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Brechts Gedichtfassung des Kommunistischen Manifests1
Riesige Krisen, in zyklischer Wiederkehr, gleichend enormen / Unsichtbar tappenden
Händen, ergreifen den Handel und drosseln / Schüttelnd in schweigender Wut Produktionsstätten, Märkte und Heime. / [...] Wenn das Erzeugnis jedoch nur gebraucht und
nicht auch gekauft wird / Weil das Verdienst des Erzeugers zu klein ist – und macht
man ihn größer / Lohnt es sich nicht mehr, das Zeug zu erzeugen – wozu dann noch
Hände / Mieten? [...] nur: wo dann hin mit der Ware? Und also / [...] Alles ins Feuer
geopfert, den Gott des Profits zu erweichen! / [...] Aber ihr Gott des Profits ist mit
Blindheit geschlagen. Die Opfer / Kann er nicht sehn. Er ist unwissend. Ratend den
Gläubigen, murmelt / Unverständliches er. Die Gesetze der Wirtschaft enthüllen sich /
Wie der Schwerkraft Gesetze, wenn über den Köpfen das Haus uns / Krachend zusammenfällt. (GA 5, Das Manifest, 126-28)
Sehr früh im Jahr 1945 begann Brecht an einer Gedichtfassung des Kommunistischen Manifests zu arbeiten, die er zeitweilig auch als Teil eines größeren
Projektes plante, als Lehrgedicht analog zu Lukrez’ Versepos De rerum natura.
Sein Titel stand noch nicht fest, könnte aber Von der Natur des Menschen gelautet
haben, oder, etwas genauer, Von der Unnatur der bürgerlichen Verhältnisse. Brecht
fand Zeit für dieses Projekt, da der Schauspieler Charles Laughton, mit dem er das
Leben des Galilei übersetzte, wegen einer Filmrolle die Arbeit unterbrechen musste.
Aber der eigentliche Grund war das herannahende Ende des Zweiten Weltkriegs, mit
dem sich für Brecht die Frage nach der sozialistischen Zukunft Deutschlands stellte
(vgl. Hartinger 1982, 34-38). »Zwischen dem ›Lehrgedicht‹ und den schrecklichen
Zeitungsberichten aus Deutschland. Ruinen und kein Lebenszeichen von den Arbeitern«, notiert er am 10. März 1945 (GA 27, 221). Es schien ihm möglich, »heute,
hundert Jahre später, und mit neuer, bewaffneter Autorität versehen«, die »propagandistische Wirkung [...] durch ein Aufheben des pamphletischen Charakters« zu
erneuern (219f). »Die Kunstform des Pamphlets wird ersetzt durch jene des Lehrgedichts«, kommentiert Hans Mayer (1961, 65; vgl. Suvin/Angenot 1997). Der »Mut
zur Wahrheit« genügt nicht; die »List, die Wahrheit unter vielen zu verbreiten«, muss
hinzukommen (»Fünf Schwierigkeiten beim Schreiben der Wahrheit«, 1934, GA
22.1, 81). Schlussfolgernd heißt es dort:
Die große Wahrheit unseres Zeitalters (mit deren Erkenntnis noch nicht gedient ist,
ohne deren Erkenntnis aber keine andere Wahrheit von Belang gefunden werden kann)
ist es, dass unser Erdteil in Barbarei versinkt, weil die Eigentumsverhältnisse an den
Produktionsmitteln mit Gewalt festgehalten werden. [...] wir können die Wahrheit über
1 Gekürzte und veränderte Fassung von »On Brecht’s The Manifesto«, in: Socialism and Democracy 16, 2002, 1-31, die auch eine längere Literaturliste enthält. – Ich bedanke mich herzlich
für die freundliche Hilfe des Direktors des Brechtarchivs, Erdmut Wizisla, und seiner Mitarbeiter; ebenso für die Ermutigung durch Fredric Jameson, Rick Wolff, Tom Kuhn und Victor
Wallis, sowie für die hilfreichen Hinweise von Sonja Regler und der Argument-Redaktion.
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barbarische Zustände nicht erforschen, ohne an die zu denken, welche darunter leiden,
und [...] ihnen die Wahrheit so zu reichen, dass sie eine Waffe in ihren Händen sein kann.
