Alles bleibt Bruchstück - Dialogue Social Enterprise

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Alles bleibt Bruchstück - Dialogue Social Enterprise
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Politik & Gesellschaft
„ Alles
bleibt
Bruchstück“
Andreas Heinecke ist Deutschlands erfahrenster Sozialunternehmer. Vor 25 Jahren startete er
seinen „Dialog im Dunkeln“. Heute gibt es ihn in 38 Ländern. Kein großer Erfolg, findet Heinecke.
Er will das soziale Lernen zum Modell erheben. Am besten an jeder Schule der Welt
B
TEXT Christiane Langrock-Kögel FOTOS Kathrin Spirk
eginnen wir bei Orna. Bei dann, kurz und trocken, „viel Glück! Er ist
Orna Cohen, Ausstellungs- ein ziemlich spezieller Typ“.
kuratorin aus Paris, geboren
Andreas Heinecke, 59 Jahre alt, ist Soziin Israel. Elegant, klug, wilde alunternehmer, der erfahrenste und wohl
Locken, ockerfarbene Augen, bekannteste Deutschlands. 2014 ist für ihn
die Ehefrau von Andreas Heinecke, dem ein Jubiläumsjahr, vor 25 Jahren hat der
Erfinder des „Dialogs im Dunkeln“. In der gebürtige Baden-Badener in Frankfurt am
Hamburger Speicherstadt, im Büro der Di- Main zum ersten Mal Ausstellungsbesualogue Social Enterprise, sitzen Orna Co- chern einen Blick in die Welt blinder Menhen und Andreas Heinecke Schreibtisch schen ermöglicht – und sie dafür, ausgerüsneben Schreibtisch, sie als Kreativ-Direk- tet mit einem Blindenstock, durch einen
torin, er als Geschäftsführer. Heinecke hat stockdunklen Raum geschickt. Aus dieser
seine Frau gerade vorgestellt und ist kurz Blackbox ist eine Ausstellung geworden, die
rausgegangen, da fragt sie: „Sie wollen ein zuerst wanderte, aber immer mehr feste
Porträt über ihn schreiben?“ Und wünscht Häuser fand. Heute ist sie, mittels eines
Franchisemodells, auf der ganzen Welt verbreitet. Einen „Dialog im Dunkeln“ haben
über acht Millionen Menschen in 38 Ländern und 170 Städten erlebt. 2005 wurde
Andreas Heinecke erster Ashoka Fellow
Westeuropas. Zwei Jahre später kürte ihn
die Schwab Foundation zum „herausragenden Sozialunternehmer“. 2011 bekam
er den Deutschen Gründerpreis.
„Ich leide nicht an mangelndem Selbstbewusstsein“, sagt Heinecke in seiner unverkennbar badischen Satzmelodie, „aber
mein Erfolg ist denkbar bescheiden. Ich erreiche weltweit 700 000 Menschen im Jahr
– aber damit kann man doch keinen Wan-
Wer hören und sehen kann,
muss sich ändern: Andreas
Heinecke in seiner Ausstellung
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del vollziehen!“ Seine Wirkung, also, was
er bewegen und verändern kann, ist Heineckes Lebensthema. „Es geht mir wie jedem Sozialunternehmer“, sagt er, „ich kann
mich mit einer gewissen Situation nicht
abfinden.“ In seinem Fall ist es die, dass
Menschen ausgeschlossen werden. Weil sie
nichts sehen können, zum Beispiel. Also
hat Heinecke die Rollen getauscht, macht
Blinde zu den Führern Sehender – und so
die Schwachen zu Starken, die Starken zu
Schwachen. Zumindest für 90 Minuten.
Er legt Wert darauf, von blinden Menschen zu sprechen und nicht von Blinden.
„Das ist nur eine Facette ihrer Persönlichkeit. Umdenken beginnt mit der Sprache.“
Heinecke gibt den blinden Guides Selbstbewusstsein und einen Job auf dem ersten
Arbeitsmarkt. Aber, sagt er, man solle das
nicht falsch verstehen, es gehe ihm nicht
um die 45 Millionen blinden Menschen
weltweit. Ihn interessiert die ungleich größere Gruppe, die „Normalen“. In ihren Köpfen will er etwas ändern. „Sonst hätte ich
ja einen Blindenclub aufmachen können.
