Im Schatten des Doms - volkskunde rheinland
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Im Schatten des Doms - volkskunde rheinland
Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 5 Christina Niem „IM SCHATTEN DES DOMS“ – FUßBALLFANKULTUR UND FASTNACHT IN MAINZ Am 3. Juli 2011 fand ein regional viel beachteter Umzug statt – der 1. FSV Mainz 05 verabschiedete sich von seiner alten Spielstätte und bezog eine neue: vom Bruchwegstadion ging es in die Coface-Arena, „unser neues Fußball-Wohnzimmer“, wie die Schlagzeile der „Mainzer Rheinzeitung“ lautete.1 Der Terminus „Umzug“ ist hier in doppelter Hinsicht zu verstehen, denn bei ihrem Wechsel ins neue Heim bediente sich der Verein eines signifikanten Elementes der Mainzer Fest- und Brauchkultur: eben des Umzugs, des Rosenmontagsumzuges. Abbildung 1: Motivwagen beim Umzug des 1. FSV Mainz 05 vom Bruchwegstadion an seine neue Spielstätte in die Coface-Arena Darauf spielte auch die Vorberichterstattung der Mainzer „Allgemeinen Zeitung“ (AZ) an, wenn sie titelte: „Ein Karnevalsverein zieht um“. Den Bericht ergänzen Bilder von Motivwagen mit jubelnden Fan-Figuren, zudem mit Jo1 Sonderbeilage „Coface Arena. Unser neues Fußball-Wohnzimmer“ der Mainzer Rheinzeitung vom 25.6.2011; eine Sonderbeilage „Die Arena“ gab auch die Verlagsgruppe Rhein Main am 2.7.2011 heraus. 6 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz hannes Gutenberg als 05-Fan, einen Fußball haltend – ausgeführt vom Wagenbauer des Mainzer Carneval-Vereins.2 Und die Online-Ausgabe der AZ berichtete direkt am Tag des Geschehens: „20.000 Mainz-05-Fans pilgern vom Bruchweg zur Coface-Arena“. Da heißt es: „Den Umzug führten nach guter Tradition sieben Schwellköppe an, mit 05 Schal um den Hals und vermutlich zum ersten Mal in kurzen Sporthosen und Fußballstrümpfen. Für Stimmung sorgten verschiedene Fastnachtsvereine. Die Mainzer Ranzengarde ließ sich ebenso wenig lumpen wie die Burggrafengarde, die Nodequetscher, die Haybachfetzer oder die Mainzer Prinzengarde. Auf der Strecke waren zudem Info Guides mit Megafonen unterwegs, durch die sie immer wieder ‚Helau‘ schmetterten. […] Die letzten hundert Meter zum Stadion glichen einer Prozession zum neuen Mainzer Wallfahrtsort.“3 Fans und Vereinsmitglieder als Aktive, Helau-Rufe, Motivwagen und Gardisten verliehen diesem Ortswechsel den Charakter eines sommerlichen Rosenmontagsumzuges, der von einem „Karnevalsverein“ veranstaltet wurde: gemeint ist eben der 1. FSV Mainz 05, dessen Fußballfankultur sich durch die Adaption von Elementen der Mainzer Stadtkultur auszeichnet. Mit dem Alltagsphänomen Fußball, der Kultur seiner Fans, der Stadtkultur sowie der Fastnacht bewege ich mich zwischen verschiedenen Forschungsfeldern der Disziplin Volkskunde bzw. Kulturanthropologie und Europäischen Ethnologie, aber auch von Nachbarwissenschaften wie Geschichte und Soziologie. Seit Rolf Lindners und Heinrich Breuers sozialhistorisch ausgerichtetem Blick auf den Fußball im Ruhrgebiet (1978) und Lindners Studie „Der Fußballfan“ (1980) sind zahlreiche Beiträge und Werke publiziert worden, die sich den Zuschauern und dem Phänomen der Fußballfankultur besonders in dieser Region aus unterschiedlichen Blickwinkeln annähern wie der kurze Beitrag „Heimspiel – Das schönste Fest in Dortmund“ (Niem 1995), angeregt durch die Studien des Historikers Siegfried Gehrmann zur Sportgeschichte des Reviers (1988). Dabei ging es um Aspekte regionaler Identitätsbildung, ein Thema, das Gehrmann gemeinsam mit internationalen Kollegen auch im europäischen Vergleich behandelt hat (1999). Im Folgenden führe ich einige wenige Publikationen von vielen auf, die sich dem Feld von Fußball bzw. der Kultur seiner Fans widmen: die für Volkskundler stets interessanten „kleinen Rituale des Alltags“ von Fans betrachtete Thorsten Rühlemann 1996, die Musikwissenschaftler Reinhard Kopiez und Guido Brink untersuchten Fangesänge (1998), Markwart Herzog 2 3 Allgemeine Zeitung Mainz vom 22.6.2011, S. 11. http://www.allgemeine-zeitung.de/sport/top-clubs/mainz-05/10915432.htm [1.11.2011]. Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 7 führte eine Tagung zum „Fußball als Kulturphänomen“ durch (2002), bei welcher der Volkskundler Michael Prosser den rituell-festiven Charakter von Fußballfankultur beleuchtete (vgl. auch Prosser 2004). Eine Ethnographie des Vereins 1. FC St. Pauli erarbeiteten Brigitta Schmidt-Lauber und eine studentische Projektgruppe des volkskundlichen Instituts der Universität Hamburg, die sie 2003 vorlegten, während Johanna Rolshoven sich aus diesem Anlass Gedanken über „Fußball aus kulturwissenschaftlicher Perspektive“ machte; Schmidt-Lauber nahm 2004 noch einmal den Stadtteilklub St. Pauli und seine Fans in den Blick, um 2009 unter dem Titel „Der zwölfte Mann“ das Geschehen im Stadion und die Bedeutsamkeit dieses Feldes unter disziplinärer Perspektive zu beleuchten. Der Soziologe Lothar Mikos trachtete 2007 den „Mythos Fan“ zu entzaubern, und die gegenwärtigen Veränderungen auf dem Gebiet der Fankultur fanden zuletzt Niederschlag in Arbeiten, die sich des Themas unter genderspezifischen Gesichtspunkten annahmen: Frauen als Fußballfans fokussierte Nicole Selmer (2004), und Almut Sülzle führte eine umfassende ethnographische Studie zu weiblichen Fans der Offenbacher Kickers durch (2011); städtische Fußballvereine und ihre Fans thematisierten Jochen Bonz und andere mit Werder Bremen (2010), Sebastian Scharte mit Rot-Weiß Oberhausen (2011). Einen umfangreichen Tagungsband der Schwabenakademie Irsee zur Memorialkultur im Fußballsport, der auch das Thema Fankultur beinhaltet, hat Markwart Herzog vorgelegt (2013), auf dessen inzwischen zahlreiche Publikationen zum 1. FC Kaiserslautern ich hier nur pauschal verweise. Aktuelle Forschungsergebnisse werden vom Institut für Europäische Ethnologie an der Universität Wien auf der Konferenz „Kick it! The Anthropology of European Football“ präsentiert.4 Im Unterschied zu verschiedenen anderen Orten ist die Fankultur der Mainzer Fußballfreunde bislang kein Thema kulturwissenschaftlicher Forschungen gewesen, obwohl es hierzu gerade aus volkskundlicher Sicht einiges zu sagen gibt. Hoch im Kurs steht unter den Anhängern von Mainz 05 neben der Figur des Johannes Gensfleisch, genannt Gutenberg, und dem Mainzer Dom die hiesige Fastnacht, deren Elemente sie für ihre fankulturellen Aktivitäten einsetzen. Ich möchte dieses Phänomen hier beleuchten und es im Sinne einer symbolischen Repräsentation von Region interpretieren. Regionen und ihnen zugeschriebene Werthaltungen können durch literarische Figuren wie die sorbische Sagengestalt Krabat oder das zum Bildsymbol gewordene Schwarzwaldmädel repräsentiert werden.5 Im Fall der „schönen Vierländerin“ (Wagner & Kaufmann 1999) wird eine Tracht zum Symbol, die Werbe-Ikone „Frau Antje“ steht für „Holland“ (Elpers 2005), das National4 5 http://www.free-project.eu/events/Pages/Identities2013.aspx [aufgerufen am 19.09.2013]. Krabat wird in der Ausgabe dieser Zeitschrift von Susanne Hose vorgestellt, das Schwarzwaldmädel von Brigitte Heck. 8 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz symbol Schweizerkreuz hat Ueli Gyr in seiner Bedeutung als „Marke und Medium“ (2009) untersucht. Im Fußball sorgt aktuell der „Stern von Vergina“ für Aufsehen, ein Zeichen, das beim Champions League-Spiel des 1. FC Schalke 04 gegen den griechischen Klub PAOK Saloniki von Schalke-Fans im Stadion gezeigt wurde. Diesen Stern beanspruchen sowohl die Republik Mazedonien als auch Griechenland als Symbol, sein Zeigen durch Anhänger von Schalke führte im Gelsenkirchener Stadion zum Eingreifen der Polizei im Fanblock, die aufgrund einer solchen Provokation Unruhen griechischer Anhänger befürchtete. 6 Die Implikationen des zwischen den Nachbarstaaten umstrittenen „Sterns von Vergina“ hat Dorothea Schell (1997) beim Volkskundekongress über „Symbole. Zur Bedeutung der Zeichen in der Kultur“ zum Thema gemacht. In meinem Beispiel ist es die Mainzer Fastnacht, die auf zweierlei Weise repräsentativ wirkt: sie symbolisiert nicht nur die Stadt und ihre Kultur, sondern auch den hiesigen Fußball- und Sportverein Mainz 05 bzw. dessen erste Mannschaft, die seit 2004 in der 1. Bundesliga spielt. Die Geschichte dieses Aufstiegs, der eng mit dem ehemaligen Spieler und späteren Trainer Jürgen Klopp zusammenhängt, möchte ich hier nur andeuten (vgl. dazu Rehberg & Karn 2008; Das Buch zum Jubiläum 2005). Nach zwei äußerst knapp verpassten Gelegenheiten entfesselte der Aufstieg in und um Mainz eine Euphorie, die sich medial und in immer wiederholten Erzählungen von Fans niederschlug. Bis dahin war Mainz 05 eine „graue Maus“ gewesen, überstrahlt vom 1. FC Kaiserslautern, der zu den sogenannten Traditionsvereinen zählt und dessen symbolisches Kapital nicht zuletzt die „Helden von Bern“ um den Lauterer Spieler Fritz Walter bildeten, die zu der Nationalmannschaft gehört hatten, welche 1954 die Fußball-Weltmeisterschaft