinen Lebensentscheidungen, so beispielsweise bei der Partnerwahl, bleib[e] er beliebig.“32. Dies zeigt sich in der Beschreibung Pauls über seine ehemalige Frau Gabi: Sie ist„zwar nicht hübsch, aber anmachend“ (S. 42). Er erklärt wie sie schwanger wird: Gabi setzt „klammheimlich“ die Pille (S. 42) ab und sie wird „eindeutig von mir schwanger“ (S. 42) Über der Hochzeit sagt er, dass Gabi ihn vor das Standesamt „schleppt“ (S. 42). Nach der Geburt seines Sohnes schickt Tulla ihren Namenswunsch per Telegram: „Muß unbedingt Konrad33 heißen“ (S. 43.). Aber gleichzeitig schreibt sie ihrer Freundin Jenny einen Brief: „So ein Esel! Ist er dafür in den Westen rüber? Mich so zu enttäuschen. Soll das etwa alles sein, was er auf die Beine kriegt?“ (S. 43). Paul meint, dass seine Mutter und Gabi „in [ihm] den typischen Versager gesehen [haben]“.(S. 43) Paul kommentiert die Scheidung mit Gabi auf folgende Weise: „Keine sieben Jahre [dauere] der 28 Verlag Axel Springer. Auf der Webseite http://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Springer_Verlag#Publikationen wird der Verlag als politisch konservativ beschrieben 29 Die taz ist die linke Tageszeitung in Deutschland http://de.wikipedia.org/wiki/Die_tageszeitung# 30 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S 107 31 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S 107 32 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S 107 33 Konrad hieß der Bruder Tullas, der als Kind beim Baden ertrank. 12 anstrengende Spaß, dann war zwischen Gabi und mir Schluß [...] sie zog mit dem kleinen Konrad nach Westdeutschland, wo sie in Mölln Verwandschaft hatte...“(S. 43). Paul zeigt nach der Scheidung kein großes Interesse für seinen Sohn: „Meinen Sohn Konrad sah ich nur besuchsweise, also selten und unregelmäßig“ (S. 44). „Er“ (Günter Grass) sagt, dass man Pauls „Geburtstrauma als mildernder Umstand für väterliches Unvermögen“ (S. 151) sehen könnte. Martina Caspari sagt, dass Paul nur „in der Ablehnung des Themas Gustloff allerdings vehement bleib[e]“ 34. Paul erklärt, weil er endlich darüber zu schreiben anfängt: „ Doch nicht er, Mutter zwingt mich, Und nur ihretwegen mischt sich der Alte ein, gleichfalls gezwungen von ihr, mich zu zwingen, als dürfe nur unter Zwang geschrieben werden, als könne auf diesem Papier nichts ohne Mutter geschehen“ (S. 99). Caspari stellt fest, obwohl diese Erinnerung „erst jetzt möglich [sei]“35, dass sie „im Angesicht besagter Katastrophe absolut notwendig bleib[e]“36. Sie fügt hinzu, dass die Notwendigkeit sich zu erinnern nie aufhöre. Konrad Was man über Konrad zu wissen bekommt besteht zum größten Teil von Zitaten anderer Personen oder was der Ich-Erzähler sagt. Es gibt nur wenige Zitate von Konrad selbst. Er wird von seinem Vater, dem Ich-Erzähler, beschrieben als ein „ zu schnell gewachsener Junge mit Brille, der sich, nach Meinung seiner Mutter, schulisch gut entwickelte, als hochbegabt und überaus sensibel galt…“(S 44). Konrad wird als ein Einzelgänger dargestellt. Konrads einziges Interesse scheint Tischtennis zu sein. Er wächst bei seiner „linkslastigen“ (S. 116) Mutter in Mölln auf. Er trifft seinen Vater selten und er lernt seine Oma erst kennen als die Grenze geöffnet wird. In Mölln wird Konrad von der Schule verweigert, ein Referat zum Thema „Die positiven Aspekte der NS-Gemeinschaft Kraft durch Freude“ (S. 184) zu halten. Paul macht sich hinterher Gedanken darüber und schreibt: „Gabi und ich hätten wissen müssen, was sich in Mölln abgespielt hat“ (S.183) und auch „ich hätte mehr Interesse für meinen Sohn beweisen müssen“.