Solidarität. Studie - Rosa-Luxemburg

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Solidarität. Studie - Rosa-Luxemburg
Effi Böhlke
Solidarität
Eine ideengeschichtliche Studie
Im Auftrag der Rosa-Luxemburg-Stiftung
Vorwärts, und nie vergessen, worin unsre Stärke besteht!
Beim Hungern und beim Essen,
vorwärts, nie vergessen:
Die Solidarität!
Bertolt Brecht, Hanns Eisler: Solidaritätslied.
Aus dem Film „Kuhle Wampe“ (1930)
Inhalt
Inhalt ................................................................................................................................. 2
Vorspann ........................................................................................................................... 3
I. Philosophisch-soziologische Debatten am Ende des 20. Jahrhunderts .......................... 5
Richard Rorty: Solidarität und Toleranz .......................................................................... 5
Michael Walzer: Solidarität und Gemeinsinn.................................................................. 6
Pierre Bourdieu: Für eine neue internationale Solidarität. Oder: Bourdieu lesen. Im
Jahre 2009 ..................................................................................................................... 8
Die neoliberale Globalisierung – Mythos und Realität zugleich ...................................... 8
Die Idee des europäischen Sozialstaats ....................................................................... 10
Eine neue (internationale) Solidarität............................................................................ 11
II. Ein Höhepunkt des Solidaritätsdiskurses: die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert .. 15
Emile Durkheim: Mechanische und organische Solidarität oder: Die moderne
Arbeitsteilung widerspricht nicht der Solidarität – ganz im Gegenteil! ......................... 15
Léon Bourgeois: Das universelle Gesetz der Solidarität – und ihre Grenzen................. 22
III. Solidaritätsdiskurs in religiösem Gewand: Saint-Simonisten und Fourieristen............ 28
Pierre Leroux: Der Mensch – ein solidarisches Wesen................................................. 28
Hippolyte Renaud: Individuen, Klassen, Nationen sind solidarisch (oder sollten es doch
wenigstens sein) .......................................................................................................... 32
IV. Die „Meisterdenker“ am Beginn des 19. Jahrhunderts .............................................. 35
Claude-Henri de Saint-Simon : Brüderlichkeit, Nächstenliebe, Philanthropie und das
Glück der größtmöglichen Zahl.................................................................................... 35
Charles Fourier: Glück für alle auf der Basis von Attraktion ......................................... 40
Literaturverzeichnis.......................................................................................................... 46
2
Vorspann
Die [westlichen] Gesellschaften scheinen auseinander zu brechen. Überall lassen sich
Phänomene von Individualismus und Egoismus erkennen. Die sog. „Ellenbogenmentalität“
weitet sich aus: Kämpfen, „sich durchboxen“ ist die Devise. Alte Bindungen zerbrechen,
angefangen von den Familien, wo in Deutschland bereits fast jede zweite Ehe geschieden
wird. Unter den Bedingungen der derzeitigen Krise treten diese Erscheinungen noch
drastischer zu Tage: Auch in der Arbeitswelt scheint jede(r) auf sich allein gestellt, wird um
den Erhalt des Arbeitsplatzes gekämpft, wenn nötig gegen die eigenen KollegInnen;
Kernbelegschaften wahren ihre Interessen gegen Zeitarbeiter, Arbeitslose bzw. die
wachsende Zahl sog. prekär Beschäftigter, die ihnen potentiell ihre Jobs streitig machen;
einheimische Arbeiter zittern um die Verlagerung ihrer Arbeitsplätze ins Ausland, wo
billigere Arbeitskräfte ihnen die Jobs wegnehmen (könnten). Und so fort.
Vor diesen Hintergründen erschallt nicht zufälligerweise von unterschiedlichen Seiten her
der Ruf nach dem Erhalt der alten sozialen Bindungen, nach Gemeinschaftlichkeit, die dem
Auseinanderbrechen/-driften der Gesellschaft wie ein Bollwerk entgegen zu setzen wäre:
Hochgehalten werden dann solche Institutionen wie Ehe, Familie, Nation, Religion, Kultur.
Doch haftet derartigen Reaktionen oftmals auch ein retrograder, nicht nur (durchaus auch)
positiv konservierender, sondern konservativer Beigeschmack an, und es ist fraglich, ob
diese Antworten dem Charakter der heutigen Gesellschaften und v.a. ihrer künftigen
Entwicklung gerecht werden.
Denn: Die heutigen [westlichen/modernen] Gesellschaften sind von zahlreichen Differenzen
durchzogen; sie stellen große Konglomerate diverser Gemeinschaften dar, und jeder
Mensch bewegt sich in sehr unterschiedlichen Gemeinschaften, hat, um es so
auszudrücken, „multiple Identitäten“ und nicht nur eine. Selbst Ehe und Familie sind keine
homogenen, opaken Ganzheiten, sondern von vielfältigen Differenzen und Spannungen
gezeichnete „Beziehungskisten“ – angefangen von der Geschlechter-, über die
Generationen-, bis hin zu vielfältigen Interessendifferenz(en). Wie können, angesichts
dessen, sinnvolle und angemessene Vorstellungen von neuer Gemeinschaftlichkeit
entwickelt werden, die weder romantisch-retrograd sind, noch in ihrer praktisch-politischen
Umsetzung autoritär-totalitär, da eine Idee von Gemeinschaftlichkeit (auch) mit den Mitteln
der Gewalt durchsetzend?
Diese zugleich theoretisch wie praktisch-politisch relevante Problemstellung ist seit
geraumer Zeit Gegenstand der internationalen politisch-philosophischen/-soziologischen
Debatte. Sie gehört zum Kernbestand der Auseinandersetzungen zwischen liberalen und
kommunitaristischen Denkern, wie sie Ende des vergangenen Jahrhunderts ausbrach.
In groben Zügen lässt sich diese Debatte folgendermaßen zusammenfassen: Während
liberale Denker die typischen Werte des Liberalismus – Freiheit, Individualismus,
Selbstentfaltung – hochhalten, verteidigen [eingefleischte] Kommunitaristen die Werte der
Gleichheit, Gemeinschaft [welcher Art auch immer], des Gemeinwohls. Als ein Sonderzug
dieser Debatte schälte sich die Entgegensetzung von Toleranz einerseits und Solidarität
andererseits heraus: Während „Toleranz“ [nach wie vor] als typisch liberaler Wert gilt, wird
„Solidarität“ mit all den damit verbundenen Bedeutungsgehalten und Begriffen von den
Kommunitaristen, den modernen Anhängern/Theoretikern der Gemeinschaftlichkeit/des
Gemeinsinns, hochgehalten bzw. ihnen zugeschrieben.
Und doch gibt es, wie in jeder Auseinandersetzung, auch Mischformen, reziproke
Übernahmen, Annäherungen, in denen wohl am ehesten Anregungen und
Zukunftsweisendes zu suchen und zu finden sind.
In jedem Fall habe ich den Eindruck, dass derzeit der Begriff der Solidarität Konjunktur hat.
Selbst in den Medien – Radio, Fernsehen – ist beständig von Solidarität die Rede: etwa,
wenn es sich um „Solidarität mit den Opfern des Erdbebens in Haiti“ im Januar 2010
3
handelt; selbst der Aufruf zum Sichimpfenlassen gegen die sog. Schweinegrippe wurde die
„Solidarität mit den Mitmenschen“ als Argument verwendet. Es ist aber davon auszugehen,
dass dieser Begriff sehr unterschiedlich verwendet wird – je nach Kontext, Sprecher bzw.
Autor, seiner persönlichen und sozialen Situation etc.
Anliegen der vorstehenden, im Rahmen des von Lutz Brangsch an der Rosa-LuxemburgStiftung Berlin geleiteten Projekts „Initiative für Neue Solidarität und eine gerechte
Gesellschaft“ angefertigten Studie ist es, den Diskurs über Solidarität zu analysieren, wie er
insbesondere in den französischen Sozialwissenschaften des 19. und 20. Jahrhunderts
geführt wurde. Ohne Anspruch auf Vollständigkeit gehe ich dabei auf relevante Autoren
dieses Diskurses ein und frage danach, wie und in welchem Kontext sie den Begriff der
Solidarität verwendeten und wie sie ihn durch diese Verwendung konkretisiert, präzisiert,
verändert, in jedem Falle jedoch spezifisch bestimmt haben.
Im Gegensatz zur Chronologie bewege ich mich dabei gewissermaßen „im
Rückwärtsgang“, so dass die Darstellung dem tatsächlichen Gang meiner Forschungen
entspricht: Ausgehend von Auseinandersetzungen um den Begriff der Solidarität, wie sie
zwischen liberalen und kommunitaristischen Autoren Ende des 20. Jahrhunderts geführt
wurden – hier habe ich exemplarisch Richard Rorty und Michael Walzer herangezogen –
(womit schon bereits im Ausgangspunkt deutlich wird, dass sich der Solidaritätsdiskurs
selbstverständlich nicht auf den frankophonen Raum beschränkt), und dem Aufruf zu einer
„neuen internationalen Solidarität“, wie er in den politischen Reden und Schriften von
Pierre Bourdieu aus den 1990er Jahren zu finden ist, bewege ich mich wie ein Krebs vorbzw. eben rückwärts, um schrittweise zu den Quellen dieses Diskurses zu gelangen. Dabei
mache ich zunächst bei Emile Durkheim und Léon Bourgeois halt, die ihre im Kontext des
Solidaritätsdiskurses relevanten Schriften an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert
verfasst haben, gehe dann auf die u.a. von ihnen erwähnten Schüler resp. Nachfolger von
Saint-Simon und Fourier, nämlich Pierre Leroux und Hippolyte Renaud ein, um schließlich
bei denjenigen Autoren „zu landen“, die den Solidaritätsdiskurs zu Beginn des 19.
Jahrhunderts – und zwar vor dem Hintergrund fundamentaler gesellschaftlicher Umbrüche
und diverser Krisen! – geprägt und in bestimmte Bahnen gelenkt haben – eben ClaudeHenri de Saint Simon und Charles Fourier.
Wohlgemerkt: Der Solidaritätdiskurs ist nicht auf Frankreich beschränkt, und selbst die hier
ausgewählten Autoren bilden nur einen Ausschnitt aus einer weitaus komplexeren
politisch-intellektuellen Welt. Dennoch: Bereits an diesem Ausschnitt werden die
Komplexität des Diskursgeschehens, relevante Bezüge zu anderen Kategorien des
politischen Denkens, sich durchziehende Themenstellungen, aber auch, vor dem
Hintergrund des sich verändernden gesellschaftlichen Kontextes und sozialer Umbrüche,
Brüche und Wendungen des Diskurses deutlich.
4
I. PhilosophischPhilosophisch-soziologische Debatten am Ende
Ende des 20. Jahrhunderts
Richard Rorty: Solidarität und Toleranz
Beginnen wir unsere Analyse des Solidaritätsdiskurses mit Richard Rorty (1931-2007). In
seinem Buch „Kontingenz, Ironie und Solidarität“ (engl. Erstausgabe „Contigency, irony and
solidarity“, Cambridge University Press 1989) sucht der sich selbst als (ironischen) Liberalen
bezeichnende Amerikaner nach Wegen der Vermittlung liberaler, individualistischer, auf das
Private, und kommunitär-gemeinschaftlicher, auf das Öffentliche bezogener Werte, und er
geht dabei in die Ideengeschichte des 19. und 20. Jahrhunderts zurück.
So schreibt er gleich zu Beginn der Einleitung:
„Der Versuch, die Bereiche des Privaten und des Öffentlichen zu verschmelzen, steht hinter
Platons Versuch einer Antwort auf die Frage: ‘Warum liegt es im eigenen Interesse, gerecht
zu sein?’, ebenso wie hinter der Behauptung der christlichen Religion, dass vollkommene
Selbstverwirklichung durch den Dienst an anderen zu erlangen sei. Solche metaphysischen
oder theologischen Versuche, Streben nach Vollkommenheit mit Sinn für Gemeinschaft zu
vereinen, verlangen von uns, eine allen Menschen gemeinsame Natur zuzugeben. Sie
fordern von uns zu glauben, dass am wichtigsten für jeden das ist, was wir mit anderen
gemeinsam haben – dass private Erfüllung und Solidarität aus denselben Quellen
kommen.“1
Als Verfechter privater Autonomie figurieren bei ihm Autoren wie Kierkegaard, Nietzsche,
Baudelaire, Proust, Heidegger und Nabokov, während Marx, Mill, Dewey, Habermas und
Rawls für ihn „Mitbürger“ darstellen, die sich für die gemeinschaftliche Umgestaltung
gesellschaftlicher Institutionen stark machen.2
Rortys Frage nun besteht darin, ob es überhaupt möglich ist, diese beiden Stränge
miteinander zu verknüpfen, also „[…] Selbsterschaffung und Gerechtigkeit, private
Vervollkommnung und Solidarität mit anderen Menschen in einer einzigen Vision zu
erfassen.“3 Seine zunächst pessimistisch anmutende Antwort lautet, dass es dazu keine
Möglichkeit gibt, denn:
„Das Vokabular der Selbsterschaffung ist zwangsläufig privat, wird von niemandem geteilt,
ist ungeeignet zur Argumentation. Das Vokabular der Gerechtigkeit ist zwangsläufig
öffentlich, wird von vielen geteilt, ist Medium für den Austausch von Argumenten.“4 Ihm
zufolge sind „[…] die Forderungen nach Selbsterschaffung und nach Solidarität als
gleichwertig, aber für alle Zeit inkommensurabel zu betrachten.“5
Was nun? Den Ausweg sieht Rorty in – der Zukunft. Er macht „Solidarität“ zum Fluchtpunkt
seiner, wie er es nennt, liberalen Utopie:
„In meiner Utopie würde man Solidarität nicht als ein Faktum verstehen, das erst durch das
Ausräumen von ‘Vorurteilen’ oder durch den Vorstoß in vorher verborgene Tiefen
erkennbar wird, sondern als ein anzustrebendes Ziel.“6 Diese Utopie wird nie vollständig
realisiert werden; der Solidarität als Ideal können sich die Menschen nur asymptotisch
annähern, und sie kreieren die [jeweils aktuelle] Solidarität durch ihr Handeln.
„Solidarität wird nicht entdeckt, sondern geschaffen. Sie wird dadurch geschaffen, dass wir
unsere Sensibilität für die besonderen Einzelheiten des Schmerzes und der Demütigung
anderer, uns nicht vertrauter Arten von Menschen steigern. Diese Sensibilität macht es
1
Richard Rorty: Kontingenz, Ironie und Solidarität. Übersetzt von Christa Krüger. Frankfurt am Main 1993.
Vgl. ebenda, S. 12.
3
Ebenda, S. 12f.
4
Ebenda, S. 13.
5
Ebenda, S. 14.
6
Ebenda, S. 15.
2
5
schwieriger, Menschen, die von uns verschieden sind, an den Rand unseres Bewusstseins
zu drängen […]“7
Eine besondere Bedeutung für die Kreation dieser Art von Solidarität und
Einfühlungsvermögen misst er dabei der [schöngeistigen] Literatur bei, insonderheit der
Ethnologie und den Romanen, die durch die Erzählung fremder Schicksale und des Leids,
das andere Menschen erdulden müssen, unser Mitleid[en] und damit unsere Solidarität
hervorrufen. Weniger die Theorie also, denn die Belletristik (und sicher auch der Film,
würde ich hinzufügen), kann so, folgt man Rorty, eine wichtige Rolle bei der Schaffung
solidarischer Beziehungen zwischen den Menschen spielen.
Konsequenter Weise endet sein Buch mit dem Kapitel 9 unter der Überschrift „Solidarität“.
Solidarität wird hier von ihm bestimmt als Einfühlungsvermögen auch und gerade in die
Schicksale von Menschen, die anders sind als „wir“, da sie anderen Gemeinschaften und
Kulturen angehören. Während traditionelle Solidarität bedeutet, sich mit den Mitgliedern
der eigenen Gemeinschaft verbunden zu fühlen gegen Andere/Fremde, müsse moderne
Solidarität darin bestehen, sich auch mit Menschen verbunden zu fühlen, sich in sie hinein
versetzen zu können, wenn sie nicht zu unserer Gemeinschaft gehören, sondern
anders/fremd sind. Und gerade das bezeichnet Rorty als moralischen Fortschritt:
„Die Betrachtungsweise, die ich hier vorstelle, besagt, dass es tatsächlich etwas wie
moralischen Fortschritt gibt und dass dieser Fortschritt wirklich in Richtung auf mehr
Solidarität geht. Aber diese Solidarität soll man sich nicht als das Wiedererkennen eines
Kern-Selbst, des wesentlich Menschlichen in allen Menschen, vorstellen. Sie ist zu denken
als die Fähigkeit, immer mehr zu sehen, dass traditionelle Unterschiede (zwischen
Stämmen, Religionen, Rassen, Gebräuchen und dergleichen Unterschiede)
vernachlässigbar sind im Vergleich zu den Ähnlichkeiten im Hinblick auf Schmerz und
Demütigung – es ist die Fähigkeit, auch Menschen, die himmelweit verschieden von uns
sind, doch zu ‘uns’ zu zählen.“8
Michael Walzer: Solidarität und Gemeinsinn
Eher aus der Richtung des Kommunitarismus zu kommen scheint Michael Walzer (geb.
1936), ebenfalls Amerikaner, der sich als – „demokratischen Sozialisten“ (!) bezeichnet.
Auch er fragt sich, wie denn das Zusammenleben der Menschen in einer modernen
Demokratie wie den USA möglich und denkbar ist, wenn doch diese Gesellschaft aus einer
Vielzahl sehr unterschiedlicher, ja z.T. völlig gegensätzlicher (Teil- oder auch „Gegen-“)
Gesellschaften besteht.9
Die Werte „Toleranz“ und „Demokratie“ werden von ihm als spannungsreiche Gegensätze
dargestellt, die aber nur in diesem Spannungsverhältnis wirklich produktiv werden
können.10 Beide gehören ihm zufolge zu den modernen staatsbürgerlichen Tugenden, doch
sie „zerren“ die Bürger in verschiedene Richtungen: Während „Toleranz“ mehr in Richtung
der Anerkennung der Anderen in ihrem Anderssein bewegt, also auf Individualismus,
Partikularismus, Selbstverwirklichung setzt und somit die Entstehung von
Gemeinschaftlichkeit erschwert, lässt „Solidarität“ die Bürger in Gemeinschaften aktiv
werden. Für Walzer, dem es, im Unterschied zu Rorty, auch um die praktische Verbindung
von Toleranz/Individualismus und Solidarität/Gemeinschaftlichkeit geht, sollten beide Seiten
idealer Weise in einem Gleichgewicht zueinander bestehen. Also weder purer
Individualismus noch reine Gemeinschaftlichkeit, sondern freie Entfaltung der Individuen
und ihrer Individualitäten in unterschiedlichen Gemeinschaften. In diesem Sinne trete der
7
Ebenda, S. 16. Insofern wird „Solidarität“ bei Rorty identisch mit „Einfühlungsvermögen“ bzw. mit dem, was
H. Arendt u.a., in der Tradition Rousseaus, als „Mitleid[en]“, „Empathie“ bezeichnen.
8
Ebenda, S. 310.
9
Michael Walzer: Zivile Gesellschaft und amerikanische Demokratie. Aus dem Amerikanischen von Christiane
Goldmann. Hrsg. und mit einer Einleitung von Otto Kallscheuer. Berlin 1992.
10
Vgl. ebenda, S. 181 ff.