für Deutschland gewann. Das Stadion des 1. FCK, der „Betzenberg“, galt gleichsam als uneinnehmbar, während das Stadion am „Bruchweg“ in der Landeshauptstadt von Rheinland-Pfalz mit „Bruch“ treffend charakterisiert schien. Die Metapher von der „grauen Maus“ verwendete Harald Strutz in einem Interview, das er anlässlich seines 25-jährigen Jubiläums als Vereinspräsident gab. Er charakterisierte die Lage zu Beginn seines Amtsantritts im Jahr 1988 wie folgt: „Das Image des Vereins war damals katastrophal. Wir standen in der Zweiten Liga am Abgrund, waren in Mainz nicht anerkannt, nicht in der Wirtschaft, nicht in der Politik, nicht in der Gesellschaft, nicht im Fußball.“7 Aus diesem Underdog-Image heraus entwickelten der Verein und die 05Fans eine Art Trotzreaktion. Bezeichnend dafür ist das Lied „Wir sind nur ein Karnevalsverein“, das zunächst von gegnerischen Fans mit abwertender In6 7 Vgl. zu diesem Vorfall z.B. http://www.ruhrnachrichten.de/sport/schalke/news/Flagge-imStadion-Rotes-Tuch-fuer-griechische-Fans;art15837,2101553 [17.09.2013]. „Jeder in diesem Verein brennt“. Allgemeine Zeitung Mainz vom 18. September 2013. Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 9 tention – „Ihr seid nur ein Karnevalsverein“8 – skandiert worden war, heute aber ironisch verkehrt ein spezifisch mainzerisches Selbstbewusstsein zum Ausdruck bringt.9 „Wir sind nur ein Karnevalsverein“ Die Fastnacht10 gehört zur Mainzer Stadtkultur, sie prägt das Image der Stadt und diese wiederum bedient sich ihrer zur Imagepflege. Gleiches gilt für die 05-Fans und den 1. FSV – wann und wie Elemente der Fastnacht Einzug in die Fan- und Vereinskultur fanden, ist jedoch nicht ganz klar. Haben einzelne Fans damit begonnen, „die Fastnacht“ für ihre Aktivitäten nutzbar zu machen, indem sie anstelle des rot-weißen Fanschals einen selbstgestrickten Schal in den Farben der Mainzer Fastnacht – Rot, Weiß, Blau, Gelb – zum Spiel trugen? Oder sich ganz und gar verkleidet wie der „Bajazz“, ein Fan, der mit weiß geschminktem Gesicht und Bajazzo-Kostüm die Spiele besucht und gern als Motiv von Fotoreportern und Kameraleuten aus der Menge ausgewählt wird? Er wurde bereits neben Fans anderer Vereine in einem Film mit dem Titel „Der zwölfte Mann“ porträtiert.11 Fan-Utensilien in den Farben der Fastnacht können inzwischen auch im Fanshop erworben werden. In Bezug auf den Klub ist die Nutzbarmachung der Fastnacht als Merchandising-Idee und Marketing-Strategie zu deuten, in Bezug auf die Fankultur sehen Kulturwissenschaftler darin einen Aneignungsprozess, indem Elemente der Fastnacht übernommen und im neuen Kontext verwendet werden. Dieses Verhalten von Fans, die sich aktiv beteiligen, anstatt Gebotenes passiv zu rezipieren, nennen wir mit Henry Jenkins (2006) „participatory culture“. Einen Höhepunkt der kulturellen Adaption bildete sicherlich der beschriebene Umzug, doch ist ein mehr oder weniger spielerischer Umgang mit der Fastnacht und ihren Elementen längst zum Kennzeichen einer „Mainz 05Kultur“ geworden: Dazu gehört auch der Fangesang „Wir sind nur ein Karne8 9 10 11 In ihrer Studie über Fußball-Fangesänge führen Kopiez & Brink den Song als traditionelles „Anti-Köln-Lied“ auf (1998, 132). Eine solche Umdeutung erfuhr auch der Fan-Song „Boring, boring Arsenal“, den die Supporter des Klubs im Norden von London nun singen, wenn ihre Mannschaft gut und ganz und gar nicht langweilig spielt. Publikationen zur Mainzer Fastnacht gibt es viele; ich verweise hier auf die „Analyse eines Stadtfestes“, ein in den siebziger Jahren mit Studierenden durchgeführtes Projekt aus volkskundlicher Perspektive, geleitet von Herbert Schwedt, publiziert 1977, aus dem mehrere Abschlussarbeiten resultierten; als profunder Kenner der Mainzer Fastnacht hat Günter Schenk eine Reihe von Werken publiziert, die auf ein breites Lesepublikum zielen wie seine Kulturgeschichte „Fassenacht in Mainz“ von 1986 sowie sein Handbuch, das „Mainzer FastnachtsABC“ (2011); einen Überblick jüngerer Forschungsansätze zum Phänomen Karneval und Karnevalisierung bietet Karl Braun (2002). http://www.der12temann.info/protagonisten/2-12-mann/17-bajazz [12.09.2013]. 