Aber der kann nicht das System wandeln.“
Seit ein paar Monaten gibt es in Frankfurt und Hamburg neue Ausstellungen von
Heinecke, er hat sie gemeinsam mit Orna
Cohen entwickelt. Dort begegnen hörende
gehörlosen Menschen, und junge alten. „Dialog im Stillen“ nennt sich das, und „Dialog mit der Zeit“. Geplant ist als nächstes
ein „Dialog mit Kindern“. Nein, scherzt
Heinecke, dann „kommen nicht die Rollstuhlfahrer und die Autisten“. Obwohl es
auch bei ihnen funktionieren würde, sein
unschlagbar einfaches Modell: Wer ver-
Ein Familienunternehmen? Ja.
„Aber wir wissen
uns darzustellen“,
sagt Heinecke
jüdisch, wurden Opfer des Holocaust. Auf
der väterlichen Seite gab es Unterstützer und Mitläufer der Nazis. Orna Cohen
nennt die Suche ihres Mannes nach den
Mechanismen von Ausgrenzung und Vernichtung eine Obsession.
Hamburg, ein Abend im Oktober, Eröffnung der Ausstellung „Dialog im Stillen“. Die Räume liegen ein Stockwerk über
dem „Dialog im Dunkeln“, der hier vor 14
Jahren startete und heute 90 000 Besucher
pro Jahr anzieht. Bei der Veranstaltung mit
Sekt und Häppchen spricht auch Hamburgs
stehen will, wie sich ein blinder, ein ge- Sozialsenator Detlef Scheele, ein Sozialhörloser oder ein sehr alter Mensch fühlt, demokrat. Scheele ist braungebrannt und
muss in seine Rolle schlüpfen. Also plötz- sagt, dass Inklusion ein zähes Geschäft sei.
lich nur auf Mimik und Gestik angewie- Barrierefreie Bahnhöfe und Wohnungen
sen sein oder in schweren Spezialschu- seien ja okay, aber unsexy. Lieber wäre ihm,
hen die Mühsal des Alters spüren. Das ist wenn das Thema auch bei ihm „so wundersoziales Lernen. Und es funktioniert bes- bar und mit Spaß“ funktionierte wie hier.
ser, als zehn Bücher zum Thema zu lesen. Heinecke steht im Publikum, neben seiNach dem ersten Gespräch schickt Hei- ner Frau, um sie beide herum ein Teil der
necke eine Mail mit dem Betreff „Nach- Mitarbeiter. 117 sind es in Hamburg, die
gang“, sechs Anhänge hat sie, Texte mit Hälfte von ihnen ist gehörlos oder blind
Titeln wie „Blindheit als Vermögen“ und oder auf andere Weise anders. Eine Gebär„Warum nicht Gutes tun und gut verdie- dendolmetscherin übersetzt. Orna Cohen
nen?“. Auch ein Dokument namens „Ver- hat einen Arm um Daniela Dimitrova geletzlichkeit als Stärke“ ist dabei. Heinecke legt, die weltweit für die Ausbildung blinder
beschreibt darin seine Kindheit. Er kam als Guides zuständig ist und selbst nicht sieht.
Frühchen zur Welt, sechs Wochen vor Ter- Cohen spricht wenig Deutsch, Dimitrova
min. 1955 reichte
übersetzt ihr. Ein idyllisches Familienbild.
das, um in Baden
„Ich bin mit dem
als „Verreckerle“
Wort Familie vorsichbezeichnet zu werden, als schwaches
tig“, sagt Andreas Heinecke, spricht man ihn
Baby mit „wenig
auf die Szene an. „Klar
Aussicht auf ein Leben mit Saft und
sind wir ein Familienunternehmen. Aber wir
Kraft“, schreibt er.
sind auch Schausteller.“
Wegen einer Hörschädigung nuIn der Nacht vor der
schelte und stotterEröffnung fiel ihm ein,
te Andreas. Und erdass unbedingt Dörte
lebte, was es heißt,
Maack den Abend moderieren müsse, eine seiner
ausgeschlossen zu
sein. Zudem hat
blinden Mitarbeiterinnen, die Leiterin des Beseine Familie eine
reichs Bildung. War das
eigene Geschichte
nicht ziemlich spontan
der Diskriminierung: Die Verwand- Tastender Rollentausch: Sehende werden mit dem für sie? Sie lacht. „Das
ten der Mutter sind Blindenstock ins Dunkel geschickt
kenne ich nicht anders
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von ihm. Wer feste Abläufe braucht, ist bei beginnt kurz nach
bar ändern. Aber er
Andreas falsch.“ Heinecke erklärt, dass seinem Studium
ist nicht frustriert.