(GA 22.1, 88f)
Es gab aber noch einen weiteren, weniger an den Moment gebundenen Grund, das
klassische Modell des epischen Verses, den lateinischen Hexameter, als pädagogischen Königsweg zum Verständnis des Hörers zu verwenden. In einem nach dem
Arbeiter-Aufstand im Juni 1953 geschriebenen Memorandum, als Brecht wieder
darüber nachdachte, wie die marxsche Tradition für die deutschen Arbeiter erneuert
werden könnte, kam er zu dem Schluss:
[Die] zwei großen Lehrgedichte der Römer [...], die ›Georgica‹ des Virgil und ›Von der
Natur der Dinge‹ des Lukrez, [sind einmal die] Vorbilder dafür, wie man die Bearbeitung
der Natur und eine Weltauffassung in Versen beschreiben kann, und des andern haben
wir in den schönen Übersetzungen von Voss und Knebel Arbeiten vor uns, die wunderbare Aufschlüsse über unsere Sprache geben. Der Hexameter ist ein Versmaß, das die
deutsche Sprache zu den fruchtbarsten Anstrengungen zwingt. Sie erscheint deutlich
›gehandhabt‹, was das Lernen sehr erleichtert. [...] der große Kunstverstand der Alten
entwickelt sich an großen Inhalten. (GA 23, 269f)
Hanns Eisler, der abgeraten hatte, korrigierte später seine Haltung: »Denn hätten wir
heute ein Epos ›Das Kommunistische Manifest‹ von Brecht, wäre es als ein ganz
seltenes Kunstwerk in die Geschichte der Menschheit eingegangen.« (1975, 120)
Entmutigt auch durch Feuchtwanger (vgl. 1957, 103-08; Bunge 1963), beschäftigt
mit anderen Arbeiten, unsicher, wer die Leser des Gedichtes sein würden, brach
Brecht seine Ausarbeitung ungefähr im September 1945 ab, wenn er auch bis zum
Ende seines Lebens immer wieder darauf zurückkam.
Verserzählung als Erkenntnis
Man kann sich Idealtypen der Beziehung zwischen Dichtung und Lehre vorstellen,
wo Dichtung sich vollständig im Dienst der Lehre befindet, und andersherum:
Entweder Verse als flache rhythmische Eselsbrücke, um die Pille der Lehre zu
versüßen, oder Lehre als allgemeinen, oftmals weit entfernten Anker, um die anders
gearteten – kompatiblen aber reichhaltigeren – Anliegen des Dichters zu organisieren. Das beste Beispiel des zweiten Extrems ist wohl Dantes Komödie, oder
zumindest deren erste beiden Teile. Aber im Fall von Brecht ist die Gefahr eher
das erste Extrem, das heißt, die Verwendung der Verse für den hauptsächlichen
oder sogar einzigen Zweck der Formulierung einer erkenntnishaften Theorie, eine
Verwendung, für die Aristoteles bereits in seiner Poetik Empedokles von der Dichtung zur Physik verwiesen hat.
Im Gegensatz dazu stünde ein gültiges Gedicht – d.h. eines, das einen guten
Grund hat zu existieren – neben einer Prosa, die dieselben doktrinären Begriffe und
Argumentationen verwendet. Es wäre irgendwo in der Mitte zwischen den oben
genannten Extremen anzusiedeln, in einem kreativen Raum, wo Ziele und Mittel,
Sinn und Sinnlichkeit, Lehre und Dichtung in einer mehr oder weniger fruchtbaren
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Spannung verbleiben. Dies kann man verfolgen auf der Linken angefangen von
Majakovski, Neruda oder Brechts Manifest und auf der Rechten von Eliots Four
Quartets oder einigem von Pounds Pisan Cantos. Die »liberale« bürgerliche Mitte,
nachdem sie im Sattel ist, hat keinen leidenschaftlichen Grund, didaktische Dichtung zu komponieren, die seit den Romantikern aus Unzufriedenheit geboren zu sein
scheint.