(S. 184). Als Paul verdächtigt, dass Konrad hinter der rassistischen Webseite „www.blutzeuge.de“ steht, versucht er mit ihm darüber ins Gespräch zu kommen aber es gelingt ihm nicht. „[S]eit 34 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S. 107 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S. 107 36 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S. 107 35 13 wann interessiert dich, was ich tue?“ (S. 76) antwortet Konrad und erklärt, dass er im Internet Geschichte studiert. Paul versucht mit Gabi und Tulla über Konrads Umgang mit Rechtradikalen zu sprechen. Gabi meint, dass es „lachhaft“ (S. 74) ist, sich „Konrad bei diesen Brüllaffen vor[zu]stellen“ (S. 74) Tulla regt sich auf: „Na so was! Jahrelang haste diä nich um onser Konradchen jekimmert, ond nu auf ainmal heerste die Flöhe husen ond spielst ons den besorjten Papa vor“ (S. 74). „Hinterher, heißt es, ist man klüger“ sagt Paul (S. 81) und erzählt wie er nachher zu wissen bekam, dass Konrad den Vortrag anstatt Mölln in Schwerin bei einem Zusammentreffen dem rechtsradikalen Verein „Kameradschaft Wilhelm Gustloff“ hielt. Paul erklärt, dass Konrad seinen Vortrag nicht durchführen konnte, weil der Vortrag den Jungnazis zu langweilig erscheint. Nachher besorgt ihm Tulla ein Schießeisen, weil ihm wie Tulla sagt die „Glatzköppe“ (S. 198) bedrohen. Als die Grenze zu DDR geöffnet wird, zieht Konrad zu seiner Großmutter. Gabi sagt, dass, „[Konrad] [mit] demnächst siebzehn selbst entscheiden [kann]“ (S. 116). Paul meint, dass er sich seinen „Sohn nur schlecht im stehengebliebenen Schulmief der Ossis vorstellen konnte.“ (S. 116) Gabi meint, dass es nur Vorurteile ist: „Konny zieht nun mal die strenge Lerndisziplin dort unserem mehr laxen Schulbetrieb vor“ (S. 116). Ich-Erzähler Paul fragt sich was David (Wolfgang) dazu veranlasste, sich nach Schwerin zu begeben und Konrad in der Realität zu treffen. Es stellt sich auch die Frage, warum Wolfgang sich als Jude im Internet ausgeben hat? Wolfgangs Eltern erklären, wie er schon als 14-Jähriger sich den Namen David zulegte, weil ihn die Kriegsverbrechen und Massentötungen nachhaltig interessierten. Wolfgang verlangte auch, dass seine Mutter nur koscher kochen sollte und er trug ein Käppchen als Zeichen seiner Frömmigkeit. Wolfgang wird auch als ein Einzelgänger dargestellt. Ähnlich wie Konrad interessiert ihn Tischtennis. Man bekommt den Eindruck, dass Konrad und Wolfgang unter anderen Umständen hätten Freunde sein können. Seine Eltern machen sich Gedanken darüber, dass sie „...zu früh aufgehört, erzieherisch auf ihn einzuwirken“ (S. 185) haben. Adolf Höfer erklärt, wie das Thema Antisemitismus und Neonazismus automatisch aus der Konfrontation im Internet zwischen Konrad und David erwachse. Er meint, dass ihre Auseinandersetzung im Internet Grass „sein Thema vom Leiden und Sterben der deutschen Kriegsopfer [...] in den Gesamtzusammenhang deutscher Fehlentwicklungen, 14 Irrwege und Schuldverstrickungen in Vergangenheit und Gegenwart [einzubetten]“37 ermögliche. Aber Höfer sagt auch, dass ein Grund für die komplizierte Struktur der Erzählung sei, dass Grass immer noch den Verdacht trotz seiner bisherigen Werke spüre, er könne bei der Erinnerung der deutschen Kriegsopfer in „rechtsextremen und unbelehrbar