Missverständnisse
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Missverständnisse
passagen Missverständnisse Synthetic Times: Medienkunst im Reich der Mitte S. 9 New Delhi: Indischschweizerische Kammeroper S. 40 H.A.S.E: Musikalische Begegnung mit der Jugend S. 46 das kulturmagaZin v o n p ro helv et ia , n r. 48 /2 00 8 2 The Biggest Lie (2007) Foto: Guadalupe Ruiz editorial Missverstanden? Sie liegen richtig! Die Entdeckung Amerikas. Das Trojanische Pferd. Der Tod Julias. Und Romeos. Das Missverständnis blüht in unserer Welt. Es ist ein fester Be standteil unserer Kultur, entsteht von selbst und nistet sich in unserem persönlichen Alltag ebenso hartnäckig ein wie im Weltgeschehen. Das ist auch im Zeitalter des weltumspannenden Dialogs nicht anders. Selbst die gern gelobte Schweizer Vielsprachigkeit ist ein Missver ständnis. Das zumindest behauptet der Schriftsteller Etienne Barilier (S. 18). Zwischen den Schweizer Sprachregionen herrsche eine frei ge wählte Ignoranz. Das macht aber nichts. Dass gerade in den politischen Debatten über den Röstigraben hinweg vieles nebulös bleibe, sei der Kon sensfindung förderlich, erklärt Barilier, und eine Grundvoraussetzung dafür, dass wir uns in der Schweiz so gut verstehen. Für die Literaturprofessorin Elisabeth Bronfen sind Missverständ nisse nicht nur der Motor für Dramen und Komödien der Weltliteratur, sondern auch der Stoff, aus dem unsere Träume sind. Ihre Analyse von Shakespeares Romeo und Julia (S. 30) enthüllt die geheime Natur der Missverständnisse als verschlüsselte Botschaften, die ans Tageslicht brin gen, was frei heraus nicht gesagt werden darf. Für ein Recht aufs Missverstehen plädiert der Direktor von Pro Helvetia, Pius Knüsel (S. 16). Er sieht im Missverständnis eine enorme soziale und kulturelle Produktivkraft, die besonders im Kunstwerk zum Ausdruck komme. Die Kunst als grosses Spielfeld, in dem wir Verstehen in Ruhe üben können, weil Nichtverstehen und Missverstehen keine dra matischen Folgen haben. Gerade Kunst kann die Betrachtenden zur Aus einandersetzung mit dem Verstehen verführen. In diesem Sinne laden die Fotoarbeiten des jungen Schweizer Künstlers Stefan Burger, die wir zum Thema präsentieren, zum Spiel mit Bedeutung und Mehrdeutigkeit ein. Wir wünschen Ihnen bei Ihrer Lektüre produktive Missverständnisse und erhellende Entdeckungen! Janine Messerli Redaktionsleiterin Passagen 3 inhalt 14 – 39 THEMA Missverständnisse 2 3 EDITORIAL Falsch verstanden? Sie liegen richtig! Von Janine Messerli 7 PRO HELVETIA AKTUELL Die schöne Nachbarin zu Besuch in der Schweiz / Schweizer Tanz im Tessin / Schweizer Theaterszene im Überblick / Shiva – der kosmische Tänzer 40 SCHAUFENSTER Plattform für Künstlerinnen und Künstler Fünf kolumbianische Schweizer sujets der Fotografin Guadalupe Ruiz (S. 2, 5, 6, 44, 47) 9 REPORTAGE Synthetic Times – Medienkunst im Reich der Mitte Von Muriel Jarp (Text) und Lionel Derimais (Bilder) 13 KULTURPULS Wie lässt sich Kultur bewerten? Von Hedy Graber 4 AUSBLICK PASSAGEN ONLINE IMPRESSUM Das Recht aufs Missverstehen Von Pius Knüsel 45 18 Glückliches Babel Von Etienne Barilier PARTNER Sophie und Karl BindingStiftung: «Grosse Institutionen sind ein Indikator für Qualität.» Von Sandra Leis 21 Von der Schärfung des Blicks durch den Schleier Von Susanne Schanda 46 KOLUMNE H.A.S.E Von Graziella Contratto 30 Vom geheimen Verstehen im Missverstehen Von Elisabeth Bronfen 33 «Erst der Kunstmarkt lässt die Werke zu Kunst werden.» Claudia Spinelli im Gespräch mit Wolfgang Ullrich 35 Titelbild: ohne Titel (2004) Foto: Stefan Burger 43 16 Warschau: Geschichte, künstlerisch animiert Von Joanna Warsza Irritation und Spiel mit Mehrdeutigkeit: Stefan Burger präsentiert Fotografien zum Thema Missverständnisse. ORTSZEIT New Delhi: Jenseits von exotischen Stereotypen Von Samar Grewal Herzliche Grüsse aus Brisbane Kurzgeschichte von Corinne Desarzens Stefan Burger 1977 in Müllheim/Baden (D) geboren. Studium der Fotografie an der ZHdK, Zürich. Mitbegründung und Mitarbeit in der Forschungsgruppe f. Lebt in Zürich. Aktuelle Ausstellungen/Projekte: Coalmine – Raum für Zeitgenössische Fotografie, Winterthur; Laura Bartlett Gallery, London; Sammlung, Migros Museum für Gegenwartskunst, Zürich; Shifting Identities – (Swiss) Art Now, Kunsthaus Zürich; Swiss Art Awards, Basel. www.stefanburger.ch Guadalupe Ruiz 1978 in Bogotá (Kolumbien) geboren. Studium der Fotografie an der ECAL Lausanne und der ZHdK Zürich. Lebt und arbeitet in Genf und Zürich. Seit 2002 Ausstellungen in der Schweiz und Kolumbien: u.a. Helmhaus Zürich, Centre de la Photographie Genf, Museum Liner Appenzell und Alliance Française Bogotá. 2004 und 2005: KieferHablitzel-Preis. Aktuelle Publikation: F:OTOTK www.lasilueta.com. Die im Schaufenster gezeigten Bilder entstanden in Kolumbien und sind visuelle Erinnerungen an die Schweiz. www.lupita.ch Aus der Pollo Serie Suiza hang (2007) in there (2007) Foto:Foto: LukasGuadalupe Wassmann Ruiz Heaven Can’t Wait (2007) Foto: Guadalupe Ruiz 5 Fotos v.l.n.r.: 6 XXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXXX Heaven Can't Wait (2007) Foto: Guadalupe Ruiz p r o h elvet i a aktuell Die schöne Nachbarin zu Besuch in der Schweiz La belle voisine – Kunstschaffende aus der Region Rhône-Alpes zu Gast in der Schweiz Mit Nachbarn wohnt man Tür an Tür, und trotzdem kennt man sich oft nicht. Die Schweiz hat mit ihrem Inseldasein in Europa ein besonderes Interesse, den Austausch mit den Nachbarländern zu pflegen. Deshalb fördert Pro Helvetia mit Programmen zeitgenössischer Kultur den Austausch mit den Grenzregionen. In Zusam menarbeit mit Veranstaltern hat sie so ein dichtes Netzwerk geschaffen. Im Rahmen des aktuellen Pro gramms La belle voisine en Suisse präsentieren Kulturschaffende aus Rhône-Alpes zusammen mit Schweizer Partnern von Januar bis Mai 2009 über 30 Projekte in der Schweiz. Zu ent decken sind neue Kreationen aus allen Sparten: Das Theâtre du Passage in Neuenburg lädt vier verschiedene Produktionen aus Rhône-Alpes ein, das Festival M4Music präsentiert in Zürich ein Fenster des Festivals nuits sonores aus Lyon, und das Architekturmuseum in Basel zeigt zusammen mit dem Schweizer Tanz im Tessin Foto: Caroline Minjolle Aktuelles Tanzschaffen in der italienischsprachigen Schweiz. Das Tessin bietet Ende Januar die Gelegenheit, während vier Tagen Reprä sentatives aus dem aktuellen Schweizer Tanzschaffen zu sehen. Im Rahmen der Zeitgenössischen Schweizer Tanztage treten vom 22. bis zum 25. Januar 2009 in verschiedenen Tessiner Städten sowie im Mesolcina- und Calancatal rund ein Dutzend Schweizer Tanzkom panien auf. Die von einer Jury ausge wählten Tanzgruppen – junge wie auch etablierte – haben hier die Möglichkeit, ihr Schaffen den eigens eingeladenen Maison de l’Architecture 30 Architekten aus Rhône-Alpes. Dies sind nur ein paar Glanzpunkte aus dem Rückspiel unserer französischen Nachbarn. Im letzten Frühjahr waren über 300 Schweizer Künstlerinnen und Künstler an 160 Veranstal tungen in der Region Rhône-Alpes zu Gast. Die hohe Qualität der Produk tionen lockte über 60’000 Besucher und Besucherinnen an. Neben zahl reichen Kulturschaffenden und über 60 Veranstaltern arbeiteten mehrere offizielle Partner am Programm mit: Die Region Rhône-Alpes, die Stadt Lyon, das Schweizer Generalkonsulat in Lyon, Präsenz Schweiz und als Projektverantwortliche Pro Helvetia. La belle voisine ist eines von mehreren Austauschprogrammen mit einer Grenzregion: Bereits im Jahr 2004 realisierte Pro Helvetia mit Genua verschiedene Kulturprojekte und von 2004–2007 mit der Region NordrheinWestfalen. 2009 ist die Zusammenarbeit mit Oberösterreich (Projekt Extra Europa) und anschliessend mit der Lombardei geplant. Informationen zum aktuellen Kulturprogramm Rhône-Alpes in der Schweiz unter: www.labellevoisine.ch Veranstaltern aus dem In- und Ausland zu präsentieren, Kontakte zu knüpfen und Auftrittsmöglichkeiten zu erhalten. Damit leistet diese Plattform einen wichtigen Beitrag zum nationalen und internationalen Austausch und zur Verbreitung des Schweizer Tanzes. Die diesjährigen Schweizer Tanztage werden von den Städten Chiasso, Lugano, Bellinzona, Locarno und Reso (Tanznetzwerk Schweiz) sowie vom Theater Verscio in Zusammenarbeit mit dem Stadttheater Chur organisiert. Informationen und Programm unter www.swissdancedays.ch 7 p r o h elveti a a kt uell Produktion Platz Mangel von Christoph Marthaler Die Schweizer Theaterszene blüht: Einen Überblick über das aktuelle, professionelle Thea terschaffen gibt die neue CD Swiss Theatre Selection 2008 der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. In Wort, Bild und Ton Shiva – der kosmische Tänzer Bronze des Shiva Nataraja, Tamil Nadu, 12. Jahrhundert, Museum Rietberg Zürich. Der tanzende Gott Shiva spielt eine zentrale Rolle im visuellen Repertoire des Hinduismus. Sein Tanz ist heftig, voller Leidenschaft und Magie: Als Schöpfer und Zerstörer, Spieler und Erlöser bestimmt er den Rhythmus des Lebens und der Zeit. Das Museum Rietberg in Zürich zeigt in seiner Ausstellung Shiva Nataraja – der kosmische Tänzer wunderbare Bronzen und monumentale Steinskulpturen aus der Chola-Zeit vom 9. bis 12. Jahrhundert. Der Fokus der Ausstellung ist auf das rituelle Handeln gerichtet: Eine eigens für die Ausstellung entwickelte Einführung mit der indischen Tänzerin Amrita Lahiri macht diesen Zusam menhang deutlich. In ihren Gesängen, Gesten und Geschichten weist sie auf die rituellen Bedeutungen der einzelnen Objekte hin. Die in die Ausstellung integrierte Bühne führt das Konzept 8 konsequent weiter: Die bekannte Bha ratnatyam-Tänzerin Malavika Sarukkai und die Musiker Bombay Jayashree und T.M. Krishna treten inmitten der versammelten Kunstwerke auf. Die Besucherinnen und Besucher erleben so, dass die gezeigten Bronzen und Skulpturen Teil einer umfassenden präsentiert sie Produktionen von rund 60 Theatergruppen und Institutionen, die in den letzten Jahren von Pro Helvetia gefördert wurden. Die CD gibt Einblicke in das Kinder-, Jugend- und Erwachsenen theater aus den verschiedenen Sprachregionen der Schweiz und richtet sich an Veranstalterinnen und Kulturvermittler aus dem In- und Ausland sowie die diplomatischen Vertretungen der Schweiz. Bereits in dritter Auflage ist die CD Swiss Dance Selection 2008 erhältlich. Sie präsentiert eine Auswahl freier Tanzkompanien und institutioneller Ensembles und vermittelt so ein bewegtes Bild der aufstrebenden Schweizer Tanz szene. Beide CDs können kostenlos bestellt werden unter www.prohelvetia.ch kulturellen Praxis sind. Diese ist mit allen Sinnen zu erfahren: Ein Katalog mit Beiträgen u.a. von Saskia Kersen boom führt in die Welt südindischer Mythen und Rituale ein, ein Dokumen tarfilm gibt Einblicke in die Technik des Bronzegusses, eine interaktive DVD erlaubt eine virtuelle Tempelbegehung sowie die Teilnahme an einer Prozession. Um das Ausstellungserlebnis zu vertiefen, bieten Museumspäda goginnen Workshops für Kinder und Erwachsene an. Die Ausstellung bringt Kunstwerke aus den führenden Museen Europas, Nordamerikas und Indiens nach Zürich. Die Leihverhandlungen mit Indien sowie die Auftritte der indischen Künstler im Rahmen der Ausstellung werden massgeblich von der Pro-Helvetia-Aussenstelle in New Delhi unterstützt. Die schweize risch-indische Partnerschaft, im Rahmen derer zahlreiche Ausstellungen indischer Kunst im Museum Rietberg realisiert wurden, blickt bereits auf eine 30-jährige Geschichte zurück. Die von Dr. Johannes Beltz kuratierte Ausstellung ist vom 16. November 2008 bis zum 1. März 2009 zu sehen. Informationen unter www.rietberg.ch Fotos: Dorothea Wimmer (oben), Rainer Wolfsberger (unten) Schweizer Theaterszene im Überblick r epo r tag e Elektronische Kunst zum Anfassen: Lichtskulptur von Christoph Hildebrand. Synthetic Times – Medienkunst im Reich der Mitte Synthetic Times, die gross angelegte Ausstellung zu elektronischer Kunst aus aller Welt, lockte diesen Sommer in Peking 60’000 Besucher an und sorgte für Aufsehen. Von den 44 Installationen stamm ten vier aus der Schweiz. Synthetic Times bot Gelegen heit zum Austausch unter Kulturschaffenden und eröff nete neue Blicke auf ein Land im kulturellen Aufbruch. Von Muriel Jarp (Text) und Lionel Derimais (Bilder) Vorsichtig hilft Lü Yuying seiner Frau auf den kleinen künstlichen Hügel vor dem Werk von Yves Netzhammer hinauf. Oben angekommen, betrachtet das ältere Pärchen die aus Wandmalereien und Videoprojektionen bestehende Installation des Schweizer Medienkünstlers. «Ich bin ein bisschen zu alt, um das verstehen zu können», entschuldigt sich der Siebzig jährige, selbst Kalligraf und immer be strebt, sich «auf dem Laufenden zu hal ten», wie er sagt. «Die elektronische Kunst ist Teil eines ganz normalen Prozesses. Die Bewahrung des Traditionellen ist zwar wichtig, aber die Kunst darf sich davon nicht in ihrer Weiterentwicklung bremsen lassen.» Diese Meinung teilen natürlich auch die Veranstalter von Synthetic Times, der riesigen Ausstellung digitaler Kunst, die in diesem Sommer in Peking für Auf sehen gesorgt hat. Bei der Vernissage am 9. Juni betonte Fan Di’an, der Direktor des Nationalen Kunstmuseums Chinas 9 r e p or tag e (NAMOC): «Das Zusammenkommen von Kunst und Technologie ist eine unaufhalt bare Entwicklung.» Vom imposanten Museum sind es nur wenige Schritte bis zur WangfujingStrasse, einer glitzernden Einkaufsmeile, an der sich Geschäfte bekannter Luxus marken und hippe Boutiquen aneinan derreihen. Doch auch das alte Peking ist nicht weit: Das Labyrinth der Hutongs, der engen Gassen aus der Zeit Dschingis Khans, beginnt direkt am Nordausgang des NAMOC. Das im stalinistischen Stil Aufbauarbeiten zur Multimedia-Installation des Künstlers Yves Netzhammer. 10 konzipierte Museum mit den Pagodendä chern ist eines von zehn grossen Bauwer ken, die zum zehnten Jahrestag der Grün dung der Volksrepublik China errichtet wurden – an der Fassade hat sich Mao per sönlich und handschriftlich verewigt. Ein halbes Jahrhundert später bildet die Aus senansicht des Gebäudes einen reizvollen Kontrast zu den ausgestellten Objekten. Schweizer Medienkunst gut vertreten Am 7. Juni, 48 Stunden vor der Er öffnung, laufen die Vorbereitungen für Synthetic Times – laut Kurator Zhang Ga «wahrscheinlich die grösste Ausstellung im Bereich der neuen Medien, die es je gab» – auf Hochtouren. 