6
„demokratische Sozialismus“ für die Erweiterung der öffentlichen Räume ein (!), wodurch
dem partizipativen Handeln der Einzelnen umfassendere Möglichkeiten eingeräumt
würden.11
Die politische Bühne, wo die Menschen aufeinander treffen, ihre unterschiedlichen
Interessen (auch und gerade gegeneinander) artikulieren, sich streiten und nach
gemeinsamen Lösungen suchen und dabei das Gemeinwohl schaffen, wird für ihn zu dem
Ort, wo eine „spontane und freie“, eben nicht oktroyierte, sondern durch die Bürger selbst
geschaffene Solidarität entstehen kann.
So bildet für ihn „Solidarität“ den Kern seines Konzepts des „guten Lebens“, das er dem
Republikanismus à la Rousseau, dem Marxismus (der an Arbeit und Ökonomie orientiert
ist), dem Liberalismus und dem Nationalismus entgegen- bzw. als Korrektiv zur Seite
stellt.12 Die Menschen sind, so Walzer, von Natur aus soziale (und also solidarische) Wesen,
noch bevor sie ökonomische oder politische Wesen sind,13 und so hat die freiwillige
Mitgliedschaft in unterschiedlichen Gemeinschaften/Vereinen Vorrang vor allen anderen
Bestimmungen. Dabei betont Walzer das Freiwillige und Multiple dieser
Gemeinschaftsbezogenheit – eben im Gegensatz zum dumpfen Nationalismus, der die
Mitgliedschaft in einer Gemeinschaft hypostasiert:
„Idealerweise ist die zivile Gesellschaft ein Handlungsraum von Handlungsräumen: alle sind
aufgenommen, keiner bevorzugt.“14
Wenn man so will, orientieren sowohl Rorty als auch Walzer auf eine Verbindung von
Toleranz und Solidarität, wobei Rorty diese Verbindung allerhöchstens in einen
asymptotischen Prozess auflöst bzw. in eine Utopie münden lässt, während Walzer –
optimistischer und praktischer ausgerichtet – Ansatzpunkte für eine derartige Verbindung in
der politischen Wirklichkeit der USA sucht und findet.
Auch ich vertrete die Auffassung, das beide Werte, sowohl die eher individualistische, auf
die Freiheit der Einzelnen orientierende Toleranz, als auch die eher gemeinschaftsbezogene,
ja gemeinschaftsstiftende Solidarität, durchaus zusammengebracht und -gedacht werden
können. Schärfer noch formuliert: Hängen beide Begriffe/Kategorien nicht überhaupt
[dialektisch] miteinander zusammen? Ergibt sich die Frage der Solidarität nicht gerade
dann, wenn der gesellschaftliche Zusammenhalt durch zunehmende Tendenzen der
Individualisierung, durch massenhaftes Anwachsen von Anderssein in unterschiedlichsten
Formen in Frage gestellt wird? Und umgekehrt: Toleranz wird ja gerade dann vonnöten,
wenn immer mehr Gemeinschaften auftreten, die ethnisch, kulturell, sozial und/oder
politisch different sind und die Frage des individuellen und kollektiven Verhaltens ihnen
gegenüber auftritt. Sind also beide Begriffe nicht notwendigerweise [janusköpfig]
aufeinander bezogen?
11
Vgl. ebenda, S. 193.
Vgl. ebenda, S. 78 ff.
13
Vgl. ebenda, S. 79.
14
Ebenda.
12
7
Pierre Bourdieu: Für eine neue internationale Solidarität.
Oder: Bourdieu lesen. Im Jahre 2009
„Die Krise von heute ist eine historische Chance,
für Frankreich und zweifelsohne für all jene, die,
täglich an Zahl zunehmend, in Europa und
anderswo in der Welt, die neue Alternative
ablehnen: Liberalismus oder Barbarei.“
Pierre Bourdieu 1995
Am Tag der deutschen Einheit 2009, also kurz nach der Bundestagswahl im September,
war ich eingeladen, um auf einer in Bielefeld stattfindenden Konferenz über Pierre Bourdieu
zu sprechen. In diesem Zusammenhang schaute ich mir an, ob, wie und in welchem
Kontext Bourdieu in seinen späten Texten der 1990er Jahre von Solidarität gesprochen bzw.
geschrieben hatte. Dazu blätterte ich noch einmal in den eher philosophischen
„Méditations pascaliennes“, die er im Jahre 1997 veröffentlicht hatte,15 und, im Gegenzug
dazu, in seinen politischen Reden und Schriften der Zeit, wie sie in dem kleinen blauen
Bändchen mit der gelben Aufschrift „Contre-feux“ (zu deutsch „Gegenfeuer“), veröffentlicht
sind, herausgekommen 1998 bei Raison-d’agir. Untertitel: „Propos pour servir à la
résistance contre l’invasion néo-liberale“ (also etwa „Vorschläge, die dem Widerstand
gegen die neoliberale Invasion dienen“).16
Je länger ich in dem „Gegenfeuer“ las, desto frappierter war ich: Hatte Bourdieu das
wirklich alles in den 1990er Jahren geschrieben, genauer von Januar 1992 bis Januar 1998,
und nicht etwa heute, also 2009? War das, was ich hier vor Augen hatte, nicht eine
komplette Analyse der derzeitigen Wirtschaftskrise, ihrer geistig-politischen und
ökonomischen Wurzeln und ihrer sozialen Auswirkungen sowie die Aufstellung eines
Katalogs an Forderungen, der von linker Seite her in Vorschlag zu bringen wäre?
Aber das konnte ja nicht sein. Bourdieu lebt nicht mehr, und die in diesem Bändchen
zusammengefassten Texte sind wirklich aus den 1990er Jahren.17
Schauen wir sie uns also einmal näher an, dabei die Frage nicht außer acht lassend, ob, wie
und in welchem Kontext hier von „Solidarität“ die Rede ist und wie diese (eventuelle)
Verwendung mit dem Umgang Bourdieus mit diesem Begriff in anderen seiner Schriften im
Zusammenhang – oder möglicherweise in Widerspruch steht.
Die neoliberale
neoliberale Globalisierung – Mythos und Realität zugleich
Da ist zunächst der Text „Le mythe de la ‘mondialisation’ et l’Etat social européen“, eine
Rede, die er im Oktober 1996 vor der griechischen Gewerkschaft GSEE gehalten hat. Schon
vom Titel her sind hier zwei wesentliche Topoi zusammengespannt: Die Globalisierung, die
hier zunächst als Mythos bezeichnet wird, einerseits, und der (europäische) Sozialstaat
andererseits.
Und um diese Spannung geht es hier auch tatsächlich, denn, so Bourdieu: Die neoliberale
Globalisierung, oder, wenn man so will, die Globalisierung neoliberalen Typs, führt zur
15
Pierre Bourdieu: Méditations pascaliennes. Paris 1997. Dt.: ders. : Meditationen. Zur Kritik der scholastischen
Vernunft. Aus dem Französischen von Achim Russer. Unter Mitwirkung von Hélène Albagnac und Bernd
Schwibs. Frankfurt am Main 2001.
16
Pierre Bourdieu: Contre-feux. Propos pour servir à la résistance contre l’invasion néo-liberale. Paris 1998.
17
Ein ähnliches Erlebnis hatte ich schon einmal, als Anfang der 90er Jahre im Berliner Brecht-Zentrum ein
Liederabend mit Gina Pietsch stattfand. Sie sang Lieder von Bertolt Brecht, und ich hatte den Eindruck, die
Texte seien genau in der damaligen Jetzt-Zeit verfasst.
8
Zerstörung des Sozialstaats. Ja, mehr noch: Sie hat die Zerstörung des Sozialstaats zum
erklärten Ziel.
Bourdieu schreibt: „Ich habe die ‘Globalisierung’ erwähnt: Das ist ein Mythos im strengen
Sinne des Wortes, ein mächtiger Diskurs, eine ‘ideelle Kraft’, eine Idee, die soziale Kraft hat,
die zum Glauben wird. Das ist die Hauptwaffe der Kämpfe gegen den Wohlfahrtsstaat.“18
Dabei bezeichnet er die neoliberale Globalisierung als „konservative Revolution neuen
Typs“ und vergleicht sie mit den konservativen Revolutionen im Deutschland der 1930er
Jahre und denjenigen unter Thatcher und Reagan, in welchen Restaurationen als
Revolutionen ausgegeben worden seien. Die konservative Revolution nun, die unter dem
Namen „Globalisierung“ betrieben wird, berufe sich nicht mehr, wie ihre Vorgängerinnen,
auf eine idealisierte Vergangenheit. Diese konservative Revolution neuen Typs berufe sich
vielmehr auf den Fortschritt, die Vernunft, die Wissenschaft (alles Werte, die vormals die
aufgeklärte Linke für sich reklamiert hatte), um die Restauration zu legitimieren. Die sich
dagegen stemmenden progressiven, um nicht zu sagen: linken, Kräfte hingegen werden
des Archaismus bezichtigt, als veraltet bezeichnet.19
Wenn, so Bourdieu weiter, diese konservative Revolution so täuschen kann, dann deshalb,
weil sie nicht mehr so hinterwäldlerisch, so Schwarzwald-mäßig daher kommt wie in den
1930er Jahren. „Sie stattet sich mit allen Zeichen der Modernität aus. Kommt sie nicht aus
Chicago?“20
Im Namen dieser konservativen Revolution, also im Namen und im Rahmen der
neoliberalen Globalisierung, werden die Errungenschaften der organisierten Arbeiterklasse
und der Gewerkschaften unterlaufen und sukzessive zerstört, wie der Normalarbeitstag mit
festen Arbeitszeiten, tariflich festgelegten Löhnen, diversen Formen des Arbeitsschutzes
und vieles mehr. Unter der Hülle modern und chic klingender Slogans wie Flexibilisierung,
Modernisierung, Individualisierung u.a. werden so die ältesten Ideen des ältesten Patronats
wieder eingeführt, schreibt Bourdieu, und die reine Herrschaft eines Kapitalismus ohne
Regeln bzw. die Begrenzungen und Beschränkungen durch den Sozialstaat restauriert.21
Der Mythos der Globalisierung habe also zur Funktion, eine Restauration akzeptiert zu
machen, eine Rückkehr zu einem wilden, jedoch rationalisierten und zynischen
Kapitalismus.22
Als Effekte dieser konservativen Revolution gibt Bourdieu an: die zunehmende Unsicherheit
und das Gefühl der Verunsicherung unter den Arbeitern und insbesondere auch im
Kleinbürgertum der sog. Industrieländer, v.a. in England und den USA, die grassierende
Prekarisierung und Flexibilisierung, die Zunahme von Zeitarbeitsverhältnissen statt
unbefristeter Arbeitsverhältnisse.23 Zudem würden die ökonomischen und sozialen
Grundlagen der kulturellen Grundlagen der Menschheit zerstört; die wachsende
Prekarisierung des Kulturproletariats und die Reduktion finanzieller Zuwendungen bedrohen
die Autonomie kultureller und wissenschaftlicher Produktion, aber auch diese Produktion
selbst.24
Ich frage mich: Sind dies nicht alles genau die Phänomene und Prozesse, die im Kontext
der Krise 2009 von kritischen bzw. linken Kreisen kritisiert und debattiert werden?
Was nun aber tun? Welche Gegenstrategie, welche Alternative will Bourdieu dieser
neoliberalen Globalisierung, dieser konservativen Revolution entgegensetzen?
18
Pierre Bourdieu: Le mythe de la ‘mondialisation’ et l’État social européen. In: ders.: Contre-feux, a.a.O., S. 3450, hier S. 39.
19
Ebenda, S. 40.
20
Ebenda, S. 41.
21
Ebenda, S. 40.
22
Ebenda, S. 41.
23
Ebenda, S. 42.
24
Ebenda, S. 43.
9
Die Idee des europäischen Sozialstaats
Dieser unter der Hülle modern und chic klingender Slogans daherkommenden Restauration
eines „wilden“, ungezügelten Kapitalismus will Bourdieu eine scheinbar veraltete, fast
schon archaisch klingende Idee entgegensetzen – eben die Idee des europäischen
Sozialstaats.
Wen verwundert das?
Immer schon hat man Bourdieu einen „Etatisten“ gescholten, der viel zu sehr an der Idee
des Staats hängt, ja „staatsfixiert“ sei. Typisch französisch, hieß es da von seinen Kritikern,
nicht kompatibel mit der heutigen modernen Gesellschaft, nicht übertragbar auf andere
Staaten, insbesondere nicht auf diejenigen des angloamerikanischen Raums.
Jedoch: Sind diese Vorstellungen wirklich veraltet? Sind sie tatsächlich nicht übertragbar?
Vor dem Hintergrund der Krise 2009 und den Verlautbarungen aus diversen politischen
Lagern und aus unterschiedlichen Ländern, die eine, wenngleich zeitlich befristete,
Wiederherstellung der regelnden und regulierenden Funktion des Staates einfordern,
scheinen hier Zweifel angebracht.
In dem am 14. Januar 1992 in Le Monde publizierten Interview mit dem Titel „La main
gauche et la main droite de l’État“25 lesen wir jedenfalls, die 10 Jahre, in der die PS an der
Macht war, hätten zur Zerstörung des französischen Sozialstaats geführt, sichtbar dies v.a.
auch im Wohnungsbau.26 Unter der Ideologie des Individualismus seien die ideologischen
Fundamente des Wohlfahrtsstaates zerstört worden. Immer wieder spricht er vom
öffentlichen Gut („bien commun“), dem öffentlichen Dienst und der kollektiven
Verantwortung, die destruiert wurden und die es nun wieder auf- und auszubauen resp. zu
erhalten gilt, soweit noch vorhanden.
In seiner während des Eisenbahnerstreiks im Dezember 1995 gehaltenen Rede mit dem
Titel „Contre la destruction d’une civilisation“27 wird die Idee des Öffentlichen, des
öffentlichen Gutes, des öffentlichen Dienstes, zur Leitidee. Er sei gekommen, beginnt er
diese Rede, um all diejenigen zu unterstützen, die gegen die Zerstörung einer Zivilisation
ankämpfen, die mit der Existenz des öffentlichen Dienstes verbunden ist, derjenigen
Zivilisation, in der die republikanische Gleichheit der Rechte herrscht: des Rechts auf
Bildung, auf Gesundheit, auf Kultur, Fortschritt, Kunst, und, v.a., auf Arbeit.28
Der derzeitige Staatsadel – bei uns würde man wohl von den „politischen Eliten“ sprechen
–, heißt es weiter, hat aus dem öffentlichen Gut ein privates gemacht, aus der öffentlichen
Sache, der res publica, ihre private. Es müsse Schluss gemacht werden mit der Tyrannei
von sog. Experten wie der Weltbank oder dem IWF, mit dem Glauben an neue, angeblich
unumgängliche Gesetze, die die Theorie des Neoliberalismus predigt. Eingeführt werden
müssten neue Formen einer kollektiven politischen Arbeit, welche die ökonomischen
Notwendigkeiten in die Hand nehmen könnte, aber, um diese zu bekämpfen und ggf. zu
neutralisieren.29
Weiter lesen wir:
„Die Krise von heute ist eine historische Chance, für Frankreich und zweifelsohne für all
jene, die, täglich an Zahl zunehmend, in Europa und anderswo in der Welt, die neue
Alternative ablehnen: Liberalismus oder Barbarei.“30 Wüsste ich nicht, dass es sich hier um
eine Rede Bourdieus aus dem Jahre 1995 handelt, würde ich meinen, einen Aufsatz einer
linksgerichteten Zeitschrift aus dem Jahre 2009 vor Augen zu haben.
25
La main gauche et la main droite de l’État. Interview mit Pierre Bourdieu vom 14. Januar 1992. In: ders.:
Contre-feux, a.a.O., S. 9-17.
26
Das erinnert an das Desaster, das in Deutschland die Schrödersche „Agenda 2010“ und die sog. „Hartz-IV“Gesetze angerichtet haben.
27
Pierre Bourdieu: Contre la destruction d’une civilisation. In: ders.: Contre-feux, a.a.O., S. 30-33.
28
Ebenda, S. 30.
29
Ebenda, S. 31.
30
Ebenda, S. 32.
10
Wiederherzustellen, zu erhalten, auf- und auszubauen sei der öffentliche Dienst in Sachen
Gesundheit, Bildung, Transportwesen. Gegen die zunehmende Privatisierung im
Bildungswesen seien die öffentlichen (Hoch-) Schulen („l’école de la Republique“) auf- und
auszubauen; zu bekämpfen sei die grassierende Prekarisierung der Arbeitskräfte auch im
öffentlichen Dienst.31
In der bereits erwähnten Rede über den Mythos der Globalisierung spricht er sich gegen die
„Regression/Involution des Sozialstaats“ und seine Pervertierung in einen reinen Straf- und
Überwachungsstaat aus, wie dies in Frankreich, aber auch in den USA, speziell in
Kalifornien, zu beobachten sei, wo sich der Staat mehr und mehr aus seinen sozialen
Funktionen zurückziehe und die sich u.a. auch gerade daraus ergebende Zunahme von
Gewaltdelikten mit einem Ausbau seiner penalen Funktionen beantworte.32
Gegen all diese Tendenzen nun müsse, so Bourdieu, die Idee des Sozialstaats
aufrechterhalten und durchgesetzt werden, aber eben nicht nur auf nationaler, sondern auf
internationaler Ebene, und zwar zunächst einmal auf der europäischen.
In seiner Rede vor dem 3. Forum des DGB in Hessen, die er am 7. Juni 1997 in Frankfurt
am Main gehalten hat,33 spricht sich Bourdieu für die Errichtung eines „europäischen
Sozialstaats“ aus. Der neoliberalen Zerstörung der Errungenschaften des Sozialstaats in
Europa und der primär monetären Einigung Europas mittels des Euros müsse ein
europäischer Sozialstaat entgegengesetzt werden, der in der Lage ist, auf europäischer
Ebene den Schutz der sozialen Rechte zu gewährleisten.34
Bourdieu schreibt (bzw. sagt):
„Nur ein europäischer Sozialstaat wäre in der Lage, dem desintegrierenden Handeln der
Geldwirtschaft entgegenzuwirken.“35 Eine Kritik am monetären Einigungsprozess, an der
Einigung Europas mittels Geld, so Bourdieu, ist nicht antieuropäisch. Man könne der
Integration Europas feindlich gegenüberstehen, die allein auf der einheitlichen Währung
basiert, ohne in irgendeiner Weise Feind der politischen Einigung Europas zu sein, und,
ganz im Gegenteil, zur Schaffung eines europäischen Staats aufrufen, der in der Lage ist,
die sozialen Effekte der auf ihre rein monetäre Dimension reduzierten Union zu kontrollieren
und zu antizipieren.36
Hätten das kritische Geister dieses Jahr besser ausdrücken können? Musste sich nicht DIE
LINKE mit dem Vorwurf der Europafeindlichkeit auseinandersetzen, eben weil sie den
unsozialen, auf die Interessen der Finanzmärkte zugeschnittenen Charakter der
europäischen Einigung kritisierte?
Bleibt die Frage: Wer soll diese Idee des europäischen Sozialstaats, oder, anders
ausgedrückt, eines sozialen Europas, umsetzen, realisieren, verwirklichen? Also die Frage
nach dem Subjekt bzw. dem Akteur.