In den 1920er Jahren äußerte Brecht, dass Petroleum nicht in die Form eines in
fünf Akte gegliederten dramatischen Spannungsaufbaus hineinpasse; in der Folge
hat er seine ›epische‹ oder dialektische Dramaturgie ausgearbeitet. In analoger
Weise passt die Sprache des Kommunistischen Manifests nicht in die dominierenden
Formen der englischen individualistischen Lyrik. Mit der lockeren Form der Ballade
wäre es leichter gewesen (Brecht liebte z.B. Sir Patrick Spens oder die Moritat
Das Seemannslos). Deshalb glaube ich, dass Brechts Intuition, den Hexameter
zu benutzen, richtig war. Geschickt hat er ihn variiert und bereichert; doch war es
schwer, der terminologischen Strenge des Manifests gerecht zu werden: Wie kriegt
man etwa das Wort »Proletariat« in einem Hexameter unter?, fragte Feuchtwanger.
Und man kann sehen, wie Brecht sich müht, Synonyme zu finden:
durch die Jahrhunderte, immer ihr dienend / Wuchs mit der Bourgeoisie auch das Proletariat, der modernen / Arbeiter, lebend durch Arbeit, doch Arbeit nur kriegend, solang sie /
Arbeitend in seinem Dienst des Bourgeois Kapitalien vermehren. (GA 15, 128f)
Brechts Manifest wirkt an der Tendenz der besten Dichtung unseres Zeitalters mit,
eine anti-idealistische Sprache mit exakten Begriffen zu verwenden: »der Stil eines
Gelehrten / ein wenig korrigiert von einer Putzfrau« (Gozzano 1993, 178). Dies
passt zu Brechts konstantem Versuch, plebejische Demystifikation von unten mit
präziser intellektueller Kritik zu kombinieren. Der dazugehörige Horizont ist der
einer Verserzählung als – nicht nur begriffliche – Erkenntnis, in Wechselwirkung
mit Beobachtungen von Haltungen. Solche Dichtung kommt dem Geschwätz der
kapitalistischen Medien und dem konformistischen Common Sense in die Quere.
Wie Brecht in seinem Gedicht »An die dänischen Arbeiter-Schauspieler« darlegte,
ist diese Dichtung mit präziser Beobachtung wiederkehrender oder typischer
Vorkommnisse oder Beziehungen befasst. Derartige materialistische Poesie unterscheidet sich von der Prosa der präzisen Beobachtung und bleibt doch mit ihr durch
eine Nabelschnur verbunden.
An Brechts Manifest lässt sich beobachten, wie objektiver Bericht sich mit einer
geradezu zeremoniellen Ritualisierung berührt und mit ihr verschmilzt – durch
Wiederholungen, syntaktische Inversion, Enjambement und einem pointierten
Rhythmus. So wird charakteristischerweise die rhetorische Figur der Adnomination verwendet, die die Wurzel des Nomens in der des Verbums wiederholt und
umgekehrt (z.B. »passierend ohne Passierschein« oder »Sklaven der bourgeoisen
Klasse, täglich und stündlich versklavt«, oder das oben zitierte »Arbeiter, lebend
durch Arbeit, doch Arbeit nur kriegend«). Erkenntnis und sinnfällige Verdeutlichung
durch Alliterationen, Assonanzen und Echogebung wirken hier zusammen. Die
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dichterische Bewegung der Erkenntnis ist spiralförmig, da sie zugleich bestimmt
wird durch die Natur der Dinge und offen ist für Leidenschaft und kämpferische
Anstrengung. Die Bewegung des Verses bringt – unter Teilnahme des Lesers – eine
Zeremonie des Kampfes gegen soziale Ungerechtigkeit zur Aufführung, in dem die
Worte und Dinge allegorische Gesichter und Gestalten erhalten.
Brecht stellt sich bewusst in eine Tradition, deren Anspruch an die Gegenwart
er aufnimmt. Er will für den in Deutschland 1945 vergessenen Marx das sein, was
Lukrez für Epikur war. Epikurs Lehren überdauerten nur in einigen Fragmenten –
und in den Versen des Lukrez, in denen er als der große und glorreiche Befreier der
Menschheit von Aberglaube und Todesfurcht gepriesen wird, in dessen Fußstapfen
der Dichter zu treten wünscht. Die Ahnung, dass auch Marx – praktisch, wenn nicht
buchstäblich – dem Vergessen anheimfallen könnte, war Brecht stets gewärtig.