44 Werke von Künstlern aus aller Welt werden installiert, darunter nicht weniger als vier Schweizer Produk tionen: Mission Eternity des Künstlerkol lektivs etoy, The Subjectivisation of Repetition von Yves Netzhammer, Naked Bandit von Knowbotic Research sowie Newscocoons von Muriel Waldvogel und Jeffrey Huang. «Wir sind in der Tat sehr gut ver treten», freut sich Marianne Burki, Leite rin der Abteilung Visuelle Künste bei Pro Helvetia, einem der wichtigsten Partner der Ausstellung, «insbesondere wenn man berücksichtigt, dass die Schweiz 223-mal kleiner ist als der Gastgeber China.» «Wieso ich so viele Schweizer Beiträge ausgewählt habe?» Zhang Ga wundert sich über die Frage, als läge die Antwort doch auf der Hand: «Weil sie gut sind. Alle vier passen perfekt zur Thematik der Ausstel lung, sind sehr solide konzipiert und haben eine klare Aussage», führt der Kurator aus, während er Yves Netzhammers Installa tion einer Gruppe von chinesischen Jour nalisten präsentiert, die sich in ihren Be richten lobend über die «faszinierenden» Schweizer Kunstwerke äussern werden. Synthetic Times ist auch für die Schweiz ein wichtiger Meilenstein: «Die Ausstellung markiert den Beginn einer zweijährigen Kooperation mit China im Rahmen des Kulturprogramms ‹China 2008–2010›», erklärt Pius Knüsel, Direk tor von Pro Helvetia. Weitere Veranstal tungen sollen folgen, so unter anderem Switch On, ein Festival für elektronische Musik und visuelle Künste, das bereits im Dezember stattfindet. Der digitale Sarkophag Noch bevor der Besucher das NAMOC betritt, fällt sein Blick auf den seltsamen orangen Container des Zürcher Kollektivs etoy. Zwei seiner Mitglieder, Gabriela von Wyl und Silvan Zurbrügg – alias Agent Monorom und Agent Silvan –, beide eben falls in Orange, sind unter der sengenden Sonne mit letzten Vorbereitungen be schäftigt. Ihr Werk ist ein ultramoderner Sarkophag. Grabschmuck oder Statuetten sucht man allerdings vergeblich; es sind digitale Erinnerungen, für die sich die Künst ler interessieren. «Der Sarkophag ist eine Grabstätte für grosse Figuren der digitalen Ära, in der wir leben», erklärt Monorom und deutet auf einen kleinen grauen Würfel inmitten von 17’000 Leuchtdioden: «Das sind sterbliche Überreste des Cyberpro pheten Timothy Leary, vermischt mit Ze ment.» 32 Gramm der Asche des umstrit tenen amerikanischen Psychologen und LSD-Verfechters, die sich etoy nach zähen Verhandlungen sichern konnte. Auf dieselbe Weise werden in Zukunft weitere Persönlichkeiten verewigt werden, so zum Beispiel der Schweizer Mikrofilm pionier Sepp Keiser, der bereits einen «Mor tal Remains Contract» mit etoy abgeschlos sen hat. Der 86-jährige Zuger gab sofort sein Einverständnis. Das Projekt von etoy ist eine Reaktion darauf, dass niemand mehr Friedhofsbesuche macht, die Nach kommen oft im Ausland leben und viele Leute darüber nachdenken, wie sie ihren Abschied vom irdischen Dasein anders ge stalten können. Ein verwandtes Thema sind die digi talen Daten, die sich im Lauf eines Men schenlebens ansammeln: Welche sind er haltenswert, und wie können sie bewahrt werden? Eine sehr aktuelle Frage in China, wo Unmengen von SMS verschickt, Fotos geschossen und persönliche Blogs ge schrieben werden. «Wir werden hier sicher sehr spannende Erfahrungen sammeln», freut sich Agent Zai von etoy. «Die Chine sen sind sehr aufgeschlossen und begeis terungsfähig. Ich hätte eigentlich gedacht, dass sie sich nicht so bereitwillig auf Neues einlassen würden, aber das Gegenteil ist der Fall. In der Schweiz ist die Skepsis dies bezüglich viel grösser.» Die Organisation der Ausstellung be zeichnen die Künstler als «perfekt». «Das Schwierigste war die Logistik», sagt Zhang Ga. «Viele der Objekte sind sehr gross, und dann kommen sie auch noch alle gleich zeitig hier an. Das ist eine enorme Heraus forderung.» Neue Wege der Verständigung Hat man das NAMOC erst einmal be treten, wird einem endgültig schwindlig. Für Synthetic Times wurden der Eingangs bereich und die Böden vom holländischen Architekten Lars Spuybroek komplett neu gestaltet. «Ich war vor zwei Jahren schon einmal hier, aber ich erkannte das Museum kaum wieder», staunt Pius Knüsel. Die 44 Werke, aufgeteilt in vier Kategorien – Beyond Body, Recombinant Reality, Here «Auch wenn es schon einige andere Ausstellungen gab, beginnt das chinesische Publikum doch erst, sich dieser Art Kunst zu öffnen.» There and Everywhere und Emotive Digital – verblüffen und irritieren. «Das ist schon etwas anderes als die üblichen Bil der und Statuen», meint auch Li Ming, einer der zahlreichen Museumswärter, der mit einer Mischung aus Vergnügen und Erstaunen die interaktiven Objekte unter die Lupe nimmt. In einem schicken schwarzen Hemd beobachtet Yves Netzhammer die Arbeiten: «Wir haben nur vier Tage Zeit, um alles einzurichten – das ist knapp», bemerkt er und versucht erneut, seinen chinesischen Helfern etwas zu erklären, die diesem ul tratechnologischen Universum ziemlich ratlos gegenüberstehen. «Zwar gibt es hin und wieder Missverständnisse, aber das gehört dazu.» Eine «sehr interessante» Erfahrung für Netzhammer, der ohnehin «am liebsten über Zeichnungen und Bil der kommuniziert.» Für seine Installation hat er einen ganzen Raum zur Verfügung. Die Wände sind übersät mit schwarzen Schatten, Tie ren, menschlichen Gestalten, Monstern. Was zunächst unschuldig wirkt, erweist sich auf den zweiten Blick als «verstö rend», wie Marianne Burki findet. «Grau samkeit und Bösartigkeit sind für mich wichtige Themen», bestätigt der Künstler, «und die digitale Kunst ermöglicht mir, mich auszudrücken, ohne in Kitsch zu verfallen.» «Ein tiefgründiges und geheim nisvolles Werk», findet Zhang Ga. «Dem Künstler ist es gelungen, mit computerge nerierten Bildern äusserst komplexe Emo tionen auszudrücken.» Nach seiner Rückkehr in die Schweiz wird Netzhammer konstatieren, dass ihn «die Freundlichkeit der Chinesen sehr be rührt» hat. Insbesondere lobt er seine lo kalen Helfer: «Wir fanden einen Weg, um miteinander zu kommunizieren und uns gegenseitig ein bisschen besser zu verste hen. Es war einfach genial!» Unabhängig davon, ob sie die präsen tierten Werke verstehen oder nicht, lassen sich zahlreiche Besucher jeden Alters von der Ausstellung in den Bann ziehen. «Für die Kinder ist es hier viel spannender als in einem traditionellen Museum», erklärt ein Vater in Begleitung seines Sohnes und seiner Neffen. Der kleine Chenbin drückt gerade Gesicht und Hände gegen die Milch glasscheibe der Installation Touch Me des holländischen Kollektivs Blendid. David Koussemaker, einer der beteiligten Künst ler, freut sich über den Mut des Jungen: «Es ist toll, dass hier so viele Besucher mitma chen. Die Abdrücke auf der Scheibe werden in einer Datenbank gespeichert, und ich bin schon gespannt darauf, die Ergebnisse mit jenen aus anderen Städten zu vergleichen.» Natürlich blieben die Künstler von kleineren sprachlichen und kulturellen Problemen nicht verschont. «Oft konnte ich den lokalen Helfern nicht klarmachen, was ich von ihnen wollte. Wenn ich etwas brauchte, musste ich es selbst besorgen», erzählt Yannick Fournier, Ingenieur an der ETH Lausanne, der Knowbotic Research bei ihrem Projekt unterstützte. etoy leistete sich gar einen veritablen Fauxpas: «Ohne böse Absicht erschreckten wir die Besucher, als wir Spielgeld zum Verbrennen für die Toten verteilten», erklärt Agent Silvan. Zwar ist es in China Tradition, am Grab eines Verstorbenen falsche Geldscheine zu ver brennen – einem Lebenden aber bringt dieses Geschenk Unglück! Obwohl einige der Schweizer Mitwir kenden Bedenken hatten, in einem Land mit einem autoritären Regime auszustel len, war die Neugier am Ende doch stär ker. «Wir haben diese Frage diskutiert, wollten uns aber schliesslich selbst ein Bild machen», erläutert Yvonne Wilhelm von Knowbotic Research, und Marianne Burki fügt an: «Wie soll man begreifen kön nen, was in China vor sich geht, wenn man zu Hause in der Schweiz bleibt?» Gerade für Künstler sei eine Reise nach China sehr bereichernd: «Es gibt hier sehr interessante Arbeiten, von denen man bei uns noch nie etwas gehört hat, während die Chinesen ihrerseits über die Kunst und die Kunst geschichte des Westens sehr gut Bescheid wissen.» 11 r e p or tag e Newscocoons – Reflexion über Medien «Nicht berühren!» ruft die für Naked Bandit zuständige Aufseherin. Die Instal lation von Knowbotic Research, bestehend aus einem kleinen Zeppelin und läng lichen, mit Helium gefüllten Ballons, ani miert immer wieder Eltern und Kinder dazu, sich mit den Ballons wilde Schlach ten zu liefern. Ob die Botschaft des Werks – eine Reflexion über Herren und Sklaven – bei ihnen ankommt, ist eher zweifelhaft, «obwohl wir einige kulturelle Anpassungen vorgenommen haben», wie Yvonne Wil helm betont. «Auch wenn es schon einige andere Ausstellungen gab, beginnt das chinesi sche Publikum doch erst, sich dieser Art Kunst zu öffnen», kommentiert Zhang Ga. «Im Vorfeld hiess es, die Ausstellung würde bei den chinesischen Besuchern vielleicht auf Unverständnis stossen», sagt Muriel Waldvogel, die zusammen mit Jeffrey Hu ang die Produktion Newscocoons präsen tiert, «aber meines Erachtens war das überhaupt nicht der Fall.» Die Lausanner Architekten zeigen eine Reflexion über Me dien und Nachrichten – ein heikles Thema in China, wo einerseits die Pressefreiheit noch keine Realität ist, andererseits aber die Internauten mit Augenzeugenberich ten und Videos ihre eigenen Nachrichten verbreiten. Waldvogel und Huang haben grosse, mit Luft gefüllte Stoffkokons aufgestellt. An jedem der Kokons ist ein kleiner Bildschirm angebracht, über den zufällig ausgewählte Nachrichtenbilder flimmern. Je nach Inhalt der Meldung ver ändert der Kokon seine Farbe – grün für den Euro, grau für das Erdbeben in Si chuan. «Wir wollten damit illustrieren, dass die Nachrichten so etwas wie lebende Wesen geworden sind, die in jeden Bereich unseres Lebens eindringen», erklärt Hu ang. Die Installation wirkt keineswegs be drückend, sondern verströmt, findet Zhang Ga, mit ihren an Wolken oder Seidenballen erinnernden Kokons sogar einen gewissen «poetischen Zauber». Ein wenig benommen von all den Eindrücken, wird man draussen von der feuchten Hitze Pekings empfangen. «Jetzt kann dein General nicht mehr entkom men!» Auf dem Gehsteig sind vier ältere Männer in eine Partie Xiangqi – das chi nesische Schach – vertieft. Ob sie wissen, dass direkt hinter ihnen eine avantgardi stische Ausstellung läuft? «Ach, in un 12 serem Alter versteht man davon nicht viel», lächelt einer der Rentner und wen det sich wieder dem Spiel zu. Kulturprogramm «China 2008-2010»: www.prohelvetia.ch/china0810 Chinesische Version: www.prohelvetia.cn Muriel Jarp lehrte nach Abschluss ihres Sinologie- und Japanologiestudiums drei Jahre lang an der Abteilung für chinesische Studien der Universität Genf, bevor sie sich dem Journalismus zuwandte. 2007 gründete sie zusammen mit Florence Perret die Presseagen tur Papiers de Chine (www.papiersdechine.ch). Zurzeit ist sie in Peking als Korrespondentin für verschiedene Schweizer Zeitungen tätig. Lionel Derimais arbeitet seit fast dreissig Jahren als Fotograf. Er hat am International Center of Photography (ICP) in New York und anschliessend in London Fotografie studiert und war als Korrespondent für die französische Presse tätig. Nach Stationen in Tokyo, Brüssel und Paris lebt und arbeitet er heute in Peking, wo er sich auf Gemein schaften und Menschen, die sie ausmachen, spezialisiert hat. www.digitalrailroad.net/lionelderimais Die Gruppe etoy mit ihrem Projekt Mission Eternity k ulturpul s Wie lässt sich Kultur bewerten? Tun wir die richtigen Dinge? Und wenn ja, tun wir sie richtig? Das sind Fragen, die sich auch in der Kultur stellen. Illustration: Sarah Parsons Von Hedy Graber Kulturförderung heisst Engagement für Projekte, die sich nicht nur nach be triebswirtschaftlichen Grundsätzen beur teilen lassen, im Gegenteil: Kultur und de ren Bewertung hat viel mit Subjektivität und Vielfalt zu tun. Nicht einfach also, Kri terien zu finden, um die Wirkung von Kul turprojekten zu bewerten. Gerade deshalb ist Evaluation in der Kultur spannend. Kulturevaluation ist keine magische Zauberformel, die hilft, Löcher in den Bud gets von Kulturprojekten zu stopfen. Sie ist auch kein Allerweltsmittel gegen Kon flikte in Kulturinstitutionen und schon gar nicht L’art pour l’art. Evaluation als in tegraler Bestandteil von Kultur und Kul turpolitik kann kein Instrument sein, das die Kontroll- und Disziplinierungsfunk tion in den Vordergrund rückt. Vielmehr ist den kultureigenen Mechanismen Rech nung zu tragen. Evaluationen im Kulturbereich boo men. Die Kulturpolitik wünscht sich klare Messkriterien und Wirkungsanalysen, wohl in der Hoffnung, dann in der Lage zu sein, Investitionen in die Kultur zu legitimieren. Dies entbehrt nicht einer gewissen Brisanz: Kulturelle Projekte und Programme lassen sich nur evaluieren, wenn ihre Ziele klar de finiert sind. Kultur lässt sich sehr wohl evaluie ren – wenn auch nicht mit den gängigen Messkriterien allein. Es braucht eine dif ferenzierte Herangehensweise, die den Regeln und Gesetzmässigkeiten im Kul turbereich Rechnung trägt. Betriebswirt schaftliche Kosten-Nutzen-Rechnungen und Indikatoren für die Beurteilung von Qualität und Zielerreichung müssen sich die Waage halten. Welche Kriterien zur Bewertung von Kultur brauchen wir? Wie definiert sich die Qualität oder Wirkung eines Kulturpro jekts? Und wie definiert sich dessen Ziel? Veranschaulicht am Beispiel einer unter stützten CD-Produktion, sind folgende In dikatoren denkbar: Wie viele CDs wurden verkauft? Wieso war die Produktion ein Verkaufserfolg? (Wieso nicht?) Wie viele Artikel weist das Medien-Clipping aus? Wie viele der Medienschaffenden äussern sich positiv? Hat der Interpret in der Folge weitere wichtige Engagements erhalten? Hat die Unterstützung der CD-Produk tion weitere Fördermittel für diesen Inter preten erschlossen? Es ist interessant, möglichst viele an einem Projekt beteiligte Akteure und ihre unterschiedlichen Interessen von Anfang an zu involvieren. Diskussionen schärfen die Sensibilität für die Komplexität von Prozessen und fördern ergebnisorien tiertes Denken. Dieser Dialog ist während des ganzen Evaluationsprozesses wichtig. Evaluation als Lernprozess innerhalb eines Teams motiviert. Evaluation dient dazu, in einer 360°Schau alle Aspekte eines Projekts sichtbar zu machen, Gelungenes und Misslungenes objektiv zu beurteilen und mit Blick in die Zukunft wenn nötig neu auszurichten. Wer evaluiert, bewegt sich im Spannungsfeld von Transparenz, Kontrolle und Verände rung – das ist mitunter brisant. Denn das Ergebnis einer Evaluation kann durchaus sein, ein Projekt nicht weiterzuführen. Evaluation muss nützlich sein, und ihr Auf wand muss in einem vertretbaren Rahmen liegen. Nicht alles soll ständig evaluiert werden. Kleine Schritte sind oft klüger als gross angelegte Übungen. Das Migros-Kulturprozent und Pro Helvetia haben gemeinsam einen Leitfaden entwickelt, der nicht eine flächendeckende «Evaluitis» proklamiert, sondern konkret sagt, wann, warum, was, wie evaluiert werden soll. Praktische Beispiele und Er fahrungen dienen dabei als Anschauungs material. Dabei soll nicht vergessen ge hen: Evaluationen helfen den Erfolg von kulturellen Projekten zu beurteilen. Sie sind jedoch nur wirkungsvoll, wenn die gewonnenen Erkenntnisse auch tatsäch lich in die Praxis umgesetzt werden. Hedy Graber ist in Luzern und Genf aufgewachsen und hat an der Universität Genf Kunstgeschichte, Germanistik und Fotografie studiert. Von 1990–96 war sie Kuratorin und Geschäftsführerin der Kunsthalle Palazzo, Liestal, danach Direktorin der Abteilung für moderne Kunst bei der Galerie Fischer Auktionen, Luzern, und ab 1998 Beauftragte für Kulturprojekte in Basel-Stadt. Seit 2004 ist sie Leiterin der Direktion Kultur und Soziales beim Migros-Genossenschafts-Bund in Zürich. Der Leitfaden Evaluieren in der Kultur kann ab 14. November unter [email protected] kostenlos bestellt oder unter www.prohelvetia.ch heruntergeladen werden. «Kulturelle Projekte und Pro gramme lassen sich nur evaluieren, wenn ihre Ziele klar definiert sind.» 13 Abstraktion und Blattmimese II (2007) Missverständnisse 15 Das Recht aufs Missve nisse sind die unumg und Grundierung des V wir gar nicht genau, wa wollen. Dann führt uns ständnis zum Verstän M issverstehen ist so alltäglich, dass Soziologie und Sprachwissen schaft es bisher nicht für nötig befunden haben, sich ernsthaft damit zu befassen. Bis auf ein paar verstreute Titel findet sich jedenfalls kaum Literatur. Am ehesten hat sich die Kommunikationsthe orie der Missverständnisse angenommen, aber auch nur aus der Ratgeberperspektive: Wie kann man diese lästigen Hindernisse erfolgreicher Kommunikation vermeiden? Reden Sie knapp und klar! Vermeiden Sie versteckte Botschaften, Ironie, Anspielun gen! Wiederholen Sie die Kernbotschaften! Überprüfen Sie, was das Gegenüber verstan den hat! Etwa so klingt es dann – Missver ständnisse als Verlustfaktoren in einer auf Effizienz getrimmten Welt. Mich schaudert. Aus der Psychologie weiss man, dass die wenigsten, wenn sie reden, wissen, was sie meinen. Eine Kom munikationstheorie, die sich am Ein bahnmodell