10 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz valsverein“, der den Stolz auf die eigene Mannschaft (und sich selbst als deren Anhänger) zum Ausdruck bringt. Die ironische Botschaft lautet: Ihr unterschätzt den Karnevalsverein und werdet schon sehen, was ihr davon habt! Zur falschen Einschätzung der Gegner gehört auch die Fremdzuschreibung als „Karnevals“-Verein, während die Mainzer bzw. Rheinhessen ja „Fastnacht“ feiern – mit Bourdieu (1987) können wir solche kulturellen Abgrenzungsmechanismen als ein Insistieren auf „feine Unterschiede“ interpretieren. Zugleich zeigen sich darin Selbstreferentialität sowie eine spielerische Ironie – beides typische Kennzeichen der Postmoderne (vgl. Riese 2003). Abbildung 2: Verkaufsangebot aus dem Onlinefanshop des 1. FSV Mainz 05 Das Spiel mit dieser feinen, so signifikanten Ironie findet „materiellen“ Ausdruck in einer Leinentasche, die im Fanshop verkauft wird (Katalog 13/14, 32). „Fassenacht!“ lautet der Aufdruck, das Wort „Karneval“ darüber ist durchgestrichen. Abgebildet ist überdies die ebenfalls im Sortiment angebotene Badeente „Fastnacht“ (Katalog 13/14, 51), geschmückt mit Narrenkappe und Fanschal. Ob es sich beim „Karnevalsverein“ damit nur um eine „Ente“ im Sinne einer falschen Meldung handelt, mag jeder selbst entscheiden. Näher liegt noch eine andere Deutungsmöglichkeit: die Ente hat große Ähnlichkeit mit der „Zugente“, die seit rund hundert Jahren traditionell den Rosenmontagszug als letzte Nummer beendet (vgl. Schenk 2011, 215f.). Als FanUtensil ist sie nicht gelb wie das Original, sondern 05-rot. Elemente der Main- Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 11 zer Fastnacht werden sowohl vom Verein als auch von den Fans bewusst eingebunden: Im Fanshop gibt es eine ganze Reihe von Artikeln in den Farben der Mainzer Fastnacht. „Wir singen Humba“ Ähnlich dürfte es sich mit den beliebten Liedern verhalten, die im Stadion gesungen und auch auf Tonträgern vertrieben werden. Die CD „Unsere besten Songs 2010“ enthält mit Margit Sponheimers „Am Rosenmontag bin ich geboren“ einen Klassiker der Mainzer Fastnacht. Gleiches gilt für den „Mainzer Narrhallamarsch“, der auch im Stadion ertönt, wenn die Mainzer ein Tor erzielt haben, während er in der Saalfastnacht dazu dient, Büttenredner zu begrüßen oder zu verabschieden bzw. Zäsuren im Programm zu markieren.12 Auch unter den 21 Titeln der CD „Unsere besten Songs 2008“ finden sich Fastnachtsschlager, so eine Technoversion des Gesangsstücks „So ein Tag, so wunderschön wie heute“ – das traditionelle Abschlusslied, mit dem die Mainzer Hofsänger die Fernsehsitzung „Mainz bleibt Mainz, wie es singt und lacht“ beenden. Bei den Fans beliebt ist auch „Im Schatten des Doms“, ein Lied, das häufig als „bester Fansong“ in der Kolumne „Mein Leben mit 05“ der Stadionzeitschrift „Der Nullfünfer“ genannt wird. Auf dieser CD findet sich auch „Humbta-Tätärä“ (auch Humba Tätära, vgl. Schenk 2011, 91f.), ein Stimmungslied, das Toni Hämmerle in der Kampagne 1963/64 für Ernst Neger, den legendären „singenden Dachdeckermeister“, dichtete und komponierte. Heute singt es dessen Enkel Thomas Neger zusammen mit Julia und Sandra Mathes, die auch „Im Schatten des Doms“13 gesanglich präsentieren und damit ein weiteres Lieblingslied von Mainzer Fußballfans. „Wir singen Humba“ lautet die Aufschrift eines Fan-Schals in den Vereinsfarben Rot-Weiß, der neben dem 05-Logo zwei Mainzelmännchen zeigt (Katalog 12/13, 39). Die 05-Fans haben „Humba Täterä“ oder auch „die Humba“ zu einem wesentlichen Bestandteil des Stadionrituals der Feier des besten Spielers gemacht: der von den Fans als bester Akteur des Spiels „auf den Zaun“ gebetene Fußballer erhält ein Megaphon und fordert von den Fans „Gebt mir ein H“, „gebt mir ein U“ usw., bis am Ende „Humba, Humba täterä“ angestimmt und dabei auf und nieder gesprungen wird. „Woher kommt die Humba?“, fragte das Fachmagazin „11 Freunde“ 2009 und erläuterte seinem überregionalen Publikum die Herkunft des Liedes aus der Mainzer Fastnacht. Weiter heißt es, der „‚Karnevalsverein‘ aus Mainz“ feiere „seit Mitte der Neunziger Jahre seine Siege mit der Zelebrierung der ‚Humba‘“.14 In dem Artikel 12 13 14 Weitere Informationen zu den genannten Fastnachtsschlagern bietet Schenk 2011. Text und Musik von Rainer Mathes, Carneval Club Weisenau. http://www.11freunde.de/artikel/woher-kommt-die-humba [eingesehen am 12.9.2013] 12 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz wird des Weiteren ausgeführt, dass die „Humba“ inzwischen zum „gängigen Fan-Repertoire“ in allen deutschen Stadien zähle, und als Beleg können auf der Seite mehrere Videos abgerufen werden, die das Humba-Ritual in verschiedenen Fußballstadien zeigen. Vom Kulturtransfer der „Humba“ über Deutschlands Grenzen hinaus berichtete die Mainzer „Allgemeine Zeitung“ unter dem Titel „Schloss, Bruchweg – Wembley? Wie Ernst Negers Klassiker und das Mainzer Feier-Ritual die Fußball-Arenen erobern“ (AZ vom 4. Mai 2013). Neben Thomas Neger und Margit Sponheimer sind mit den „Finther Schoppesängern“ weitere Aktivisten der städtischen Fastnacht vertreten. Der Song „Wir sind nur ein Karnevalsverein“ wurde 2004 von der Mainzer Band „Se Bummtschacks“ eingespielt, die sich auf ihrer Homepage als „regionalbehindert“ charakterisiert – das Handicap bestehe darin, dass Mainz sich durch eine „zusätzliche Jahreszeit“ auszeichne, „nämlich die Fünfte.