Dies kann an seinen Gedichten über die großen exilierten Dichter nachvollzogen
werden, unter denen sich – historisch zwar nicht korrekt – auch Lukrez befindet:
»Die Auswanderung der Dichter» und »Besuch bei den verbannten Dichtern«.
Heutzutage ist eine derartige Form der erkenntnisorientierten Dichtung eine der
besten Methoden, um das Gedächtnis an die großen Hoffnungen im 20. Jahrhundert
lebendig zu halten. Sie entreißt Lehren dem Vergessen und macht damit ihre Kritik
allererst möglich. Brecht zu verwenden, ohne ihn zu kritisieren, hieße ihn verraten,
meinte bekanntlich Heiner Müller. Das gilt heute für alle erkenntnisorientierten Bestrebungen, im besonderen für Marx und die linke Tradition. Die Dichtung ist ein Wächter:
»Watchman, what of the night?« Die Nacht ist tief und dunkel, aber nicht endlos: »Sie
dauert 12 Stunden, dann kommt der Tag.« (Schweyk im Zweiten Weltkrieg)
Dichtung und Geschichte
Dichtung existiert nicht nur in Bezug auf die Geschichte im Allgemeinen, sondern stets
auch in Bezug auf ihre eigene Geschichte. Dichter und Übersetzer wissen das. Doch ist
dieses Wissen nicht immer notwendig für die Leser/innen, die sozusagen die Bratkartoffeln für heute auch heute braten müssen. Für sie ist die Beziehung der Dichtung zu
dem, was Marx und Engels als die einzige Wissenschaft, die sie »kennen«, bezeichnet
haben, grundlegend: die »Wissenschaft der Geschichte«, unterteilt in die »Geschichte
der Natur und die Geschichte der Menschen« (MEW 3, 18). Hier sollte es keine besonderen Probleme für einen Dichter als Erzähler geben: Jeder von uns hat Schulden
angehäuft gegenüber den Lebenden und besonders den Toten, und der Dichter bezahlt
sie mit seiner Dichtung. Die Ökonomie der Person, die eine Schuld abzutragen hat, ist
sich hier mit den Wissenschaften und dem marxistischen Verständnis der Geschichte
einig, dieser Verpflichtung gegenüber Wahrheit und Erinnerung.
Allerdings ist die vorrangige Frage für einen marxistischen oder sozialistischen
Dichter sicherlich die Beziehung seiner Produktion für die heutigen Leser, also zur
aktuellen Geschichte. Was hat sich verändert seit dem Kommunistischen Manifest
von 1848 und was nicht? Warum wollte Brecht im Jahr 1945 die Wirksamkeit des
Manifests erneuern und stärken? Weil es durch die Praxis der Zweiten und Dritten
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Internationale derart automatisiert und verknöchert worden war, dass es keinen
Hund mehr hinter dem Ofen hervorlockte. In dieser Situation sollte der Wechsel der
literarischen Gattung – von einem Prosatext zu einem Erzählgedicht in Hexametern
– als Deautomatisierung oder Verfremdung wirksam werden, um eine frische Wahrnehmung, deren es für eine freudige Erkenntnis bedurfte, zu ermöglichen.
Wenn wir uns dem marxschen Manifest und dem brechtschen Lehrgedicht wieder
zuwenden, liegt das daran, dass beide in einem erkenntnisbezogenen Horizont situiert sind, dass einige ihrer wichtigsten Einsichten als Anleitungen zum Handeln noch
gültig sind; andere helfen uns, unsere Irrtümer aufzuklären. Was sie voneinander
unterscheidet, beruht auf der philologischen Einsicht, dass das »Was« vom »Wie«
nicht getrennt werden kann. Die Sprache lässt das Gesagte nicht unberührt. Es geht
bei der brechtschen Neuaneignung nicht bloß um ein begriffliches Update, sondern
darum, das von Marx Gesagte durch sprachliche Umformulierung der Vorstellungswelt der Leser/innen erneut nahe zu bringen. Freilich sind Umformulierungen
niemals unschuldig, da das Wie mit dem Was interferiert.