orientiert – ich sende, du empfängst – , greift deshalb zu kurz. Be deutung, also Verständnis, ist immer eine gemeinsame Angelegenheit: Ich sende, du interpretierst und handelst entsprechend, ich schliesse daraus, was du verstanden hast und was ich allenfalls gesendet habe – so entsteht Bedeu tung als gemeinsame Konstruktion, aber noch lange nicht als gemeinsamer Wert. Denn verstehen heisst noch lange nicht ein verstanden sein. Wer das gleichsetzen will, muss schon über Macht verfügen… Der Traum vom interkulturellen Dialog So vertrackt es also um das Verstehen beschaffen ist, das Miss verständnis, dass es genüge, miteinander zu reden, um die Welt zu verbessern, dass der interkulturelle Dialog der goldene Weg zur Völkerverständigung sei, hält die Kulturpolitik im Griff. Deshalb hat die Europäische Union 2008 zum Jahr des interkulturellen Dialogs ausgerufen. Sie verfolgt dabei hehre Ziele wie «Sensibili sierung aller in der EU lebenden Menschen für die Bedeutung des aktiven interkulturellen Dialogs in ihrem Alltag», «Förderung des Dialogs zwischen Kulturen, um einerseits die Gemeinsamkeiten (Werte, Lebensarten, Kulturerbe) und andererseits die Bedeutung der Koexistenz verschiedener kultureller Identitäten zu verdeut lichen», «Förderung interkultureller Kompetenzen, um sich in einer von Diversität, Pluralismus, Solidarität und Dynamik ge prägten Gesellschaft besser zu entfalten und umgekehrt zu deren Entwicklung beizutragen», und ähnliche mehr. Von da war es ein kleiner Schritt, das Novembertreffen der europäischen Tanz- und Theaterveranstalter in Zürich, welches Pro Helvetia gemeinsam mit Stadt und Kanton Zürich sowie dem International Network for Contemporary Performing Arts aus Brüssel veranstaltet, in die EU-Thematik einzuklinken. Immerhin unterhielt die Stiftung von 2004 bis 2007 einen Schwerpunkt «Interkultureller Dialog». Zum Treffen (siehe www. ietmzurich.ch) gehört auch ein Kongress. Die Diskussionen um eine präzisere Fassung des Überthemas machten alsbald klar: Niemand weiss genau, was die Ziele der EU bedeuten. Wie können 16 Ein Plädoyer des Direktors von Pro Helvetia wir fördern, was unseren Alltag längst durchdrungen hat? Sind wir nicht längst kompetente Wellenreiter in vielen Kulturen, ge übt in der japanischen Küche, in der türkischen Musik, im chine sischen Film? Worüber reden wir, wenn wir über kulturelle Gren zen hinweg reden? Müssen wir alle ein bisschen finnischer, spanischer, schweizerischer, ein bisschen von allem werden? Oder verteidigen wir besser unsere wie immer abgegrenzten kul turellen Identitäten – auch um den Preis von Provokation und Aggression? Gibt es überhaupt eine Möglichkeit, dass wir uns über Kulturgrenzen hinweg verstehen? Verstehen ist essenziell an kulturelle Faktoren gebunden, sodass, mit Pierre Bourdieu, nur wer selber versteht, verstanden werden kann. Was aber, wenn die Voraussetzungen des Verste hens maximal auseinander gehen? Wenn 12 Karikaturen zu Mo hammed in den dänischen Jyllands-Posten Botschaften in Brand setzen? Wenn Bilder aus Abu Ghuraib in Verbindung mit dem Schweizer Wappen das Schweizer Parlament in Rage bringen? Wenn die olympischen Sommerspiele 2008 das olympische Ko mitee in mächtige Verlegenheit bringen? Ist der Traum vom inter kulturellen Dialog vielleicht selbst ein Missverständnis? Damit waren Thema des Zürcher IETM-Treffens und der Kontrapunkt zur offiziellen europäischen Kulturphilosophie gesetzt. Fortschritt des Missverstehens in Europa 1997 wurde der Philosoph und Soziologe Pierre Bourdieu mit dem Ernst-Bloch-Preis ausgezeichnet. Ulrich Beck, Soziologe in München, widmete die Laudatio dem Missverstehen. Er diagnos tizierte einen Fortschritt des Missverstehens in Europa und in der Welt. Die europäische Verständigung misst er an der Zunahme der Missverständnisse, ähnlich die Globalisierung, deren Verwirk lichung sich in einer Flut von Missverständnissen manifestiert, welche von den Kulturpolitikern gerne als Vorwand zur Förde rung jenes Dialogs genommen werden, der sie hervorbringt. Da bei gibt es, so Beck, keine Möglichkeit, diese Missverständnisse e rstehen. Missverständ gängliche Begleitung Verstehens. Oft wissen was wir eigentlich sagen der Weg übers Missver ändnis unserer selbst. für ein Recht aufs Missverstehen. Von Pius Knüsel auszuräumen. Wo ein Franzose, ein Schweizer, ein Brite, ein Russe und ein Chinese sich über den Begriff des Bürgers, den Citoyen, das Konzept der Citizenship oder der Burgermaatschappij unterhalten, werden sie sich nie einig, aber nicht aus bösem Wil len, sondern weil die kulturhistorischen Voraussetzungen denkbar unterschiedlich sind und wegen ihrer tiefen Verwurzelung nicht einmal in den Blick geraten. Genauso mit der Globalisierung. Jeder Brite muss sich als Sieger fühlen, die englisch sprechende Globalisierung ist schliesslich eine süsse Erinnerung an das Empire. Umgekehrt sind Länder wie Deutschland, Frankreich, Schweiz Gefangene ihrer Sozialstaatlichkeit – ihre Wirtschaften profitieren zwar von der Globalisierung, ihre Institutionen aber ächzen unter den mobilen Lasten. So hängen Glanz und Kraft eines jeden Begriffs von der Geschichte einer Nation, von ihrer kulturellen Strukturierung ab. Wir können es am Beispiel der Freiheit prüfen: Für die Schweizer bedeutet Freiheit historisch Rückzug, für die grossen Nachbarvölker hingegen Ausdehnung: Unfreiheit haben sie überwunden durch Zusammenschluss. Gibt es Möglichkeiten, diesen Graben weg zu dialogisieren? Nur über geschichtliche Gewissheit, lebbar über Generationen. Der Raum der Unschärfe Missverständnisse als Zeichen des Fortschritts, immerhin. Wo wir uns missverstehen, sind wir doch im Gespräch und haben die Festreden und das Anschweigen ein Ende. Dann ruhen, das ist ein Argument, die Schwerter. Es erstaunt nicht, dass der Schweizer Schriftsteller Etienne Barilier in seinem Aufsatz Glückliches Babel (siehe S. 18) das Missverständnis als konstitutives Merkmal der mehrsprachigen Schweiz darstellt. Mehrsprachigkeit, sagt er, ist Multikulturalität, und sosehr wir eine andere als die Mutter sprache zu beherrschen glauben, so sehr wissen wir doch, dass das Missverständnis die Mutter des Verstehens ist. Andersrum: Wir bewegen uns in einem sozialen Raum der Unschärfe. Wir reden und verhandeln, aber wir haben nie Gewissheit, den Mit bürger aus der anderen Kultur wirklich verstanden zu haben. Wir reden vom Sel ben. Aber wir meinen Unterschiedliches. Die Volksabstimmungen bringen es ans Licht, indem sie alles auf Ja und Nein ver kürzen. Zum Glück bietet der Föderalis mus zuletzt den Spielraum, die Differenz zu leben. Man könnte ihn darum die kul turelle Relativitätstheorie nennen. Missverständnisse sind Zeichen von Vielfalt, von kulturellem Reichtum. Wird der Röstigraben einmal zugeschüttet, wird die Schweiz in vielerlei Hinsicht verarmen. Wie der Kulturhistoriker Jacob Burkhardt es im Blick auf Europa vor mehr als einem Jahrhundert schon formulierte: Wer wün schte sich denn einen Kontinent, in dem die Besonderheiten der Literaturen und der Kulturen dem Komfort durchgehender Nachtzüge geopfert werden? In dem der weltläufige Universalismus der kritischen Aufklärung herrscht? Der Satz funktio niert prächtig, wenn man Kontinent durch Schweiz ersetzt… Der Kristallisationspunkt der Kultur Als Kulturmensch plädiere ich deshalb für das Recht aufs Missverstehen. Das Missverständnis ist eine enorme soziale wie kulturelle Produktivkraft. Es verfügt über einen direkten Draht zur Phantasie. Künstler wissen das am besten. Sie spielen mit der Unschärfe der Bedeutung, der Vieldeutigkeit, in der Verstehen und Missverstehen untrennbar zusammen gehen. Sie erfahren in der Regel erst dann, wenn das Kunstwerk in den gesellschaftlichen Raum eindringt und dadurch Kultur wird, welche Botschaft sie aussenden. Diese ist ein soziales Produkt, das sich mit der Zeit verändert. Kunst ist jenes grosse Feld, in dem wir Verstehen in Ruhe üben, weil Nichtverstehen und Missverstehen keine blutigen Konsequenzen haben. Deshalb ist Kunst für die Gesellschaft so wichtig. Und eignen sich Kunstwerke so gut für den Austausch. Sie sind die Kristalle, in denen die Kulturen sich brechen. In ihnen verwirklicht sich das Recht aufs Missverstehen! Hier aber muss die Diskussion ein Ende finden. Denn das Recht aufs Missverstehen könnte sich seinerseits als Missver ständnis entpuppen, wenn es mit dem Anspruch auf Unverbind lichkeit gleichgesetzt wird. So ist es nicht gemeint. Wenn schon: Verstehen ist ein Spiel mit Licht und Schatten. Es verlangt Sorg falt, Geduld, Grosszügigkeit. Wer’s nicht aushält, auf den wartet am Ausgang aller Missverständnisse nicht der Himmel – dort lauert vielmehr die Hölle der Eindeutigkeit. Pius Knüsel ist Direktor der Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia. Er war von 1985 bis 1992 Kulturredaktor beim Schweizer Fernsehen, anschliessend Musikveranstalter und von 1998 bis 2002 Sponsoringchef bei der Credit Suisse. 17 E uropa glaubt gerne, dass die Schweiz ein Land der aktiven und blühenden Mehrsprachigkeit ist und dass alle ihre Einwohner sämtliche Landessprachen beherrschen. Und vielleicht sagt sich Europa auch, dass die Schweiz in dieser Hinsicht ein Vorbild ist, von dem man sich einiges abschauen könnte. Denn ist es nicht das Geheimnis des Zusammenhalts der Eidgenossen schaft, dass ihre Bürger in der Lage sind, die internen Sprachbar rieren zu überwinden? Und ist es nicht auch diese Fähigkeit, die von den Bürgern Europas verlangt wird, wenn sie ein echtes Zu sammengehörigkeitsgefühl entwickeln wollen? Allerdings gilt es in Bezug auf die helvetische Mehrsprachig keit einiges klarzustellen. Es stimmt zwar, dass in der Schweiz vier Sprachen gesprochen werden; aber der einzelne Schweizer verwen det oft nur eine davon, und auch die nicht immer besonders gut. Das liegt nicht an fehlenden Fremdsprachenkenntnissen. Die Blo ckade ist emotionaler Natur, die Ignoranz freiwillig gewählt: Der Westschweizer weigert sich, die Sprache der Deutschschweiz zu sprechen, die das Idiom der Mehrheit und damit potenziell bedroh lich ist; und der Deutschschweizer ist zwar grundsätzlich bereit, Französisch zu sprechen, antwortet dem Romand, der glaubt, ihm mit drei gestammelten Wörtern in der Sprache Goethes eine Freude zu machen, aber nur höchst widerwillig auf Hochdeutsch. Einen Deutschschweizer auf Hochdeutsch anzusprechen, ist etwa das selbe, wie mit ihm zu reden, ohne ihn dabei anzuschauen. Die freiwillige Ignoranz und die dadurch entstehenden Ver ständigungsprobleme sind in gewisser Weise wichtige Grundpfei ler der Schweiz. Man darf nicht vergessen, dass die Eidgenossen schaft das Ergebnis einer Vereinigung unabhängiger Stände ist, die sich nur zusammengeschlossen haben, um das bleiben zu können, was sie sind. Anders gesagt ist die Eidgenossenschaft ein Pakt, der jedem seiner Vertragspartner das Recht und das Privileg garantiert, sich von den anderen zu unterscheiden; das Recht und das Privileg, sich dem anderen nicht anzupassen, ihn nicht zu ver stehen und von ihm nicht verstanden zu werden. Was alle Schwei zer verbindet, ist ihr gemeinsames Recht, sich gegenseitig den Rücken zuzudrehen. Der Schweizer Staat existiert trotz, ja in ge wissem Masse sogar dank der gegenseitigen Taubheit zwischen den verschiedenen Bevölkerungsgruppen – und das gilt nicht nur für den Staat, sondern auch für die Nation. Schliesslich ist es ja nicht so, dass den Schweizern jegliches Gefühl nationaler Zugehörigkeit und jeglicher Patriotismus fremd wären, das hat die Fussballeuro pameisterschaft eindrücklich bewiesen. Patriotismus geht über Wörter und Sprache hinaus, er manifestiert sich manchmal auch in Gesängen oder in einem Jubelschrei. Patriotismus ist prälinguis tisch oder translinguistisch, je nach Betrachtungsweise. Natürlich ist der Schweizer Patriotismus gemässigt und zurückhaltend, so wie alle Schweizer Emotionen, aber er existiert. Politische Debatten im Nebel Apropos Zurückhaltung: Möglicherweise besteht ein sub tiler Zusammenhang zwischen dieser schweizerischen Tugend und der Scheu der Schweizer vor den anderen Landessprachen. Die bewusste Unwissenheit über den anderen – und das meine ich durchaus ernst – wirkt sich positiv auf die Politik des pragma tischen Kompromisses aus, eine Kunst, die die Schweizer meisterhaft beherrschen. Die Debatten der Parlamentarier in Bern sind stets in einen leichten Nebel gehüllt. Man wird vorsichtig und höflich, wenn man es mit einer Fremdsprache zu tun be kommt und das Gesagte nur ungefähr versteht. Man protestiert 18 Glückliches gelobte Mehrsprach ist ein Missverstän schen den versch regionen herrscht willig gewählte Ign Grundpfeiler der E und die Voraus dass sich die Schwe hen. Eine Analyse Babel und ein App pflege in Von Etienne mit weniger Elan und stimmt mit weniger Überzeugung zu. Am Ende nimmt man eine Position in der Mitte ein, zwischen der Angst, einen Vorteil zu verlieren, und der Furcht, einen Nachteil zu übersehen, und schliesst mit seinem fremdsprachigen Gegen über ein – im wahrsten Sinne des Wortes – stillschweigendes Ab kommen. Den Schweizer Parlamentariern geht es ein wenig wie den Protagonisten des berühmten Gefangenendilemmas, das in der Wirtschaftstheorie gerne zitiert wird: Da keiner der Häftlinge weiss, was der andere tun wird, ist die Kooperation für beide das kleinere Übel. Babel. Die viel higkeit der Schweiz ndnis. Denn zwi hiedenen Sprach Taubheit, eine frei noranz. Sie ist ein Eidgenossenschaft s setzung dafür, weizer so gut verste e des helvetischen pell zur Sprachenn Europa. Barilier Wenn man die parlamentarischen Debatten in der Schweiz zum Beispiel mit jenen in der französischen Nationalversamm lung vergleicht, wird sofort klar, worin der Vorteil liegt, Schwei zer zu sein. Die französischen Abgeordneten können sich mühe los miteinander verständigen, was schreckliche Folgen hat: Sie gehen mit offenem Visier aufeinander los und sind sich immer bewusst, dass jedes ihrer Voten in all seinen inhaltlichen und stilistischen Feinheiten verstanden und sowohl lautstarke Zu stimmung ihrer Mitstreiter als auch scharfe Ablehnung ihrer Gegner auslösen wird. Ihre Positionen sind eindeutig und absolut unmissverständlich und somit auch unvereinbar. Das franzö sische Parlament ist zum ewigen Disput, das schweizerische zum ewigen Ringen um gegenseitiges Verständnis verdammt. Auch in seiner Muttersprache ist der Schweizer Redner meistens weniger gewandt und präzise als sein französischer, deutscher oder italie nischer Kollege – als ob er wüsste, dass Präzisierungen sinnlos sind, da sie bei seinen fremdsprachigen Zuhörern ohnehin nicht ankommen, dass sprachliche Nuancen nichts zu gütlichen Ei nigungen und pragmatischen Lösungen beitragen und dass es besser ist, sich auf der sprachlichen Ebene nicht allzu gut zu ver stehen, um gut miteinander auszukommen. «Wir verstehen uns gut, weil wir einander nicht verstehen», sagen die Schweizer gerne im Scherz. Doch in dieser Aussage steckt mehr als nur ein Körnchen Wahrheit. Es steht dem Leser dieses Textes frei, ihn als humoristische Glosse zu interpretieren. Ich glaube aber durchaus, dass das Bei spiel der Schweiz klar beweist, dass ein Staat und auch eine Na tion mehrsprachig sein kann, ohne dass alle seine Bürger mehr sprachig sein müssen. Wenn aber die Qualität der sprachlichen Verständigung zwischen den Bürgern keine zwingende Voraus setzung für die Existenz von Staaten oder sogar Nationen ist, könnte man daraus schliessen, dass sie für ein Gebilde wie Europa noch weniger Bedeutung hat. Schliesslich hat sich Europa, was auch immer man sich genau darunter vorstellt, nie als Nation verstanden und beschränkt sich, was Patriotismus angeht, auf Verfassungspatriotismus. Inwiefern sollte also die aktive Mehr sprachigkeit für das europäische Zusammengehörigkeitsgefühl und das