“ 15 Die Fastnacht wird dadurch sowohl als bestimmend für die Stadt als auch für die Mainzer Band identifiziert. Zu den Bummtschacks gehört Sven Hieronymus, der sich selbst das Etikett „Profi-Fan“ verpasst hat. Als Kolumnist der AZ kommentiert er Spiele und Aktivitäten des 1. FSV Mainz 05 ironisch, darüber hinaus ist er als Sänger, Comedian, Buchautor (z.B. „Ich geh nimmer nuff“ – auf den Bruchweg, also ins Stadion, 2005) im lokalen Umfeld multimedial aktiv. Dass die Fans Elemente der Fastnacht integrieren, zeigt auch folgender Bericht aus der lokalen Presse über die Feier zum zehnjährigen Bestehen des Fanklubs „Die Sinnlose“: „Das Programm des Bunten Abends erinnerte stark an die fünfte Jahreszeit: Mit einer Büttenrede auf den Fußball und ‚Die Sinnlose‘ der Fastnachtsgröße Thomas Neger und Tanzauftritten wurden die Gäste unterhalten“ (AZ vom 29.10.2012). Die Parallele zur Fastnacht ist überdeutlich, wenn ein prominenter Fastnachter wie Thomas Neger beim Vereinsjubiläum als Festansprache eine Büttenrede hält. „Wir sind Mainz“ Im Jahr 2005 beging der 1. FSV sein hundertjähriges Vereinsjubiläum. Dieser Anlass zeitigte unmittelbare Folgen für die Mainzer Fastnacht, denn die 05er lieferten das Motto für die Kampagne 2004/05: „Nüllfünfer un die Fassenacht sin wie de Dom fer Meenz gemacht.“ In diesem Motto sind alle Elemente vorhanden: die Stadt, der Dom, die Fastnacht und der regionale Fußballklub, der wie die Fastnacht überregional wirkt. Materiellen Ausdruck fand die Verbindung von Fastnacht und Fußball in der Zugplakette, die einen 05-Spieler mit 15 http://www.sebummtschacks.de/home.htm. [12.9.2013] Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 13 rot-weiß-blau-gelbem Schal und der Aufschrift „Wir für Mainz“ zeigt (s. Titelbild des Heftes). Das „Zugplakettchen“ dient zur Finanzierung des Rosenmontagszuges, wird von den vier großen, den Zug ausrichtenden Fastnachtsvereinen vertrieben und von den Käufern demonstrativ an einem Band um den Hals getragen (vgl. Schenk 2011, 216f.). In der Regel sind es Figuren der Mainzer Fastnacht, die als Zugplaketten gewählt werden, wie Schwellköpfe, Till oder Gardisten. Ausnahmen gibt es wenige: neben dem 05-Spieler war es der „Mann des Jahrtausends“, der 1998 zum „Man of the Millenium“ gewählte Gutenberg, dessen 600. Geburtstag die Stadt im Jahr 2000 feierte und der während dieser Kampagne auch als „Plakettsche“ die Meenzer Fassenacht sowie die Stadt repräsentierte. Und zum ersten Mal trat Hans-Peter Betz als „Guddi Gutenberg“ in der Fernseh-Sitzung auf (vgl. Schenk 2004, 103) und wurde durch diese Figur, die er bis 2013 jedes Jahr verkörperte, bundesweit bekannt. Auch die Fußballfans haben sich Gutenberg angeeignet: Man sieht ihn auf Fahnen und Bannern, ein 2007 gegründeter Fanklub nennt sich „Gensfleisch Connection“. Dabei handelt es sich um zwölf junge Männer, die sich mit der Entscheidung für diesen Namen von anderen Fanklubs abheben wollten – ausschlaggebend war zum einen der „regionale Bezug“, wie Wiebke Niepoth schreibt, die für ihre Mainzer Bachelor-Arbeit im Fach Kulturanthropologie/Volkskunde die fankulturellen Aktivitäten dieses Klubs untersucht hat. Wichtig war zum anderen, mit der Namengebung in besonderer Art und Weise zu agieren, etwas zu machen, „was es bis dahin noch nicht so gab“, wie einer der Fans es im Interview ausgedrückt hat (Niepoth 2013, 8). „Feine Unterschiede“ (Bourdieu 1987) spielen also in der Namengebung eine große Rolle, denn Namen können Konnotationen tragen, nämlich „Wertungen, Einschätzungen, Assoziationen“, wie Damaris Nübling (2012, 14) betont. Hier öffnet sich ein weiteres Feld, das untersucht werden könnte, nämlich die Namengebung der Anhänger von Mainz 05, von denen – nach einem kurzen Blick auf die offiziell registrierten Fanklubs auf der 05-Homepage – dreizehn einen expliziten Mainz-Bezug aufweisen, so