Eine neue (internationale) Solidarität
In meiner bisherigen Wahrnehmung gehörte der Begriff der Solidarität nicht zu den
zentralen Konzepten der Soziologie Bourdieus. Wenngleich er sich stets zu seinen drei
Quellen – Marx, Weber, Durkheim – bekennt, für welchen letzteren ja in seinem Buch über
die Arbeitsteilung die Unterscheidung zwischen mechanischer und organischer Solidarität
von zentraler Bedeutung war, so hatte ich doch den Eindruck, dass dem bei Bourdieu selbst
nicht der Fall ist und er zumindest das Wort „solidarité“ verhältnismäßig wenig verwendet,
wenngleich die Idee der Solidarität, also des gesellschaftlichen Zusammenhalts, in ähnlich
nichtnormativer Weise wie bei Durkheim auch bei ihm vorkommt, verkappt unter solchen
31
Ebenda.
Pierre Bourdieu: Le mythe de la „globalisation“…, a.a.O., S. 36f.
33
Pierre Bourdieu: Pour un nouvel internationalisme. In: ders.: Contre-feux, a.a.O., S. 66-75.
34
Ebenda, S. 67.
35
Ebenda, S. 68.
36
Ebenda, S. 68f.
32
11
Termini, die soziale Einheit stiftende Phänomene und Strukturen bezeichnen, wie der
Habitus, die Homologie u.a.
In dieser Vorannahme ging ich kürzlich an eine neuerliche Sichtung der bereits erwähnten
„Méditations pascaliennes“, und ich fühlte mich auch einigermaßen bestätigt. Zumindest
das Wort kommt recht selten vor, ich habe es bislang an drei Stellen gefunden (eine
genauere Lektüre würde vielleicht noch weitere entdecken lassen), und seine Verwendung
entspricht nicht unbedingt den Erwartungshaltungen und Assoziationen, die man ihm
üblicherweise entgegenbringt resp. die mit ihm verknüpft sind.
Zunächst einmal im Vorwort, wo davon die Rede ist, dass der kritische Soziologe, der die
soziale Welt wahrnimmt und beschreibt, wie sie ist, stets Gefahr läuft, seinen Kollegen, die
diese Wahrheit nicht wahrnehmen bzw. verschleiern wollen, auf den Schlips zu treten und
sich von ihnen zu entsolidarisieren.37 Hier also ist die Rede vom Entzug von Solidarität, ein
negativer Bezug demnach auf sie.
Einen deutlichen Bezug auf Durkheims Differenzierung von mechanischer und organischer
Solidarität stellt er im Kontext seiner Machtkonzeption her. Das über Durkheim von Spencer
überlieferte Differenzierungstheorem aufgreifend, unterstellt er einen historischen
Differenzierungsprozess von Macht. Ursprünglich undifferenziert und, im Sinne
mechanischer Solidarität, zwischen analogen Inhabern austauschbar, differenzierte sich
danach die Macht historisch in unterschiedlichen Feldern aus, so dass zwischen den
nunmehr zugleich differenten und daher voneinander abhängigen Machtformen eine
„organische Solidarität“ entstehe, und sich die Macht vielmehr, wie Foucault dies meinte,
aus einer Vielzahl interdependenter Mächte zusammensetze.38 Auch dies eine
Verwendungsweise des Begriffs Solidarität, der nicht unbedingt den Erwartungshaltungen
entspricht.
Am ehesten kommt dem eine dritte Stelle, an der Bourdieu den Begriff verwendet, nämlich
dort, wo er von den Beziehungen zwischen Intellektuellen – den „Profis der
Explikationsarbeit“ – und den Unterdrückten und Entmündigten spricht, denen Erstere zur
Sprache verhelfen sollen bzw. wollen. Hier spricht er von „partiellen Solidaritäten und
faktischen Bündnissen, die ihm zufolge auf Homologien zwischen einer beherrschten
Position im Feld kultureller Produktion und der Position der Beherrschten im sozialen Raum
beruhen. Allerdings sei diese Art von Solidarität nicht von Ambiguitäten frei.39
Ganz anders hingegen in „Contre-feux“. Zum einen ist hier häufig von „solidarité“ die Rede,
und zwar sowohl vom Wort als auch von der Sache her. Und zum anderen entspricht hier
die Verwendungsweise eher den Erwartungen, insofern der Begriff mit normativen
Konnotationen und einem appellativen Charakter verknüpft ist.
Dies beginnt schon im Vorwort, wo er schreibt, dass er sonst kaum dazu neige, sich durch
die Situation oder die Solidarität dazu hinreißen zu lassen, die Grenzen seiner Kompetenz
(als Soziologe) zu überschreiten, er sich aber hier durch eine Art „legitimen Ärgers“ bzw.
eines „Gefühls der Pflicht“ zu öffentlicher Stellungnahme gezwungen gesehen habe.40 In
der während des Eisenbahnerstreiks gehaltenen Rede über die Zerstörung der Zivilisation
entschuldigt er sich ebenfalls für die Übertretung des Gebots „Schuster bleib bei deinen
Leisten“; doch was er ausdrücken wolle, dass sei „eine wirkliche Solidarität mit jenen, die
sich heute herumschlagen, um die Gesellschaft zu verändern.“41
Und immer wieder kommt er auf die Notwendigkeit zu sprechen, dass die in
unterschiedlichen Nationen lebenden Arbeiter untereinander eine neue internationale
Solidarität konstruieren müssten, um diese den längst internationalisierten bzw.
globalisierten Subjekten der Finanzmärkte entgegen zu setzen. Bereits in „Der Mythos der
‘Globalisierung’ und der europäische Sozialstaat“ stellt er die innereuropäische Konkurrenz
37
Pierre Bourdieu: Méditations pascaliennes, a.a.O., S. 14. (Dt. Ausgabe S. 13.)
Ebenda, S. 123f. (Dt. Ausgabe S. 130f.)
39
Ebenda, S. 224. (Dt. Ausgabe S. 241f.) Allerdings ist in der deutschen Ausgabe nicht von „Solidarität“ die
Rede; das Wort wurde hier mit „Gemeinsamkeit“ übersetzt.
40
Pierre Bourdieu: Contre-feux, a.a.O., S. 7.
41
Ebenda, S. 33.
38
12
der Arbeiter als ein Problem dar, dass überwunden werden müsse.42 Statt sich von den
Unternehmern gegeneinander ausspielen zu lassen, die die Karte der Verlagerung der
Produktion in Niedriglohnländer ausspielen, müssten sich die Arbeiter der entwickelten
Länder vielmehr mit denen der weniger fortgeschrittenen Länder verbünden und
gemeinsam mit ihnen eine Verallgemeinerung der westlichen Errungenschaften auf dem
Gebiet der Löhne und Arbeitsbedingungen durchsetzen.43
Und am 7. Juli 1997 spricht er sich vor dem 3. Forum des DGB explizit „Für einen neuen
Internationalismus“ aus. Der neoliberalen Globalisierung, der durch sie forcierten
Zerstörung des Sozialstaats und der primär monetären, auf den Euro fixierten Einigung
müsse ein „soziales Europa“ entgegengestellt werden, das „auf einer Allianz zwischen den
Arbeitern der unterschiedlichen Länder Europas beruht“.44 Doch diesem Internationalismus
stehe die nationale gewerkschaftliche Organisation der Arbeiter entgegen. Während sich
die Unternehmer längst international vernetzt hätten, seien die Gewerkschaften nach wie
vor primär national organisiert, ihre internationalen Zusammenschlüsse noch zu schwach.
Und so lassen sich die Arbeiter gegeneinander ausspielen.
Bei der Lektüre dieser Seiten musste ich natürlich an die derzeitigen Auseinandersetzungen
um das sog. Rettungspaket für Opel, die Übernahme der europäischen Opel-Standorte
durch Magna und das versuchte Gegeneinander-Ausspielen der Arbeiter der in
verschiedenen Ländern ansässigen Opel-Werke denken. Das Neue Deutschland vom 24.
September titelt so bspw.: „Opelaner demonstrieren Solidarität. 5000 gehen gegen
Schließung des Antwerpener Werks auf die Straße“.
Bourdieu jedenfalls stellt die Frage: „Wie die Grundlagen eines neuen Internationalismus
auf gewerkschaftlichem, intellektuellem und Volksniveau errichten?“45 Und dann spricht er
einen Satz aus, in dem sowohl seine tiefe Prägung durch Durkheim als auch seine sozialen
Neigungen und seine vehemente Kritik am Neoliberalismus zum Ausdruck kommen: „Der
soziale Zusammenhalt ist ein genau so wichtiges Ziel wie die Währungsparität, und die
soziale Harmonisierung ist die Bedingung der Schaffung einer wahrhaften
Währungseinheit.“46 Und er fährt fort: „Wenn man aus der sozialen Harmonisierung und
der Solidarität, die sie produziert und voraussetzt, eine absolute Vorbedingung macht, dann
muss man sofort eine bestimmte Anzahl von Zielen zum Gegenstand von Verhandlungen
machen, und zwar mit derselben Sorgfalt, die bisher den ökonomischen Indizes
vorbehalten wird (wie den berühmten 3% des Maastricht-Vertrags)“. Und er zählt auf:
die Definition von Mindestlöhnen;
die Ausarbeitung von Maßnahmen gegen Korruption, Steuerhinterziehung und
Sozialdumping;
die Redaktion eines gemeinsamen Sozialrechts („droit social commun“);
die Konzipierung und Umsetzung einer gemeinsamen Investitionspolitik im allgemeinen
Interesse, mit besonderem Akzent auf Investitionen in erneuerbare Energien, die
Entwicklung transeuropäischer Transport- und Energienetze, den Ausbau des sozialen
Wohnungsbaus, Investitionen in Forschung und Entwicklung auf den Gebieten Gesundheit
und Umweltschutz.47
Die Idee einer neuen internationalen Solidarität, die eine Aufnahme der „archaischen“
Forderung „Proletarier aller Länder, vereinigt Euch!“ zu sein scheint, nimmt hier ganz
konkrete Formen an, und Bourdieu verknüpft sie mit den derzeitigen Prozessen der
europäischen Einigung.
Bei den Bundestagswahlen im September 2009 hat die SPD hat dramatisch verloren.
Möglicherweise, weil sie seit der Regierung Schröder zentrale Ideen, für die sie einstmals
42
Ebenda, S. 41.
Ebenda, S. 41f.
44
Ebenda, S. 70.
45
Ebenda, S. 71.
46
Ebenda, S. 73.
47
Ebenda, S. 73f.
43
13
stand – soziale Gerechtigkeit und Solidarität – zumindest in Teilen aufgegeben und mehr
und mehr eine neoliberale Politik des Sozialabbaus praktiziert hat. So sind ihr mehrere
Millionen WählerInnen davon gelaufen.
Es bleibt zu hoffen, dass es progressiven Kräften aus allen möglichen Parteien und
Bewegungen gelingt, Alternativen zu der von Bourdieu kritisierten neoliberalen
Europäisierung und Globalisierung zu entwickeln, gegen die dominant monetäre Einigung
Europas die Idee eines europäischen Sozialstaats durchzusetzen und zugleich eine neue,
internationale, den europäischen Rahmen sprengende Solidarität zu kreieren.
14
II. Ein Höhepunkt des Solidaritätsdiskurses:
Solidaritätsdiskurses: die Wende vom 19. zum
20. Jahrhundert
Emile Durkheim: Mechanische und organische Solidarität oder: Die moderne
Arbeitsteilung widerspricht nicht der Solidarität – ganz im Gegenteil!
Es fällt auf, dass der Begriff der Solidarität gerade im letzten Drittel des 19. Jahrhunderts
intensiv debattiert wird, und zwar insbesondere in Frankreich. Wenden wir uns also im
Folgenden dem französischen Solidaritätsdiskurs zu, wie er Ende des 19./zu Beginn des 20.
Jahrhunderts geführt wird.
Zentrale Figur ist hier Emile Durkheim (1858-1917), bildet doch bei ihm „Solidarität“ eine,
wenn nicht gar die zentrale Kategorie seiner Soziologie. Immerhin hält er seinen
Einführungskurs in die Soziologie im Jahre 1887 in Bordeaux unter dem Titel „Soziale
Solidarität“,48 und seine sechs Jahre später erschienene Schrift „Über soziale
Arbeitsteilung“ (De la division du travail social, Paris 1893, 2. Auflage mit Vorwort 1902, dt.
1988) könnte, bei genauer Lektüre, ebenso gut heißen: „De la solidarité sociale“, also:
„Über soziale Solidarität“.
Bereits in seiner Eröffnungsvorlesung von 1887 zur „Einführung in die
Sozialwissenschaften“49 setzt sich Durkheim mit dem in den Sozialwissenschaften bis dato
grassierenden Individualismus auseinander. Dieser habe dazu geführt, dass die
Gesellschaften bislang als Kunstprodukte rational handelnder Individuen angesehen
wurden, die eingesehen hätten, dass ein Zusammenleben nützlich für sie wäre.50 Die
Gesellschaften würden als Nomina aufgefasst, einzig die Individuen als Realia.51 Statt
dessen, so Durkheim, müsse es sich darum handeln, Gesellschaften als Naturprodukte zu
betrachten und dementsprechend ihre Naturgesetze aufzudecken. Zwar hätte es darin
schon Vorläufer gegeben, etwa Montesquieu und Comte in Frankreich, in England Spencer,
jedoch seien sie inkonsequent gewesen. Anknüpfend an die aristotelische Vorstellung vom
Menschen als zoon politikon stellt Durkheim die Behauptung auf, die Gesellschaft als Ganze
sei, im Verhältnis zu den Individuen, nichts Sekundäres, sondern vielmehr das Primäre.
Damit geht er gegen den aus seiner Sicht überzogenen Individualismus/Egoismus vor: Die
Gesellschaft, so Durkheim, muss wieder das Gefühl ihrer Einheit, ihrer Ganzheit erhalten.
Lassen wir ihn selber sprechen, so, wie er seine Vorlesung resümiert:
„Unsere Gesellschaft muss das Bewusstsein ihrer organischen Einheit zurückerhalten,
damit der Einzelmensch diese soziale Masse, die ihn umgibt und durchdringt, als immer
gegenwärtig und wirksam fühlt und damit dieses Gefühl immer sein Verhalten regeln kann.
Denn es genügt nicht, dass der Einzelne sich nur von Zeit zu Zeit und in besonders
kritischen Situationen davon beeinflussen lässt. Ich glaube jedenfalls, meine Herren, dass
die Soziologie eher als jede andere Wissenschaft imstande ist, diese Ideen wieder aufleben
zu lassen. Sie könnte dem Individuum verständlich machen, was die Gesellschaft bedeutet,
wie sie den Einzelnen vervollständigt, wie wenige Dinge er auf seine eigene Kraft
zurückführen kann. Sie könnte ihm klarmachen, dass er nicht eine Macht innerhalb einer
anderen Macht ist, sondern ein Organ im Organismus, und die Soziologie wird ihm zeigen
können, wie schön es sein kann, auf bewusste Weise seine Rolle als Organ zu erfüllen. Sie
48
Vgl. dazu Hans-Peter Müller, Michael Schmid: Arbeitsteilung, Solidarität und Moral. In: Emile Durkheim: Über
soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt am Main 1988, S. 482.
49
Emile Durkheim: Einführung in die Sozialwissenschaft. Eröffnungsvorlesung von 1887-1888. In: L. Heisterberg
(Hg.): Emile Durkheim: Frühe Schriften zur Begründung der Sozialwissenschaft. Darmstadt/Neuwied 1981, S.
25-52.
50
Ebenda, S. 27.
51
Ebenda, S. 31.
15
könnte ihn fühlen lassen, dass es für ihn keine Verminderung bedeutet, mit anderen
solidarisch zu sein, von anderen abzuhängen und sich nicht vollständig selbst zu
gehören.“52
In seiner Vorlesung „Zur Einführung in die Soziologie der Familie“ von 188853 resümiert
Durkheim zu Beginn die Ergebnisse seines vorherigen Vorlesungszyklus’ zu den beiden
Hauptformen der Solidarität. Dieses Resümee enthält in nuce schon das, was er dann in
seiner fünf Jahre später erscheinenden Schrift „Über soziale Arbeitsteilung“ ausführen wird.
Bei der Analyse zweier sehr unterschiedlicher Typen von Gesellschaften, den sog.
primitiven und den „großen zeitgenössischen Nationen“ bzw. den „großen modernen
Gesellschaften“, sei es, so Durkheim, gelungen,
„…zwei sehr verschiedene Formen von sozialer Solidarität zu entdecken; die eine, die auf
der Ähnlichkeit des Bewusstseins, auf der Gemeinsamkeit von Ideen und Gefühlen beruht,
während die andere, im Gegensatz dazu, ein Produkt von Funktionen und von
Arbeitsteilung ist. Unter der Einwirkung der ersten Art vereinigen sich Verstandeswesen,
indem sie sich vermischen, sozusagen ineinander aufgehen und zwar in einer Weise, dass
sie eine kompakte Masse bilden, die fast nur zu einer gemeinsamen Bewegung fähig ist.
Unter dem Einfluss der zweiten Art hat jeder seine eigene Handlungssphäre, die jedoch
infolge der gegenseitigen Abhängigkeit, in der sich die spezialisierten Funktionen befinden,
von der der anderen untrennbar ist. Weil diese letzte Solidarität uns mehr daran erinnert,
wie sich bei höheren Tierarten die Teile verbinden, haben wir sie ‘organisch’ genannt, und
wir haben uns für die vorhergehende die Qualifizierung ‘mechanisch’ vorbehalten; eine
einfache Definition, die wir aber hinnehmen, weil eine bessere fehlt.“54
Einen weiteren Meilenstein auf dem Weg zur „Sozialen Arbeitsteilung“ und seiner dort
vorgelegten Solidaritätskonzeption bildet Durkheims Auseinandersetzung mit Ferdinand
Tönnies Schrift „Gemeinschaft und Gesellschaft“ im Jahre 1889.55 Im Wesentlichen, so
kann man wohl sagen, teilt Durkheim die Auffassungen Tönnies zu Gemeinschaft und
Gesellschaft, die an sich seinen Begriffen von mechanischer und organischer Solidarität
entsprechen (wobei er in dieser Rezension das Wort „Solidarität“ nicht verwendet). Wenn
allerdings Tönnies davon ausgeht, in der „Gesellschaft“ gebe es nur eine mechanische
Zusammensetzung der Teile und kein organisches Hervorgehen des Ganzen aus seinen
Teilen bzw. umgekehrt, so kann sich Durkheim dieser Auffassung [und dem dahinter
liegenden Geschichtspessimismus] nicht anschließen: „Mechanisch“ ist ja für ihn gerade
der Zusammenhalt – um nicht zu sagen: die Solidarität – in dem, was Tönnies als
Gemeinschaft bezeichnet (und was, dem Untertitel gemäß, auf den „Communismus“
zutrifft), wohingegen die gegenwärtigen/modernen „Gesellschaften“ (also der
„Socialismus“?) eine organische Ganzheit darstellen. Hier liegt der Dissens in Darstellung
und Bewertung der beiden unterschiedlichen Gesellschaftsformen sowie der Geschichte
der Gesellschaften.
Im Folgenden sei nun etwas ausführlicher auf Durkheims Hauptschrift in puncto
Solidarität, die 1893 erstmals erschienene Abhandlung „Über soziale Arbeitsteilung“,
eingegangen.56
Insgesamt fällt an diesem recht umfänglich gewordenen Werk auf:
Durkheim verfügt über ein sehr feingliedriges, differenziertes Solidaritätskonzept: Er
unterscheidet viele verschiedene Stufen und Formen von Solidarität.
Durkheim ist ein typischer Vertreter des Fortschrittsglaubens des 19. Jahrhunderts: Alles,
eben auch die Solidarität, wird in den Prozess gesellschaftlicher Entwicklung resp.
Evolution eingeordnet, die, in Anlehnung an Herbert Spencer, aber auch an französische
52
Ebenda, S. 51f. Hervorhebung von mir – E.B.