revanchistischen Kreise[...] geraten“38. Tulla erfährt vom Jugendstaatsanwalt beim Gerichtsverfahren, dass Konrads Computerfreund kein Jude war sondern aus einem württenbergischen Pfarrhaus stammt. Sie regt sich auf: „Na son Schwindel! Das hat main Konradchen nich wissen jekonnt, da dieser David ain falscher Jud is. Ainer, der sich ond andere was vorjemacht hat, wenner sich bai jede Jelegenhait wien ächter Jud aufjefiehrt ond immer nur von onsre Schande jered hat…“ (S. 181). Adolf Höfer schreibt, dass „die Auseinandersetzung mit Neonazismus und Judenfeindlichkeit“ in der Bundesrepublik und in der DDR „ein wesentliches Thema der Erzählung sei“ 39. Höfer meint bei dieser Auseinandersetzung spiele die Ansichten Tullas als „Bewunderin der klassenlosen KdF-Volksgemeinschaft und der späteren Verehrerin der stalinistisch-sozialistischen Gesellschaft der DDR […] eine entscheidende Rolle“ 40. Konrad wird vom Vorsitzenden Richter gefragt, „ob er jemals, sei es in Mölln, sei es in Schwerin, einem wirklichen Juden begegnet sei“ (S. 182). Konrad antwortet nein und fährt fort: „[F]ür meinen Entschluß war das nicht relevant. Ich schoß aus Prinzip“ (S. 182). Martina Caspari erklärt: „[D]ie Tatsache dass David gar kein Jude ist, trifft ihn nicht, sondern macht nur deutlich, wie Ausschluss und Antisemitismus funktionieren.“ 41. Peter Arends meint, dass diese ironische Drehung der Erzählung zeige, wie sinnlos Rassismus sei42. Arends sagt auch, niemand vor Günter Grass habe es gewagt, Juden und Deutschen als Opfer in demselben Drama darzustellen, wie Grass durch die Figur Wolfgang Stremplin tue43. Einer der Gutachter beim Gerischtsverfahren, ein „Psychologe aufs desolate Familienleben“ (S. 193), beschreibt Konrads Tat als eine „einsame Tat eines Verzweifelten“ (S. 193) und dass sie zurück auf die Jugend ohne Vater führt. Der Ich37 Adolf Höfer, Vgl. Fußnote 18, S. 193 Adolf Höfer, Vgl. Fußnote 18, S. 193 39 Adolf Höfer, Vgl. Fußnote 18, S. 190 40 Adolf Höfer, Vgl. Fußnote 18, S. 190 41 Martina Caspari, Vgl. Fußnote 25, S. 107 42 Peter O.Arnds,Vgl. Fußnote 23 43 Peter O.Arnds,Vgl. Fußnote 23 . 38 15 Erzähler Paul fragt sich ob „der Verteidiger gar nicht falsch lag, als er die durch Mutter verursachte Besessenheit auf Wilhelm Gustlof zur Suche nach einem Vaterersatz umdeutete?“ (S. 195) Als Paul seinen Sohn im Gefängnis besucht, zeigt ihm Konrad ein Modellschiff der Wilhelm Gustloff, das er selbst gebaut hat. Paul kommentiert: „Ganz hübsch. Aber eigentlich solltest du aus dem Alter für solche Spielereien raus sein, oder?“ (S. 208). Konrad antwortet: „Weiß ich. Doch wenn du mir, als ich dreizehn oder vierzehn war, zum Geburtstag die Gustloff geschenkt hättest, müsste ich diesen Kinderkram jetzt nicht nachholen. Hat aber Spaß gebracht. Zeit genug hab ich ja oder? (S.208) Rüdiger Krohn44 behauptet, dass der Autor der Meinung sei: „dass der erstarkende Rechtsextremismus in Deutschland die Folge von Verfehlungen einer Gesellschaft sei, die es versäumt habe, der Jugend Leitbilder, Inhalt und Werte zu vermitteln.