die „05er im Schatten des Doms“ aus Bischofsheim, die „Brezzenummer Schobbestecher“ aus MainzBretzenheim, die „Meenzer Metzger“ und „Meenzer Schlabbekicker“. Meine Untersuchung, inwiefern die Namengebung mit der Formierung regionaler, besonders „rheinhessischer“ Identität zusammenhängt, befindet sich in Vorbereitung. Neben dem Rückgriff auf Sprache, genauer gesagt die Mundart- oder Dialekt-Verwendung, ist es auch die Stadt Mainz selbst, wie in der Namengebung oder auch in Songs deutlich wird: Komposita mit „Mainz“ oder „Meenz“ sind ebenso zu verzeichnen wie die Anspielung auf Bauwerke, sei es der Dom oder das alte Stadion am Bruchweg (Fanklub „BruchwegSehn- 14 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz sucht“), während die neue Arena bei diesen Aneignungsstrategien bis dato keine Rolle spielt. Der bereits erwähnte Fan-Schal mit der Aufschrift „Wir singen Humba“ wird im aktuellen Katalog nicht angeboten, dafür ein Schal mit dem Bekenntnis „Wir sind Mainz“, ebenfalls rot-weiß. Er zeigt links und rechts jeweils das 05-Logo, den Schriftzug „Wir sind Mainz“ sowie drei Gebäude, nämlich den Renaissancebau „Haus zum Römischen Kaiser“, in welchem sich das Gutenberg-Museum befindet, den Dom und die Coface-Arena. Bei diesem Schal haben wir es mit einem lizensierten Fan-Artikel zu tun, der nicht von, sondern für Fans gemacht wurde und von welchem die Macher annehmen, dass er den Geschmack potenzieller Käufer trifft. Abbildung 3: Fanschal des 1. FSV Mainz 05 Kataloge bieten sich als Quelle zur Untersuchung von Fankultur an. Sie präsentieren ein Sortiment an Fanartikeln, von denen der Klub annimmt, dass sie den Anhängern ihres Vereins gefallen. Diese Feststellung muss als Quellenkritik genügen, da hier keine tiefer gehenden Recherchen unternommen werden können, etwa um zu klären, wer genau und nach welchen Strategien das Sortiment zusammenstellt. Im aktuellen Katalog 13/14 findet sich eine ganze Reihe von Artikeln, die explizit die Stadt Mainz oder Elemente der Stadtkultur zitieren: Ein T-Shirt mit dem Mainzer Doppel-Rad, dem Stadtwappen (Katalog 13/14, 12), ein Kapuzenpulli mit Mainzer Stadtsilhouette (17), eine Kühltasche mit dem Aufdruck „Weck, Worscht un Woi!“ (Trias regionaltypischer Spezialitäten), ein Autoaufkleber mit Mainz-Panorama (Dom, mehrere Kirchtürme, Theodor-Heuss-Brücke und die sogenannten BonifaziusTürme, zwei eher ungeliebte Hochhäuser), Autoaufkleber in Fastnachtsfarben sowie ein Aufkleber mit den Mainzelmännchen. Die sechs Mainzelmännchen, im Jahr 1963 von Wolf Gerlach für das Zweite Deutsche Fernsehen (ZDF) geschaffen, haben sich „mittlerweile in das kollektive Mediengedächtnis unserer Gesellschaft eingebrannt“ (Niem u.a. 2012, 525) und zieren weitere 05Merchandising-Produkte wie Kugelschreiber, Feuerzeug, Schlüsselanhänger, Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 15 Becher, Babylätzchen (vgl. Katalog 13/14, 78–81) sowie den Schal mit der Aufschrift „Wir singen Humba“ – und stellen damit ein hybrides Produkt dar, welches den Klub, die Fastnacht und das in Mainz ansässige ZDF verbindet. Sie eignen sich ebenso wie die Fastnacht zum Generieren lokaler Identität, eines kollektiven Mainz-Gefühls. Von offizieller Seite wurde ihnen mit der „Mainzelmännchen-Ehrenwürde“ der Stadt am 21. August 2013 eine eigens für sie geschaffene Ehrung zuteil, die der Oberbürgermeister verlieh. Die Stadt würdigte die Mainzelmännchen damit gleichsam als ihre Botschafter. „Nullfünf“ and the City Die Studie zur Mainzer Fastnacht von Herbert Schwedt und seiner Forschergruppe suchte nach Antworten auf die Frage nach der Bedeutung des Festes für die Bewohner der Stadt (Schwedt 1977, 8). Schwedts innovative Vorgehensweise einer Kombination von qualitativer und quantitativer Methodik beleuchtete auch die „Nichtteilnehmer“, diejenigen, die der Stadt in der närrischen Hochzeit bewusst den Rücken kehrten, die dieses Element der Stadt ausdrücklich nicht zum Eigenen zählen wollte. Rund zwei Jahrzehnte später verfasste Schwedt (2001) für die Sammlung „Deutsche Erinnerungsorte“ einen Beitrag „Karneval“ und stellte eingangs Überlegungen an, wonach Karneval ein Prozess sei, den man „building identity“ nennen könne, da er der „Beförderung von kollektiver, aber wohl auch individueller Identität“ diene (2001, 436). Seine Ausführungen schloss Schwedt unter anderem mit dem Ergebnis ab, dass der Karneval den Bedürfnissen der Erlebnisgesellschaft entgegen komme und „karnevaleske Elemente“ längst auch „jenseits“ des traditionellen Fastnachtsfestes zu identifizieren seien: „Die Love Parade, ein Beispiel nur: Ist sie nicht Karneval?