Emile Durkheim: Einführung in die Soziologie der Familie. Studienjahr 1888-1889. In: Ebenda, S. 53-76.
54
Ebenda, S. 54f.
55
Emile Durkheim: Besprechung von Ferdinand Tönnies: Gemeinschaft und Gesellschaft. Abhandlung des
Communismus und des Socialismus als empirischer Culturformen. Leipzig, 1887. In: Ebenda, S. 77-84.
56
Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung. Studie über die Organisation höherer Gesellschaften. Frankfurt
am Main 1988. (De la division du travail social, Paris 1893, 2. Auflage mit Vorwort 1902)
53
16
Vorläufer wie Auguste Comte, als Übergang vom Einfachen zum Differenzierten sowie vom
Niederen zum Höheren betrachtet und, bei allen möglichen Rückschlägen, doch als
Fortschritt bewertet wird.
Ist es vielleicht zu weitgehend, ihn als Hegelianer zu bezeichnen, so finden sich doch bei
Durkheim eindeutig dialektische Denkmuster: Insbesondere sein Solidaritätskonzept ist so
durch eine inhärente, sich im historischen Fortschrittsprozess entfaltende Dialektik geprägt.
Kernfrage der Soziologie Durkheims – und vielleicht die klassische Kernfrage jedes
sozialwissenschaftlichen Denkens überhaupt – ist, umgangssprachlich formuliert, die Frage
danach, was denn die [soziale] Welt zusammenhält. Gerade dieser soziale Zusammenhalt
ist nichts Selbstverständliches – weder allgemein, also bei “normalem Funktionieren“ der
Gesellschaften, noch offensichtlich in der gesellschaftlichen Situation, in der Durkheim sein
Buch verfasst: Immer wieder nimmt er zum einen auf die ökonomische Krisensituation
Krisen
Bezug [sic!], die ganz offensichtlich den Hintergrund, Kontext, ja das Movens seines
Reflektierens und Schreibens bildet; und zum anderen ist er ideengeschichtlich stark
beeinflusst durch das politische Denken von Montesquieu und Alexis de Tocqueville, die
beide, der eine bereits im 18. Jahrhundert, der andere in der ersten Hälfte des 19.,
zunehmende Verfallserscheinungen der alten, aristokratischen Gesellschaften beobachteten
und sich fragten, worin denn entsprechende Gegentendenzen zu finden seien –
Montesquieu eher realistisch, Tocqueville eher wehmütig/ironisch/skeptisch, was das
entstehende Neue anbelangt.
Was also hält die soziale Welt zusammen? Durkheims Antwort: die Solidarität, und zwar
eben die für den jeweiligen Gesellschaftstyp und dessen innere Struktur typische Form von
Solidarität.
Dabei sucht er, diese Solidaritätstypen/-formen nicht wertend, sondern rein analytisch bzw.
objektivierend zu betrachten, als soziale Phänomene bzw. Fakten/Tatsachen.57 [Allerdings
ist diese „reine Objektivität“ schon allein durch die „Tatsache“ eingeschränkt, dass er die
von ihm ausgemachten Solidaritätstypen in einen Prozess des sozialen Fortschritts
einordnet – und damit doch Wertungen vornimmt!] Das hat zur Folge, dass im Rahmen
seiner Soziologie „Solidarität“ und solidarisches Verhalten nicht, wie etwa in der
proletarisch-sozialistischen Literatur der Zeit, als einzuforderndes „Gut“ bzw. als moralisch
positiv zu wertendes „gutes Verhalten“ angesehen wird, sondern als ein zu objektivierender
Geselligkeits- bzw. Verhaltenstyp, der eben einer bestimmten Gesellschaft verhältnismäßig
automatisch entspringt und entspricht. Ebenso ist dann aber auch das Fehlen von
Solidarität und solidarischem Verhalten nicht den Einzelnen negativ anzulasten; vielmehr
verweist es auf das Auseinanderbrechen, die Anomie resp. Krise einer Gesellschaft (und
möglicherweise voraus auf das Entstehen eines neuen Gesellschafts- und damit
Solidaritätstyps).
Zur Beschreibung und Klassifizierung der unterschiedlichen historisch vorkommenden
Solidaritätstypen geht Durkheim nun nicht direkt vor. Um sein Ziel zu erreichen, nimmt er
den Umweg über die Differenzierung und Klassifizierung von Rechtsformen, in denen sich,
seinen Aussagen gemäß, die Solidaritätsformen spiegeln, und die, müsste hinzugefügt
werden, aus seiner Sicht auch jeweiligen Mentalitäts- und Bewusstseinstypen entsprechen.
Denn im eigentlichen Sinne handelt es sich bei Durkheim um ein eigentümliches
Konglomerat von Bewusstseinsphilosophie, Sozial- bzw. Mentalitäts- und Rechtsgeschichte
in der Tradition des bereits erwähnten Montesquieu, über welchen er ja nicht
zufälligerweise 1892 eine lateinische Dissertation verfasst hatte, und das vielleicht
folgendermaßen dechiffriert, um nicht zu sagen „aufgedröselt“, werden kann: Jeder
Gesellschaft mit ihren spezifischen Strukturen entsprechen bestimmte Bewusstseins- resp.
Mentalitätsformen ihrer Mitglieder, die eine nur ihr eigentümliche Form von Solidarität
konstituieren, welche sich in den Rechtsformen dieser Gesellschaft [wider-] spiegeln. Das,
57
Vgl. Emile Durkheim: Vorwort zur ersten Auflage. In: Derselbe: Über soziale Arbeitsteilung, a.a.O., S. 76 ff.
17
was bei Montequieu unter dem Begriff des „esprit de nation“ firmiert,58 findet sich bei
Durkheim unter dem Begriff der „solidarité sociale“ wieder, die eben das soziale Band der
jeweiligen Gesellschaft bildet und ihre Mitglieder zu einem Ganzen zusammen bindet. Dabei
erscheinen die einzelnen Mitglieder einer Gesellschaft, wie in der Bewusstseinsphilosophie,
als „Bewusstseine“, die je spezifische Beziehungen zueinander eingehen.
Das Resultat all dieser verschlungenen Wege und Umwege, die Durkheim geht, lässt sich
in etwa folgendermaßen zusammen fassen:
Durkheim unterscheidet grundsätzlich zwischen „einfachen“ [später wird es heißen:
„primitiven“] und „höheren“ Gesellschaften, den Gesellschaften also, „in denen wir leben“
[im späteren Diskurs heißen diese dann: „moderne Gesellschaften“]. In Analogie zum
naturwissenschaftlichen, insbesondere biologischen Diskurs seiner Zeit, und unter
Aufnahme entsprechender Theoreme von Spencer, konstruiert er einen historischen
Differenzierungsprozess, dem zufolge die Gesellschaften von ursprünglicher
Undifferenziertheit und Homogenität zu immer stärkerer Differenziertheit und Gliederung
übergehen.59 Bezeichnet er die ersteren als „segmentäre Gesellschaften“, da sie aus
einzelnen, miteinander jedoch identischen „Segmenten“ bestehen, so die letzteren als
„organische Gesellschaften“, da sie in unterschiedliche Organe mit je spezifischen
Funktionen differenziert sind.
Diesen grundlegenden Gesellschaftstypen nun ordnet Durkheim je spezifische
Solidaritätstypen zu: Den undifferenzierten „segmentären Gesellschaften“ entspricht
danach ein Solidaritätstyp, den er als „mechanische Solidarität“ bezeichnet, die „aus
Ähnlichkeiten“ resultiere, wie er an verschiedenen Stellen schreibt. Was ist darunter zu
verstehen? Seiner Vorstellung gemäß sind in den „einfachen“ [„primitiven“] Gesellschaften
die „Bewusstseine“ nicht voneinander unterschieden: Die einzelnen Mitglieder der
Gesellschaft haben praktisch identische Bewusstseine; diese entsprechen mehr oder
weniger vollständig dem Gehalt des kollektiven bzw. gemeinschaftlichen Bewusstseins (das
damit die Stelle des „esprit de nation“ bei Montesquieu einnimmt). Zwischen den
Mitgliedern der Gesellschaft herrscht, wenn man so will, eine Leibnizsche prästabilierte
Harmonie: Jede Monade hat das Ganze in sich, und von daher gibt es hier quasi keine
Differenz[-en], sondern absolute Übereinstimmung. [Das ist im Übrigen ein Gedankengang,
der später nicht unbedingt auf die ursprünglichen und in diesem Sinne „primitiven“,
sondern auf die „totalitären“ Gesellschaften bezogen wird, die eben wegen der dem
Denken und Handeln ihrer Mitglieder aufoktroyierten Uniformität als primitiv aufgefasst
werden!]
Der Blick auf die höheren, komplexen Gesellschaften, „in denen wir leben“, wie es
mehrfach heißt, ergibt ein anderes Bild des Verhältnisses der Menschen/Bewusstseine
zueinander und damit der hier herrschenden Solidarität: Hier nämlich hat die Arbeitsteilung
als Differenzierungsfaktor gewirkt und dazu geführt, dass sich zum einen die Gesellschaften
in sehr unterschiedliche Teilbereiche, von Durkheim als „Organe“ bezeichnet, aufgegliedert
haben, und zum anderen und in Zusammenhang damit dazu, dass auch die
Bewusstseinsgehalte ihrer Mitglieder immer unterschiedlicher geworden sind. [Damit hat
im Übrigen bei Durkheim, worauf er selbst hinweist, die Arbeitsteilung keine rein
ökonomische, sondern eine weit darüber hinausgehende soziale Funktion.60]
Und hier nun setzt die der Durkheimschen Soziologie eigentümliche Dialektik und der ihm
eigene Optimismus ein: Denn während für Denker wie Tocqueville solche Differenzierungsund Individualisierungsprozesse zu einem Auseinanderfallen der [alten] Gesellschaften
führen und sich hieraus allenfalls die düstere Vision eines omnipräsenten [totalitären]
Staates ergibt, der sich gerade über den isolierten und damit schwach gewordenen, da
ihrer sozialen Bindungen ledigen Individuen erhebt61 [ein Theorem, das Hannah Arendt in
58
Zum Begriff des „esprit de nation“ bei Montesquieu vgl. u.a. Effi Böhlke: „Esprit de nation“. Montesquieus
politische Philosophie. Berlin 1999.
59
Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, a.a.O., S. 229 f. und 237 f.
60
Vgl. ebenda, S. 228.
61
Vgl. Alexis de Tocqueville: Über die Demokratie in Amerika.
18
ihrem Totalitarismusbuch aufgreift, um die sozialen Bedingungen des Totalitarismus in
Deutschland und in der Sowjetunion im Auseinanderbrechen der Klassenstrukturen der
1920er Jahre zu plausibilisieren62], behauptet Durkheim das Gegenteil: Die soziale
Differenzierung und Individualisierung auf Basis der Teilung der sozialen Arbeit führt – ihm
zufolge – nicht zum Auseinanderbrechen der Gesellschaft – ganz im Gegenteil: Sie bindet
die Gesellschaftsmitglieder, die nun nämlich weitaus abhängiger von einander sind als
zuvor, auf neue und weitaus intensivere Weise aneinander!
Individualisierung und Solidarität bilden für Durkheim also keine diametralen, sondern,
wenn man so sagen darf, dialektischen Gegensätze: Zunehmende Individualisierung führt
aus seiner Sicht nicht zu weniger, sondern zu mehr sozialer Integration und Solidarität.63
Während in den „einfachen Gesellschaften“ die Bewusstseinsgehalte der Einzelnen fast
vollständig mit dem kollektiven Bewusstsein übereinstimmen, Individualität also nicht oder
doch nur in sehr eingeschränktem Maße ausgeprägt werden kann, sind die Gehalte der
einzelnen Bewusstseine in den organischen Gesellschaften sehr stark voneinander
unterschieden, ihre Individualitäten sehr ausgeprägt, und gerade deshalb ihr soziales Band,
ihre Bindung so fest. Und dies sieht und wertet er durchaus als moralischen bzw.
gesellschaftlichen Fortschritt.64
Im Unterschied zu all denjenigen also, die im Fortschreiten der sozialen Arbeitsteilung ein
Problem, ja eine Gefährdung der Gesellschaften und ihrer Mitglieder sehen, seien diese nun
eher konservativ-aristokratischer [etwa Montesquieu oder Tocqueville] oder linker,
[utopisch-] kommunistischer Couleur [etwa Saint-Simon oder auch Marx], gibt Durkheim
diesem Prozess eine positive Wertung und Wendung und sieht ihn als Grundlage für die
Entstehung einer neuen, auf der Freiheit der Einzelnen beruhenden und aus ihr
erwachsenden –solidarischen Gesellschaft.
Dabei sind seine Anschauungen durchaus nicht weltabgewandt und unrealistisch. So fragt
er sich an mehreren Stellen, wie denn eine „europäische Solidarität“ aussehen müsste, die
dem zunehmenden Prozess der Europäisierung entspricht,65 da das Verbleiben auf der
Ebene des Vaterlandes und die Vaterlandsliebe nicht mehr up to date seien [und dies Ende
des 19. Jahrhunderts, inmitten der Wogen von Nationalismus und Patriotismus gerade
auch in Frankreich!], und im Vorwort zur 2. Auflage von 1902 sucht er in den
Berufsgruppen nach denjenigen „pouvoirs intermédiaires“, die in der Lage wären, sich
zwischen die einzelnen Individuen und den Staat zu schieben und so eine integrative Kraft
zu bilden.
Durkheim war, das hat sich bereits angedeutet, nicht der Erste, der über die Frage der
Solidarität, also des sozialen und mentalen Zusammenhalts der Mitglieder einer
Gesellschaft, reflektierte. Er nimmt schon einen komplexen Diskursstrang auf, der ihm
ideengeschichtlich vorliegt – insbesondere in seiner eigenen, der französischen
Gesellschaft; und es sind auch Zeitgenossen, die zeitgleich mit ihm über dasselbe Thema
nachdenken. So bezieht er sich etwa auf das Buch von Marion „De la solidarité morale“
(Paris 1880).66 Und nur 4 Jahre nach der Veröffentlichung von „De la division du travail
social“ erscheint das Buch „Solidarité“ des französischen Juristen und Politikers Léon
Bourgeois, der sich mit seinem Programm des „solidarisme“ innenpolitisch für das Prinzip
der „mutualité“ [zu deutsch eigentlich „Wechselseitigkeit“, verwendet im Sinne von:
„Wohlfahrt“, aber auch (wechselseitige) „Versicherung“] einsetzt, welches der individuellen
Wohltätigkeit entgegengesetzt werden soll, außenpolitisch für die Schaffung eines
Völkerbundes, dessen erster Präsident er dann auch tatsächlich wird.67 Hier also nimmt der
62
Vgl. Hannah Arendt: Elemente und Ursprünge totaler Herrschaft. München/Zürich 1991.
Vgl. Emile Durkheim: Über soziale Arbeitsteilung, a.a.O., insbesondere S. 156 f., 180 f., 200 ff.
64
Vgl. ebenda, S. 226 f.
65
Vgl. ebenda, S. 66 f., 127.
66
Vgl. ebenda, S. 82, Fußnote 3.
67
Vgl. dazu auch Léon Bourgeois: L’œuvre de la société des nations. Paris 1923. Zum Begriff der Solidarität vgl.
zudem ders.: Essai d’une philosophie de la solidarité. Paris 1902.
63
19
Solidaritätsgedanke, den Bourgeois sowohl gegen den individualistischen Liberalismus als
auch gegen den kollektivistischen Sozialismus wendet, praktisch-politische Gestalt an.
In jedem Fall aber hat Durkheim, um auf ihn zurück zu kommen, den Solidaritätsdiskurs
zutiefst geprägt; viele nach ihm Kommende haben sich immer wieder, sei es positiv oder
negativ, auf ihn bezogen, nicht zuletzt Marcel Mauss, sein Neffe, dessen „Essai sur le don“,
in dem er das Prinzip des Gabentausches entwickelt, zuweilen als „Essay über die
Solidarität“ bezeichnet wird.68
Und nicht zufälligerweise bekennt sich Durkheim selbst zum – Sozialismus und geht dabei
auf die Tradition Saint-Simons und der Saint-Simonisten ein, und zwar in seinen
Vorlesungen von November 1895 bis Mai 1896 an der Universität von Bordeaux, die Marcel
Mauss posthum unter dem Titel „Le Socialisme“ veröffentlichte.69 Laut der Einführung von
Mauss ist dieses Buch das erste eines nie abgeschlossenen Werks, der erste Teil einer
„Geschichte des Sozialismus“. Eigentlich, so Mauss, plante Durkheim, 1896/7 eine
Vorlesungsreihe über Fourier und Proudhon zu halten, anschließend über Lassalle, Marx
und den deutschen Sozialismus. Aber dieses Vorhaben sei nicht realisiert worden, nicht
zuletzt wegen der großen Arbeit an den „Années sociologiques“ die Durkheim seit 1896
herausgab.70 Folgt man Pierre Birnbaum,71 so wirkte Durkheim bis dato eher konservativ in
der Tradition von de Bonald, de Maîstre und Comte, da er dem Auseinanderfallen der
Gesellschaft das soziale Ganze in seiner moralischen Einheit entgegenstellt. Jedoch: Anders
als diese bewertet er die Arbeitsteilung positiv, als Integrationsfaktor und hat er im
Zusammenhang damit eine eher optimistische Geschichtskonzeption. Schließlich wolle
Durkheim, so Birnbaum in Anschluss an Alvin Gouldner, das Denken von Comte, der die
Gesellschaft mittels Moral integriert wissen will, mit dem ökonomischen Denken von Marx
verbinden, und so kehre er zu der Quelle zurück, die beide beeinflusst hatte – eben SaintSimon.72 Damit habe sich Durkheim zum einen dem Sozialisten Jean Jaurès angenähert,
aber auch dem Solidarismus Léon Bourgeois’.
Und in der Tat: Saint-Simon erscheint bei Durkheim als zentrale Figur der französischen
Sozialwissenschaften des 19. Jahrhunderts, als diejenige Quelle, von der alle ihren
Ausgangspunkt genommen hätten, sowohl die eher konservativen, Ordnung und Gesetz
betonenden Denker wie Comte, als auch die progressiven Geister wie Lassalle und Marx,
aber auch die französischen Historiker und, und, und.
Dabei ordnet Durkheim Saint-Simon ganz anders ein, als dies im deutschen Kontext üblich
ist. Während Saint-Simon hierzulande stets im Dreiklang mit Fourier und Owen primär als
„Utopist“ oder „utopischer Sozialist“ bezeichnet und daher im Kontext der Tradition der
utopischen Literatur behandelt wird, bezeichnet Durkheim die hierzulande als „utopistisch“
bezeichnete Literatur als „kommunistisch“ – danach sind denn also Platon, Morus und
Campanella Kommunisten – und nimmt Saint-Simon davon explizit aus: Im Gegensatz zu
Ersteren sei Letzterer Sozialist, und zwischen Kommunismus und Sozialismus gebe es nicht
bloß graduelle, sondern prinzipielle Unterschiede. Während in der kommunistischen
Literatur zwischen Wirtschaft und Politik/Moral unüberwindbare Gegensätze aufgemacht
würden, weshalb Politiker nur aus politikfernen Sphären rekrutiert werden dürften, und
jegliche Verquickung von Wirtschaft und Politik verteufelt und überhaupt die Wirtschaft als
Ursache allen Übels angesehen werde, sei es in der sozialistischen Literatur vielmehr so,
dass die Politik aus der Wirtschaft hervorgehen und diese steuern und regeln solle.