Wohlergehen des politischen Europas notwendig sein? Vielleicht erwachsen dem europäischen Parlament, dessen Mit glieder sich, ähnlich wie ihre Kollegen in Bern, stets in einem leichten sprachlichen Nebel bewegen, aus diesem Umstand ja so gar die gleichen Vorteile wie seinem helvetischen Pendant, und es macht sich auch in Europa ein alles erleichternder Hang zu Kompromissen breit… Europa als Idee Doch halt: Es stimmt schon, dass ein mehrsprachiger Staat oder eine mehrsprachige Nation auch dann existieren kann, wenn sich die Bürger kaum aus ihrem sprachlichen Schnecken haus hinauswagen, aber ebenso wahr ist es auch, dass Europa, zumindest in meinen Augen, nicht wirklich existieren kann, wenn die verschiedenen europäischen Länder keine Kenntnisse der Sprachen ihrer Nachbarländer besitzen (und die Pflege ihrer eigenen Sprache vernachlässigen, was oft damit einhergeht). Kurz gesagt: Wenn sich die Bürger Europas zur gegenseitigen Verständigung mit Basic English zufriedengeben, hat Europa seine raison d’être verloren – und ich meine damit nicht nur das kulturelle Europa, sondern Europa als Ganzes und Europa an sich. Weshalb? Eben weil Europa weder eine Nation noch ein Staat ist. Eine gewisse Geringschätzung anderer Sprachen, die für eine Nation oder einen Staat keine Gefahr darstellt, kann sich auf euro päischer Ebene verheerend auswirken. Europa kann seinen Zu sammenhalt nicht auf dem kollektiven Bewusstsein abstützen, das einer Nation als Kitt dient. Europa, es sei noch einmal betont, ist keine Nation und wird nie eine sein. Europa ist mehr als ein Amalgam von Einzelinteressen, Europa ist eine Idee – und genau das ist zugleich seine Stärke und seine Schwäche. Was der euro päischen Idee Kraft gibt und geben wird, was sie aufrecht hält und halten wird, sind weder die Artikel einer Verfassung noch 19 Aber wie sieht das Pflegen der Sprachenvielfalt in der Praxis patriotische Gesänge, sondern das Teilen einer gemeinsamen Vision (eigentlich sollte und möchte ich sagen,einer gemein aus? Es wäre utopisch, von den Europäern zu verlangen, dass sie samen Liebe) für die menschliche Person, Freiheit, Würde und alle schon in jungen Jahren damit beginnen, sämtliche europä Perfektibilität. ischen Sprachen zu erlernen. Es geht nicht darum, Sprachgenies Doch inwiefern macht es diese gemeinsame Vision oder Liebe heranzuzüchten. Ziel müsste es vielmehr sein, dass alle europä erforderlich, dass sich die Europäer ihrer Sprachenvielfalt bewusst ischen Länder der Verwendung von Basic English eine klare Ab sind und entsprechende Kenntnisse besitzen? Nun, zum Wohl des sage erteilen und sich stattdessen verstärkt um die liebevolle Menschen und seiner Freiheit, Würde und Perfektibilität müssen Pflege ihrer eigenen Sprache kümmern, ohne dabei zu vergessen, Fähigkeiten gehegt und gepflegt werden, die untrennbar mit der so oft wie möglich einen vergleichenden Blick auf die anderen Sprachkultur und der Liebe zur Sprache verbunden sind: Krea- Sprachen Europas zu werfen. Daran ist nichts Widersprüchliches – tivität und Sinn für Nuancen, Vielfalt und denn, ich möchte es an dieser Stelle noch einmal Qualität. Mit Sprache meine ich natürlich Die Vielfalt der betonen, je mehr man seine eigene Sprache liebt nicht die mehr oder weniger technische, nüch Sprachen ist die und je besser man sie kennt, desto empfänglicher terne und standardisierte Form der Kommuni zwingende ist man für die Geheimnisse und den Reichtum kation, wie sie im Rahmen von wirtschaftlichen Voraussetzung einer anderen Sprache. d a f ü r, d a s s au s Mit «alle europäischen Länder» meine ich Beziehungen Verwendung findet. Nein, ich unserer Zukunft meine damit die Sprache als intimer Schatz, natürlich auch die Schweiz. Und wenn ich schon nicht eine genaue als schillerndes Spiegelbild menschlicher Er gezwungen bin, anzuerkennen, dass ein Land Kopie unserer fahrungen, als aktive Bewahrerin unserer Kul auch existieren kann, ohne seine Sprachen zu Gegenwart wird. tur und unserer Geschichte; als geheimnis pflegen, so stimmt es mich doch traurig, dass voller Ort, wo sich das Alte mit dem Neuen die Schweiz ihre Sprachen zu wenig pflegt und verbindet, das Erbe mit der Schöpfung, das Erhaltene mit dem liebt und somit in jenem Sinn, den ich darzulegen versucht habe, nicht besonders europäisch ist. Gegebenen, das Wissen mit der Liebe. Die künstlichen Kommunikationssprachen (was falsch aus gedrückt ist, denn sie dienen nicht wirklich der Kommunikation, Etienne Barilier, Schriftsteller und Essayist, geboren 1947, lebt in Pully. Er hat rund 40 Werke verfasst. Zu seinen Romanen gehören sondern nur dem Austausch von verbalen Waren) sind Antispra Le Chien Tristan, Le dixième ciel und L’Enigme; zu den Essays Contre le chen, denn ihre zugleich gewollte und als notwendiges Übel hin nouvel obscurantisme, das auf Deutsch unter dem Titel Gegen den neuen Obskurantismus 1999 bei Suhrkamp erschienen ist. genommene Dürftigkeit und ihr verzweifeltes Streben nach Ein deutigkeit beraubt sie jeder Möglichkeit, etwas Neues, noch nie Bei diesem Artikel handelt es sich um die gekürzte Fassung des gleich Dagewesenes zu erschaffen – genau das, was die natürlichen und namigen Beitrags im Kulturreport – Fortschritt Europa 1/2007 (Hrsg. Institut für Auslandsbeziehungen und Robert Bosch Stiftung, gepflegten Sprachen ausmacht. Stuttgart). Der Turmbau zu Babel Ist eigentlich schon einmal jemandem aufgefallen, dass die biblische Geschichte vom Turmbau zu Babel einen grossen Wider spruch enthält? Wenn die Menschen früher tatsächlich auf der ganzen Welt nur eine Sprache gesprochen hätten, hätten sie nie mals den Bau eines solchen Turms in Angriff genommen! Denn eine einsprachige Menschheit wäre eine blockierte, erstarrte Menschheit ohne Wünsche und Pläne gewesen, die sich mit der Welt, wie sie ist, zufriedengegeben hätte, ohne danach zu streben, bis zum Himmel vorzudringen, um sich auf eine Stufe mit Gott zu stellen; ohne danach zu streben, die Welt zu verändern, zu ver bessern, zu erforschen und neu zu erfinden. Diese einsprachige Menschheit hätte sich selbst nicht als Menschheit der Möglich keiten betrachtet; sie hätte nie davon geträumt, den Turm von Babel zu errichten. Um den Antrieb für ein solches Unternehmen zu haben, hätte sie der später verhängte Fluch schon im Voraus ereilen müssen… Die Vielfalt der Sprachen ist also ein Fluch? Nein, natürlich nicht – im Gegenteil. Die Vielfalt der Sprachen ist die zwingende Voraussetzung dafür, dass aus unserer Zukunft nicht eine ge naue Kopie unserer Gegenwart wird. Die Sprachen eröffnen in ihrer Vielfalt dem Menschen die Möglichkeit, von Dingen zu spre chen, die noch nicht Realität sind, die Möglichkeit, selbst zum Schöpfer und Gestalter zu werden. Und diese Möglichkeit zu pfle gen, ist die Essenz des menschlichen Wesens – und insbesondere Europas, wo sich der Mensch seit jeher als entwicklungs- und vervollkommnungsfähiges Wesen sieht. 20 Aus dem Französischen von Reto Gustin, Redaktion der gekürzten Fassung: Janine Messerli. Von der Schärfung des Blicks durch den Schleier. «Kann man das Thema Islam ansprechen, ohne dass alles in die Luft fliegt?», fragte sich der Performance-Künstler Yan Duyvendak aus Genf, bevor er nach Kairo reiste. Dort tauchte er in einen Kosmos ein, sah und staunte. Zusammen mit dem ägyp tischen Künstler Omar Ghayatt setzte er die Erfahrungen von Kulturschock, Identität und interkulturellen Missverständnis sen künstlerisch um. Von Susanne Schanda E in strahlender Frühsommertag im Kunsthof Zürich. Es ist 11.29 Uhr, die folgende Stunde gehört den beiden Per formance-Künstlern Yan Duyvendak und Omar Ghayatt. Die Sonne brennt, das Publikum drängt sich in den Schatten. In Jeans, T-Shirt und etwas irritierend wirkenden schwarzen DamenHandschuhen streift sich Yan einen langen, ebenfalls schwarzen Mantel und einen Gesichtsschleier mit einem schmalen Schlitz für die Augen über und setzt sich an einen Tisch. Von dem nimmt er einen mit Linsen gefüllten Teller und beginnt zu essen: Mit der rechten Hand den Schleier vor seinem Gesicht anhebend, schiebt er sich mit der linken einen Löffel Linsen nach dem anderen in den Mund. Eine Mahlzeit ohne mich heisst dieser Teil aus der Performance-Reihe Made in Paradise. Beim nächsten Fragment übernimmt Omar Ghayatt die tra gende Rolle. Zuerst werden mehrere Gebetsteppiche auf dem Bo den ausgebreitet. Dann erklärt der Ägypter, wie man als Muslim betet, und macht es gleich vor: Schuhe ausziehen und sich auf dem Teppich Richtung Mekka aufstellen. Beide Hände neben den Kopf nehmen, den Satz «Allahu Akbar» (Gott ist gross) ausspre chen und alle Arroganz und weltlichen Sorgen hinter sich lassen. Auf die Knie gehen und mit den Händen und der Stirne den Bo den berühren. «Der Boden ist unsere Quelle», erklärt Omar und dass es darum gehe, sich ganz auf Gott zu konzentrieren und al les andere auszublenden. Dann lädt er das Publikum ein, es ihm nachzutun. Yan stellt sich ebenfalls auf einen Teppich in die von Omar angegebene Richtung. Nur ein einziger Zuschauer, ein Araber, schliesst sich dem Gebet an. Für die anderen scheint dies doch etwas gewagt zu sein. Dabei heisst die Performance: «Just give it a try». Noch ist alles Work in Progress, die Premiere soll im Februar 2009 in Genf stattfinden. Der Kulturschock ist nah « Made in Paradise ist kein Projekt über Toleranz», stellt Yan Duyvendak nach der Vorstellung klar. Es sei vielmehr eine Erfor schung der islamischen Kultur und der Welt der Muslime als das Andere. Dieses Andere soll hautnah erfahren und erfahrbar ge macht werden. Ein Stipendium von Pro Helvetia für einen dreimonatigen Aufenthalt in Kairo ermöglichte dem Niederlän der, der seit langem in Genf und Barcelona lebt, und der Genfer Filmemacherin und Dramaturgin Nicole Borgeat, sich dem An deren vor Ort auszusetzen. Das Interesse für die arabische Kultur hatte jedoch schon Jahre zuvor begonnen. «Nach dem Schock der Terroranschläge vom 11. September 2001 wollte ich wissen, was dort geschieht, wo die Terroristen her kamen», sagt Duyvendak, der 1965 in Holland geboren wurde und in der Schweiz aufwuchs. «Mit den Anschlägen ist das Andere brutal in unser Leben eingebrochen. Sie bilden den Auftakt zu einer zerstörerischen Zwangsbeziehung. Von jenem Moment an war es unmöglich, den Anderen zu ignorieren.» So stand denn am Anfang seines Kairo-Aufenthalts die Idee, Jihadisten zu interviewen, also Männer, die im Namen der Religion töten. Es gestaltete sich schwierig, an solche Männer heranzukom men. Immer wieder wurde ihm eine Begegnung in Aussicht ge stellt, doch unter Bedingungen, die Duyvendak ablehnte (zeitlich extrem kurze Treffen gegen hohe Honorare). Schliesslich gab er den Plan auf. Im Kairoer Alltag begegneten Yan Duyvendak und Nicole Borgeat dem Fremden, dem Anderen, dem Rätselhaften und den Missverständnissen in gewöhnlichen Männern und Frauen auf der Strasse. «Wir merkten, dass es gar nicht nötig ist, Extremisten zu treffen und die Extreme zu untersuchen, denn die kulturellen Unterschiede sprangen uns überall ins Auge», so Duyvendak. «Der Kulturschock war da – im Alltag», ergänzt Nicole Borgeat. Das Fremde selbst erproben Zum muslimischen Alltag gehören auch die fünf Gebets zeiten am Tag. «Die Fernseh-Bilder von Massen betender Männer in Socken kennen wir zur Genüge. Wir wollten dahinter sehen – oder besser spüren, was es mit dem muslimischen Gebet auf sich hat», sagt Yan Duvendak. Als Omar Ghayatt ihm den Ablauf des Gebets zum ersten Mal erklärte und vormachte, sei er tief be rührt gewesen, erzählt Duyvendak: «Die Klischee-Bilder der be tenden Männer verschwanden aus meinem Kopf. Obwohl ich selbst nicht gläubig bin, fühlte ich eine starke Wirkung, als ich in mich ging und die weltlichen Probleme beiseite schob, wie Omar mich angewiesen hatte.» Beim Niederknien und Vorbeu gen realisierte der Performer: «Eine so extrem demütige Position nehmen wir im Westen nie ein. Diese Bewegung selbst auszuführen, brachte mich dem Islam näher, als es ausführliche Studien je gekonnt hätten.» 21 Mit dem Umstand, dass bei der Vorstellung im Kunsthof jemand, das sei ganz anders. Ich hatte das Gefühl, dass man mir Zürich die Beteiligung des Publikums so gering war, hat mitteilen wollte, ich als Westler könnte gar nichts verstehen.» So verloren wie Yan Duyvendak in Kairo war Omar Ghayatt, Duyvendak kein Problem: «Wenn sie nicht mitmachten, fragten sie sich vielleicht, warum sie dies nicht taten. Damit hat unsere als er in die Schweiz kam: «Ich hatte keine sozialen Codes mehr, Performance bereits etwas ausgelöst.» Das Ziel dieser interkul keine Orientierungspunkte, an denen ich mich festhalten turellen Begegnung sei nicht in erster Linie, den Islam zu erklä konnte», erinnert er sich an die erste Zeit. In der Schweiz fing er ren, sondern vielmehr «unsere Haltung zu dieser Kultur. Der an, seine eigene Kultur zu erforschen. Das Gleiche geschah mit andere spiegelt mich, wirft mich auf mich selbst zurück und bil Yan Duyvendak: «Die Fragen von Omar führten dazu, dass ich det so mein Bewusstsein für die eigene Identität.» mich selbst und meine Kultur aus Distanz betrachtete und mir Für den gläubigen Muslim Omar Ghayatt war dieses Per so meiner unbewussten Denk- und Verhaltensstrukturen be formance-Fragment anfangs etwas problematisch: «Ich wollte wusst wurde.» den Islam nicht als Spiel missbrauchen», sagt der 32-Jährige. Erst als er von der Ernsthaftigkeit und dem echten Interesse «Just do it» versus «Inschallah» Yan Duyvendaks überzeugt war, willigte er in diese Art Einfüh In der Dokumentation zu ihrem Projekt geben Yan rungskurs in das Gebet ein. Wenn er sich auch als hundertpro Duyvendak und Nicole Borgeat Einblick in ihre Streifzüge, Be zentig gläubig sieht, hat er doch seine eigene Vision des Glau obachtungen und Reflexionen: «Bei uns sagt man sich ‹just do bens, wie er im Sufismus, der mystischen Ausrichtung des it›. Die gegenüber sagen ‹Inschallah›… so Gott will… Wie kön nen wir miteinander Bekanntschaft machen? Islams, praktiziert wird. Und ist das überhaupt möglich?» Denn beiden «Ich bete und trete in Verbindung mit Eine so extrem Gott, aber ich lege wenig Wert auf äussere demütige Position Künstlern ist durchaus bewusst, in welch gros nehmen wir sem Spannungsfeld sie sich bewegen, wenn sie Formen», so Ghayatt. Zum umstrittenen Alko im Westen nie ein. einerseits fragen: «Ist Multikulturalität mehr holverbot sagt der Muslim: «Im Koran steht nicht, es sei verboten, Alkohol zu trinken, nur als ein kulinarischer Begriff?» und anderer die Trunkenheit wird abgelehnt.» Die vielen Fragen der west seits: «Kann man das Thema Islam als Laie überhaupt anspre lichen Performance-Künstler in Kairo brachten den Ägypter sei chen, ohne dass alles in die Luft fliegt?» nerseits dazu, gewohnte Glaubensstrukturen zu hinterfragen. Das Kunstprojekt, das im Titel das Bedeutungsfeld zwi Etwa beim Thema des Neids. schen der westlichen Macher-Mentalität («Made in») und dem «In der orientalischen Kultur geht man davon aus, dass je religiösen Paradies des Islam aufspannt, stellt sich sowohl dem mand, der durch Besitz, eine schöne Frau oder zahlreiche Kin Banalen wie dem Explosiven des Themas und wächst in der expe der den Neid anderer oder den so genannten Bösen Blick auf sich rimentellen Erfahrung über die Angst vor dem Anderen hinaus. zieht, unglücklich wird und leidet», erzählt Omar. «Das ist für Es zeigt, wie ein simpler Blick durch den Sehschlitz eines isla Yan und Nicole absurd, denn in ihrer Kultur leidet nicht der Besit mischen Gesichtsschleiers eine ganze Welt erschliessen kann. zende, sondern der Neidische. Plötzlich leuchtete mir die west liche Sichtweise viel mehr ein als meine gewohnte.» Der Ägypter, Made in Paradise: www.duyvendak.com/article150.html Pro Helvetia Kairo: www.prohelvetia.org.eg der für zwei Jahre an der Zürcher