Von der klassischen marxschen Tradition wurde bei Brecht erstens die hegelsche
fortwährende Veränderung beibehalten. Brechts Gedicht bezeugt, wie Marxens
Erkenntnisse über die Kräfte der Geschichte als politische Ökonomie im Fleisch
der arbeitenden Menschen operieren. Zweitens wurde das Manifest durch einige
spätere Einsichten von Marx aktualisiert, wie z.B. die zyklische Krisentheorie und
der Fetischcharakter der Ware, die als herrliche Doppelpassage über die Ungeheuer
der Krise und über den blinden Moloch-Gott des Profits vorkommen (siehe das am
Anfang stehende Zitat). Im marxistischen »Gott des Profits« fließen der lateinische
Abscheu gegen die »Heiligste Majestät des todesbringenden Reichtums und Geldes«
(Juvenal, Satire I, 112f) und der biblische Abscheu gegen falsche Götter (Mammon)
ineinander. Brecht schreibt hier im Stil der wirksamsten Avantgardegedichte, die
sich als ›Randbemerkungen‹ bei der Lektüre insbesondere sozialwissenschaftlicher
Abhandlungen positionieren. Er hielt nichts von dem Gegensatz wissenschaftlichen
und künstlerischen Verstehens und Lernens und bestand zugleich auf ihrem Unterschied. Allerdings ist sein Manifest ehrgeizig: Es aktualisiert das Manifest für das
Zeitalter, in dem die Bourgeoisie als Antwort auf die ökonomischen Krisen ihres
Systems nach Weltkriegen greift.
Die De-Automatisierung des Manifests bedeutet, dass es desakralisiert wird, um
der Situation im Jahr 1945 gerecht zu werden. Im März 1945 schreibt Brecht an
Korsch, den er, trotz Meinungsverschiedenheiten, als einen seiner wenigen Lehrer
verehrte und der auch der prominenteste unter seinen Freunden war, der sein Projekt
enthusiastisch unterstützte und als Meisterwerk rühmte (vgl. Korsch 1965, 54):
»Einiges im ›Manifest‹ habe ich so vorsichtig wie mir möglich geändert, anstelle
der Verelendungstheorie die Unsicherheit durch die konstitutionelle Arbeitslosigkeit
gesetzt usw. Halten Sie das für richtig?« (GA 29, 349)
Solche Aktualisierung ist, von der anderen Seite betrachtet, Historisierung. Sogar
der Titel, Das (!) Manifest, macht deutlich, dass es sich um ein Zitat handelt, eine
Referenz zweiter Ordnung an einen Klassiker: »Das Manifest war ein Bericht seiner
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Verfasser an die von ihnen gegründete Partei. Brechts Hexameter geben den Bericht
eines Berichts.« (Mayer 1961, 65) Brechts Gebrauch verbindet die Vergangenheit
mit der Gegenwart und ersetzt daher des Öfteren die Vergangenheitsformen von
Marx, die er in einigen Anfangszeilen benutzt, mit der Gegenwartsform, was seinen
Bericht dramatisch unmittelbarer und lebendiger, aber nicht weniger historisch weitreichend macht. Dazu ein Beispiel:
Falsches darüber von Feinden, von Freunden / Falsches habt ihr gehört. Dies ist was die
Klassiker sagen. / So nun entstand, die jetzt vergeht, die Epoche des Bürgers. (GA 5,
136f; Hervorh. D.S.)
Schließlich wird die bereits lebhafte Argumentation des marxschen Manifests
stärker dramatisiert. Das wird durch mannigfaltige Mittel erreicht: durch syntaktischen Parallelismus an Stelle der marxschen logischen Subordination, durch
weitergehende Verwendung der Personifizierung und der dynamischen Handlung
(besonders erkennbar bei der Bourgeoisie, dem Ungeheuer Krise und dem Gott des
Profits, wie auch beim Gespenst des Kommunismus, das Brecht aktiver darstellt).
Er baut somit die bereits bei Marx ausgeprägte phantastische Metaphorik aus (vgl.