Durkheims Definition des Sozialismus, auf die er immer wieder zurückkommt, lautet denn
auch:
68
Vgl. etwa Mary Douglas 1990.
Vgl. Emile Durkheim: Le socialisme. Sa définition - ses débuts. La doctrine saint-simonienne. Paris 1928. Ich
beziehe mich hier auf die Ausgabe von 1971, in der die Einführung von Mauss sowie das Vorwort von Pierre
Birnbaum enthalten sind.
70
Vgl. Marcel Mauss: Introduction. In : Ebenda, S. 27-31, hier v.a. S. 29f.
71
Vgl. Pierre Birnbaum: Préface. In : Ebenda, S. 5-26.
72
Ebenda, S. 14.
69
20
„Man bezeichnet jegliche Doktrin als sozialistisch, welche die Angliederung aller
ökonomischen Funktionen, oder einiger unter ihnen, die derzeit diffus sind, an das Leit- und
das geistige Zentrum der Gesellschaft fordert.“73 Dabei betont er wiederholt den Begriff des
„rattachement“, was eben nicht Unterwerfung oder Unterordnung bedeute.
Und gerade dies treffe auf Saint-Simon zu, der somit zum Gründervater des französischen
Sozialismus erhoben wird. Auch bei ihm gehe die Gesellschaft, gehe der soziale
Organismus aus der Wirtschaft, näher der modernen Industrie hervor, ebenso ihre
wichtigsten Eigenschaften, wie ihre von Saint-Simon angenommene – oder vielmehr:
herbeigewünschte? – prinzipielle Friedfertigkeit. Dies alles wird von Durkheim detailliert
analysiert und dargestellt. So resultiere auch die Einheit in den modernen Gesellschaften,
Saint-Simon zufolge, aus der Solidarität der Interessen ihrer Bürger.74
Dort, wo Durkheim die Ansichten Saint-Simons zur inneren Verfasstheit der modernen
Gesellschaften darstellt, ist allerdings kaum von Solidarität die Rede. Das ändert sich, wenn
er auf die internationalen Beziehungen und die Religion zu sprechen kommt, und zwar im
Kapitel IX. „Der Internationalismus und die Religion“ („L’internationalisme et la Religion“, S.
197ff. Mit positivem Bezug auf Saint-Simons Schrift „Système industriel“ schreibt
Durkheim, die Industrialisierung habe zu einer derartigen Angleichung der europäischen
Gesellschaften geführt, dass diese nur noch gemeinsam voranschreiten könnten. Die
Notwendigkeit – und Möglichkeit, müsste hinzugefügt werden – des Internationalismus
beruhe darauf, dass es von nun an eine solche Solidarität zwischen den unterschiedlichen
europäischen Nationen gebe, dass diese den Weg der Zivilisation nur noch gemeinsam
beschreiten könnten.75 Und er zitiert Saint-Simon, demzufolge Frankreich in einer Position
der Abhängigkeit von seinen Nachbarn befindet, welche eine Art politischer Solidarität
zwischen demselben und den anderen Völkern des Kontinents etabliere.76 Da nun also die
europäischen Gesellschaften alle demselben sozialen Typus angehören, so Durkheim,
haben Veränderungen in den Bedingungen in einem Land Auswirkungen auf diejenigen
anderer Länder. Fazit: Die europäischen Länder können sich nur noch gemeinsam
transformieren (sic!), wovon die großen Transformationen seit der Frühen Neuzeit zeugten,
die alle europäischen Gesellschaften durchgemacht hätten.77 Dieser durch die
Industrialisierung erzeugten Solidarität der europäischen Gesellschaften, ihrem darauf
beruhenden „politischen Konzert“, also ihrem Internationalismus, entspringt zugleich ihre
Friedfertigkeit, die sich, so Saint-Simon in der Darstellung von Durkheim, letztlich weltweit
durchsetzen solle. Saint-Simon, so Durkheim, habe den Patriotismus als „nationalen
Egoismus“ aufgefasst.78 Mit seiner Forderung und Begründung internationaler Solidarität
und daraus entspringender Friedfertigkeit steht Saint-Simon, Durkheim zufolge, in geistigpolitischer Nähe zu Abbé de Saint-Pierre und seiner Idee des ewigen Friedens.79 Die hier
allerdings ökonomisch untermauert ist. In jedem Fall aber mündet Saint-Simons Analyse,
um nicht zu sagen: Heiligsprechung, der Industrialisierung in eine stark religiöse Apotheose
der Einheit der Menschheit: Denn auf der Ebene der „humanité“ als Ganzer träumt er von
der Entstehung eines „Neuen Christentums“ („Nouveau Christianisme“), von der (Wieder-)
73
„On appelle socialiste toute doctrine qui réclame le rattachement de toutes les fonctions économiques, ou de
certaines d’entre elles qui sont actuellement diffuses, aux centres directeurs et conscients de la société.“ Emile
Durkheim: Le Socialisme. A.a.O., S. 49 (Hervorhebung im Original – E.B.)
„Au contraire, dans nos grandes sociétés contemporaines, où ce sont des relations économiques qui forment
le fond de la vie commune, l’unité sociale est surtout le résultat de la solidarité des intérêts…“ Ebenda, S. 176.
75
„Mais il y a une raison plus profonde à la nécessité de l’internationalisme. C’est qu’il y a, dès à présent, une
telle solidarité entre les différentes nations européennes qu’elles ne peuvent pas ne pas marcher du même pas
dans la voie de la civilisation.“ Ebenda, S. 197.
76
„Elle se trouve dans une position qui la rend, jusqu’à un certain point, dépendante de ses voisins, et qui établit
une espèce de solidarité politique entre elle et les autres peuples du continent.“ Saint-Simon, zit. nach Emile
Durkheim, in: ebenda, S. 198.
77
„Mais ils se contiennent mutuellement et ne peuvent, par conséquent, se transformer que par un mouvement
d’ensemble. En fait, toutes les grandes transformations qui ont eu lieu en Europe depuis le Moyen Age ont été
communes à toutes les sociétés européennes.“ Ebenda.
78
Ebenda, S. 202.
79
Ebenda, S. 205.
74
21
Entstehung eines geistig-religiösen, die Völker verbindenden Kosmopolitismus, wie er für
die christliche Religion vor dem Schisma gang und gäbe war.80 Und so sind denn auch, wie
Durkheim des Weiteren ausführt, ökonomisch fundierter Rationalismus und z.T. bis zum
Sektiererischen gehende Religiosität die beiden Flügel, in die die saint-simonistische Schule
nach dem Tode ihres Namengeber zerfallen würde.
Léon Bourgeois: Das universelle Gesetz
Gesetz der Solidarität – und ihre Grenzen
Eine der Hauptgestalten des (französischen) Solidaritätsdiskurses ist zweifellos der bereits
erwähnte Léon Bourgeois (1851-1925), der seine entsprechenden Ideen ziemlich zeitgleich
mit Emile Durkheim entwickelt hat, nämlich an der Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert.
Spricht man mit Kennern der französischen Szene, so fällt ihnen bei der Frage nach der
Solidarität als erstes stets der Name Léon Bourgeois ein, und es fällt der Begriff des
Solidarismus.
Léon Victor Bourgeois wurde 1851 als Sohn eines Uhrmachers in Paris geboren. Nach dem
Schulbesuch erhielt er eine Ausbildung zum Kaufmann, danach nahm er eine Studium der
Rechtswissenschaften in Paris auf. Bourgeois schlug eine primär politische Laufbahn
ein.1895 wurde er Ministerpräsident Frankreichs und bildete das erste rein
linksdemokratische Kabinett Frankreichs. Er setzte sich vor allem für soziale Belange ein
und reformierte die Arbeitsgesetze, das Schul- und Universitätswesen und die
Gesundheitsfürsorge.
Von 1902 bis 1904 war Bourgeois Präsident der Abgeordnetenkammer und 1906 für kurze
Zeit Außenminister Frankreichs. Bereits 1899 war er Vorsitzender der französischen
Delegation der Haager Friedenskonferenz und führte den Vorsitz der Kommission für
internationale Schiedsgerichtbarkeit. Auf der 2. Haager Konferenz 1907 wurde dann die
Schiedsgerichtbarkeit durch ihn zu einem der Hauptthemen der Verhandlungen.
Während des Ersten Weltkriegs war Bourgeois wieder in mehreren Ministerposten tätig
und kümmerte sich vor allem um die sozialen Kriegsfolgen. 1918 wurde er Mitglied einer
Regierungskommission zur Ausarbeitung der Pläne für den Völkerbund. Als dieser dann
1919 Realität wurde, forderte er eine starke Exekutive in Form einer eigenen Armee- und
Polizeigewalt für den Bund, damit dieser seine Forderungen auch durchsetzen konnte.
Dieser Vorschlag wurde vor allem durch England abgewiesen. 1920 wurde Bourgeois zum
ersten Präsidenten des Völkerbundes gewählt und von 1920 bis 1923 war er Präsident des
französischen Senats. Danach zog er sich vor allem aus gesundheitlichen Gründen, einer
fortschreitenden Erblindung, aus der Politik zurück und verstarb 1925.81
Seine Anschauungen zur Solidarität bringt Bourgeois zunächst in dem 1896 publizierten
Traktat mit dem Titel „Solidarité“ zu Papier; in den folgenden Jahren entwickelt er sie
immer weiter, indem er sie konkretisiert und unter verschiedensten, auch sehr praktischen
Fragestellungen behandelt.82
Zu Beginn des Aufsatzes von 1896 stellt Bourgeois fest, dass das Wort „Solidarität“ erst vor
wenigen Jahren in das politische Vokabular eingetreten sei. Zwar hätten Bastiat und
Proudhon bereits Mitte des Jahrhunderts auf Phänomene von Solidarität verwiesen, jedoch
sei es nie zur Ausarbeitung einer entsprechenden Theorie gekommen. In einer Fußnote
verweist er hier nur auf Pierre Leroux, der als einziger in diese Richtung gegangen wäre,
80
Vgl. ebenda, S. 207ff.
Zum Vorstehenden vgl. den Aufsatz zu Léon Bourgeois in: Wikipedia.
82
Im Folgenden beziehe ich mich auf die Ausgabe Léon Bourgeois: Solidarité. Paris 1912. In ihr sind, neben
dem bereits erwähnten titelgebenden Aufsatz, Vorträge auf dem Congrès international d’éducation sociale von
1900, vier Vorträge an der École des Hautes Etudes sociales aus den Jahren 1901 bis 1903 enthalten sowie der,
wie mir scheint, viele Entwicklungen des 20. Jahrhunderts vorherahnende Bericht an den VII. Kongress des
Institut international de sociologie in Bern vom Juli 1909 mit dem aufschlussreichen Titel „Les limites sociales
de la solidarité“ („Die sozialen Grenzen der Solidarität“), in dem Bourgeois, nur vier Jahre vor dem 1. Weltkrieg,
vor einer Hypostasierung der Solidarität in den Grenzen des Nationalstaats warnt.
81
22
ohne allerdings großen Einfluss auf die folgenden Wissenschaftlergenerationen gehabt zu
haben.83 Heute, also 1896, nun sei das Wort in aller Munde, aber ohne Vorhandensein einer
präzisen Definition. Das, so könnte man folgern, ist aber gerade das Anliegen Bourgeois:
Eine präzise Definition von Solidarität als Kernbestand einer diesbezüglichen Theorie
vorzulegen.
Dabei gibt sich Bourgeois nicht nur als Soziologe, sondern als Ideengeschichtler zu
erkennen. Er führt den Begriff auf die Trias der französischen Revolution zurück, auf
„liberté, égalité, fraternité“ und ist der Auffassung, Solidarität sei eine Weiterentwicklung
des dritten Terms, also der „fraternité“. Seine Frage: Ist das einfach nur ein neues Wort,
oder drückt sich darin eine neue Idee aus; ist das sich Häufen der Verwendung des Wortes
möglicherweise Indiz für die Evolution des allgemeinen Denkens?
Um diese Frage zu beantworten, geht er im I. Kapitel unter dem Titel „Evolution des idées
politiques et sociales“84 zunächst auf die Auseinandersetzungen zwischen den Anhängern
der Anschauungen des Individualismus einerseits, des Kollektivismus andererseits ein.
Während die individualistisch eingestellten Ökonomisten auf die Freiheit des Individuums
und das reine Wirken der Marktgesetze setzten und jegliche Einwirkung des Staates
verdammten, würden die Sozialisten hingegen genau den Staat heilig sprechen und Markt
und individuelle Freiheit einschränken. Doch während sich beide Parteien streiten, habe
sich auf der Ebene der Ideen bereits eine Synthese herausgebildet, und zwischen den
Anhängern ganz unterschiedlicher Auffassungen mache sich langsam folgende Doktrin
breit:
„Zwischen jedem der Individuen und allen anderen gibt es eine notwendige Beziehung der
Solidarität.“85 Dieser Begriff der Solidarität sei die Resultante zweier Stränge, die einander
lange Zeit feindlich gegenüber gestanden hätten: der wissenschaftlichen Methode und der
Idee der Moral. Kurz: Die Moral sei nun zur Wissenschaft geworden, indem ihre eigenen
Gesetze aufgedeckt wurden. Aus alldem nun speise sich die solidaristische Bewegung („le
mouvement solidariste“). Um die Gesellschaft transformieren zu können und das
gesellschaftliche Drama zu beenden, müsse man ihre Gesetze kennen; und das eben leiste
die „Doktrin der Solidarität“.
Das II. Kapitel mit dem Titel „Doctrine scientifique de la solidarité naturelle“86 hat die
Auseinandersetzung mit sozialdarwinistischen Vorstellungen zum Gegenstand, wie sie
gerade am Ende des 19. Jahrhunderts en vogue waren. Bourgeois nun sucht
nachzuweisen, dass in naturwissenschaftlichen Theorien, insbesondere der Biologie, aber
auch der Astronomie, durchaus nicht (nur) der Kampf aller gegen alle resp. die Konkurrenz
zum Bewegungsgesetz der belebten wie der unbelebten Materie erhoben werden, sondern
dass gerade in der Biologie immer wieder auf Formen der natürlichen Solidarität
hingewiesen wird, etwa, wenn es um die Beziehungen zwischen den Organe gehe, die erst
in ihrem Zusammenwirken einen gesamten Organismus ergeben, aber auch um die
Beziehungen zwischen den Mitgliedern einer bestimmten Tierart. Gegen eine
Hypostasierung des (falsch verstandenen) Darwinismus und dessen rückwirkende
Legitimation von Konkurrenz, Kampf und Krieg setzt Bourgeois also die Annahme einer
natürlichen Solidarität, die sich, da die Menschen natürliche Wesen sind, bis in die
Gesellschaft hinein auswirke. In dieser Auseinandersetzung entwickelt er die Vorstellung
einer „wechselseitigen Abhängigkeit der Menschen voneinander“, die sie mit allem und
allen verbindet, und zwar im Raum und in der Zeit.87
Diesem Raum-Zeit-Aspekt der Solidarität widmet er besondere Aufmerksamkeit, und aus
ihm heraus entwickelt er verschiedene, sehr wichtige Konkretionen seines Konzepts.
Denn zum einen sind ihm zufolge die einzelnen Menschen, durch die Beziehungen der
Solidarität, mit ihren Zeitgenossen verbunden. Denn ob dies nun Fragen der Gesundheit
83
Vgl. Léon Bourgeois: Solidarité, a.a.O., S. 1.
Ebenda, S. 3ff.
85
Ebenda, S. 6.
86
Ebenda, S. 17ff.
87
Ebenda, S. 21.
84
23
(der wechselseitigen Ansteckungsgefahr), der Arbeit (Arbeitsteilung), des Denkens (des
Gedankenaustauschs) oder der Gefühle (füreinander) anbelangt: Immer seien die Einzelnen
durch vielfache Beziehungen mit den anderen verbunden, und ein isoliertes Individuum
könne gar nicht agieren, ja nicht einmal existieren.88
Doch nicht nur das. Denn die Menschen sind, zum anderen, durch die Beziehungen der
Solidarität nicht nur mit den Koexistierenden, sondern auch mit den Menschen der
Vergangenheit und denen der Zukunft verbunden. Und hier kommt der Vergangenheit, der
Geschichte, des Erbes („l’héritage“) bei Bourgeois eine besondere Bedeutung zu: In ihrem
gegenwärtigen Handeln seien die Menschen immer mit der Vergangenheit und, wenn man
so will, der in ihr geronnen Tätigkeit ihrer Vorgänger verbunden; ohne diese könnten sie
überhaupt nicht handeln. Es gebe also eine wechselseitige Abhängigkeit der Menschen in
Raum und Zeit, woraus Bourgeois schließt: „Das Gesetz der Solidarität ist universell.“
In Kapitel III. „Doctrine pratique de la solidarité sociale“89 nun, wo er all die bislang
dargelegten Überlegungen weiterführt, stellt er die (solidarische) Gesellschaft nach dem
Modell eines Industrie- bzw. Handelsunternehmens dar, genauer als – eine Assoziation.
Zurückgreifend auf seine Kritik sowohl am überzogenen Individualismus als auch am
Etatismus, die er beide als abstrakt auffasst, entwickelt er die Vorstellung von der
Gesellschaft als einer freien Assoziation, die die Individuen untereinander bilden und aus
der sich die jeweiligen Rechte und Pflichten der Einzelnen ergeben.90 In
Auseinandersetzung mit Rousseau und dessen Vertragstheorie weist er immer wieder
darauf hin, dass dieser Zusammenschluss nicht auf Grund eines rationalen Entschlusses der
Einzelnen zustande komme, sondern diese vielmehr qua Geburt immer schon in eine
bereits existierende Assoziation eintreten. Es handele sich um eine „faktische Assoziation“
auf der Basis eines Quasi-Vertrags, in welcher die Einzelnen Rechte und Pflichten haben, in
die sie Kapital einspeisen und aus der sie Gewinne/Vorteile und/oder Verluste ziehen. Die
Gesetzgebung nun sei nichts anderes als der praktische Ausdruck der gerechten Aufteilung
der Gewinne und der Aufgaben in der Assoziation.
In einer solchen Assoziation nun, und das betont Bourgeois mehrfach, schließen sich
individuelle Freiheit und Entwicklung und Entwicklung des gesellschaftlichen Ganzen nicht
aus. Ganz im Gegenteil: Sie bedingen einander. Hier finden sich Formulierungen, die sehr
an die entsprechenden Passagen aus dem „Manifest“ erinnern, wo es um die Assoziation
geht, in der die freie Entwicklung eines jeden Bedingung der freien Entwicklung aller ist.
Der einzelne Mensch nun, Mitglied der Assoziation, so Bourgeois, ist Schuldner („débiteur“)
gegenüber der Gesamtgesellschaft. Er steht in der Schuld aller anderen Menschen.91 Was
ist damit gemeint? Die Verpflichtungen des Einzelnen gegenüber der Gesellschaft resultiere
nicht aus einer willkürlichen Entscheidung bzw. einem bewussten Entschluss; sondern aus
der „Anerkennung einer Schuld“: Sie sei das Pendant der Vorteile, die der Einzelne aus dem
Gesellschaftszustand ziehe, der Preis der Dienste, welche die Assoziation jedem leiste.92
Diese, so meine ich, sehr originelle Vorstellung von der Schuld des Einzelnen gegenüber
der Gesellschaft führt Bourgeois im folgenden Kapitel IV. „Dette de l’homme envers la
société. Le quasi-contrat social“93 weiter aus.