Hochschule der Künste Szeno grafie studiert, kommt in der Schweiz zu neuen Einblicken in Susanne Schanda ist Kulturjournalistin mit den Themenbereichen Mittlerer Osten und Schnittstellen zwischen den Kulturen. Sie seine ägyptische Kultur. «Die Reise beginnt» Als Yan Duyvendak und Nicole Borgeat im Februar 2007 nach Kairo kamen, fühlten sie sich erst einmal fremd. Hebba Sherif, die Leiterin des Pro-Helvetia-Büros in Kairo, machte die Künstler aus der Schweiz mit verschiedenen ägyptischen Künstlern bekannt. «Aber erst bei Omar hat es gefunkt», er zählt Yan Duyvendak. «Durch Omar und seine Familie im wei testen Sinn, durch seinen Freundeskreis, öffnete sich uns die Stadt. Da hat die Reise angefangen.» Seither seien sie in Kairo nie mehr alleine gewesen, immer war da jemand darum be müht, dass es ihnen gut ging. «Die Wärme und Anteilnahme der Menschen war überwältigend. Wir wurden immer wieder eingeladen, man liess uns nicht einmal unseren Tee bezahlen», erinnert sich Yan Duyvendak. Doch gab es durchaus auch schwierige Phasen bei der Ent deckungsreise in die fremde Welt. Je länger er in Kairo war, desto deutlicher wurden ihm seine Vorurteile bewusst. Er merkte, wie komplex diese Welt war und wie wenig er darüber wusste. Was den Künstler frustrierte, war, dass niemand seine «Lernerfolge» be züglich der fremden Kultur anerkennen wollte. «Wenn ich meinte, etwas verstanden zu haben und dies erklärte, sagte mir bestimmt 22 lebt in Bern und arbeitet für die Internetplattform Swissinfo sowie die Zeitungen Der Bund und Neue Zürcher Zeitung. ohne Titel (2008) 23 24 ohne Titel (2008) D, heranbaumelnd (2007) 25 Verschwundenes dialogisches Problem (2007) ohne Titel (2008) 27 28 sitespecific unspecificity (2008) Scheitern als Chance (freiere Motivhandhabung) (2008) 29 Vom geheimen Verstehen im M sind der Stoff, aus dem zahlreic Weltliteratur gewoben sind. Sie wir als kreative Kraft und steigern un auf Shakespeares Romeo und Julie oft verschlüsselte Botschaften sin ausgesprochen Von Elisabeth E igentlich ist Romeo seinem Freund Mercutio nur auf das nächtliche Fest im Hause der Capulets gefolgt, weil er dort die von ihm angebetete Rosaline zu sehen hofft. Gänzlich unerwartet trifft sein Auge jedoch auf die Tochter des Hauses. Diese plötzlich entfachte Liebe auf den ersten Blick steht am Anfang jener Kette von Missverständnissen, die in den schicksalhaften Tod münden muss. Unglück im Glück könnte man die fehllaufende Deutung nennen, mit der die beiden Lie benden ihre Leidenschaft in Worte zu fassen suchen. Zuerst nennt Romeo sie ein Heiligenbild und vergleicht seine Lippen mit den frommen Händen eines Pilgers. Im Kuss soll die Ange betete ihn all seiner Sünden entbinden. Mit ihren Lippen nimmt Julia ihm tatsächlich seine Sünden ab, gibt ihm dieses gefähr liche Gut aber mit dem nächsten Kuss zurück. Unterbrochen wird dieses Wortspiel, das eine romantische Berührung zum re ligiösen Akt umdeutet, durch den Auftritt der Amme, die Julia zu ihrer Mutter ruft. Sie ist es auch, die Romeo über das wesent lich weniger spielerische Missverständnis aufklärt, das sich in der verstohlenen Liebkosung ereignet hat. Jetzt erst begreift er: Die schöne Fremde ist wegen der Feindschaft ihrer beiden Familien ein verbotenes Liebesobjekt und die Sünde, über die sie vorher noch scherzen konnten, real. Denn der Vollzug jenes Begehrens, dem beide nun nicht mehr ausweichen können, fordert einen doppelten Regelverstoss. «O Romeo,» fleht Julia, «leg deinen Namen ab, und für den Namen, der dein Selbst nicht ist, nimm meines ganz!» Sie will sich nicht nur gegen die Hochzeit mit dem Grafen Paris zur Wehr setzen, den ihre Eltern für sie ausgesucht haben. Sie will sich auch mit dem Sohn des Erzfeindes verbinden, nachdem beide ihrer Familienzugehörig keit entsagt haben. 30 Unglückliche Zufälle und fatale Fehldeutungen Der weitere Verlauf dieser Tragödie Shakespeares ist von ei ner Verquickung unglücklicher Zufälle und Fehldeutungen ge tragen. Zwar kann Julia ihre Amme dafür gewinnen, geheime Botschaften an ihren verbotenen Geliebten weiterzuleiten, wie auch Romeo den Pater Lorenzo davon überzeugen kann, sie beide heimlich zu trauen. Noch bevor diese Hochzeit leiblich vollzogen werden kann, unterliegt Romeo jedoch einem weiteren Missver ständnis. Er greift in den Streit zwischen Mercutio und Tybalt ein und führt somit unwillentlich jenen Dolchstoss herbei, der seinen Freund tödlich trifft. Die Hoffnung auf einen Frieden zwi schen den beiden Häusern, die Pater Lorenzo an der heimlichen Eheschliessung festgemacht hatte, erweist sich ebenso als falsche Deutung wie Romeos Vorstellung, seine Vermählung würde dem schrecklichen Familienkrieg ein Ende setzen. Denn er muss den Tod Mercutios rächen, auch wenn er damit seinen angetrauten Vetter Tybalt tötet. Auch die Geheimhaltung der Trauung, die ei gentlich das Paar schützen sollte, fungiert als Auslöser weiterer Missverständnisse. Der Prinz von Verona, sowohl mit Paris wie mit Mercutio verwandt, verbannt Romeo aus der Stadt, nicht wissend, dass er damit das heilige Bündnis einer Ehe unterbin det. Auch er schätzt die Lage falsch ein und ruft damit die letzte Staffel an verunglückter Kommunikation hervor. Der Pater hält an seinem hoffnungslosen Versuch fest, doch noch alles richten zu können. Julia soll in der Nacht vor ihrer Hochzeit mit Paris (die verhindert werden muss, weil sie einem Akt der Bigamie gleich käme) ein Schlafmittel zu sich nehmen. Romeo hingegen soll sie, die als Scheintote zu Grabe getragen worden ist, in der darauf folgenden Nacht in der Gruft ihrer Ahnen aufsuchen und im Schutz der Dunkelheit mit ihr fliehen. M issverstehen. Missverständnisse he Dramen und Komödien der ken im literarischen Text nicht nur nsere Leselust. Ein genauer Blick et offenbart, dass Missverständnisse n d, die enthüllen, was direkt nicht n werden darf. Bronfen Die Dramaturgie der Missverständnisse, die Shakespeares verständnis ist der Stoff, aus dem unsere Träume sind, zumindest Tragödie strukturiert, verlangt natürlich, dass der Brief des für die Dauer der Theateraufführung. Geistlichen nicht rechtzeitig ankommt. Weil Romeo die im Sarg festlich aufgebahrte Braut falsch deutet, nimmt er sich das Le Das Missverständnis als verschlüsselte Botschaft Wie diese kurze Wiedergabe der klassischen Tragödie deut ben. Julia kann ihrerseits nur noch mit ihrem eigenen Freitod antworten. Spätestens an dieser Stelle im Stück muss man sich lich macht, ist der Begriff des Missverständnisses komplex. So fragen, ob in diesem Willen zur Selbstverschwendung womög wohl die glücklichen wie die unglücklichen Zufälle gehen vom lich gar kein falsches Verstehen liegt. Immerhin hatte Julia, als Fehlen eines Einverständnisses zwischen zwei Familienvätern sie das Schlafmittel zu sich nahm, bereits eine schreckliche aus. Deren Kinder materialisieren in ihrer Selbstverschwendungs Vision davon gehabt, frühzeitig in der Gruft ihrer Ahnen zu lust – der verstohlenen Hochzeit wie dem gegenseitigen Töten – erwachen und dort dem Wahnsinn zu verfallen. Hat Julia mit das Nichtverstehen ihrer Eltern. Zugleich wird dieser Handlungs dieser Vorahnung etwa den tödlichen Zug ihrer verbotenen Liebe akt von einer geistigen Haltung begleitet. Am Missverständnis richtig benannt? Und ist die fatale Kette von wird auch ein fehlerhaftes, verfehltes oder fehl Zufällen, die nicht nur den Tod der beiden Lie laufendes Deuten der Situation, in der man sich Das Missverständ n i s i s t d e r S t o f f, befindet, deutlich. benden fordert, sondern auch den der anderen aus dem unsere Wie also haben wir die Vorsilbe ‹miss› zu Söhnen Mercutio, Tybalt und Paris, nicht eine Tr ä u m e s i n d. verstehen, die etymologisch auf Wechselseitig konsequente Deutung des Familienkrieges keit und Tausch hinweist? Es mag zwar ein ver zwischen dem Hause Capulet und Montague? Tarnt das dramaturgisch eingesetzte Fehllaufen von Botschaften unglücktes Verstehen sein, das den Stoff der Tragödie ausmacht, nicht ein Machtgefüge, in dem die blinde Strenge des politischen aber die Vorsilbe zeigt an: Es bleibt eine Art des Verstehens. Im Streits die Abtötung der Nachfolgegeneration als zwingende Sprechen und Handeln der Akteure wird eine Botschaft vermit telt, auch wenn der Inhalt vom Empfänger nicht so aufgenom Folge enthüllt? Produktiv ist dieses verunglückte Verstehen allemal, und men wird, wie er vom Sender gemeint ist. Es findet also durchaus das im doppelten Sinn: Auf der Ebene der Geschichte läuft es auf eine Verständigung statt. Was hingegen fehlt, ist eine Überein jene goldene Statue der beiden verstorbenen Kinder hinaus, an stimmung zwischen der Intention, mit der eine Aussage gemacht hand derer die Väter, wenn auch im Lichte eines düsteren Mor wurde, und der Art, wie sie der Andere auffasst. Die Vorsilbe ‹miss› gens, ihren Friedensvertrag öffentlich zementieren. Produktiv weist darauf hin, dass es sich beim Missverständnis um ein Ver ist das Missverständnis jedoch auch, weil es zwei Stunden lang stehen handelt, das den Umweg über eine verunglückte Aussage jenen erbauenden Liebestod anbahnt und zugleich aufzuhalten benötigt. Das Fehlgehen öffnet einen Raum an Bedeutungen, in weiss, der bereits im Prolog des Stückes angekündigt ist. Das Miss dem die Intention einer Aussage instabil wird. Aufgrund der Viel 31 deutigkeit von Sprache setzt ein Austausch zwischen Bedeutungen les anders werden. Zugleich bietet der Aufschub der narrativen ein, der diese in ihr Gegenteil umschlagen lässt. Die Botschaften, Auflösung, der mit jeder verunglückten Kommunikation einher die der Andere fälschlicherweise für richtig hält, sind auch rich geht, eine doppelte Identifikationsmöglichkeit für den Leser, stellt tig. Aus irgendeinem Grund entspricht das falsche Verstehen also auch in diesem Sinne eine Situation der Wechselseitigkeit hingegen den Erwartungen oder dem Verlangen des Empfängers dar. Wir können uns von der Verblendung der Charaktere hinreis der Botschaft weitaus mehr als das, was der Andere eigentlich zu sen lassen und ihre fehlgegangene Deutung teilen. Wir können aber auch eine ironische Distanz zu den Missverständnissen ein vermitteln intendierte. Der reizvolle Umweg, den die Bedeutung in Folge eines Miss nehmen, in die sie eingefangen sind, um uns an ihren Fehlern zu verständnisses einschlägt, enthüllt auch die Zauberkraft des lite erfreuen und zu erbauen. Entpuppt sich somit die verunglückte Rede oft auch als rarischen Schreibens. Deutlich wird, dass die Sprache, aus ihrem alltäglichen Gebrauch herausgelöst, vieldeutig ist und somit auch Glück im Umglück, stellt das Missverständnis nicht nur eine dra nicht regulierbar. Sie stellt eine subversive Kraft dar, die mit dem maturgische Konstante der Tragödie dar. Es ist auch der Stoff, Fehlgehen einer intendierten Botschaft auch die Möglichkeit er von der jegliche Literatur, die um Verwechslungen kreist, zehrt; öffnet zu denken, was normalerweise verboten ist, und sei es eine ein unermessliches schöpferisches Potenzial! Dabei erfreuen wir Liebe, die gegen das blinde Verbot zerstrittener Väter gerichtet uns nicht nur der fatalen Konsequenzen, die mit dem Wunsch, ist. Zugleich wird im Missverständnis deutlich, dass selbst die Be eigenmächtig über das eigene Leben sowie das der Anderen zu ziehung zwischen Intention und Aussage instabil ist. Denn im verfügen, einhergehen. Auch wir sollen erzogen werden, hält uns Verunglücken des Verstehens enthüllt sich nicht nur etwas. Wie doch eine Tragödie wie Romeo und Julia mit der Frage danach, bei anderen Fehlleistungen treten dank der Verstellung, die das wie die Zeichen der Liebe sind, welche die beiden star crossed lo Missverständnis darstellt, ein Wissen oder ein Wunsch zu Tage, vers gegenseitig zu entziffern suchen, den Spiegel unserer eige die vom Bewusstsein nicht direkt ausgesprochen werden konn nen hermeneutischen Lust entgegen. Auch wir wollen beim Le ten. Mit Nachdruck hat Freud in seiner psychoanalytischen Lehre sen unserer Fantasie freien Lauf lassen, vom schillernden Licht darauf beharrt: Wir können nicht nur nie sicher sein, was wir mit des Textes inspiriert. Auch wir wollen uns auf falsche Fährten be geben, weil wir nur so ungewohnte und im All unseren Aussagen meinen. Gleichzeitig verfeh tag oft unmögliche Lebensentwürfe imaginär len wir mit unseren Aussagen aber auch nie A u c h w i r w o l erfahren können. Insgeheim erfreut uns kaum len uns auf falsche unser Begehren, selbst wenn wir scheinbar der nüchterne Frieden zwischen den beiden Fährten beeinem Missverständnis aufsitzen oder dieses Familien, der im grauen Morgen nach dem Lie g e b e n, w e i l w i r n u r auslösen. Jedes verunglückte Sprechen, jedes bestod endlich eintritt. Was uns nachhaltig be so ungewohnte falsche Verstehen hat einen psychischen Grund strickt, ist vielmehr das Beharren der beiden und im Alltag oft und enthält einen psychischen Gewinn. Wie an Liebenden, die Welt nicht nur eigenwillig zu u n m ö g l i c h e dere Symptome stellen Missverständnisse ver deuten, damit sie ihre Liebe vollziehen können, L e b e n s e n t w ü r f e schlüsselte Botschaften dar. Sie erlauben uns, sondern diese Welt überhaupt ihren Fantasien i m a g i n ä r e r f a h etwas zum Ausdruck zu bringen, das wir direkt anzugleichen. Dass die Verwechslungen, die re n kö n n e n. auszusprechen uns verbieten müssen. Die Vor daraus entstehen, schliesslich aufgelöst wer silbe ‹miss› deutet eine produktive Wechselsei tigkeit an. Eine Aussage oder eine Handlung stimmt zwar nicht den, bleibt ein Nebeneffekt. Die kreative Kraft der Missverständ überein mit deren gewöhnlicher Bedeutung, durchaus aber mit nisse, die von ihnen ausgeht, ist es, die nachhallt und uns zu einer verborgenen Intention, die sich im Zuge dieses Tauschver einem erneuten Besuch dieses Stückes ermuntert. fahrens an ihr festgemacht hat. Somit legt die in der Vorsilbe ‹miss› angedeutete Verfehlung Elisabeth Bronfen ist Lehrstuhlinhaberin am Englischen Seminar der Universität Zürich und seit 2007 zudem Global Distinguished Professor an in mehrfachem Sinn etwas offen: Sowohl jene Erkenntnis, die zu der New York University. Ihr Spezialgebiet ist die angloamerikanische verbergen eine verfehlte Kommunikation überhaupt erst entste Literatur des 19. und 20. Jahrhunderts. Sie ist Autorin zahlreicher Publikationen in den Bereichen Genderstudies, Psychoanalyse, Film und hen liess, als auch den Umstand, dass diese vermeintliche Verun Kulturwissenschaften. Ihr aktuelles Buch erschien im Frühjahr 2008 glückung des Verstehens notwendig ist, damit es im falschen Ver bei Hanser: Tiefer als der Tag gedacht. Eine Kulturgeschichte der Nacht. ständnis zum wahren Verstehen kommt. Die Lust des Lesers am Missverständnis Für die Literatur entscheidend ist zudem der Umstand, dass nicht nur auf der Ebene der Handlung dank dem Missverstehen eine Wiedererkennung (anagnoresis) stattfindet, sondern auch auf der Ebene der Lektüre. Schliesslich liegt unsere Freude am li terarischen Text nicht zuletzt darin, dass für die Dauer eines Bühnenstückes oder eines Romans jene Auflösung, von der wir ausgehen dürfen, aufgeschoben wird. Missverständnisse zwischen fiktionalen Figuren bilden jene riskanten Momente in der Entfal tung einer Geschichte, in denen noch alles offen ist. Wir genies sen sie, weil sie uns die Freude des Lesens verlängern. Noch ist nichts geklärt. Entscheidungen sind noch nicht – zumindest nicht endgültig – gefällt. Noch ist alles möglich. Noch könnte al 32 «Erst der Kunstmarkt lässt die Werke zu Kunst werden.»Wolfgang Ullrich ist für seine pointierten Analysen unseres Umgangs mit der Kunst bekannt geworden. Claudia Spinelli hat sich mit dem Kunstwissenschaf ter über den aktuellen Kunstbegriff und einige Missverständnisse unterhalten, die den Kunstbetrieb und sein gesellschaftliches