Suvin 2004). Die Hauptteile des marxschen Manifests beginnen jeweils mit einer
allgemeinen These, die dann diskutiert und zu einem allgemeinen programmatischen Fazit geführt wird. Brecht verwendet viel davon, immer aber subsumiert
unter die dramatische Geschichte von Arbeitern als Repräsentanten der Menschheit,
die einem wachsenden Strudel der Gewalt seitens der blinden Gottheit des Profits
unterworfen sind.
Man könnte noch vieles über Brechts Wortschatz oder seine rhetorischen Figuren
hinzufügen (vgl. Schober 1988, 145-65). Nur soviel: Es gibt in dem Gedicht eine
übergeordnete, ungenannte Gestalt, die Stimme des Erzählers. Er ist ein Anthropologe, der voranschreitet in den Dschungeln der Fabriken und Städte, mit einem
»heißen Herzen in einer kalten Person« (GA 26, 270), und seine Strenge entsteht aus
Blut, Schweiß und Tränen von Millionen über Jahrhunderte hinweg. Hier, die ersten
Zeilen:
Kriege zertrümmern die Welt und umgeht zwischen den Trümmern / Sichtbar und groß
ein Gespenst, und nicht erst der Krieg hat’s geboren. / Auch im Frieden schon ward es
gesichtet, den Herrschenden schrecklich / Aber freundlich den Kindern der Vorstadt.
In ärmlicher Küche / Lugte es oft, kopfschüttelnd, voll Zorn, in halbleere Töpfe. / Oft
die Erschöpften passte es ab vor Gruben und Werften. / Freunde besucht es im Kerker,
passierend ohne Passierschein / Oftmals. Selbst in Kontoren wird es gesehen, und im
Hörsaal / Wird es gehört. Zu Zeiten dann stülpt es von Stahl einen Hut auf / Steigt in
riesige Tanks und fliegt mit tödlichen Bombern. / Vielerlei Sprachen spricht es, alle. Und
schweiget in vielen. / Ehrengast in den Hütten sitzt es, Sorge der Villen / Alles zu ändern
und ewig zu bleiben gekommen; sein Name ist Kommunismus. (GA 5, 135f)
Der Diskurs hat sich seit dem 19. Jahrhundert verschoben. Wir befinden uns in
der modernen Welt der globalen Kriege, der Panzer, Kampfflieger und Ruinen,
der vielen Sprachen und der Repression in den meisten von ihnen; und dennoch,
nach wie vor, in einer für Marx wiedererkennbaren Welt, mit Bergwerken, Werften,
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Büros und Hörsälen – und mit halbleeren Töpfen, erschöpften Arbeitern, Slums und
Gefängnissen. Das passt zu dem heroischen Versuch, eine produktive Rückkopplung
zwischen Marxens Formulierungen (das Schreckgespenst, das Grabschaufeln, etc.)
und Brechts Hinwendung zum Magma der täglichen Erfahrung von Millionen zu
schaffen. Philosophisch gesprochen, bewirken Brechts Verse eine Rückkopplung
zwischen Deduktion und Induktion, zwischen einem Bezugssystem, das vor dem
Gegenstand des Gedichtes existiert (ante rem), und einer Verifizierung plus Modifizierung innerhalb des Gegenstands selbst (in re). Die Modifizierung kann am
besten am Eröffnungs-Schachzug gesehen werden, in der besten epischen Tradition
des Beginns in medias res: »Kriege zertrümmern die Welt«. Der Klassenkampf
wird wieder mit aller Macht im letzten Teil des Gedichts auftauchen, aber schon
am Anfang ist er da, nicht nur um einer tausendjährigen sozialen Ungerechtigkeit
das Handwerk zu legen, sondern auch angesichts der nunmehr möglich werdenden
»Zertrümmerung« der Welt.
Kriege – die beiden Weltkriege wie die 200 »lokalen« Kriege seit 1945 – sind
ein wesentliches und unverzichtbares Instrument des Kapitalismus, ohne das die
Bourgeoisie nicht überleben könnte, so dass die nachhaltige Vernachlässigung der
Reflexion über den Krieg auf Seiten der Linken einem Todeswunsch gleichkommt.