“ 4. Zusammenfassung Meine Absicht mit diesem Aufsatz war zu beschreiben, wie sich Günter Grass mit dem Thema: Die Wirkung die Vergangenheit auf die Gegenwart und deren Verarbeitung in Bezug auf Erinnerung und Neonazismus beschäftigte. Die erste Hauptfragestellung war: Welche Möglichkeiten und/oder Probleme sind mit dem Erinnerungsprozess verbunden? Es ging hervor, dass Günter Grass selbst in der Erzählung als eine Art „Gesprächspartner“ zum Ich-Erzähler Paul auftauchte. Günter Grass bekam damit die Möglichkeit zu erklären, weshalb er selbst nicht früher über die Flüchtlingstragödie der Deutschen geschrieben hatte. „Er“ d.h. Günter Grass sagte, dass er die Vergangenheit satt hatte und dass ihn die Gegenwart absorbierte. Es ließ sich feststellen, dass Grass einen Teil der Schuld auf sich nahm, da „er“ über seine Schuld, seine Reue und sein Versagen schrieb. Der Gesprächspartner wurde abwechselnd „er“, „jemand“, „der Alte“ oder „der Arbeitgeber“ genannt. Es wirkte logisch, wie Adolf Höfer meinte, dass hinter allen diesen Personen Grass sich selbst verbegen würde. Logisch war auch Höfers Schlussfolge, dass Grass diesen Kunstgriff gewählt hätte, weil es ihm mehrere Möglichkeiten gäbe, die Schwierigkeit und Notwendigkeit der gewählten Thematik zu kommentieren. 44 Rüdiger Krohn, Vgl. Fußnote 8, S. 430 16 Wie konnten die Möglichkeiten/Probleme mit dem Erinnerungsprozess für die Hauptperson Tulla beschrieben werden? Tulla kam nach dem Kriegsende als Umsiedler in die DDR. In der DDR gab es keine Möglichkeiten für sie, die Katastrophe und ihr Trauma zu bearbeiten. Es wurde beschrieben, wie sie in der DDR nicht über die Katastrophe oder das KdF-Schiff sprechen konnte. Die Bücher von Heinz Schön und der Film Nacht fiel über Gotenhafen waren nicht erlaubt. In einem Zitat sagte Tulla auch, dass im Westen nur über Auschwitz geredet wurde. Die Erklärung Peter Arends über den Neonazismus im Deutschland der Gegenwart, dass er sich von unterdrückter Erinnerung, der Unfähigkeit zu trauern und dem Tabu von Themen wie die Versenkung der Wilhelm Gustloff schürte, schien mir richtig zu sein. Auch seine Argumentation, dass Grass in der Novelle feststellte, wenn nur über die Deutschen als Täter während der Nazizeit diskutiert würde und die Erinnerung der Deutschen Opfer Tabu wäre, dann könnte diese Unterdrückung zu Überreaktionen führen wie Konrads Neonazismus und Wolfgangs Philosemitismus, war überzeugend. Die beiden anderen Hauptfragestellungen waren: Welchen Zweck hat die komplizierte Struktur der Erzählung mit der Mischung von Fiktion und Wirklichkeit? Und warum entwickelt sich Pauls Sohn Konrad zu einem Neonazi, der am Ende seinen Feind-Freund David ermordet? Es wurde erklärt, wie die komplizierte Struktur der Erzählung mit einer Mischung von einem auf die Wirklichkeit bezogenen Bericht und einer fiktiven Erzählung über die Familie Pokriefke das Buch seinen Namen Im Krebsgang gegeben hatte. Man durfte deshalb davon ausgehen, dass es einen Grund für diese komplizierte Struktur gäbe. Adolf Höfer gab folgende Erklärung, dass diese Struktur es Grass ermöglichte, das Geschehen mit einem differenzierten Blick zu kommentieren. Wie oben erwähnt tauchte Grass in der Erzählung selbst auf, um die Thematik besser zu kommentieren. Ich meine dass Grass, sowohl mit der gewählten Erzählperspektive als auch mit der gewählten Struktur dieselbe Absicht hatte, das Geschehen und die Figuren aus verschiedenen Aspekten darstellen zu können. Aber eine interessantere Erklärung gaben Adolf Höfer und Martina Caspari. Adolf Höfer meinte, dass Grass diese komplizierte Struktur verwendete, weil Grass Angst hätte, dass seine Novelle sonst von Rechtsextremen benutzt werden könnte. Martina Caspari war auch dieser Meinung, wenn sie sagte, dass das Thema Wilhelm Gustloff sich nicht in einem Zusammenhang frei von Rechtsextremen erzählen ließe. 