Umfeld am Laufen halten. Interview: Claudia Spinelli C laudia Spinelli: Während meines Studiums wurde ich mit einem reichlich überfrachteten Kunstbegriff konfrontiert: Ein Kunstwerk galt, ganz ähnlich wie der Dornenbusch, dem Moses in der Wüste begegnete, als eine Manifestation des Göttlichen. Demgegenüber wird heute insbesondere durch die Medien ein Kunstbegriff postuliert, der sich sehr am Spektakulären und Glamourösen und vor allem auch am Preis orientiert. Wolfgang Ullrich: Nun, wir haben ja tatsächlich die Vorstel lung, dass der Preis einer Sache einen Gegenwert findet in dem, was diese Sache bewirkt oder kann. Deshalb ist die Entwicklung auf dem Kunstmarkt auch sehr spannend. Wenn so und so oft Millionengrenzen übersprungen werden, wird natürlich sugge riert, dass Kunstwerke eine unglaubliche Wirkungsmacht haben. Wenn Sie 100 Millionen Euro oder mehr für ein Werk zahlen, dann erwarten Sie mindestens einen brennenden Dornbusch. Der hohe Preis unterstellt einem Kunstwerk jedoch eine Bedeu tung, die gar nicht nachvollziehbar ist und deshalb vor allem Be fremden erzeugt. Als Kunstliebhaberin würde ich dies jetzt als Missverständnis bezeichnen, dem man mit gezielter Vermittlung beikommen könnte. Nun, der «einfache» Rezipient weiss, dieser Jackson Pollock hat 140 Millionen gekostet. Er kann diese Summe nicht sehen, er kann sie nicht spüren, er kann sie nicht erleben. Wenn aber je mand so viel Geld bezahlt, muss doch irgendwas dran sein. Man gibt eine solche Summe ja nicht grundlos aus. Dadurch fühlt er sich eingeschüchtert und in seinem Wertekosmos durcheinander gebracht. Man sieht, wie Hierarchien geschaffen werden, wie plötzlich derjenige, der moderne Kunst sammelt und sich mit ihr zeigt, eine Überlegenheit postulieren kann gegenüber dem, der das Bild an und für sich schon nicht so toll findet und erst recht ent setzt ist, wenn er den Preis erfährt. Vermittlung ist also gar nicht erwünscht. Aus Ihrer Perspektive klingt das alles sehr bitter! Wenn ein Sammler jetzt seine 140 Millionen für einen Airbus ausgäbe, würde der kleine Mann sagen: Wow, toll! Wenn ich so viel Geld hätte, würde ich mir auch ein eigenes Flugzeug kaufen. Es würde Neid aufkommen. Wenn ein reicher Sammler heutzu tage moderne Kunst kauft, dann kommt aber kein Neid auf, son dern Verlegenheit. Das weiss natürlich auch der Sammler: Er nutzt moderne Kunst, um sich als jemand mit elitärem Ge schmack, aber auch mit speziellen Fähigkeiten im Umgang mit etwas vermeintlich so Schwierigem und Anspruchsvollem in Szene zu setzen – und um so sein Image zu verbessern. Das aber heisst: Es macht durchaus Sinn, wenn sich Kunst so gibt, dass sie eigentlich gar nicht verstanden werden kann. Erst wenn sie rät selhaft, schroff, grell, abweisend ist, kann man mit ihr angeben und abschrecken. Es wäre also ein Missverständnis zu glauben, dass Kunst dann besonders gelungen ist, wenn viele Menschen einen Zugang dazu finden. Ihre Beschreibungen klingen ernüchternd, und doch ist der Schulterschluss zwischen der Kunst und der Macht ja eigentlich ein alter Hut. Die Diskrepanz zwischen dem, was man als Kunstwerk sehen und erleben kann, und dem, was es kostet, könnte man tatsäch lich in der Tradition des Erhabenen beschreiben. Das Erhabene, als ästhetische Kategorie seit dem 18 Jahrhundert etabliert, war ja immer dadurch definiert, dass etwas unbegreifbar ist und die 33 Dimension des Alltäglichen, Vertrauten sprengt. Es geht mit einem Schauder einher, und man hat das Gefühl, dass es noch et was Grösseres gibt jenseits dieser vertrauten, kleinen, alltäglichen Welt. Dass sie Erlebnisse des Erhabenen erzeugt, hat man ja von der Kunst lange und wiederholt erwartet. Wo liegt nun das Neue? Heute haben wir die interessante Situation, dass eigentlich erst der Kunstmarkt mit seinen Preisen diese Erhabenheitserleb nisse schafft. Erst der Kunstmarkt lässt die Werke zu Kunst wer den. Weil er das Kriterium, dass die Kunst erhaben sein und an dere Dimensionen ansprechen soll, eigentlich erst erzeugt. Diese Erhabenheit, die sich im Kunstmarkt manifestiert, ist natürlich ein wunderbarer Stoff für die Medien. So landen die Bilder in den Zeitungen und sind eine Sensation. Sie empfinden das nicht als negativ… Nein. Denn wenn man noch einen Schritt weitergeht, dann kann man feststellen, dass es inzwischen auch Künstler gibt, die kapiert haben, dass man heute die Eigen art von Kunst, Erhabenheit zu erzeugen, im Kunstmarkt schaffen kann. Denken Sie nur an Damien Hirst. Ganz bewusst versucht er, die Preise seiner Werke zu gestalten. Beispielsweise indem er direkt ins Auktionshaus geht und auf den Ga leristen verzichtet. Er ist ein Künstler, der sich sagt: Ich will gleich den Hype, die spektakuläre, auch obszön grosse Summe sofort. Ich will Kunst schaffen, indem ich das teuerste Werk erzeuge und damit automatisch die grössten Erha benheitserlebnisse schaffe. Der mit Diamanten besetzte Totenschädel, den Damien Hirst für 14 Millionen Pfund herstellen liess und auf einer Auktion schliesslich für 50 Millionen Pfund innerhalb eines KäuferKonsortiums selbst kaufte, war in allen Medien. Mit dem Totenschädel ist es Hirst tatsächlich gelungen, der Erhabenheit, von der wir im Moment sprechen, eine visuell über zeugende Form zu geben. Zum einen hat er diese irrsinnige Summe, 50 Millionen Pfund, ins Spiel gebracht. Zum andern hat er ein Bild gewählt, das diese Erhabenheit erdet. Das Motiv des Toten schädels, das Glitzernde der Diamanten, das sind klassische Va nitassymbole. Damien Hirst hat sie sehr bewusst gesetzt. Auch spannend ist bei Damien Hirsts For The Love of God, so der Titel des Werkes, dass er mit einem Motiv arbeitet, das populärer nicht sein könnte. Totenschädel schmückten nicht nur die Stücke, die Hirst für Prada entwarf, sondern auch T-Shirts, die man in der Kinderabteilung von H&M findet. Alles zeitgleich wohlgemerkt! Die Avantgarde bestand darauf, dass auch der Künstler das Andere ist, das Erhabene, Unverständliche und nicht nur das Kunstwerk. Das ist heute anders, der Künstler kann durchaus in der Mitte der Gesellschaft sein. Er kann ein Star werden und die 34 Eigenschaften verkörpern, die sich alle Menschen wünschen: so etwas wie Kreativität, eine gewisse Frechheit, eine gewisse Coolness, Souveränität. Ein Vorbild à la van Gogh hat längst aus gedient. Vorhin haben wir davon gesprochen, dass es Distinktion erzeugt, wenn jemand für viel Geld Kunst kauft. Wenn jetzt aber der Künstler viel Geld verdient, ist das kein Distinktionsmoment, sondern dann ist der Künstler Vorbild für alle. Der Künstler leis tet zudem dem Traum Vorschub, dass man viel Geld kriegen kann, ohne viel zu arbeiten. Man muss nur schlau sein. Und raffi niert. Man muss den Coup machen! Sie schildern diese Entwicklungen als durchaus positiv. Keine Verlustgefühle, kein Bedauern? Nein, ganz und gar nicht. Diese Dinge sind nicht negativ. Es ist einfach so, dass sich das Bild des Künstlers innerhalb der Ge sellschaft sehr stark verändert hat. Die Art und Weise, wie Damien Hirst die Logik des Kapitalismus zum Gegenstand seiner Werke macht, sagt tatsächlich sehr viel über unsere Zeit aus. Inwiefern aber mag man das noch als Kunst bezeichnen? Nun, Damien Hirst ist eben gerade ein sehr schönes Beispiel für jemanden, der diese Möglichkeiten nutzt, der etwas macht, was jemand aus einem anderen Bereich nicht kann. Wie entstehen Werte? Wie vergehen Werte? Wissenschaftler, Soziologen, Philosophen können alle nur darüber reden. Der Künstler hingegen hat diese ganz eigenen performativen Möglichkeiten. Er kann Dinge tun, die einer, der mit Marketing, Werbung oder Wissenschaft arbeitet, nicht kann. Diese Künstler finde ich denn auch am stärk sten: Künstler, die etwas tun, was man nur im Namen der Kunst tun kann. Hans-Uwe (2008) Wolfgang Ullrich (geb. 1967) hat Philosophie und Kunstgeschichte studiert. Er war freiberuflich tätig als Autor, Dozent und Unternehmensberater (u.a. für Red Bull, Swarovski und Volkswagen AG). Seit 2006 ist er Professor für Kunstwissenschaft und Medientheorie an der Hochschule für Gestaltung in Karlsruhe. Er beschäftigt sich mit Wohlstandsphänomenen sowie der Geschichte und Kritik des Kunstbegriffs. Aktuelle Publikation: Gesucht: Kunst! Phantombild eines Jokers (2007). www.ideenfreiheit.de Die Kunsthistorikerin Claudia Spinelli (geb. 1964) ist freie Autorin und Kuratorin. Ihre Texte erschienen u.a. in der Neuen Zürcher Zeitung, im Kunst Bulletin, in der Welt am Sonntag und in der Weltwoche. In ihren Ausstellungsprojekten spürt sie vorzugsweise den Wechselwirkungen zwischen Kunst und Gesellschaft nach. Ausstellungen u.a.: Reprocessing Reality (Château de Nyon und PS1, New York). Herzliche Grüsse aus Brisbane. Time flies like an arrow. Fruit flies like a banana. Please come, stand in dem Brief aus Australien. Diese Woche muss ich mich nicht um die Kinder kümmern… Kurzgeschichte von Corinne Desarzens M anchmal darf man dem Zufall einfach nicht mehr vertrauen. Es überkommt einen wieder jenes heftige Verlangen, es möge etwas passie ren. Iris machte Google an, klickte auf Aus tralien, es öffneten sich die verschlüsselten Pop-ups von Hunderten von Fluggesell schaften, und sie entschied sich für die leuchtend roten Uniformen einer österrei chischen Linie. Ein Ticket Wien-Sydney mit Zwischenlandung in Kuala Lumpur. Eines Sydney-Brisbane. Ein Kinderspiel. Sie hatte Tim seit sieben Jahren und sieben Monaten nicht wiedergesehen. Von ihm hatte sie nichts weiter als eine Postfach nummer und eine elektronische Adresse. Eine Woche war schon sehr kurz. Doch sie wollte einfach wissen, wie das nächste Kapitel war. Zwangsläufig würde man ihr Gegenstände vor die Augen halten: eine Bordkarte, eine Teemarke, selbst die Zäh nung einer Briefmarke, ein Busticket, eine Eintrittskarte. Geschichten zum gegenseitigen Er zählen, auf vier Quadratmetern weissen Lakens. Verspätete Landung in Sydney, und die Maschine nach Brisbane ist schon weg. Die Gepäckkarussells stehen still, und Iris schrumpft unter dem grellen, idiotischen Licht, den Kofferkuli schiebend, sie, eine in einem grossen Glas Zucker verlorene Ameise, dabei liebt sie nichts so sehr wie den kurzen Wiedererkennungsblick des sen, auf den sie wartet, er, der Grossbuch stabe in einem Text aus lauter Kleinbuch staben, der Baumstamm im abgebrannten Wald, und schliesslich die Flucht ins Freie. Aber da wartet niemand auf sie, dabei ist sie doch um die Welt gereist. Nein, keine Nachricht. Ein Angestellter zeigt ihr ein öffentliches PC-Terminal. Ins Terminal ge hen aber nur zwei Dollar in Münzen. Iris hat einen Zehn-Dollar-Schein mit dem Porträt der Königin darauf. Kleingeld? Nein, es ist Sonntagabend, Madame, alles ist geschlossen. Iris möchte am liebsten wieder mit der nächsten Maschine dort hin zurück, von wo sie kommt. Nehmen Sie diesen Schein doch, behalten Sie alles, helfen Sie mir. Unmöglich, Madame. Die Welt ist ein globales Dorf, doch zwei Dol larmünzen können den Unterschied aus machen und dich retten. Gehen Sie doch in die Stadt, flüstert ihr eine Dame zu, steigen Sie in einem Hotel ab, nehmen Sie ein Bad und schlafen Sie. – Nein, nein, ich bin verreist, sagt die Stimme am Telefon, das mitten in der Nacht klingelt. Da stand nur noch ein Name auf ihrer Liste: der einer Passagierin im Rollstuhl. Einen Augenblick glaubte ich… Iris berührt die Scheibe zwischen ihr und der Strasse, die etwa zehn Stockwerke tiefer liegt. Sie öffnet ihre Handtasche und schaut nach, ob sich etwas an ihrem In halt geändert hat. Einem schwarzen Volvo entsteigen zwei kräftige Waden. Iris denkt zurück an den Sekundenbruchteil des Zögerns, als sie im schwachen Licht des Februarmorgens das Haus verliess. Den Sekundenbruchteil, in welchem sie die Nachricht bekommen hätte, dass diese Wo che die falsche war. Er schiebt seine Son nenbrille nach hinten, betrachtet sie lang sam, bewegt dabei die Nasenflügel und freut sich, dass sie noch keinen Rollstuhl braucht. 35 36 dere sehen sollte, wenn sie sich eines Ta ges besuchen würden. Die neunundzwanzig Tatoos auf dem Rücken eines bad girls, das jedes Jahr ein weiteres kriegt. Der Zoo und was er am meisten mag: die drückend feuchte Luft, der Asphalt, den der Wärter soeben be sprengt hat, wenn in der Allee zwei Gestal ten stehenbleiben, wenn wie von Mund zu Mund, wie von einem Gefäss, dessen Inhalt sich in ein anderes ergiesst, der stickige Ge ruch der Schlangen und die Spötteleien der indischen Drosseln hereinströmt. Doch er zeigt ihr nichts von all dem. In der Mangrove regt sich eine grüne Krabbe, die umkippt und der es dann ge lingt, sich an eine Wurzel zu klammern. Tim geht voraus, seine Arme schwingen wie Pendel: weder Pfadfinder noch Lieb haber, noch Fremder. – Die Krabbe wird auf die Sitzfläche des Rollstuhls zu liegen kommen, sagt er. Das ist meine Frau, wird der Kerl sagen, der den Rollstuhl schiebt. Ja, er wird die Krabbe im Rollstuhl spazierenfahren. Die Leute werden sich umdrehen, weil er mit ihr reden und sie genauso anschnauzen wird, als wäre sie seine Frau. Seine Eltern laden Iris ins Restaurant ein, lassen sich alle italienischen Teigwa ren beschreiben und nehmen dann mit einem Atlantikfisch vorlieb. Tim setzt sie bei einer Hitchcock-Retrospektive ab. Der Ozean ist hundert Kilometer weit weg. Tim lädt ein Freundespaar ein, Wesley und Rowan. Wesleys Gesichtszüge sind fein wie die eines indischen Weisen, und er hat ein verstohlenes Lächeln. Rowan hätte bei nahe vergessen, sich anzuziehen. Bei jeder Bewegung sucht ihr Arm nach Luft, ihre Beine, fleischig und glänzend, können sich nur mit Mühe übereinanderschlagen, und eine Brust quillt ihr aus dem Minikleid. Tim schlägt vor, draussen beim Swimmingpool zu essen. Rowan gelingt es, sich in einen Badeanzug zu zwängen, der speziell von einem Designer für sie kreiert worden ist: eine zweite Haut mit Ärmeln, gallertartiges Material, Heldentat der Hochtechnologie, fähig, einer Gabelzinke standzuhalten. – Sie sind ja nicht mehr jung, riskiert Wesley und wendet sich zu Iris. Sie ver bringen einen ganzen Tag im Flugzeug, um einen Mann zu sehen, der mein Freund ist. Was sagen da wohl Ihre Nachbarn, wenn sie erfahren, dass Sie ans andere Ende der Welt reisen, um jemanden zu be suchen, den Sie seit so langem nicht mehr gesehen haben? So weit reisen nur zum… Iris’ Lächeln mischt zehn Arten des Bedauerns und genauso viele des Froh lockens. – Zwei Männer, die an einem Strand nebeneinander liegen, sind nicht zwangs läufig schwul. Eine Frau, die mit ihren Kindern spielt, ist nicht zwangsläufig für immer unter der Haube. Eine nackte Frau am Strand kann ein sehr diszipliniertes Leben führen. Nicht wahr? – Der Held in Der Leopard, der Fürst von Palma, sagt, von dreiundsiebzig Jah ren habe er eigentlich nur drei Jahre wirk lichen Lebens gelebt. Und, lässt man da von einen Drittel wegfallen, den er mit Schlafen verbrachte, so habe ich ausgerech net: Das sind vierzehn Tage pro Jahr. Gar nicht übel. – Die Spinne wiederum liebt wahr haftig drei oder vier Tage während ihres Daseins. Und da ihr Leben aber selten län ger als zwei Jahre dauert, so ist das schliess lich sehr viel mehr als der Fürst von Palma. Nach dem Kaffee lehnt sich Rowan über die Armstütze zurück und streckt ihre Beine nach Wesleys Knien aus. Ihre Füsse berühren sein Kinn, wenn er spricht. Er beginnt ihr die Beine zu streicheln, vom Knie bis zum Knöchel, geistesabwesend. Hügel von Schweineschmalz kommen ihm unter seine Gelehrtenfinger. Seht uns doch an. Wir sind reich, sagen die Hände, sagen die Füsse. Ihr seid arm. Wesley und Rowan wollten und wollten einfach nicht gehen. Die Nacht ist still. Tim und Iris stehen in der Küche und denken an Rowans Beine. So riesig und glänzend, dass sie alles unterbinden. Schlafen? Sich lieben? Weniger schlafen als einen Wim pernschlag lang? Keine einzige Sekunde? A Der Volvo fährt durch einen