Vielleicht fangen wir gerade erst an, uns aus dieser weitgehend selbstgeschaufelten
Grube zu befreien, nach den Kriegen am Golf und in Serbien. Brecht kann auch hier
als unser großer Vorfahre dienen, der auf prophetische Weise den Weg gezeigt hat.
Der Horizont der Dichtung: Haltungen lehren
Alle Dichtung lehrt Haltungen: Die Petrarcas über die Sehnsucht nach der idealen
Frau, die Dantes über die politische Ethik seiner Zeit, die Baudelaires über die Schönheit, die den bösen Großstädten der Bourgeoisie eigen ist. Das ist geradezu genetisch
in Dichtung eingeschrieben, die entweder als direkte Begleitung zu gemeinsamer
Arbeit begann (Arbeitslieder), oder als ein Moment der Ruhe vor oder nach einer
für die Reproduktion des Gemeinwesens wichtigen Unternehmung (Jagd, Ackerbau,
Krieg, athletischer Wettbewerb, Gastmahl) in diese eingebunden war. Dabei war
der Gesang mit Musik und Tanz ein organisierendes Instrument: Einübung in die
Gründe und Modalitäten der Handlung oder Kommentar ihres Ergebnisses. Homers
Epik liegt auf halbem Wege zwischen mündlich überliefertem Sagenschatz einer
Stammesgesellschaft und dem von einem einzelnen Dichter geschriebenen Text, der
für Auftritte einer Gruppe von Bürgern schreibt: Es handelt sich noch um Dichtung
innerhalb und für ein Kollektiv, wenn auch nunmehr der aristokratischen Klasse.
Alle für sie wissenswerten Gegenstände werden berührt: alle Künste, Kriegführung,
Religion, Schifffahrt, Redekunst, Spiele, geographisches und kosmologisches
Wissen, Erziehung, Jurisprudenz usw. Die Erzählungen liefern positive oder negative Verhaltensmodelle: Penelope ist die tugendhafte Frau, die allen Anfechtungen
trotzt, Achill der Inbegriff des Muts, Thersites der des hassvollen Plebejers. In der
späteren, nicht-choralen Dichtung der Klassengesellschaft kamen auch die dem
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Dichter eigenen Bestrebungen und Erfahrungen zum Ausdruck, ohne dass er den
Anspruch auf exemplarische, kollektive Gültigkeit aufgegeben hätte. Das ist auch
dann noch so, als die Dichtung beginnt Entfremdung aufzuzeichnen, etwa in dem,
was Hesiod in seinem Epos Werke und Tage über unser Eisernes Zeitalter ausführt
(Brecht hat ihn Homer, dem Sänger der Kriegeraristokratie, vorgezogen).
Während in der Antike oder im Mittelalter keiner auf den Gedanken gekommen
wäre, Dichtung und Politik zu trennen, lehnt der Bürger, der in Deutschland Unternehmer oder Professor werden kann, von der politischen Macht aber ausgeschlossen
bleibt, alle Didaktik, zumal das Lehren von Politik, als unerlaubte »Propaganda«
ab: »Ein garstig Lied! Pfui! ein politisch Lied!«, befand der große Philister Goethe
(Faust I, Auerbachs Keller). Brechts Stimme ist die eines Lehrers, aber eines besonderen: eines sokratischen Vermittlers, der der Maxime folgte, dass der Lernende
wichtiger ist als die Lehre. Die Arbeiter-Leser nehmen keine fix und fertige Lehre
entgegen, sondern formen im Prozess der Aneignung um – wie Brecht selbst das
Manifest sich eingreifend angeeignet hat. Sein Gedicht ist die Stimme eines
»Intellektuellen-Lesers«, der bei der Marx-Lektüre einige Antworten gefunden hat
und diese werkgetreu wiederholt, indem er sie für die Situation in der Mitte des 20.
Jahrhunderts überarbeitet.