Maack eine brillante Moderatorin sei. Zum der Literatur, GeHeinecke, das sagen viele, die mit
einen. Zum anderen „soll auch der Senator schichte und Phiihm zu tun haben,
an so einem Abend das Prinzip des emoti- losophie. Er jobbt
onalen Lernens erleben. Wenn eine blinde als Dokumentar
sei ein Optimist,
Frau eine Ausstellung für gehörlose Men- beim Südwestfunk
einer, der die Löschen eröffnet, ist das ein Signal: Wir sind in Baden-Baden.
sung sehe und nicht
wirklich inklusiv.“
das Problem. AlBis ihn sein Chef
lerdings erwartet
Gespräche mit Heinecke verlangen Kon- darum bittet, eine
zentration. Er denkt schnell, spricht schnell, Hörfunk-Einfüher auch, dass sich
rung für einen erandere der Sache
blindeten Zeitungsebenso verschreijournalisten zu entben wie er. Michael
Mit schalldichten Kopfhörern auf den Ohren beginnt
werfen.
Zwei
Jahre
Pruy,
der seit 14
Seine Wut über Ignoranz,
arbeitet Heinecke jeder Besucher, mit den Händen zu sprechen
Jahren in Hamburg
Benachteiligung und Ausmit dem Kollegen
dabei ist und selbst
zusammen, ist beeindruckt von dessen Hu- blind, hat einige Jahre sehr eng mit Heigrenzung ist heute noch
mor und Optimismus. Aber er erlebt auch, necke zusammengearbeitet. „Sein Tempo
dass er ausgeschlossen bleibt. Für Heine- ist Wahnsinn. Man muss lernen, sich dem
größer als vor 25 Jahren
cke heißt das: Man muss die Sehenden etwas zu entziehen.“ Konstanze Frischen,
dazu bringen, die Nichtsehenden besser zu Direktorin im globalen Vorstand von Asverstehen. Das ist seine Aufgabe, seitdem. hoka, sagt, Heinecke könne auch provound man hat den Eindruck, er erwarte
Wut nennt er eine seiner stärksten Trieb- zieren und anecken. Und Hans Thomas
das auch von seinen Gesprächspartnern. federn. Wut über Benachteiligung und Ig- Richter, Steuerberater der Dialogue Social
Wie ist er dazu gekommen, sich für die noranz. Sie sei heute noch größer als vor Enterprise, Weggefährte und persönlicher
Sache Blinder einzusetzen, vor 25 Jah- 25 Jahren. Weil sich die Dinge nach seinen Freund, erlebte Heinecke als fordernd, als er
ren? Er hat die Geschichte oft erzählt, sie Maßstäben viel zu langsam und kaum mess- ihn Ende der 80er kennenlernte. „Aber er
hat nie gesagt: Macht
ihr mal. Er war immer
selbst dabei.“
„2015 werde ich 60“,
sagt Andreas Heinecke.
„Und alles bleibt Bruchstück.“ Ihn bremst das
nicht. „Der Weg ist das
Ziel“, sagt er mit einem
Grinsen. Die Aufgabe,
die er sich stellt, ist
schließlich riesig. Er
will sein Modell ins
Schulsystem integrieren, am besten an jeder Schule, weltweit.
Vor zehn Jahren hatte
Heinecke Krebs, er hat
Einfach mal den Mund halten:
Besucher im neuen Hamburger
„Dialog im Stillen“
„Wir rennen nur so über
die Flughäfen“: Andreas
Heineckes blinde Mitarbeiterin Dörte Maack
sich da, viele Jahre lang, wieder herausge- „aber er braucht Leute,
kämpft und seine Lehre gezogen. „Es ge- die sie auch umsetzen.“
lingt mir, meine Gelassenheit und Freude
Im Oktober hat Heinicht zu verlieren“, sagt er. Er könne leich- necke beim Entrepreter abschalten als sie, sagt Orna Cohen. Sie neurship Summit in
leben in Hamburg, sind aber oft für eine Berlin, einer VeranWoche in Paris, in ihrem Apartment. Zu staltung für Gründer,
eine Rede gehalten.