17 Konrad und Wolfgang wurden wie ähnliche Typen dargestellt. Ihre Eltern zeigten kein großes Interesse für ihre Kinder. Sie waren beide Einzelgänger und sie hatten nur ein einziges Interesse – Tischtennis, abgesehen von ihrer Besessenheit des Neonazismus bzw. des Philosemitismus. Es schien, als ob sie genau so gut Freunde wie Feinde hätten sein können. Die Tatsache, dass Wolfang kein Jude war, kümmerte Konrad nicht. Martina Caspari sagte, dass Grass mit diesem Beispiel deutlich zeigte, wie Antisemitismus funktionierte und Peter Arends meinte, dass das Beispiel zeigte, wie sinnlos Rassismus wäre. Die Behauptung von Rüdiger Krohn, dass Grass der Meinung wäre, „dass der erstarkende Rechtextremismus in Deutschland die Folge von Verfehlung einer Gesellschaft [wäre], die es versäumt [hätte], der Jugend Leitbilder und Werte zu vermitteln“, beschrieb meiner Meinung nach, den Schwerpunkt der Novelle. Es ließ sich zeigen im Mangel an Kontakt und Verständnis zwischen Tulla und ihrem vaterlosen Sohn dem Ich-Erzähler Paul und zwischen Paul und seinem Sohn Konrad. Es gab ein deutliches Beispiel dafür als Paul seinem Sohn Konrad im Gefängnis besuchte und Konrad seinem Vater das Schiffsmodell der Wilhelm Gustloff zeigte und sagte, „wenn du mir, [...] zum Geburtstag die Gustloff geschenkt hättest, müsste ich diesen Kinderkram jetzt nicht nachholen“. 18 Quellenangaben Primärquellen: Grass, Günter. Im Krebsgang. Göttingen: Steidl Verlag 2002 Sekundärquellen: Michael Jürgs, Bürger Grass Biografie eines deutschen Dichters, München, C. Bertelmann Verlag 2002 Rüdiger Krohn, Lexikon der Deutschen Gegenwartsliteratur seit 1945 Band 1 A-J, München, Nymphenburger Verlag, 2003 Mario Fuhrländer, Haremberg Das Buch der 1000 Bücher, Dortmund, Haremberg Kommunikation Verlags- und Medien GmbH & Co, 2002 Peter O. Arnds, Representation, Subversion and Eugenics in Günter Grass The Tin Drum, Rochester NY USA, Camden House, 2004 Martina Caspari, Im Krebsgang gegen den Strich: Das schwierige Geschäft des Erinnerns bei Günter Grass, Germanic Notes and Reviews, Volume 33, number 2, Fall/Herbst 2002 Adolf Höfer, Die Entdeckung der deutschen Kriegsopfer in der Gegenwartsliteratur. Eine Studie der Novelle Im Krebsgang von Günter Grass und ihrer Vorgeschichte, Literatur für Leser, Heft 3, 2003 Dirk Kurbjuweit, Fehlbar und verstrickt, Der Spiegel 34/2006 Theodor Pelster, Lektürenschlüssel für Schüler, Philipp Reclam jun. GmbH & Co, Stuttgart 2004 Benedikt Jeßing, Arbeitstechiken des literaturwissenschaftlichen Studiums, Philipp Reclam jun. GmbH & Co, Stuttgart 2001 http://de.wikipedia.org/wiki/Wilhelm_Gustloff_%28Schiff%29, 04 März 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Kraft_durch_Freude, 04 März 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Im_Krebsgang, 04 März 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Danziger_Trilogie, 21 März 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/DDR, 02 April 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Requiem_%28Begriffskl%C3%A4rung%29, 06 April 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Plutokratie, 05 April 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Berliner_Mauer, 29 April 2007-04-29 http://de.wikipedia.org/wiki/Axel_Springer_Verlag#Publikationen, 12 Mai 2007 http://de.wikipedia.org/wiki/Die_tageszeitung#, 12 Mai 2007.. http://de.amazon.de, 18 Juni 2007 19