Vorort mit Häusern, die verstreut liegen zwischen Tankstellen, verlorenen Kreuzungen und Parks zum Picknicken, die wie verlassene Fussballstadien wirken. Beton wechselt ab mit Sümpfen. DAIRY SWAMP, steht auf einem Schild. Iris stellt sich pralle Euter vor und Schlangen, die sich um die Beine der Kühe schlingen, ohne dass die etwas davon mitbekommen. Die Mischung von Milch und Salz bleibt etwas Besorgnis erregendes. Tim biegt zu einem Tor ab, an wel chem er einen Code eintippt. Einen Schlüs sel für den Eingang, einen Schlüssel für den winzigen Hof hinten, einen Schlüs‑ sel für jedes Fenster, einen Schlüssel für den gemeinsamen Swimmingpool, einen Schlüssel für den Umkleideraum. Ein sehr gesundes Quartier, es entspricht den vom Richter geforderten Kriterien, der die Scheidung zwischen Tim und seiner Frau ausgesprochen hat. Im Zimmer seiner Tochter thront ein schmales Sofa mit ei ner Tagesdecke im Patisseriestil. Gefaltete Hände und Erinnerungsbibeln segnen die hintersten Winkel dieser Zelle, die Tim Iris sofort zuweist. Er sieht auf seine Uhr. Er sieht die ganze Zeit auf seine Uhr. Seine Kinder drehen den Schlüssel, der ihm noch immer im Rücken steckt. Um sechs Uhr morgens sieht es draussen so aus, als wär’s Mittag. Nach dem Abendessen vor sieben Jah ren und sieben Monaten hatte Tim es sich angewöhnt, mit Iris eine Geschichte aus zutauschen, und ihre Lieblingsgeschichte ging wie folgt: Eine Frau giesst sich jeden Abend ein Glas ein und geniesst das Ge tränk langsam. Dann geht sie ins Bett. Sie freut sich aufs Einschlafen, weil sie näm lich von ihrem Sohn träumt, der nach Aus tralien ausgewandert ist und zu dem sie nun geht. Sie steht am Rand einer hohen Felsklippe, nimmt Anlauf und fliegt jede Nacht davon, Richtung Australien. Doch ihr Mann hasst den Spass, den sie am Er zählen und noch mehr am Fliegen hat. Also tauscht er die Flasche aus. Sie trinkt etwas anderes. Beim Erwachen sind ihre beiden Beine gebrochen. Auch Tim wollte eine Geschichte. Also sagte Iris zu ihm, eine erfundene oder eine wahre? Ist das denn so wichtig? fragte er. Sieben Jahre und sieben Monate lang hatten sie sich geschrieben. Auf Papier und via Elektronen. Jeder hatte über die Orte nachgedacht, die er liebte und die der an m Morgen teilt Tim ihr mit, er könne nicht wie geplant mit ihr in den Zoo, doch für den Abend habe er ein kleines Fest für sie im Sinn. Unter Iris’ Lidern defilieren mit hoher Geschwindigkeit die Hochzeitssuite, die pastellfarbene Tagesdecke aus Satin und das klebrige Menü. Weiss er denn nicht, dass es drei Dinge gibt, die sie nicht aus stehen kann: die Farbe Rosa, die Ausru fungszeichen in Anzeigen und im Voraus entscheiden, ordentlich feiern zu wollen. Die Herzen, der Zuckerguss auf den Creme schnitten und die Quallen, die Elizabeth Taylors altem Négligé aus rosa Nylon zum Verwechseln ähnlich sehen? Dass das Be ste ihrer Freude gerade in der Suche nach ihr besteht? – Brauchst mich nirgendwohin zu fah- Weise machen wollte, nie in Erfüllung zu ren. Ich möchte nach Hause. Und zwar gehen und sich auch nie so abzuspielen scheinen, wie man es gerne gehabt hätte. jetzt. Dennoch gehe ich oft schlafen und Er rührt sich nur ganz unmerklich. Er schaut auf seinem Palmtop nach, und denke mir verschiedene Szenarien mit sämtliche Nummern der Luftfahrtgesell dir aus. Du giesst Rotwein in mein Glas, schaften schiessen wie Spritzer auf das schaust mich an und sagst, die VerganDisplay. Männer und Frauen mit Hygiene genheit, an die man sich erinnert, ist mützen auf dem Kopf bereiten in einer zeitlos. In den Büchern, da funkeln die Flugzeughalle schon Alubehälterchen mit Augen der Heldin plötzlich auf. Sie jubelt Rind- und Pouletfleisch zu, die auf neun und hat alles verloren. Ein Missverständmal fünf Zentimetern Platz finden. Ein Sa nis. Sie lächelt und weint zugleich. Das lat mit zehn Gramm vakuumverpackter ist etwas sehr Schönes. Ich bedauere aufSauce. Ein Ellbogen wird einem anderen richtig, dass wir uns nicht noch einmal Ellbogen ausweichen. Rote Westen stür miteinander haben verbinden können, zen auf Iris zu. Angezogen wie für die Hetz einfach um zu spüren, wie sich die Brüjagd. Das Verb Reisen entspricht der Wucht cke neu bildet, die uns in die Vergangeneines kleinen Balls, der auf Tausende an heit hinüberführt, um zu spüren, wie sich derer Bälle aufschlägt. Jede Ziffer ist ein dieses Beben in die Länge zieht und weiterbesteht, während nur ein klein wenig kleiner Soldat in Rot. Der Volvo ist eine glühende Konserven mehr vom Geheimnis dessen, was eine dose. Sitzt da hinter der getönten Scheibe Person zur anderen hinzieht, offenbart wirklich derselbe Mann, der zugab, jedes würde. Doch es war, oh, all das war viel zu irreal: Wirklich, die Mal, wenn er einen ih Mangrovenkrabbe im rer Briefe im Stapel Es ist schon Rollstuhl war viel rem e r k w ü r d i g , w i e d i e Post sah, einen Anflug D i n g e , d i e m a n aler. Was soll’s. Du hast von Erregung verspürt s a g e n , u n d j e n e , d i e mir gefehlt. Hmmm. zu haben? Der sogar m a n a u f n a t ü r eine kleine Spirale Ganz unten in der l i c h e W e i s e m a c h e n Tasche ihrer Jacke, die zeichnete, um die Krei wollte, nie in sie zum Reinigen ge selbewegung, die ihn E r f ü l l u n g z u g e h e n geben hat, stösst Iris plötzlich ins Schwan und sich auch nie auf einen kleinen Zet ken brachte, besser be so abzuspielen schreiben zu können? tel, auf dem sie sich s c h e i n e n , w i e m a n e s Am Kiosk gibt es aufgeschrieben hatte: gerne gehabt hätte. Zeitschriften für kleine Poesie ist, wenn die Leute weg sind. junge Mädchen. In Quiz werden sie aufgefordert, ihre Defini Aus dem Französischen von Markus Hediger tion des Glücks anzukreuzen. Ist es a) ein Muskel, den man noch trainieren muss, b) Corinne Desarzens lebt und arbeitet in Nyon. Ihr letztes Buch, Tabac de Havane jetzt-sofort, c) Rühreier mit Trüffeln? évoluant vers le chrysanthème (JeanEin Fest zu deinem letzten Abend. Paul Rocher Editeur, Paris), steht auf der Ist man auf Wörter fixiert, verflüch Liste der Preisträger der Académie française «für die Verbreitung und Wirkung der tigt sich, was man brennend gern wissen französischen Sprache». Demnächst ermöchte. Das ausgesprochene Wort, auf das scheint: Récits sur assiette (camPoche). Ihr Lieblingssatz: «Hebe nichts auf für eine man gewartet und das man ebenso erhofft besondere Gelegenheit. Jeder Tag, den du wie gefürchtet hat, fällt zeitlich genau mit verlebst, ist eine besondere Gelegenheit.» dem Augenblick zusammen, da, wie in Zukunftsfilmen gesagt wird, sofern man sich nicht an die Spielregeln hält, die Kassette sich von selbst zerstört. Es ist zwar ziemlich seltsam, doch du beschäftigst oft meine Gedanken, steht in dem E-Mail aus Brisbane, das Iris vier Monate nach ihrer Rückkehr erhält, selbst nach der Reise hierher, die unter einem ungünstigen Stern stand. Es ist schon merkwürdig, wie die Dinge, die man sagen, und jene, die man auf natürliche 37 Kryptisches Mehrfachpunktum (2008) 38 39 o r t s Zei t Die Schweizer Kulturstiftung Pro Helvetia unterhält ein weltweites Netz von Aussen stellen. Sie dienen dem Kultur austausch mit der Schweiz und erweitern die kulturellen Netzwerke. n e W Yor k pa ris ro m Wa rsc h au k a iro k a p sta d t n e W de l h i Jenseits von exotischen Stereotypen Seit zwei Jahren ist Pro Helvetia mit ihrem Verbindungsbüro in New Delhi präsent. Nun hat sie ein indischschweizerisches Pionierprojekt lanciert: eine zeitgenössische Kammeroper, die eine traditionelle indische Geschichte neu erzählt. Von Samar Grewal – Wer in New Delhi seinen kulturellen Hunger mit dem schmalen Angebot der wenigen europä ischen Kulturzentren der Stadt zu stillen versucht, erhielt im Oktober 2007 von der Schweizer Kulturstiftung einen willkom menen Leckerbissen serviert. Das Konzert der Schweizer Schwestern Silvia (Geige) 40 und Eva Crastan (Klavier) stiess auf grosses Interesse, doch leider lösen derar tige Events kaum je einen nachhaltigeren kulturellen Dialog aus. Das weiss auch Chandrika Grover, Leiterin des ProHelve tiaVerbindungsbüros in New Delhi, merkt dazu aber an: «Wir sind kein Kulturzen trum. Zwar haben wir einige öffentliche Veranstaltungen durchgeführt, aber in er ster Linie konzentrieren wir uns auf den Aufbau und die Förderung von Partner schaften sowie auf unser ArtistsinResi denceProgramm.» Ihres Erachtens sollte die Stiftung vorwiegend als Vermittlerin im Hintergrund tätig sein und ihren Fo kus über den blossen Austausch hinaus auf Projekte legen, die Impulse für Nach folgeaktivitäten geben können. Das Büro in New Delhi erreichte rasch eine gute Vernetzung, indem es viele Kontakte zu lokalen Kultur und Bildungseinrich tungen knüpfte, einige Veranstaltungen organisierte und genug Bewerber für Ate lieraufenthalte anzog, um das Programm bis nächstes Jahr auszulasten. Sein bis her kühnstes Projekt dürfte jedoch der Auftrag für eine Kammeroper an den indi schen Dichter und Performancekünstler Jeet Thayil und den in Zürich wohn haften britischen Komponisten Edward Rushton sein. Fotos: Sundeep Bali Casting in New Delhi: Rajiv Khati (links) und Suman Sridhar (oben) werden in der Oper mitsingen. Am Piano (links) der Komponist Edward Rushton. Indien als romantisch-exotische Opernkulisse Die Rolle des indischen Subkontinents in der Opernwelt beschränkte sich lange auf diejenige als Schauplatz. Im Zuge der europäischen Indophilie entstanden bis in die zweite Hälfte des 19. Jahrhunderts hi nein einige bis heute bekannte Werke, wie die Perlenfischer von Bizet oder Masse nets König von Lahore. Eines der meist aufgeführten Stücke aus Opern, die auf dem Subkontinent spielen, ist das Blu menduett aus Delibes’ Lakmé, eine Unter haltung zweier indischer Mädchen am Ufer des Ganges. Natürlich setzte diese Art der Verbindung von Romantik und Exotik im Lauf der Zeit etwas Patina an; dies wirkte sich wiederum einschränkend auf das Repertoire der hiesigen Gesangslehrer und -schüler aus, deren Zahl in den in dischen Metropolen stetig zunimmt – ein Trend, der unter anderem auf die Verbrei tung von international anerkannten Di plomkursen für westliche klassische Mu sik und das wiedererwachte Interesse der Inder an Liveunterhaltung zurückzufüh ren ist. Nach und nach wurde das ein schränkende Kriterium des Indien-Bezugs immer häufiger ausser Acht gelassen, und man wandte sich stattdessen traditio nelleren Werken zu. Die Klassiker vermö gen auch hier das Publikum zu begei stern, auch wenn es leider den meisten indischen Inszenierungen etwas an Ori ginalität fehlt. Moderne Nacherzählung einer alten, indischen Geschichte Pro Helvetia entschied sich in dieser Situation für ein anderes Vorgehen, be scheidener in den Dimensionen, aber weit aus komplexer in der Umsetzung: die Pro duktion einer indischen Oper. Die Idee dazu hatte Grover, kurz nachdem sie 2006 zur Stiftung gekommen war, und in der Folge erarbeitete sie gemeinsam mit Thayil die Grundlagen des Konzepts. Das derzeit entstehende Werk dürfte nicht nur ein ausgezeichnetes Vehikel zur Präsentation zeitgenössischer Schweizer Kunst in In dien werden, sondern auch einige interes sante Fragen aufwerfen, dies nicht zuletzt «Unser Werk soll nicht nur dem absoluten Opernfan, sondern jedem, der sich für Musik und Theater interessiert, Vergnügen bereiten.» in Bezug auf die Modernisierung der Oper im Orient (der in diesem Bereich über ein Jahrhundert aufzuholen hat) sowie, so ist zu hoffen, in Bezug auf die Modernisierung des Bilds des Orients in der Oper, weg von exotischen Stereotypen. «Unser Werk richtet sich nicht an ein spezifisches Zielpublikum», betont Thayil. «Es soll nicht nur dem absoluten Opern fan, sondern jedem, der sich für Musik und Theater interessiert, Vergnügen bereiten.» Die Handlung des Stücks beschreibt der renommierte Dichter, Performance-Poet, Gitarrist und Songwriter als «moderne Nacherzählung einer alten indischen Ge schichte.» Die Rollen auf den Leib geschrieben Als das Vorsingen in New Delhi statt fand, war die Oper noch längst nicht fer tiggestellt. «Das ist ungewöhnlich», gibt Rushton zu. «Normalerweise schreibt man zuerst das Stück und castet erst danach. Aber die Auswahl an geeigneten Sängern ist hier kleiner, und für eine Kammeroper müssen wir ja nicht so viele Rollen beset zen. Deshalb beschlossen wir, uns zuerst die Kandidaten anzuhören, um ihnen ihre Rollen auf den Leib schreiben zu können. Das funktioniert ausgezeichnet – ich frage mich, warum man das nicht öfter so macht!» Rushton, zurzeit als freischaffen der Pianist und Komponist tätig, plant eine Partitur für Geige, Bratsche, Kontra bass, Flöte und Perkussion, eingespielt von Musikern aus Zürich. Das Stück, das die Kandidaten für das Vorsingen einstu dieren mussten, wird zwar in der endgül tigen Fassung nicht vorkommen, gibt aber einen Eindruck davon, was die Zuhörer er warten wird: eine hypnotische Stunde voll vokaler Akrobatik, Passagen in weiter Lage und eindringliche Lieder, die sowohl an Musicalmelodien als auch an Harry Partchs Studien altgriechischer Tonsys teme erinnern. Als eigentliche Pioniere auf diesem Gebiet wussten Thayil und Rushton nicht, was sie vom Vorsingen erwarten sollten, wurden dann aber angenehm überrascht. «Am ersten Tag drängte sich niemand für eine Hauptrolle auf. Jeet dachte schon, wir müssten eine weitere Castingrunde pla nen… doch am zweiten Tag wurde klar, dass das nicht nötig sein würde», meinte ein sichtlich zufriedener Rushton nach Ab schluss des Auswahlverfahrens. «Wir er wogen sogar, zusätzliche Rollen einzu bauen, um auch die besten Kandidaten des dritten Tages berücksichtigen zu kön nen», fügte Thayil an. Obwohl das Stück, das sie vorbereiten mussten, äusserst an spruchsvoll war, zeigten sich die meisten Sänger der Herausforderung gewachsen und machten fehlende Perfektion durch Selbstbewusstsein und die Bereitschaft wett, sich auf neues Terrain zu wagen. Bis April nächsten Jahres soll die Oper fertiggestellt sein, sodass dann die Proben beginnen können. Die Uraufführung in In dien ist für Herbst 2009 geplant, und 2010 soll das Werk dann auch in der Schweiz zu sehen sein. Chandrika Grover, Leiterin Pro Helvetia New Delhi. Samar Grewal ist Musiker, Schriftsteller und Journalist bei der indischen Ausgabe des Rolling Stone. Daneben beschäftigt er sich intensiv mit Film und Musik. Er lebt und arbeitet in New Delhi. www.prohelvetia.in 41 ORTS ZEIT die Diskussionen über das architektonische Erbe des Kommunismus und die Organi sation der Fussball-Europameisterschaft 2012 in Polen waren Anlass für eine Reihe von Performances unter dem Titel Finissage des Stadions des Jahrzehnts. Im Rah men der Finissage fanden sechs Aktionen statt; an drei von ihnen nahmen Schwei zer Kunstschaffende teil, die ich 2007, dank der Einladung von Pro Helvetia Warschau, während meiner Recherche reise in der Schweiz kennen gelernt hatte. Gesprächen mit den eingeladenen Exper ten – einem Ornithologen, einem Spezia listen für Militärtechnik und einem tschetschenischen Flüchtling – zuhören konnten. Die Aktion regte an zum Nach denken über ein verschwindendes Denk mal der Geschichte und bot Gelegenheit, es ein letztes Mal zu betrachten. Ein letzter Blick auf die «Berliner Mauer» Warschaus Die Finissage belebte einen von den Warschauern vergessenen Ort wieder, mit dem, wie sich zeigte, jeder auf irgendeine Art und Weise verbunden ist. Das Interesse Dialog mit der Baustelle Den Anfang machte Bo- an dem Projekt war enorm. Unter den niek!, eine Aktion Massimo 3’000 Personen, die zur Finissage kamen, Furlans, der die Choreogra war nicht nur das Kunstpublikum vertre fie Zbigniew Bonieks im ten, sondern befanden sich auch viele Be historischen Spiel Polen- sucher, die einen Blick auf die Warschauer Belgien bei der WM 1982 in «Berliner Mauer» werfen wollten. Die Fi Spanien nachspielte. Furlan nissage