Das weiße Hemd bis
über die Ellenbogen
„Ich kann es nicht mehr
aufgekrempelt, stänsehen, wenn fundamentale dig in Bewegung, vom
Bühnenrand
Probleme in Zwei-Stunden- rechten
zum linken und zurück. Der Titel seines
Workshops gelöst werden“
Vortrags: „Das Sozialunternehmertum neu
Hause haben sie eine Regel: Es wird vor denken.“ Wenn junge
morgens um acht Uhr nicht über die Firma Leute ihn fragten, ob
gesprochen.
er ihnen empfehlen
Fünf Millionen Euro braucht Heinecke könne, ein Social Busijedes Jahr, um alle und alles zu bezahlen. ness aufzuziehen, antDie Summe müssen die Ausstellungen ein- worte er: „Nein! Der Weg ist zu hart und
bringen, die Franchisegebühren, die Fir- beschwerdenreich.“ Heinecke mag die
menworkshops und anderen Veranstaltun- „Partystimmung“ nicht, die bei den Vergen wie zum Beispiel das „Dinner in the sammlungen der Szene Einzug gehalten
Dark“, ein Abendessen im Dunkeln. Es ist habe, dieses Eben-mal-kurz-die-Welt-retimmer knapp. Das Privathaus bürgt für den ten. „Ich kann es nicht mehr sehen, wenn
Lösungen für fundamentale Probleme der
Ausbau der neuen Veranstaltungsfläche.
Emanuel Stadler, studierter Betriebswirt- Menschheit nach zweistündigen Designschaftler, 60 Jahre alt,
Thinking-Workshops
vor zehn Jahren erauf bunten Post-its
blindet, davor Manaan der Wand kleben.“
ger bei Unilever und
Die Branche sei innovationsbesessen, erder Telekom, ist jetzt,
klärt Heinecke wähfür ein Jahr erstmal,
rend seines 30-miHeineckes ehrenamtlicher Hamburnütigen Dauerlaufs
ger Geschäftsleiter.
auf der Bühne. „Aufmerksamkeit erzielt
„Ich habe tiefen Respekt vor seiner unterimmer nur der Benehmerischen Leisginn. Aber was setzt
tung“, sagt Stadler. Er
sich wirklich durch?“
soll Strukturen einIhn stört die Konzenziehen, sieht sich
tration auf die Gründer. „Natürlich ist
als „technokratisches
der spiritus rector
Pendant zu Andreas’
wichtig. Aber seine
visionärer Kraft“. Ihr
Wichtigkeit nimmt
Mann habe zwar immer tolle neue Ide- Der berühmte Streifen am Horizont: Beim „Dialog
mit den Jahren ab.
en, sagt Orna Cohen, im Dunkeln“ erscheint er auf dem Fußboden
Ab einem gewissen
Zeitpunkt braucht er Manager, die effektiv und ressourcenbewusst planen. Im Mittelpunkt sollte dann das Team stehen – die
zweite oder dritte Ebene, die Wachstum
und Wirkung sichert.“
Was passiert, wenn er nicht mehr lebt,
hat Heinecke geregelt. Eigene Kinder hat
er nicht. Aber es geht ihm auch nicht ums
Bewahren. Sondern darum, dass die Idee
des sozialen Lernens ins System hineinwächst. Weit über das Thema Blind-Sein
oder Gehörlos-Sein hinaus. Er spricht von
„Lebenskompetenzen“ wie Empathie, Vertrauen, den Umgang mit Krisen und der
Akzeptanz eigener Schwächen. „Um dieses Ziel zu erreichen“, sagt er ganz ohne
Bedauern, „muss ich es von mir ablösen –
und auch von unserer Organisation.“
Im jüngsten Bericht über die gesellschaftliche Wirkung des „Dialogs im Dunkeln“,
berechnet für 2013, steht: 2017 soll die
Grenze von weltweit einer Million Besuchern pro Jahr geknackt werden. Bei rund
700 000 steht man heute.
„Das schaffen wir“, sagt Orna Cohen. Aber
das ist nicht der Punkt. Sie weiß, was Andreas Heinecke dann sagen wird. „Eine
Million, hm, gut. Aber wie viele Menschen
leben eigentlich auf der Welt?“ /

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