Der Mensch ist, unterstreicht er hier noch einmal, kein isoliertes Wesen, wie dies der
extreme Individualismus annimmt. Vielmehr wird er in die Gesellschaft hineingeboren und
steht er in der Abhängigkeit von den vorhergehenden und künftigen Generationen. „Der
Mensch wird als Schuldner der menschheitlichen Assoziation geboren.“94 Er übernimmt
das von seinen Vorfahren akkumulierte Erbe. Dieses nun bilde ein „immenses Kapital“, das
in der bisherigen Menschheitsgeschichte angehäuft wurde: Die in den Körpern
88
Ebenda, S. 21ff.
Ebenda, S. 33ff.
90
Ebenda, S. 40ff.
91
Ebenda, S. 46ff.
92
Ebenda.
93
Ebenda, S. 53ff.
94
Ebenda, S. 54.
89
24
vorhandenen Fähigkeiten, die Instrumente und Produkte der Arbeit, die Instinkte, die Ideen,
das Wissen – „all das ist das langsame Werk der Vergangenheit“ schreibt Bourgeois, und
all das steht uns seit der Geburt zur Verfügung. Das Kind nutzt „das immense Reservoir der
durch die Menschheit angehäuften nützlichen Dinge“, lesen wir: Ob es sich um die
Nahrung, die Sprache (die Wörter), das Buch, das Arbeitsmittel, die oftmals unter Mühen
und Qualen hergestellte Straße, das Rad am Wagen oder am Wagon handelt – all das zu
benutzen ist eine Schuld, die dem Einzelnen eine Pflicht, eine Verpflichtung auferlegt.95
Doch wem gegenüber kann diese Schuld abgetragen werden? Bourgeois zufolge kann dies
nur gegenüber der kommenden Generation geschehen. Das von den vorhergehenden
Generationen übernommene Kapital an Ideen, Kräften und nützlichen Dingen gilt es zu
bewahren und verantwortungsvoll zu behandeln. Doch nicht nur das. Bourgeois führt aus:
„Jede Generation, die vorüberzieht, kann sich tatsächlich nur als Nutznießerin betrachten;
sie hat es nur übernommen, um es zu bewahren und es getreu zurückzuerstatten. Und eine
genauere Untersuchung der Natur des Erbes führt dazu, hinzuzufügen: um es zu
vermehren.“96
Und eine Seite weiter lesen wir:
„…und das ist das Gesetz des Wachstums des öffentlichen Gutes der Assoziation, welches
das Gesetz des Vertrags zwischen den aufeinanderfolgenden Generationen bildet, so wie
das Gesetz des Austausches der Dienste und der Aufteilung der Aufgaben und der
Gewinne das Gesetz des Vertrags zwischen den Menschen derselben Generation ist.“97
Ganz deutlich wird hier, wie sie bei Bourgeois die Idee der Solidarität, der wechselseitigen
Abhängigkeit der Menschen untereinander, mit dem Konzept der Generationen und der
Beziehungen der unterschiedlichen Generationen zueinander verknüpft. Danach stehen die
Menschen eben nicht nur, durch vielfältigen Austausch – heute würden wir wohl von
Kommunikation sprechen – mit ihren Zeitgenossen, also den Angehörigen ihrer eigenen
Generation, in Verbindung, sondern, durch die Vermittlung der im „Erbe“, im „Kapital“
geronnenen Tätigkeiten, mit ihren Vorfahren, aber auch mit ihren Nachkommen, denen sie
dieses Erbe, dieses Kapital übergeben werden – in welcher Form auch immer.
Die Idee der Solidarität nimmt hier, wie deutlich wird, sehr komplexe Formen an, und
verbindet sich mit spezifischen Vorstellungen von Raum und Zeit und Geschichte, von
Gesellschaft, die als auf einem Quasi-Vertrag gegründete Assoziation verstanden wird, von
Erbe und Kapital, die sowohl auf Marx zurück- als auch auf Bourdieu vorweisen, sowie von
Generationen, die bereits etwas von Mannheim, aber auch vom berühmten
„Generationenvertrag“ der Bundesrepublik nach 1968 vorahnen lassen.
Für Bourgeois jedoch verweist die Idee der Solidarität, wie er sie entwickelt, ganz eindeutig
auf die französische Revolution von 1789 zurück. Das betont er noch einmal in seinem
Resümee am Ende der hier behandelten Schrift. Mit ihrer Vorstellung von der „Schuld des
Menschen gegenüber dem Menschen, Quelle und Maß der unerbittlichen Pflicht zur
sozialen Solidarität“, erscheine die „Doktrin der Solidarität als Weiterentwicklung der
Philosophie des 18. Jahrhunderts und als Vollendung der politischen und sozialen Theorie,
welche die französische Revolution mit den drei Begriffen Freiheit, Gleichheit, Brüderlichkeit
zum erstenmal überhaupt ausformuliert hatte.“98
Doch ist Bourgeois alles andere als ein blinder Adept, um nicht zu sagen: Fan, der
Solidarität. Er weiß sehr wohl um die Begrenztheit jeglicher Gruppensolidarität. Und so hat
denn der Beitrag, den er auf dem VII. Kongress des Internationalen Instituts für Soziologie
in Bern im Juli 1909 hält, auch den Titel „Die sozialen Grenzen der Solidarität“.99 Diese Rede
ist sehr aufschlussreich, zum einen für den Geist der Zeit selbst, aber auch für die
95
Ebenda, S. 56f.
Ebenda, S. 57. Fast meint man, entsprechende Passagen aus dem „Kapital“ zu lesen, wonach die Menschen
nur die Nutznießer dieser Erde sind, die sie verbessert zu hinterlassen haben.
97
Ebenda, S. 58.
98
Ebenda, S. 72.
99
Léon Bourgeois: Les limites sociales de la solidarité. Rapport général au VII. Congrès de l’Institut international
de sociologie à Berne, juillet 1909. In : ders.: Solidarité, a.a.O., S. 287-292.
96
25
anschließende Geschichte, deren Gefährdungen Bourgeois mit feinem Gespür vorgeahnt zu
haben scheint.
Schauen wir sie uns also einmal näher an.
Zunächst verweist Bourgeois auf einen gewissen Dr. Papillaut, der auf dem Kongress
bereits über „Exzesse der Solidarität“ in der biologischen Welt und in den sog. primitiven
Gesellschaften („sociétés inférieures“) gesprochen hatte. Er selbst nun wolle dieses
Phänomen in den entwickelten Gesellschaften („sociétés supérieures“), d.h. bei den
hochkultiviteren Völkern („dans les peuples de hautes cultures“) untersuchen und dabei die
notwendigen Grenzen der Solidarität definieren, ein Anliegen, dessen Bedeutung von tag zu
Tag zunehme.100
Denn: Die alte rein individualistische Konzeption werde mehr und mehr substituiert durch
diejenige „der Gruppierung der Kräfte, der kollektiven Aktion.“ In allen Ländern gebe es nur
noch Kartelle und Trusts, Gesellschaften auf Gegenseitigkeit und Korporativen,
Zusammenschlüsse von Chefs und von Arbeitern, Gewerkschaften… Jede dieser
Gruppierungen werde durch einen besonderen, oftmals exklusiven „esprit de corps“
beseelt, und berufe sich zu ihrer Legitimation auf die Prinzipien der Solidarität. Doch es
komme zu oft vor, dass diese Körperschaften das normale Leben der Nation stören.101
Der Geist des Korporatismus macht, wenn man so will, die Gesellschaft kaputt. An die
Stelle des individuellen Egoismus ist der korporative oder Gruppen-Egoismus getreten, der
möglicherweise noch viel komplizierter zu beherrschen ist als der erstere, weil in ihm eine
weitaus höhere, eben die kollektive, Kraft enthalten ist. Wieder, und nunmehr auf höherer
Ebene, ist der gesellschaftliche Zusammenhang in Frage gestellt.
Daher denn auch Leroux’ Frage: Dürfen sich solche Unternehmen legitimerweise auf die
Solidarität berufen?
Seine Antwort besteht in einer Definition der notwendigen Grenzen der Solidarität:
Erstens gebe der Einzelne, wenn er in eine Assoziation eintritt, nicht alle seine anderen
Verpflichtungen, etwa gegenüber seiner Familie, der Nation als Ganzer etc., auf; nach wie
vor habe er noch eine ganze Menge anderer sozialer Beziehungen außerhalb der
Assoziation. (Dies auch noch einmal gegen Rousseau gewandt. Außerdem verweist dies
voraus auf die Vorstellungen von den multiplen Beziehungen und Gemeinschaftsbezügen
der Einzelnen, wie sie Michael Walzer Ende des 20. Jahrhunderts entwickelt.)
Zweitens müsse es nicht nur eine Solidarität innerhalb der Gruppe geben, sondern eine
„höhere Solidarität aller sozialen Gruppen untereinander.“ Wo nicht, werde die Gruppe zum
Tumor innerhalb der Gesellschaft, breite sich sukzessive aus, töte zunächst die Gesellschaft
– und damit letztlich sich selbst!102
Am Ende seiner Rede greift Bourgeois bewusst auf den damals – 1909 – grassierenden
Jargon des Nietzscheanismus zurück, den er ganz offensichtlich verabscheut. Das
Vergessen der notwendigen Beziehungen zwischen den Individuen, so Bourgeois, führt
zum Entstehen „sozialer Monster“ („monstres sociaux“), die man als „Übermenschen“
(„surhommes“) bezeichnet und die lebensunfähig wären, wenn sie ihrem berühmtberüchtigten „Willen zu Macht“ überlassen würden. Diese Vorstellungen, diese Sprache
nun überträgt Bourgeois auf die Ebene der Assoziationen, der Gruppen: Wenn die Gruppe
die notwendige gesellschaftliche Solidarität mit anderen vergisst, dann resultiere daraus ein
„kollektiver Egoismus“ („égoïsme collectif“) bzw. eine „Übergruppe“ („surgroupe“), die
ebenso gefährlich ist für sich selbst wie für die Gesellschaft als Ganze.
Innerhalb wie außerhalb der Gruppe, schließt Bourgeois, ist es das Gesetz der
„wechselseitigen Gerechtigkeit“ („justice mutuelle“), welche die Grenzen der Solidarität
bestimme. Immer dann, wenn das Individuum oder die Gruppe diese Regel der
100
Ebenda, S. 287.
Ebenda, S. 288. Das erinnert sehr an Lenin, der ja in seiner Schrift „Der Imperialismus als höchstes Stadium
des Kapitalismus“ gerade die Ausbreitung der Monopole von Trusts und Kartellen als wesentliches Kennzeichen
des Imperialismus resp. eben Monopolkapitalismus dargestellt hatte.
102
Ebenda, S. 290.
101
26
Gerechtigkeit verletzte, sei es gegenüber den Mitgliedern der Gruppe oder gegenüber dem
Ganzen des Gesellschaftskörpers, immer dann komme es zur – „Asolidarität“ („asolidarité“).
Dies nun alles angewandt auf die internationale Ebene und die Begrenztheit der nationalen
Solidarität, soweit sie sich nicht zur internationalen erweitert – hat man all die Probleme, die
sich 1914ff. in und zwischen den beiden Weltkriegen ergaben, einbegriffen die durch die
(allerdings massiv instrumentalisierte) Ideologie des Nietzscheanismus inspirierten
Verhaltensweisen. Bourgeois, bereits seit Ende des 19. Jahrhunderts die Idee des
Völkerbundes mit sich herumtragend, war sich der Beschränktheit einer rein nationalen
Solidarität und der ihr innewohnenden Gefahren wohl bewusst.
27
III. Solidaritätsdiskurs
Solidaritätsdiskurs in religiösem Gewand: SaintSaint-Simonisten und
Fourieristen
Pierre Leroux: Der Mensch – ein solidarisches Wesen
Kommen wir nun zu den bereits mehrfach erwähnten Saint-Simonisten. Für diese Anhänger
Saint-Simons, eines der drei „großen Utopisten“ des 19. Jahrhunderts, die immer wieder in
einem Atemzug genannt werden – die beiden Franzosen Saint-Simon und Fourier sowie der
Engländer Owen –, spielt die Idee der Solidarität mit und unter den ärmeren Schichten der
Gesellschaft, speziell der wachsenden Masse der Arbeiter, eine große Rolle. So auch für
den namentlich, zumindest in Deutschland, gar nicht so bekannten Pierre Leroux (17971871).
Politisch-ideologisch steht Leroux den Ideen seines „Meisters“ Saint-Simon nahe, aber
auch denen der französischen Aufklärer des 18. Jahrhunderts, wovon schon der Titel der
von ihm gemeinsam mit Jean Reynaud herausgegebenen „Encyclopédie Nouvelle ou
Dictionnaire Philosophique, Scientifique, Littéraire et Industriel“ zeugt, eine Anspielung
sowohl auf die von Diderot und anderen herausgegebene „Encyclopédie“ als auch auf das
„Dictionnaire philosophique“ von Voltaire. Was Leroux allerdings nicht davon abhält, sich
gerade mit Letzterem immer wieder kritisch auseinander zu setzen und aufzuzeigen,
inwiefern eine Philosophie des 19. Jahrhunderts über diesen – und damit über die Ideen der
französischen Aufklärung überhaupt – hinausgehen müsse.
1840 erscheint bei Perrotin, Paris sein umfangreiches zweibändiges Werk „De l’Humanité,
de son Principe et de son Avenir“, mit dem Untertitel „Où se trouve exposée la vraie
définition de la religion et où l’on explique le sens, la suite et l’enchaînement du Mosaïsme
et du Christianisme“.103
Verweilen wir etwas bei diesem umfangreichen Titel und Untertitel. Hauptgegenstand der
Schrift ist, wie wir lesen, die Menschheit, ihr Prinzip, und vor allem – ihre Zukunft. Diese
Themenstellung wird abgehandelt unter starkem Bezug auf die Geschichte der jüdischchristlichen Religion – das Alte und das Neue Testament – sowie die Geschichte der
Philosophie, wobei hier immer wieder der Platonismus, der Epikuräismus und der
Stoizismus genannt werden, sowie eben die englischen, deutschen und französischen
Aufklärer des 17. und 18. Jahrhunderts, die ja eben diese ideengeschichtlichen Vorgaben
aufgegriffen, modifiziert und modernisiert hatten, wie Bolingbroke, Locke, Byron, Leibniz
(von dem Leroux offensichtlich stark beeinflusst ist und auf welchen er sich immer wieder
bezieht), Bayle, Fontenelle, der bereits erwähnte Voltaire und Rousseau. Und natürlich –
Saint-Simon, den er zumindest in dieser Zeit noch als seinen „Meister“ bezeichnet.104
„Unsererseits wollen wir“, so schreibt Leroux, „die Prophezeiung Saint-Simons
veranschaulichen und erläutern.“105
Was nun aber sind die Hauptideen, die Leroux in dieser Schrift entwickelt, und vor allem –
was haben sie mit der Solidarität zu tun?
Zu Letzterem: Ebenso, wie bei Durkheims Schrift über die Arbeitsteilung, könnte in Bezug
auf das hier zu behandelnde Werk von Leroux behauptet werden: Neben der Kategorie
103
Ich beziehe mich hier und im Folgenden auf die Ausgabe Pierre Leroux: De l’Humanité, de son Principe et de
son Avenir. Où se trouve exposée la vraie définition de la religion et où l’on explique le sens, la suite et
l’enchaînement du Mosaïsme et du Christianisme. Texte revu par Miguel Abensour et Patrice Verméren, Paris,
Fayard 1985 (Corpus des œuvres de philosophie en langue française), die auf der zweiten Auflage von 1845
beruht.
104
Später soll sich dies geändert und Leroux zu stärkerer Unabhängigkeit gelangt, also aus dem Schatten des
„Übervaters“ Saint-Simon herausgetreten sein.
105
„Nous voulons contribuer, pour notre part, à démontrer et à expliquer la prophétie de Saint-Simon.“ Pierre
Leroux: De l’Humanité, a.a.O., S. 120.
28
„Menschheit“, die hier titelführend geworden ist, gibt es bei Leroux eine zweite, der ersten
ebenbürtige Kategorie – eben die Solidarität! Denn, was sind die Hauptanliegen des
Autoren? Sich mit den bereits genannten religiösen und philosophischen Richtungen
auseinander setzend, kritisiert Leroux im Grunde genommen stets eines: Dass diese
nämlich, in unterschiedlichen Hinsichten, immer wieder Seiten, Aspekte auseinander
gerissen hätten, die an sich zusammen gehören würden. So sei es den respektiven
Religionen und Philosophien nie gelungen, das Individuum und die Gesellschaft, die
verschiedenen Eigenschaften des Menschen, Himmel und Erde sowie Vergangenheit,
Gegenwart und Zukunft zusammen zu denken und zu führen. Ähnlich wie der kurz zuvor
verstorbene Hegel empfindet sich Leroux offenbar als Synthetiker, der verbindet, was die
(philosophische und religiöse) Mode zuvor ebenso streng wie willkürlich geteilt hatte.
Erstens. Beginnen wir bei dem ersten von ihm ausgemachten Dualismus, dem –
vermeintlichen – Gegensatz von Individuum und Gesellschaft, der ihm zu Beginn des 19.
Jahrhunderts in Gestalt der sich ausbreitenden Ideologie des Individualismus und ihrer
negativen Seite, des bürgerlichen Egoismus, gegenüber tritt und die den Menschen als
einzelnes, isoliertes Wesen, als „être solitaire“ auffasst. Demgegenüber knüpft Leroux an
die antike, aristotelische Definition des Menschen als „zoon politikon“ an, als von
vornherein in der und für die Gesellschaft geborenes Wesen, das auch nur in der
Gesellschaft leben und agieren (und sich auch nur dort, wie Marx relativ zeitgleich schreibt,
vereinzeln) kann.
Und hier nun kommen die Kategorien „humanité“ und „solidarité“ ins Spiel. Denn für
Leroux gibt es, im Gegensatz zu vielen von ihm erwähnten Philosophemen, eben keinen
Gegensatz zwischen Individuum und Gesellschaft bzw. zwischen dem einzelnen
Menschen/Mann („homme“) und der Menschheit („humanité“) als Ganzer.106 Der einzelne
Mensch ist von vornherein Teil der Menschheit, außerhalb derselben ist er weder existenznoch aktionsfähig. Die Menschheit wiederum ist nicht anderes als die Gesamtheit der
Menschen: Auch sie hat keine Existenz außerhalb und unabhängig von den tatsächlich
existierenden Menschen; alles andere wäre eine inhaltsleere Abstraktion, eine tote Hülle.
Hier schließt Leroux zum einen an die alte Dialektik von Teil und Ganzem an, an die
Vorgaben des Pantheismus, und hier wird der Einfluss von Leibniz deutlich, bei welchem ja
die einzelne Monade das Ganze spiegelt, wenngleich auf ihre je spezifische Weise. Zum
anderen wird bei der Lektüre deutlich, wie stark er von der durch Kant und v.a. Fichte
entwickelten Identitätsphilosophie und Erkenntnistheorie geprägt ist, stellt er doch das
einzelne Ich („moi“) dem Nicht-Ich („non-moi“) der Gesellschaft/Menschheit gegenüber
und behauptet, dass das Eine nicht ohne das/die Andere, dass beide also nur im Bezug
aufeinander zu fassen sind.