wurde von der Tageszeitung GaStadion des hatte schon früher berühmte zeta Wyborcza, dem Fernsehsender TVP Jahrzehnts: Nachdenken über Fussballer verkörpert, Spiel Kultura und der Zeitschrift Aktivist für ein schwindendes ort war diesmal jedoch ein den Preis Ereignis des Jahres nominiert, Denkmal zerstörtes Stadion ohne jeg und die Aktion Boniek! erhielt den Publi liche Infrastruktur. Dem Objekt wurde kumspreis Wdecha 2007. Die Schweizer 1955 als Nationalstadion neues Leben eingehaucht. Zum Spiel ka Künstler, die am Projekt teilnahmen, hat auf den Kriegsruinen erbaut, wurde das Warschauer Stadion des Jahrmen über 700 Zuschauer. Die Beschwö ten die Gelegenheit, sich mit einem unge zehnts in den 90er-Jahren als Basar rung der Wirklichkeit gelang: Das Stadion wöhnlichen und symbolträchtigen Objekt genutzt. Auf Einladung der Prowar antikes Kolosseum und WM-Spiel auseinanderzusetzen, und dies vor einem Helvetia-Aussenstelle Warschau begrossen und vor allem heterogenen Publi stätte zugleich. spielten Schweizer Künstler den Von anderer Art war die Aktion Palo- kum, was in der künstlerischen Alltag historisch bedeutsamen Ort heuer wanie (Pfahlgründung) der aus zwei Tän spraxis eine Seltenheit ist. mit einer Serie von Performances. zern, zwei Architekten und einer Video‑ künstlerin bestehenden Zürcher Gruppe Stadion des Jahrzehnts: www.stadion-x.pl Von Joanna Warsza – Das Stadion annas kollektiv. Die Künstler arbeiteten im Aus dem Polnischen von Andreas Volk des Jahrzehnts in Warschau und der Markt Frühjahr 2008 zwei Wochen lang im Sta Joanna Warsza ist Kuratorin partizipativer um das Stadion herum sind so etwas wie dion – gerade als die Tests für den Stadi Kunstprojekte und des Zyklus Finissage of eine Stadt in der Stadt. Das Leben beginnt onneubau begannen. Ergebnis ihrer Arbeit the Stadion X. Sie ist Präsidentin der hier um drei Uhr nachts, die Menschen war ein nächtliches Schauspiel auf der Bau Laura-Palmer-Stiftung und lebt in Warschau. sprechen asiatische Sprachen, Wildpflan stelle, bei dem Bagger und Maschinen zum zen überwuchern den Sportplatz, und auf Einrammen von Pfählen zusammen mit den Tribünen suchen Archäologen nach Menschen tanzten. mittelalterlichen Schätzen. Das Stadion Ihren Abschluss fand die Finissage wurde 1955 mit dem Schutt der im Krieg mit der ganztägigen Installation Schengen zerstörten Stadt aufgeschüttet, als ein Vor des Theaters Schauplatz International. zeigeobjekt der stalinistischen Ära. Anfang Ausgangspunkt war die Beobachtung, dass der 80er-Jahre war es als Sportstätte tot, Stadien ähnlich wie Grenzen dem Bau na danach wurde es von den Händlern reani tionaler Identitäten dienen. Die Künstler miert, die auf der Stadionkrone auf Feld malten auf den Rasen ein Fragment der betten ihre Ware ausbreiteten. Das Stadion polnischen Ostgrenze, die zugleich EUund der Markt werden bis Ende 2008 ver Aussengrenze ist. Auf der Stadionkrone schwinden; an ihrer Stelle entsteht das wurden Punkte eingerichtet, von denen neue Nationalstadion. Gerade die langjäh aus die Zuschauer durch Ferngläser die rige stille Anwesenheit der Ruinen inmit von den Schauspielern arrangierten Situ ten der postkommunistischen Stadt sowie ationen beobachten und gleichzeitig den 42 Foto: Marta Orlik Geschichte, künstlerisch animiert a usb l i ck reaktion e n / o n lin e im p re ssu m Nächste Ausgabe Zustimmung, Ergänzung, Widerspruch? Herausgeberin: Pro Helvetia Schweizer Kulturstiftung www.prohelvetia.ch China Mit kritischer Neugier beobachtet die Welt Chinas ökonomischen und kulturellen Aufbruch. Was bedeuten der rasante gesellschaftliche Wandel und die zaghafte Öffnung gen Westen für die jungen chinesischen Kunstschaffenden? Welche Chancen und Schwierigkeiten birgt ein Kulturaustausch der Schweiz mit China? Und wie erleben Chine sinnen und Chinesen die Schweiz und ihre Kultur? Die nächste Ausgabe des Kulturma gazins Passagen widmet sich dem Reich der Mitte im Aufbruch und erscheint im April 2009. Passagen Zuletzt erschienene Hefte: Neue Töne in der Musikförderung 1/08 Balkan in Bewegung 3/07 Mit Passagen-Spezial: Schweizer Kulturprogramm Südosteuropa und Ukraine Mobile Worte 2/07 Unterwegs zu einer schwei zerischen Buch-, Lese- und Kulturpolitik Ihre Meinung interessiert uns! Schreiben Sie uns, wie Ihnen das neue Kulturmagazin Passagen gefällt, welcher Heftbeitrag Ihre Zustimmung oder Ihren Widerspruch geweckt hat und vor allem, warum! Das Redaktionsteam nimmt Ihre Leserbriefe gerne entgegen. [email protected] Passagen online Besuchen Sie Passagen und Pro Helvetia im Internet: Passagen das Kulturmagazin von Pro Helvetia online: www.prohelvetia.ch/passagen Pro Helvetia Aktuell Aktuelle Projekte, Ausschreibungen und Programme der Kulturstiftung Pro Helvetia www.prohelvetia.ch Pro Helvetia International Aussenstellen von Pro Helvetia: Paris/Frankreich www.ccsparis.com Rom, Mailand, Venedig/Italien www.istitutosvizzero.it Warschau/Polen www.prohelvetia.pl Kairo/Ägypten www.prohelvetia.org.eg Kapstadt/Südafrika www.prohelvetia.org.za Die elektronische Version dieser Ausgaben können Sie kostenlos im Internet herunterladen oder das Magazin zum Preis von Fr. 15.– pro Ausgabe bestellen unter: www.prohelvetia.ch/passagen. Passagen erscheint in deutscher, französischer und englischer Sprache. Das Abonnement ist kostenlos. 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Sie stärkt den Austausch zwischen den Kulturen im eigenen Land und mit anderen Ländern. Pro Helvetia setzt sich für die Vielfalt des kulturellen Schaffens ein, ermöglicht die Reflexion kultureller Bedürfnisse und trägt zu einer kulturell vielseitigen und offenen Schweiz bei. New Delhi/Indien www.prohelvetia.in New York/Vereinigte Staaten www.swissinstitute.net Newsletter Möchten Sie laufend über aktuelle Projekte und Engagements von Pro Helvetia informiert werden? Dann abonnieren Sie unseren E-Mail-Newsletter unter: www.prohelvetia.ch 43 Only For Promo (2007) Foto: Guadalupe Ruiz 44 PARTNER: SOPHIE UND KARL BINDING STIFTUNG Jahrzehntelang wirkte die Binding-Stiftung im Verborgenen. Schliesslich trat sie an die Öffentlichkeit und möchte jetzt verstärkt mit anderen Förderstellen zusam menarbeiten. Illustration: Raffinerie AG Von Sandra Leis Schaut man sich die Stiftungsland schaft Schweiz an, so ist die Sophie und Karl Binding Stiftung ein Musterbeispiel helvetischen Zuschnitts: 1963 vom Ehe paar Binding mit Sitz in Basel gegründet, wirkte die gemeinnützige Stiftung wäh rend der ersten Jahrzehnte ganz im Ver borgenen – bis 1998 war sie nicht einmal im Telefonbuch aufgeführt. Sophie und Karl Binding waren naturverbunden, lieb ten die Jagd und die Berge, und so erstaunt es nicht, dass neben den Förderbereichen Soziales, Bildung und Kultur die Umwelt ein Kernanliegen der Stiftung ist. 1987 in itiierte das Stifterpaar den mit 200’000 Franken dotierten Binding Waldpreis, der jährlich einem Schweizer Waldbesitzer verliehen wird. Breit gefächert ist das Engagement der Binding-Stiftung, die sich positionie ren will als «Nischenplayer, der sein Mo dell bewusst pflegt», wie Geschäftsführer Benno Schubiger sagt. Rund die Hälfte der Mittel fliesst in eigene Schwerpunkt projekte, die andere Hälfte vergibt die Stif tung als Förderbeiträge auf Gesuch. Jähr lich unterstützt die Binding-Stiftung 150 bis 200 Gesuche. Grundlage des Stiftungskapitals ist das Erbe der jung verwitweten Sophie von Opel-Hübscher (1902–1989), die in erster Ehe mit Hans von Opel verheiratet war, einem Enkel des Gründers der Opel-Auto werke. Mit ihrem ersten Mann zog die ge bürtige Frankfurterin 1929 in die Schweiz nach Liestal, wo sie 1951 den ebenfalls aus Frankfurt am Main stammenden Karl Bin ding (1911–1994) ehelichte, einen Spross der gleichnamigen Brauereifamilie. 1955 liess sich das Paar im Fürstentum Liech tenstein nieder; die acht Jahre später ge gründete Stiftung allerdings unterstützt ausschliesslich Projekte in der Schweiz. Nach dem Tod der kinderlosen Stifter stiegen die finanziellen Mittel stark an. Mittlerweile liegen die Vermögenserträge jährlich bei rund drei bis vier Millionen Schweizer Franken, die gesamthaft aus geschüttet werden. Neben der Projektför derung auf Gesuch begann die Stiftung eigene Projekte ins Leben zu rufen, im Jahr 2000 waren es gleich deren vier: das Nachdiplomstudium Kulturmanagement an der Universität Basel, die Académie Fra gile Suisse, eine Lern- und Begegnungs stätte für hirnverletzte Menschen, das Ba «Grosse Institutionen sind ein Indikator für Qualität.» rockorchester La Cetra Basel und Trans Helvetia, ein Theateraustausch im jeweils anderen Sprachgebiet. Des weiteren vermietet die BindingStiftung Ferienwohnungen für Behin derte, vergibt jährlich zwei Stipendien an Diplomanden des Studiengangs Konser vierung und Restaurierung an der Hoch schule der Künste der Berner Fachhoch schule und fördert in Kooperation mit der Vereinigung Schweizer Kunstmuseen Ausstellungen von über vierzigjährigen Schweizer Künstlerinnen und Künstlern (Binding Sélection d’Artistes). Ihr jüngstes Projekt hat die Binding-Stiftung in enger Zusammenarbeit mit der Schweizerischen Studienstiftung entwickelt: Austausch stipendien sollen Studierende in andere Landesteile locken (Univers Suisse). Derzeit stammen die Anfragen zu 80 Prozent aus der freien Theaterszene – das soll sich ändern mit den neuen Vergabe richtlinien, die im Herbst 2008 in Kraft treten. Die Stiftung will sich ein schär feres Profil verpassen und definiert je ein Kernthema in den Bereichen Umwelt, So ziales, Bildung und Kultur. Für förde rungswürdig befundene Projekte werden während fünf Jahren unterstützt. Einga ben ausserhalb der Kernthemen sind nach wie vor willkommen, allerdings sind die Gesuchsteller verpflichtet, auch anderwei tig Gelder aufzutreiben. «Wenn Pro Helve tia oder das Migros-Kulturprozent auf ein Gesuch eintreten, so ist die Chance deut lich höher, dass auch wir mitziehen», sagt der studierte Kunsthistoriker Benno Schu biger. «Grosse Institutionen sind ein Indi kator für Qualität.» Schubiger, von 2001 bis 2005 Grün dungspräsident von Swiss Foundations, dem Verband der Schweizer Förderstif tungen, macht sich stark für eine Koope ration zwischen staatlichen und privaten Förderstellen. Gerne möchte er im Kul turförderungsgesetz folgenden Satz ver ankern: «Der Bund sucht in der Kultur förderung die Zusammenarbeit mit den Privaten.» Bis jetzt erfolglos. Strategisch weniger klug erachtet Schubiger ein Vorgehen wie dieses: Pro Helvetia fördere mit dem Programm echos die Volkskultur, wolle damit das eigene Image aufpolieren, das Projekt aber nur teilfinanzieren; die restlichen Gelder sol len die Privaten aufbringen. «Eine solche Idee stösst bei uns auf wenig Gegenliebe. Wir suchen die Zusammenarbeit, wir wol len Partner sein, keine Lückenfüller.» Bündelung der Mittel sei das Ziel, sagt Schubiger, doch dann müsse imagemäs sig für jeden Beteiligten etwas heraus springen. Das leuchtet ein – auch wenn Pro Helvetia nicht sämtliche privaten För derer miteinbeziehen kann. Sandra Leis ist Literaturkritikerin und Ressortleiterin Kultur bei der Tageszeitung Der Bund in Bern. Sie ist regelmässige freie Mitarbeiterin bei Schweizer Radio DRS 2, Stiftungsrätin der Schweizerischen Schiller stiftung und Jurorin beim Schweizer Buchpreis, der diesen November erstmals verliehen wird. 45 k o l um n e H.A.S.E.* Von Graziella Contratto 46 alte Wunsch nach Kontinuität? BBB!** Nach historischer Verantwortung? FG!*** Ich stürzte mich auf meine alten Si cherheitscodes: Sollte ich vor allem rhyth misch geprägte Musik programmieren? («Strawinsky hat nämlich den Techno er funden. Hört mal hin!») Sollte ich auf Stings Zitate aus Rachmaninovs Klavier konzert pochen? («Auch Sting kocht nur mit Wasser…!») Konnte man in Schu manns Dichterliebe nicht die glühende Seelenlandschaft der Jugend nachweisen? («Heine hätte euch super verstanden…!») Oder sollte man Komponisten beauftra gen, die Musik der Jungen einzubauen? («Jetzt klatscht mal diese Triole mit…!») Misserfolg über Misserfolg. Ich stand mit einem Mikro auf der Bühne, hinter mir das Orchester und mein bleierner Bil dungsanspruch, vor mir diese geballte Kraft an erwachenden Hormonen und (musikalischen) Geschmacksnerven, an potenziellen Drei-Gesangsstunden-Karri eren, an Spaghettiträgern, Tiefschritt-Ho sen und immensem Selbstbewusstsein, das nur auf sich selbst gründet. Zeit für eine Lektion. Es blieb mir nur, mich selbst zu än dern; ein neuer Wertekatalog musste her! Ab jetzt hiess es: Anerlesenes gilt nicht! Erleben kommt vor Analysieren! Spür, wer du bist, Mann! Und dann kannst du mit deinen Sounds wieder ankommen. Dann hören wir hin, wir finden sie wahr scheinlich immer noch langweilig, aber wenn DU sie geil findest, ist das ok. Viel leicht nehmen wir auch mal einen Loop aus der Basslinie, wie heisst der noch mals? Lamentobass? (Ich jubilierte.) Bin ich heute glücklicher? Ich Bil dungsnostalgikerin? Jocelyne, 15, meint: Relax, babe, ein guter contact ist die halbe Miete. * habe Sehnsucht ** bye bye baby *** frech grins Graziella Contratto ist geboren in Schwyz, weggegangen bis nach Berlin und Lyon, dann zurückgekommen wegen Davos. Dirigiert trotz gebrochenem Verhältnis zur Macht. Stiftungsrätin bei Pro Helvetia. Mag Menschen. Und halt immer noch Bücher. www.graziellacontratto.com Illustration: Lina Müller In meiner Adoleszenz hatte ich mir als verschupfte Innerschweizerin mit Kunst anspruch einen persönlichen Wertekatalog zusammengekritzelt: Schwierige Bücher lesen und Sekundärliteratur erkunden: 30 Punkte. Komplexe Kompositionen analy sieren, dazu Adornos Philosophie der Neuen Musik studieren: 25 Punkte. Sich verlieben ohne Gegenliebe zwecks Inspi ration: 20 Punkte. Modetrends verneinen: 10 Punkte. Innerhalb meines Denksystems hatte ich schliesslich alle Anforderungen erfüllt und das höchste Glücksgefühl bedeutete, in den Cafeterien der unzähligen Kon servatorien, die ich während meiner Aus bildung zur Berufsmusikerin besuchte, mit einem gescheiten jungen Mann mit kleinglasiger Brille über Ernst Kurths Schopenhauer-Projektion auf Wagners Tristan zu diskutieren. Oder über die Kretzschmar-Kapitel in Thomas Manns Doktor Faustus. Oder über Peter Greena ways Ritual-Parodie. Als einen schweren Sack, gefüllt mit dantesken Felsbrocken, schleppte ich die humanistische Last meiner Jugend jahre lang hinter mir her, es war ein lustvolles Schleppen, das mir das Gefühl gab, Edles zu tun. Meine Arbeit als Dirigentin und Programmgestalterin trug das Gütesiegel der bildungsbürgerlichen Rückbindung. Und dann… kam die unvermeidliche Begegnung mit der Jugend von heute in musikpädagogischen Konzerten – DIE Herausforderung für jeden Musikvermitt ler: jung, kreativ, von alten akademischen Werten freigegoogelt, das Leben herun tergeladen, die Liebe zur Weisheit (PhiloSophia) relaxed transformiert in smsBotschaften, Netze, Virtuelles. Die Musik dieser Generation: omnipräsent, im DauerPräsens, in ständiger Metamorphose. Die alten dialektischen Kriterien? 4get it! Der Lina de Appenzell (2007) Foto: Guadalupe Ruiz 47 «Ist Multikulturalität mehr als ein kulinarischer Begriff?» Von der Schärfung des Blicks durch den Schleier Susanne Schanda, S. 21 «Wir verstehen uns gut, weil wir einander nicht verstehen», sagen die Schweizer gerne im Scherz. Glückliches Babel Etienne Barilier, S. 18 Jedes verunglückte Sprechen, jedes falsche Verstehen hat einen psychischen Grund und enthält einen psy chischen Gewinn. Vom geheimen Verstehen im Missverstehen Elisabeth Bronfen, S. 30 Kunst ist jenes grosse Feld, in dem wir Verstehen in Ruhe üben, weil Nichtverstehen und Missverstehen keine blutigen Das Recht aufs Missverstehen Konsequenzen haben. Pius Knüsel, S. 16 www.prohelvetia.ch/passagen Die Stiftung Pro Helvetia fördert und vermittelt Schweizer Kultur in der Schweiz und rund um die Welt.