“ (450), so lautet sein Schlusssatz. Gleiches gilt für die Karnevalisierung im und rund um das Mainzer Stadion. Auch die hier beschriebene Fankultur ist ein karnevaleskes Phänomen – Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Karneval und Love Parade hat beinahe zeitgleich mit Schwedt der Marburger Volkskundler Karl Braun (2002) ausgeführt, indem er „street parties“ und Paraden in diesem Sinne analysiert und der Disziplin karnevaleske Phänomene zur weiteren Analyse empfahl: „Straßenpartys als Karnevalsformen: Karnevalisierungen, die der Postmoderne entsprechen“ (Braun 2002, 12), seien zu untersuchen. Die Zitation der Fastnacht durch die Mainzer Fans dient ebenso der Unterstreichung eigener Identität („Wir singen Humba“, „Wir sind nur ein Karnevalsverein“) wie es die zahlreichen Bezüge auf die Stadt tun. Und hier möchte ich ein weiteres Konzept ansprechen: Die immer wieder genannten, im Rahmen der Fankultur verwendeten Elemente gehören zum „semantischen Feld“ von Mainz, zum „Habitus der Stadt“, den Rolf Lindner (2003) am Beispiel an- 16 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz derer Städte in Anlehnung an Pierre Bourdieu herausgearbeitet hat. Gemeint ist damit der Charakter, die „singuläre Beschaffenheit einer Stadt“ (Lindner 2003, 50). Lindner erkennt den „Habitus der Stadt als System der Dispositionen und Vorlieben, Produkt der gesamten biographischen, d.h. historischen Erfahrung“ (ebd.). Wie präsentiert die Stadt sich selbst? Eine Internetrecherche nach Mainz verweist als ersten Treffer auf die Portalseite der „Landeshauptstadt Mainz“. Diese Selbstzuschreibung wird auf der Seite ergänzt durch die Attribuierungen als Gutenberg- und Medienstadt (letztere repräsentieren nicht zuletzt die Mainzelmännchen).16 Informationen zur „Fastnacht in Mainz“ finden sich auf dieser offiziellen Webseite unter der Rubrik „Freizeit, Sport“ – ob das beabsichtigt ist, sei dahingestellt, jedenfalls bildet sich auch hier die aktuelle Verbindung zwischen Fastnacht und Fußball ab. Die nächsten Treffer sind der Wikipedia-Artikel zur Stadt, dann folgen Mainz 05 sowie die Johannes Gutenberg-Universität. Damit sind wichtige Elemente der Stadt aufgeführt, die ihren Habitus, ihr Selbstverständnis ausmachen: Landeshauptstadt, Medienstadt, der Dom ist selbstredend auf der Startseite auszumachen, Gutenberg, die Fastnacht und in jüngster Zeit dazugekommen: der Fußball. Ganz anders als beispielsweise der FC Bayern München als Klub, der in Deutschland die meisten überregional verorteten Fans hat, beschränkt sich die Mainzer Anhängerschaft geografisch in erster Linie auf die Stadt und das nähere Umland. Für meine Untersuchung zur Bedeutung von „Rheinhessen“ für die Fankultur habe ich im Herbst 2011 die Homepage von Mainz 05 zu Rate gezogen, wo Fanklubs des Vereins sich registrieren lassen können. Die 225 aufgeführten Fanvereinigungen17 habe ich in fünf regionale Kategorien eingeteilt und anhand der Ortsangaben quantitative Zuordnungen vorgenommen. Die Fanklubs verteilen sich wie folgt: 91 in Mainz, 65 in anderen Orten in Rheinhessen, 21 in Orten im übrigen Rheinland-Pfalz, 36 in Orten in Hessen, 12 im übrigen Bundesgebiet. Meine Fragestellung richtete sich auf die Art und Weise der Formierung regionaler Identität bei Fans des 1. FSV Mainz 05 mit besonderem Fokus auf die Region Rheinhessen.18 Dabei wurde deutlich, dass viele ihre Verbundenheit 16 17 18 http://www.mainz.de/WGAPublisher/online/html/default/home [aufgerufen am 12.9.2013] Quelle: http://www.mainz05.de/mainz05/fans/fanclubs/alle-fanclubs.html [aufgerufen am 25. Oktober 2011]. „Rheinhessen“ wurde 1816 neu geschaffen und dem Großherzogtum Hessen-Darmstadt als Provinz angegliedert. Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 17 mit dem Verein durch die Benennung ihres Fanklubs zum Ausdruck bringen. Häufig finden sich Bezüge zur Stadt Mainz in verschiedenen Varianten, zum Rhein, einige auch zur Großregion Rheinhessen. Ein weiteres Indiz der Identifikation mit „ihrer“ Region zeigt sich in der Verwendung mundartlicher Ausdrücke. Die Vielzahl solcher Beispiele scheint mir ein hohes Maß an regionaler Identität zu indizieren. Symbolische Repräsentation von Region lässt sich demnach unschwer in der Fußballfankultur erkennen. Bei meiner Betrachtung der Mainz 05-Fankultur fallen die zahlreichen Rückgriffe auf Regional- und Lokalspezifika auf, insbesondere aber die Aneignung der Mainzer Fastnacht. Eine Interpretation dieses Befundes könnte dahin gehen, dass Regionales und Lokales als „Gegenorte der Globalität“ (Köstlin 2007, 14) fungieren, mithin distinktive Funktion erfüllen, zur Schärfung des eigenen Profils dienen („Wir sind Mainz“). Die Fans greifen auf den regionalen Zitatenschatz zurück, auf die Mundart, den Dom, Gutenberg sowie die Fastnacht als bestimmende Elemente der Mainzer Stadtkultur, die symbolisch die Region und zugleich das Eigene repräsentieren. Bei der Fastnacht handelt es sich zudem um eine der wichtigsten und lebendigsten Mainzer Traditionen, die sich seit 1837 ausgestaltet hat (vgl. Schwedt 1977, Schenk 1986, Schütz 1998). Folgen wir Anthony Giddens’ Begriffsbestimmung von Tradition als einem Medium, „in dem sich Identität bildet“, so ist das Zitieren des Eigenen, des Regionalen nur folgerichtig. In diesem Fall wird das Alte im neuen Kontext gezeigt, es findet ein Aneignungsprozess und damit einhergehend eine neue Sinngebung statt: „Identität, sowohl persönliche als auch kollektive, setzt Sinn voraus“, sie basiert nach Giddens (1996, 150) auf dem „kontinuierlichen Prozeß von Erinnern und Neu-Interpretation. Identität bedeutet, Kontinuität in der Zeit zu schaffen.“ Als Konrad Köstlin 1979 anlässlich des Kieler Volkskundekongresses zum Thema Heimat und Identität über die „Regionalisierung von Kultur“ nachdachte, gelangte er zu der Feststellung, dass Kultur zum Merkmal und zu einem „Medium zur Bestimmbarkeit der Region“, gar zur „Vorzeigeseite der Region“ (Köstlin 1980, 26) werde – heute kann man das Diktum umkehren und konstatieren: Region wird zum Merkmal von Kultur. Das scheint mir aufgrund der beobachteten Befunde deutlich zu sein. Verstehen wir nun Kultur in Anlehnung an den Ethnologen Clifford Geertz (1987, 9) als „selbstgesponnenes Bedeutungsgewebe“, das sich ständig wandelt und Wertvorstellungen und Einstellungen der Menschen reflektiert, so können wir Selbstverständnis und Motivation der Akteure nur eruieren, wenn wir sie befragen: Allein durch Angaben der Fans selbst können wir die für Kulturanthropologen interessante Frage beantworten, wie ernsthaft oder etwa nur augenzwinkernd Fans agieren – sei es bei der Benennung von Fanklubs (Namengebung als Akt der Selbstermächtigung) oder im Fall der 18 Fußballfankultur und Fastnacht in Mainz kollektiven Bezeichnung „Wir sind nur ein Karnevalsverein“. Für empirische Studien, wie sie bereits Schmidt-Lauber (32008) und Sülzle (2011) vorgelegt haben, ist somit das Feld angedeutet. In Bezug auf den 1. FSV Mainz 05 kann ich immerhin auf eine Arbeit verweisen, in welcher Mainzer Fankultur im Rahmen einer BA-Abschlussarbeit untersucht worden ist (vgl. Niepoth 2013), während eine ebenfalls im Fach Kulturanthropologie/Volkskunde verfasste Magisterarbeit das noch unerforschte Gebiet der „exilen Fankultur“ am Beispiel des 1. FC Union Berlin sondiert (vgl. Ritter 2013). Weitere Studien werden folgen; ein Vergleich der Fußballfankulturen in den rheinischen Karnevalshochburgen Köln und Düsseldorf könnte interessante Befunde liefern. In Bezug auf die Düsseldorfer Fortuna scheint die Band „Die toten Hosen“ ein fankulturelles Alleinstellungsmerkmal zu bilden. Dass es sich beim Aufgreifen und damit Zitieren von karnevalistischen Elementen nicht allein um ein postmodern-ironisches Spiel mit dem „Eigenen“, nämlich der Mainzer Fastnacht, handelt, wage ich schon jetzt zu behaupten. Im Zeitalter der Globalisierung indiziert es ganz sicher „individuelle Vorstellungen von Heimat“ (Simon 2001, 74) – und diesen möchte ich weiter nachspüren. Abbildung 4: Auswahl von Schals im Fanshop von Mainz 05 Volkskunde in Rheinland-Pfalz 28, 2013 19 Literatur Bonz, Jochen u.a. (Hg.) (2010). Fans und Fans. Fußball-Fankultur in Bremen. Bremen. Bourdieu, Pierre (1987). Die feinen Unterschiede. Kritik der gesellschaftlichen Urteilskraft. Frankfurt/M. Braun, Karl (2002). Karneval? Karnevaleske! Zur volkskundlich-ethnologischen Erforschung karnevalesker Ereignisse. Zeitschrift für Volkskunde, 98, 1–15. Elpers, Sophie (2005). Frau Antje bringt Holland. Kulturwissenschaftliche Betrachtungen einer Werbefigur im Wandel (Bonner kleine Reihe zur Alltagskultur, 8). Münster u.a. Geertz, Clifford (1987). Dichte Beschreibung. Bemerkungen zu einer deutenden Theorie von Kultur. In: Geertz, Clifford. Dichte Beschreibung. 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