Dasjenige nun aber, was die vielen einzelnen Menschen miteinander verbindet, das ist eben
die – Solidarität! Und zwar eine freiwillige, von den Menschen selbst ausgehende, nicht
„von oben“, von Gott oder einem anderen höheren Wesen (welches es ja eben gar nicht
gibt) aufoktroyierte Solidarität. So erhebt Leroux bereits im Vorwort, unter Punkt VI., „die
Kommunion der menschlichen Gattung“, „die wechselseitige Solidarität der Menschen“
[um nicht zu lesen: „der Männer“], zum „ontologischen Axiom“, von welchem er in seiner
Abhandlung über die Menschheit ausgehen wolle.107 In Abschnitt VII. desselben Vorworts
lesen wir weiter:
„Der antike Mythos der jüdischen Bibel hat uns alle in Adam solidarisch gemacht.
106
Dass damit die Frauen bei Leroux zunächst einmal überhaupt keine Rolle spielen, lassen wir an dieser Stelle
beiseite.
107
„Or donc, ce point fixe, que je crois démontrable autant que la vie peut se démontrer, autant que l’infini peut
se prouver, et dont je vais essayer d’apporter une démonstration, c’est la communion du genre humain, ou, en
d’autres termes, la solidarité mutuelle des hommes.“ Pierre Leroux: De l’Humanité, a.a.O., Préface, S. 23. Hier
wie bei anderen Philosophen des 19. und 20. Jahrhundert entsteht damit zudem ein enger Zusammenhang von
Verbindung/Vergemeinschaftung („communion“) und Kommunikation („communication“), was wiederum auf
die religiösen Wurzeln dieser Begriffe zurück verweist.
29
Das Christentum hat sich auf diese Solidarität aufgepfropft.“ Jesus Christus, Retter der
Menschheit auf dem Wege der Reversibilität und der Solidarität, sei ein Mythos, der dem
Mythos Adams entspreche, desjenigen also, der die Menschheit in die Verdammung
geführt habe.
„In Wahrheit sind wir alle tatsächlich solidarisch, und leben ein gemeinsames Leben, oder
vielmehr, wie Jesus sagt, ein Leben.“108
Ganz deutlich wird bereits in diesem Vorwort – und das ergab ja auch schon der Untertitel
des Werks –, dass Leroux, vergleichbar mit seinem deutschen Zeitgenossen Feuerbach,
mittels Exegese der Bibel die in derselben versteckt und verdreht bzw. verkehrt enthaltenen
Wahrheiten ans Licht zu holen sucht, dass also, wenn man so will, seine Philosophie der
Menschheit und der Solidarität eine verweltlichte, vom Kopf auf die Füße gestellte
Auslegung der jüdisch-christlichen Religion bildet.109
Die Idee der Solidarität, welche die einzelnen und von den modernen Philosophen, u.a.
auch von Voltaire, vereinzelten Menschen zu einem Ganzen zusammenschweißt/-schlingt
bzw. verknüpft, entwickelt Leroux, immer wieder Bezug nehmend auf das Alte und das
Neue Testament, insbesondere im IV. und V. Buch von „De l’Humanité“ („Livre quatrième:
Solidarité mutuelle des hommes“, dt. „Wechselseitige Solidarität der Menschen“, S. 157 ff.,
und „Livre cinquième: La solidarité des hommes est éternelle“, dt. „Die Solidarität der
Menschen ist ewig“).
Zweitens. Der zweite, künstlich und somit willkürlich hergestellte Gegensatz, den Leroux in
der bisherigen Geistes- und Philosophiegeschichte ausmacht, ist derjenige zwischen den
unterschiedlichen Seiten und Eigenschaften der Menschen. Bislang sei der Mensch, so
Leroux, immer entweder als Sinneswesen dargestellt worden, oder als empfindsames, oder
als Geisteswesen. Für Leroux aber gehören all diese Aspekte zusammen. Der (einzelne)
Mensch sei sowohl Sinnes-, als auch Gefühls-, als auch Geistes-Wesen, oder, in seiner
eigenen Formulierung:
„Der Mensch, wie individuell, wie solitär, wie abstrahiert von der Menschheit man sich ihn
auch immer vorstellt, ist, von seiner Natur und vom Wesen her, Empfindung-GefühlBewusstsein untrennbar zugleich.“110
Dieses Wesen Mensch lebe eben nicht isoliert als das von den Psychologen (die Leroux
immer wieder aufs Korn nimmt) ausgemachte Solitär, sondern als moralisches, politisches
und soziales Wesen.
„Erleuchtet von diesem Licht“ – über welches seine Vorgänger nicht verfügten – „können
wir das Terrain des wahren Lebens des Menschen betrachten, die Moral, die Politik, die
Gesellschaft.“111
108
„L’antique mythe de la Bible juive nous faisait tous solidaires en Adam.
Le Christianisme s’est enté sur cette solidarité. Jésus-Christ, sauveur de l’humanité par voie de réversibilité et de
solidarité, est un mythe correspondant au mythe d’Adam, damnateur de sa race par solidarité aussi et
réversibilité.
La vérité, c’est qu’en effet nous sommes tous solidaires, et vivons d’une vie commune, ou plutôt, comme dit
Jésus, d’une vie une.“ Ebenda.
109
Allerdings werden gerade an dieser Stelle Nähen zu Autoren deutlich, die ganz und gar nicht auf der
revolutionären Seite der Barrikade stehen, nämlich etwa zu Joseph de Maîstre, der in seinem 1821 in der
Librairie Grecque veröffentlichten Buch „Les Soirées de St-Petersbourg ou Entretiens sur le gouvernement
temporel de la Providence“ eben jene hier von Leroux entwickelte Vorstellung von der Reversibilität, also der
Übernahme der Leiden der Menschen durch J.C., expliziert hatte. Seine Schüler wiederum haben die aus dieser
Idee der Reversibilität folgenden Formen der – Solidarität dargelegt! Vgl. dazu Nicolas Mulot: La réversibilité, „le
grand mystère de l’univers“. Éditions de Sombreval 2006. Ist der konservative, konterrevolutionäre de Maîstre
damit eine der „verborgenen Quellen“ des Lerouxschen, ja vielleicht des utopischen französischen Denkens des
beginnenden 19. Jahrhunderts überhaupt? Das ist genauer zu untersuchen. Immerhin wird der Begriff der
„solidarité“ auch und gerade im konservativen politischen Spektrum der Zeit verwendet, etwa wenn es um die
„solidarité“ der Mitglieder der Hl. Allianz gegen den Erzfeind der Menschheit, das absolute Böse in personam
Napoléon geht.
110
„L’homme, quelque individuel, quelque solitaire, quelque abstrait de l’humanité qu’on l’imagine, est, de sa
nature et par essence, sensation-sentiment-connaissance indivisiblement unis.“ Ebenda, S. 109.
111
„Éclairés par cette lumière, nous pouvons aborder le terrain de la véritable vie de l’homme, la morale, la
politique, la société.“ Ebenda.
30
Drittens. Einen breiten Raum nimmt bei Leroux die Auseinandersetzung mit der christlichen
Trennung von irdischer und außerirdischer Welt, von Himmel und Erde ein. Die christliche
Religion und alle an sie anschließenden Philosophen [man denke etwa an Giordano Bruno]
habe(n) eine scharfe und absolut willkürliche Scheidung zwischen dem menschlichen
Leben auf der Erde und einem imaginierten Leben imaginärer Wesen im Himmel
vorgenommen und das Leben „hienieden“ als schlecht, böse, als „Abfall“ vom
konstruierten guten, göttlichen Leben hingestellt. Eine Erlösung vom irdischen Jammertal,
von seinen Qualen und dem alltäglichen Elend könne es von daher nur im Jenseits geben –
allerdings nur für diejenigen, die sich brav und gehorsam verhalten. Diese über
Jahrhunderte mit den Mitteln psychischer (Glaube) und physischer (Schwert u.a.) Gewalt
erfolgreich durchgesetzte und verbreitete Ideologie ruft den Zorn des Autoren hervor, denn
sie macht die Menschen ängstlich und passiv. Statt dem (unrealisierbaren) Traum an ein
jenseitiges (postmortales) Heil nachzuhängen und die irdischen Ungerechtigkeiten brav
hinzunehmen, müssten die Menschen, so Leroux, vielmehr danach streben, den Himmel
auf Erden, also das Gute in ihrem alltäglichen Leben moralischen, politischen und sozialen
Leben selbst zu verwirklichen.
Viertens. Und hier schließt sich logisch seine Auseinandersetzung mit einer vierten
künstlichen Trennung an, welche die bisherige Religion und Philosophie vorgenommen
habe(n), diejenige nämlich zwischen Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft. Denn so, wie
Himmel und Erde auseinander gerissen werden, so konstruiere die (jüdisch-) christliche
Religion die Vorstellung dreier völlig unverbundener Sphären, als da sind: 1. der
unwiederbringlich der Vergangenheit angehörende Garten Eden, in welchem zwei
menschliche Gestalten namens Adam und Eva zunächst voller Unschuld und in Frieden und
Eintracht miteinander verkehren, aus welchem sie jedoch aufgrund eigener Schuld
vertrieben wurden; 2. das gegenwärtige irdische Jammertal mit all seinem Elend und
seinen Schrecken; schließlich 3. das künftige Paradies, in welches all diejenigen gelangen
werden, die der Versuchung des Bösen widerstanden und die insofern „heil“, also gut
geblieben sind – trotz alledem!
Für Leroux nun gehören Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft untrennbar zusammen,
und in allen drei Zeitabschnitten gebe es Gutes und Böses/Schlechtes. Allerdings: Im Laufe
der Zeit nehme das Gute zu. Und hier zeigt sich in aller Deutlichkeit seine Verbundenheit
mit der Entwicklungstheorie des 18. und beginnenden 19. Jahrhunderts, insonderheit auch
mit dem Utopisten Saint-Simon. Denn wie diese ist Leroux davon überzeugt von der [glaubt
er an die] Vervollkommnungsfähigkeit („perfectibilité“) des Menschen, des einzelnen
(„homme“) sowohl wie der Menschheit („humanité“) als Ganzer. Zurückgreifend auf die
Idee des Strebens bei Leibniz und die im 18. Jahrhundert von Perrault, Fontenelle,
Condorcet, Turgot u.a. vorangetriebene Entwicklungskonzeption behauptet Leroux, dass
der Mensch/die Menschheit charakterisiert ist durch die Hoffnung („espérance“) auf und
das Streben („aspiration“) nach Vervollkommnung in geistiger und moralischer Hinsicht.
Der Mensch ist aus dieser Sicht nicht nur ein soziales, sondern auch ein
vervollkommnungsfähiges Wesen:
„Der Mensch ist also nicht nur ein gesellschaftsfähiges Tier, wie die Alten sagten; der
Mensch ist zudem ein vervollkommnungsfähiges Tier. Der Mensch lebt in der Gesellschaft,
lebt nur in der Gesellschaft; und je vervollkommnungsfähiger diese Gesellschaft ist, desto
mehr vervollkommnet sich der Mensch in dieser vervollkommneten Gesellschaft.“112
Und den in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts noch dominanten Fortschrittsoptimismus
vieler Intellektueller teilend und an seinen „maître“ Saint-Simon anschließend, verlagert er
damit das von dem einzelnen Menschen und der Menschheit insgesamt anzustrebende
[absolute] Gute in die Zukunft (und nicht etwa, wie pessimistische Geschichtsphilosophen,
als da sind Rousseau, aber auch de Maîstre und andere, in die Vergangenheit). Die
112
„L’homme donc n’est pas seulement un animal sociable, comme disaient les anciens ; l’homme est encore
un animal perfectible. L’homme vit en société, ne vit qu’en société ; et de plus cette société est perfectible, et
l’homme se perfectionne dans cette société perfectionnée.“ Pierre Leroux: De l’Humanité, a.a.O., S. 118.
31
Geschichte der Menschheit versteht Leroux als das Fortschreiten vom Niederen zum
Höheren, vom weniger Guten über das Bessere in Richtung des [absoluten] Guten und
erweist sich damit als – Utopist in der Tradition Saint-Simons.
„Wir unterstellen nicht“, schreibt Leroux, „dass die Doktrin des Fortschritts und der
Vervollkommnungsfähigkeit seine“ [des Lesers] „volle und ganze Zustimmung fände, dass
er, mit einem Wort, über den wundervollen Glauben an die Zukunft und die wahrhaft
prophetische Inspiration verfüge, die Saint-Simon sagen ließ: ‘Das Goldene Zeitalter, das
eine blinde Tradition bislang in der Vergangenheit verortet hatte, ist vor uns.’“113
Fassen wir das bisher Entwickelte folgendermaßen zusammen:
Leroux stellt der Anschauung vom einzelnen Menschen als eines solitären, einsamen
Wesens („être solitaire“) die Vorstellung vom Menschen als eines solidarischen, in der
Gemeinschaft mit Anderen lebenden Wesens („être solidaire“) entgegen.
Sowohl der einzelne Mensch als auch die Menschheit als Ganze ist/sind
vervollkommnungsfähig. Diese Vervollkommnungsfähigkeit, das Streben nach der
Verbesserung des moralischen, politischen und sozialen Seins des Einzelnen und der
gesamten Menschheit, bilden das Rückgrat des individuellen und menschheitlichen
Fortschritts.
In Auseinandersetzung mit der christlichen Idee der Barmherzigkeit/Wohltätigkeit
(„charité“), die auf dem Ungleichgewicht zwischen Geber und Nehmer, letztlich zwischen
Arm und Reich beruht, also die Ungleichheit voraussetzt und damit perpetuiert und somit
einseitig ist, entwickelt Leroux die Idee der „wechselseitigen Solidarität der Menschen“
(„solidarité mutuelle des hommes“), die die Gleichheit und Gleichberechtigung der
Menschen und damit die Wechselseitigkeit („mutualité“) von Geben und Nehmen, oder,
um schon auf den Ende des Jahrhunderts schreibenden Mauss vorzugreifen, von „Gabe
und Gegengabe“ („don – contre don“) voraussetzt.
Hippolyte Renaud: Individuen, Klassen, Nationen sind solidarisch (oder sollten es
doch wenigstens sein)
Nur zwei Jahre nach der Veröffentlichung von „De l’humanité“ von Leroux erscheint in
Paris eine Schrift, die nunmehr den Begriff der „Solidarité“ bereits im Titel enthält. Dabei
handelt es sich um Hippolyte Renaud: Solidarité. Vue synthétique sur la doctrine de Charles
Fourier.114 Wie der Untertitel besagt, ist der Autor diesmal Anhänger Fouriers (und nicht
Saint-Simons), und er deutet Gegensätze zwischen den politischen Doktrinen der beiden
Meisterdenker an. (Offensichtlich ist Renaud der Auffassung, Fourier sei nicht ganz so
radikal wie Saint-Simon und er will ersteren und dessen Anhänger vor Anwürfen der
politischen Gegner in Schutz nehmen.)
Und dennoch gibt es große Übereinstimmungen:
Da ist a) die starke biblisch-religiöse Um- und Einrahmung des Gesamtwerks; wieder wird,
bei allem Rationalismus, als Quelle alles Seins – und damit auch der Solidarität – Gott der
Schöpfer angesehen. Da ist b), in Zusammenhang mit a), die starke Suche nach Einheit
(„unité“) und das immer wieder auszubrechen drohende Chaos in Schach haltende
vereinheitlichende Prinzipien (was Durkheim später in Bezug auf Saint-Simon als
„unitarisme“ bezeichnet). Und da ist schließlich c) der starke Akzent, den auch
Renaud/Fourier auf Moral und moralische Werte und Normen legt/legen.
Vor dem Hintergrund der auseinander zu brechen scheinenden europäischen
Gesellschaften des beginnenden 19. Jahrhunderts, so entsteht der Eindruck während der
Lektüre, suchen all diese Autoren nach Strukturen, Institutionen und/oder Prinzipien,
113
„Nous ne supposerons pas que la Doctrine du progrès et de la perfectibilité ait obtenu son entier et plein
consentement, qu’il possède en un mot la magnifique foi dans l’avenir et l’inspiration vraiment prophétique qui
a fait dire à Saint-Simon : ‘L’âge d’or, qu’une aveugle tradition a placé jusqu’ici dans le passé, est devant
nous.’“ Ebenda, S. 119.
114
Hippolyte Renaud: Solidarité. Vue synthétique sur la doctrine de Charles Fourier. Paris 1842.
32
welche die Gesellschaften zu integrieren in der Lage sind, und von daher akzentuieren sie
dann solche „unitaristischen“ Prinzipien und Formen wie Religion, Moral und eben –
Solidarität.
Hauptanspruch des Autors von „Solidarité“, Hippolyte Renaud, um auf ihn zurück zu
kommen, ist es, die Doktrin von Charles Fourier darzulegen, d.h. die Wissenschaft von der
moralischen Ordnung, wie sie von Fourier aufgestellt wurde und wie sie in Zukunft
anerkannt würde. Mit Fourier seien die „Wissenschaften von der moralischen Ordnung“
(„les sciences de l’ordre morale“ endlich aus der Phase des Suchens in die Phase
tatsächlichen Wissens übergegangen – analog den exakten Wissenschaften.115 Gott habe
die Menschen mit Vernunft ausgestattet, daher sei alles erkennbar – eben auch die
Gesellschaft.116
Spannend ist nun, wie und wo Renaud den Begriff der „solidarité“ einführt. Dies geschieht
in Kapitel III. „Vom Menschen, seinen Fähigkeiten und Neigungen“.117 Und dort erhebt der
Autor die Solidarität tatsächlich zu dem Prinzip, das die Einheit der Gesellschaft
gewährleistet, und er stellt sie in engen Zusammenhang mit solchen Begriffen wie Glück,
Leid, Schuld, Gerechtigkeit. Durch das Prinzip der Solidarität sei es unmöglich, auf Kosten
Anderer glücklich zu werden. Alle Menschen bilden danach eine Familie, in welcher der
Eine nur dann glücklich sein kann, wenn auch der Andere/die Anderen glücklich ist/sind.
Macht sich jemand schuldig – und revoltiert gegen die Gesellschaft! –, so muss sich diese
fragen, ob sie nicht vielleicht mitschuldig ist, weil sie selbst nicht alle Aufgaben dem
Unzufriedenen und daher Revoltierenden gegenüber erfüllt hat.118
Eine so strukturierte Gesellschaft sei den Menschen von Gott (vor-) gegeben; aber erst
Fourier habe dies entdeckt.
In den folgenden Kapiteln legt Renaud die Gesellschaftskonzeption von Fourier dar; hier ist,
im Gegensatz zu dem, was zu vermuten wäre, recht wenig von Solidarität die Rede
(zumindest vom Wort her, denn von der Sache her handelt es sich m.E. sehr wohl um die
solidarische Struktur von kleinerer Gemeinschaften). In Kapitel IV. behandelt er die
„Organisation der Gemeinschaft“ („Organisation de la Commune“), wie sie laut Fourier
auszusehen habe, also die Struktur und Funktionsweise der „Phalange“ auf der Basis der
„Aufteilung der Gewinne“ („répartition des bénéfices“). Insbesondere die Arbeitsteilung
interessiert, die dazu führen solle, dass die Arbeit aus einer Last zu einer Lust, zu einem
Vergnügen werde. Entsprechende Sozialreformen, so Renaud, seien dieser Lehre zufolge
nicht von oben nach unten, also zentralistisch/dirigistisch, durchzusetzen, sondern zunächst
einmal punktuell auszuprobieren, und dann anschließend, wenn erfolgreich, auszuweiten.119
Fourier sei der Einzige, der einen Plan für die Organisation der Industrie, für die
Arbeitsorganisation innerhalb der Gemeinschaft vorschlägt,120 und da er diese eben nicht
von oben aufoktroyieren wolle, sondern sie harmonisch aus den Neigungen und
Fähigkeiten der Einzelnen hervorgehen lasse, würden hier Freiheit und Ordnung/Gesetz
keine Gegensätze bilden, sondern eine Einheit.121
115
Vgl. ebenda, Préface, S. 1ff.