In seiner »Dichtkunst« stellt Horaz die Frage, ob die tragischen Dichter, die ihre
Argumente von Homer übernehmen, wirklich kreativ Schreibende sind. Er empfiehlt,
die epischen Begebenheiten (Themen oder Personen) von Homer zu entnehmen,
doch dabei kein serviler Imitator zu sein, sondern ein wahrhafter »Übersetzer«, der
die homerischen Charaktere mit neuen Worten und Handlungen ausstattet (vgl. Vico,
Neue Wissenschaft, Buch 3, Kap. 4). So kann Brecht ein Dichter genannt werden, der
die marxschen Themen und Charaktere wiederaufnimmt, um sie in die Gegenwart
zu »übersetzen«. Das Was der Lehren, die zwischen 1848 und 1945 dazugekommen
sind – besonders Marxens Krisentheorie, aktualisiert durch die lebendige Erfahrung der Zeit nach dem Crash 1929 –, und einige Lehren des Leninismus, geboren
und wiedergeboren aus den Weltkriegen, ist aber formiert aus dem Wie des neuen
Erkenntnisinstruments: der lukrezianischen narrativen Dichtung. Brecht betrachtete
dieses Instrument mindestens als äquivalent, wenn nicht überlegen dem systematischen philosophischen Diskurs, der eine gute Waffe sein kann, aber zu doktrinärer
Erstarrung neigt (Brecht verglich ihn mit einem kondensierten Schneeball, der nicht
zu lange in jemandes Tasche verbleiben sollte). Die Grundvoraussetzung ist immer,
den zentralen und bestimmenden Horizont der Klassenbefreiung wie auch die Sehnsucht in diese Richtung unverändert zu halten. Brechts Gedicht war nicht vollendet,
doch es mündet in ein m.E. hinreichendes Ende. Es antwortet auf die Gewalt der
bürgerlichen, die Welt zertrümmernden Weltkriege mit der Perspektive der klassenlosen Gesellschaft:
das Proletariat muss / Unterste Schicht der Gesellschaft, um sich zu erheben, den ganzen /
Bau der Gesellschaft zertrümmern mit all seinen oberen Schichten. / Abschütteln kann
sie die eigene Knechtschaft nur abschüttelnd alle / Knechtschaft von allen.
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Heute müssen wir zwar neu definieren, was wir mit Proletariat meinen, aber ich
denke, dass wir zu Beginn des 21. Jahrhunderts, inmitten noch schlimmerer Kriege
und Katastrophen, immer noch dieses Ende uns auf unsere Weise aneignen müssen.
Aus dem Englischen von Sonja Regler
Literatur
Brecht, Bertolt, Werke. Große kommentierte Berliner und Frankfurter Ausgabe, Frankfurt/MBerlin 1988-98 (zit. GA)
Bunge, Hans-Joachim, »Das Manifest von Bertolt Brecht«, in: Sinn und Form, 15. Jg., 1963,
184-203
Eisler, Hanns, Gespräche mit Hans Bunge. Fragen Sie mehr über Brecht, Leipzig 1975
Feuchtwanger, Lion, »Bertolt Brecht«, in: Sinn und Form, Zweites Sonderheft Bertolt Brecht,
1957, 103-08
ders., »Die Zusammenarbeit der Dichter«, in: Berliner Zeitung Nr. 301, 25.12.1958
Gozzano, Guido, Tutte le poesie, Rom 1993
Hartinger, Christel, Bertolt Brecht – das Gedicht nach Krieg und Wiederkehr. Studien zum
lyrischen Werk 1945-1956, Brecht-Zentrum der DDR, Berlin 1982
Korsch, Karl, »Antwort an bb«, in: Alternative 41, 1965, 54-57
Mayer, Hans, Bertolt Brecht und die Tradition, Pfullingen 1961
Schober, Rita, »Brechts Umschrift des Kommunistischen Manifests«, in: dies., Vom Sinn oder
Unsinn der Literaturwissenschaft, Leipzig 1988, 126-80
Suvin, Darko, »Living Labour and the Labour of Living«, in: Critical Quarterly 46, 2004, 1-35
ders. u. Marc Angenot, »L’aggirarsi degli spettri. Metafore e demistificazioni, ovvero l’implicito del manifesto«, in: M.Galletti (Hg.), Le soglie del fantastico, Rom 1997, 129-66
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