Zum Wissenschaftsverständnis vgl. ebenda, Ch. I. „De la raison et de la science“, S. 9ff.
117
Ch. III. „De l’homme, de ses facultés et de ses penchants“. Ebenda, S. 45ff.
118
„C’est que tous les hommes ensemble doivent se ranger à la loi ; c’est qu’il n’est pas donné à quelques-uns
d’être heureux pendant que les autres souffrent ; c’est que tous les membres de la grande famille sont liés en
un seul faisceau par un grand principe : LA SOLIDARITÉ !
C’est une chose juste et sainte que la solidarité ! Quand l’homme pèche, est-il donc seul coupable ? La société
a-t-elle bien rempli tous ses devoirs envers celui qui méconnaît les siens ? N’a-t-elle rien à se reprocher pour
être en droit de s’indigner contre cet homme qui n’a reçu d’elle que souffrance et qui s’est révolté ?“ Ebenda, S.
48.
119
Vgl. dazu ebenda, S. 73ff.
120
Ebenda, S. 139.
121
Ebenda, S. 135ff.
116
33
Dieses System nun, welches zunächst in den aus 1800 Menschen gebildeten Phalanges
ausprobiert werden könnte, sollte sich Schritt für Schritt – per Beispielwirkung – über die
ganze Erde verbreiten.122
Und erst auf dieser Ebene, der universalistischen Ebene der Menschheit als Ganzer, der
„EINHEIT aller mit allen und mit dem All/dem Ganzen“ („UNITÉ de tous avec tous et Le
Tout“) kommt Renaud nunmehr explizite wieder auf die Solidarität zu sprechen.123 Danach
ist das individuelle Schicksal jedes Einzelnen in perfekter Harmonie mit dem allgemeinen
Schicksal, und in jedem Augenblick gebe es eine vollkommene Solidarität zwischen den
Menschen. Alte und Junge, Gesunde und Kranke, Weltzu- wie abgewandte – sie alle hätten
ein gleiches Interesse am Schicksal der Menschheit.124 Die enge Solidarität zwischen den
Menschen mache den Egoismus unmöglich.125
Und wieder stellt der Autor eine enge Verbindung her zwischen individuellem Glück und
Glück resp. Wohl der Gattung: Es gebe kein individuelles Glück im Gegensatz zum/auf
Kosten des Glück(s) der Anderen: „Um sich selbst zu retten, muss man die Menschheit
retten; der Weg zum allgemeinen Glück ist der einzige Weg zum Heil.“126 Auch die
Assoziation von Solidarität und individueller Schuld wird wieder aufgegriffen: Die Solidarität
zwischen den Menschen sei eine heilige Sache, da die ganze Menschheit Komplizin
desjenigen sei, der gesündigt hat. Dabei schließt die Solidarität die individuelle
Verantwortung nicht aus.127 Die Menschen hätten immer schon ein vages Gefühl von
Solidarität gehabt, wovon der ursprüngliche Sündenfall zeuge. Doch erst Fourier habe
verstanden, dass die Solidarität gerecht ist.128 In jedem Fall verbinde Gott das individuelle
Glück mit dem der Gattung. So führe er die Menschen zum Glück über die – Solidarität.129
Im Nachwort verteidigt Renaud nochmals die Ansichten Fouriers gegen Angriffe von
außerhalb.130 Statt den Klassenkampf zu verschärfen, unterstütze Fourier mit seinen
Schriften vielmehr die Einheit der Gesellschaft(en). Ihm zufolge sei die Brüderlichkeit
(„fraternité“) ein natürliches Gesetz: Alle Individuen, Klassen und Nationen seien
solidarisch.131 Zu Ende seiner Darlegung der Prinzipien Fouriers betont Renaud somit, dass
die Solidarität sowohl in als auch zwischen den Nationen wirkt, also, wenn man so will, auf
nationaler wie internationaler Ebene.
122
Dabei fällt auf, dass zur Beschreibung der einzelnen Stufen dieses Ganzen durchaus Begriffe aus der alten
Feudalgesellschaft verwendet werden: Baronie, Vizegrafschaft, Grafschaft („baronie“, „vicomté“, „comté“), bis
hin bis zur „allumfassenden Verwaltung oder Regierung der Erde“ („gérance omniarcale ou gouvernance de la
terre“). Ebenda, S. 147ff.
123
Und zwar im Chapitre V. „Cosmogonie“.
124
„La destinée individuelle est en parfaite harmonie avec la destinée générale, et l’on comprend enfin qu’il y a,
entre les hommes, une SOLIDARITÉ complète et de tous les instants. Jeunes et vieux, sains et malades,
mondains et ultra-mondains, tous ont un général intérêt aux choses de la terre, au sort de l’humanité.“ Ebenda,
S. 217.
125
„l’égoïsme est rendu impossible par l’étroite solidarité qui lie tous les membres de la famille humaine.“
Ebenda, S. 218.
126
„Il faut sauver l’humanité pour se sauver soi-même ; la voie du bonheur général est la seule voie du salut.“
Ebenda.
127
„La solidarité entre les hommes est une chose sainte, car l’humanité entière est complice de celui qui a
péché. La solidarité n’exclut pas la responsabilité individuelle…“ Ebenda.
128
„Les hommes ont toujours eu un sentiment plus ou moins vague de leur solidarité ; ils l’ont écrit dans leurs
croyances, le péché originel en est une preuve. Mais nul, avant Fourier, n’a fait comprendre que la solidarité est
juste…“ Ebenda, S. 219.
129
Vgl. ebenda.
130
Vgl. Postface, ebenda, S. 265ff.
131
„que les individus, les classes, les nations sont solidaires“. Ebenda, S. 272.
34
IV. Die „Meisterdenker“ am Beginn des 19. Jahrhunderts
ClaudeClaude-Henri de SaintSaint-Simon : Brüderlichkeit, Nächstenliebe, Philanthropie und das
Glück der größtmöglichen Zahl
Kommen wir nun zu den beiden „Meisterdenkern“ selbst, zu den Quellen also, auf die sich
die in den vorstehenden Abschnitten behandelten Autoren bei ihren Ausführungen zur
Solidarität immer wieder bezogen haben – zu Saint-Simon und Fourier. Claude-Henri de
Rouvroy, Comte de Saint-Simon (1760-1825), um mit diesem zu beginnen, entstammte,
wie schon dem Namen zu entnehmen ist, dem französischen Hochadel. Diese
Herkunftsweise prägt, bei aller (vorläufigen) Sympathie für die Revolution, letztlich seine
Sichtweise: Bei ihm nämlich findet sich ganz ausgeprägt der Gedanke der Wohlfahrt, also
die Vorstellung, etwas für die Armen tun zu müssen, ganz nach dem Motto: Noblesse
oblige. Und ein zweiter Gedanke wird in den vielfältigen Schriften Saint-Simons deutlich:
Und zwar derjenige, dass aus kontingenten Gründen heraus Europa im Laufe der
Geschichte zu einer Einheit geworden ist und es sich dieser Einheit in seinem politischen
Agieren nur bewusst werden muss. Und gerade auf dieser Ebene spricht er dann von –
Solidarität.
Diesen letzteren Gedanken formuliert er bereits in dem 1814 gemeinsam mit Augustin
Thierry veröffentlichten Traktat über „Die Reorganisation der europäischen Gesellschaft“,
mit dem bezeichnenden Untertitel „Oder von der Notwendigkeit und den Mitteln, die Völker
Europas in einem einzigen politischen Körper zu vereinen bei gleichzeitiger Beibehaltung
der nationalen Unabhängigkeit eines jeden“.132 Nachdem der menschliche Geist im 16.
Jahrhundert wesentlich theologisch, im 17. Jahrhundert eher literarisch und im 18.
Jahrhundert philosophisch-revolutionär ausgerichtet gewesen war, sei nun nämlich für die
Philosophie die Zeit gekommen, praktisch-organisatorisch zu werden und die anstehenden
politischen Probleme zu lösen.133
In diesem Sinne ist es erklärtes Anliegen dieser Schrift, einen politischen Vorschlag zur
Rekonstruktion Europas zu machen, welche die Basis für die Erhaltung resp.
Wiederherstellung des Friedens in Europa bilden solle. In deutlicher Anlehnung an
entsprechende Vorstellungen, wie sie Montesquieu im 18. Jahrhundert entwickelt hatte,
plädieren die Autoren für die Errichtung einer Demokratie auf nationaler und europäischer
Ebene: Auf beiden Ebenen sollten, nach englischem Vorbild, politische Parlamente
implementiert werden, die in Kammern zu unterteilen wären. Dabei sprechen sich die
Autoren für die Entstehung eines europäischen Patriotismus aus, eines Gefühls also der
Zugehörigkeit zum europäischen Ganzen, welches gewissermaßen den moralischen
Überbau über der politisch-institutionellen Vereinigung des Kontinents bilden solle. Im
Mittelpunkt des europäischen Ganzen müsse allerdings, so die Autoren, das „europäische
Gemeingut/Gemeinwohl“ stehen.
Das europäische Parlament habe sowohl innen- als auch außenpolitische Aufgaben
wahrzunehmen. Während es innenpolitisch insonderheit auf die Schaffung friedlicher
Beziehungen zwischen den Nationen ausgerichtet sein müsse, sind in der Darstellung der
außenpolitischen Aufgaben desselben eurozentristische und sogar rassistische Züge nicht
zu verkennen: Denn nach Meinung der Autoren müsse das europäische Parlament dafür
sorgen, dass die Erde mit der europäischen Rasse bevölkert werde, welche über allen
132
Claude-Henri de Saint Simon et Augustin Thierry : De la réorganisation de la société européenne ou de la
nécessité et des moyens de rassembler les peuples de l’Europe en un seul corps politique en conservant à
chacun son indépendance nationale. In : Œuvres de Claude-Henri de Saint Simon, tome I, Paris 1966, S. 153248. Dabei ist zu beachten, dass die Autoren die Schrift zu einer Zeit verfassen, als der Wiener Kongress tagte ;
sie ist also als Vorschlag bzw. Gegenvorschlag zu den dort gemachten Konzepten zu verstehen.
133
Vgl. das Vorwort der Schrift in : Ebenda, S. 157ff.
35
anderen menschlichen Rassen stehe, und die Erde nach europäischem Vorbild bewohnbar
und befahrbar zu machen.134
In jedem Fall geht es den beiden Autoren um die Schaffung einer politisch-moralischen
Einheit resp. „Assoziation“ Europa auf der Basis institutioneller Konformität, der Einheit von
Interessen und Maximen, der moralischen Gemeinschaft und der öffentlichen Erziehung.135
Diese Vorstellung von der politisch-institutionellen Integration Europas – hier gilt es noch
einmal festzuhalten, dass die Idee der Errichtung eines europäischen Parlaments also nicht
erst im 20., sondern bereits zu Beginn des 19. Jahrhunderts entwickelt wurde – im Konzert
mit der geistig-moralischen Vereinigung des Kontinents – Stichwort „europäischer
Patriotismus“ – hat Saint-Simon in seinen folgenden Schriften weiter ausgebaut und
konkretisiert. Zum einen, was die historischen Vorbedingungen einer solchen Vereinigung
anbelangt, zum anderen hinsichtlich der wirtschaftlichen Voraussetzungen derselben.
Immer aber hatte das Nachdenken darüber ein Ziel: Die Schaffung nämlich von
Voraussetzungen für einen dauerhaften Frieden in Europa.
So auch in der in Form von Briefen verfassten und 1821 publizierten Schrift „Vom
industriellen System“.136 Immer wieder spricht Saint-Simon hier von der aktuellen Krise, die
es endlich zu bewältigen gelte, und die daraus resultiere, dass die Revolution, also der
Übergang von der alten, feudalen zur neuen, industriellen Gesellschaft immer noch nicht
abgeschlossen sei.137 Endlich nun müssten die Wissenschaftler und Industriellen ihre
politische Aufgabe wahrnehmen und das neue soziale System errichten. Dem feudalen
oder militärischen System, wie es auf geistiger Ebene mit dem Glauben verbunden und auf
Handlungsebene auf die Eroberung ausgerichtet ist, sei das industrielle System
entgegenzustellen, das auf positivem Wissen beruhe und in dem die Arbeit im Mittelpunkt
stehe.138
Der Niedergang des alten Regimes und seiner Doktrinen habe Platz gemacht für die
Entstehung und Verbreitung von Egoismus; nun sei die Zeit gekommen für die
Philanthropie. Konsequenterweise ende der Briefwechsel also mit der „Adresse aux
Philanthropes“.139
Die Vorstellung von der Unabgeschlossenheit der Revolution als Ursache der aktuellen
innenpolitischen Krise in Frankreich selbst, der krisenhaften und durch Kriege geprägten
Situation aber auch in ganz Europa, ist Leitfaden der gesamten Schrift. So heißt es zu
Beginn der Einleitung:140 Ziel der Revolution sei es von Beginn an gewesen, ein
ökonomisches und liberales System aufzustellen, dessen direktes und einziges Ziel darin
bestanden habe, der arbeitenden und produktiven Klasse die größtmögliche Quelle des
Wohlseins zur Verfügung zu stellen. Doch sei die Revolution noch nicht vollendet bzw. von
ihrem Ziel abgekommen. Dennoch bestehe das Ziel fort, und es werde weiterhin
fortbestehen, bis die Bildung des neuen politischen Systems durchgesetzt sei. Dieser
„natürlichen Bewegung“ nämlich könne sich keine menschliche Kraft widersetzen, und so
ruft Saint-Simon das Königtum auf, sich an die Spitze dieser Bewegung zu setzen. Im
Prinzip spricht er sich damit für ein Bürger-Königtum aus, das auf die Wohlfahrt der armen
Schichten ausgerichtet ist.
So auch sieht sein politischer Plan aus, in dem drei soziale/politische Kräfte eine Rolle
spielen: Während sich das Königtum (die Bourbonen) weiterhin seiner vererbbaren Macht
erfreuen könne, sollten und müssten die Industriellen die Administration der öffentlichen
Angelegenheiten in die Hand nehmen und so für die öffentliche Ruhe sorgen, während den
134
Vgl. ebenda, S. 204.
« Ainsi, il y aura entre les peuples européens ce qui fait le lien et la base de toute association politique :
conformité d’institutions, union d’intérêts, rapport de maximes, communauté de morale et d’instruction
politique. » Ebenda, S. 205.
136
Claude-Henri de Saint-Simon : Du système industriel. In : Derselbe : Œuvres, tome III, Paris 1966.
137
Vgl. ebenda, Vorwort, S. 3ff.
138
Ebenda, S. 13.
139
Ebenda, S. 20ff.
140
Ebenda, S. 25ff.
135
36
Armen die größtmögliche Menge an Arbeit zur Verfügung gestellt werden müsste, von
welcher sie auch leben können müssen.141 Die Revolution werde erst vollendet sein, wenn
die Administration der öffentlichen Angelegenheiten so organisiert ist, dass der Wohlstand
in Landwirtschaft, Handel und Produktion gesichert sei.
Während er im ersten Band seiner Schrift sich primär auf die nationale Ebene bezieht,
genauer gesprochen auf Frankreich, betrachtet er im zweiten Band die Geschichte vom
europäischen Standpunkt aus. Hier spricht er von der „großen Bewegung der Zivilisation“,
an welcher alle westlichen Nationen Europas teilhaben.142 Seit dem Römischen Reich, dem
sie unterworfen waren, eigne den westeuropäischen Nationen eine bestimmte
Homogenität der Entwicklung, eine fast uniforme Weise der Zivilisation, die sie von den
osteuropäischen Nationen unterscheide. Von daher gäbe es seit der Formation der
modernen Gesellschaft in Westeuropa eine gewisse Ähnlichkeit und Gleichzeitigkeit
(„similitude et simultaneité“) des Fortschritts in den dort situierten Gesellschaften.
Dieser Einheitlichkeit in der europäischen Entwicklung, wie sie bereits seit Jahrhunderten
vorhanden sei, müssten sich die europäischen Nationen nunmehr, also zu Beginn des 19.
Jahrhunderts, endlich bewusst werden.143 Es gebrauche einer bewussten Kombination der
politischen Anstrengungen, die auf die Errichtung des industriellen Regimes ausgerichtet
werden müssten. Die Errichtung dieses Systems nämlich sei keine bloß französische,
sondern eine gesamteuropäische Angelegenheit! Die französischen Industriellen sollten
sich als „Mitarbeiter aller Industriellen Westeuropas“ fühlen und sich in „politische
Harmonie mit all den anderen Nationen des europäischen Kontinents“ setzen.
Reformuliert hieße dies: „Industrielle aller (westeuropäischen) Länder, vereinigt Euch!“
Wenn man so will, spricht sich Saint-Simon hier (ohne dies allerdings expressis verbis zu
formulieren) für die internationale Solidarität der westeuropäischen Industrienationen
untereinander aus, wobei er die Möglichkeitsbedingung dafür in der Angleichung der
Entwicklung derselben durch die Zugehörigkeit zum Wirkungs- und Herrschaftsbereich des
Römischen Reiches sieht.
Die „Sache der Industrie“ („la cause industrielle“) wird damit zu einer europäischen
Angelegenheit („cause européenne“),144 bzw.: Die Sache der Industrie wird zur
„allgemeinen europäischen Angelegenheit“ („cause commune européenne“), und die
anderen Völker sind die „Mit-Interessierten“ („les co-intéressés“).145 Die spezielle Rolle der
Franzosen bestehe dabei darin, die politischen Voraussetzungen dieser industriellen
Revolution zu schaffen und für die Einführung des parlamentarischen Systems nicht nur in
Frankreich, sondern in ganz Europa zu sorgen.
Doch wie es sich bereits in den vorherigen Schriften andeutete, ist für Saint-Simon das
Ideenset erst dann komplett, wenn zu allen anderen Faktoren noch die geistig-moralische
Komponente hinzukommt. Und folgerichtig spricht er sich, nachdem er die politische und
industrielle Vereinigung (West-)Europas thematisiert hat, für die Notwendigkeit einer neuen
moralischen Doktrin aus, die den neuen moralischen Gegebenheiten entspricht. Der
Niedergang von Theologie und Metaphysik könne ja nicht bedeuten, dass es keiner Moral
mehr bedürfe.146 Keine Gemeinschaft, so Saint-Simon, komme ohne „gemeinsame
moralische Ideen“ aus; es gebrauche einer gemeinsamen philosophischen Doktrin, und
zwar einer nicht bloß negativ-kritischen, sondern einer positiven. Dabei befinde sich die
heutige Gesellschaft – d.h. die Gesellschaft zu Beginn des 19. Jahrhunderts – „in extremer
moralischer Unordnung“; der Egoismus mache erschreckende Fortschritte, alles neige zur
141
Vgl. ebenda, S. 39ff.
Vgl. Saint-Simon : Du système industriel, Bd. II. In : Ebenda, S. 21ff. (Hier sei darauf hingewiesen, dass im
dritten Band der von mir zitierten Ausgabe von 1966 die verschiedenen Bände der Schrift „Du système
industriel“ von 1821 zusammengefasst sind, deren Zählung immer wieder mit S. 1 beginnt.)
143
Vgl. ebenda, S. 23ff.
144
Ebenda, S. 25.
145
Ebenda, S. 28.
146
Ebenda, S. 48ff.
142
37
Isolierung.147 Wenn hier nicht eine neue moralische Doktrin durchgesetzt werde, dann
drohe die Gesellschaft auseinander zu brechen.
Diese neue moralische Doktrin jedoch müsse es nicht nur auf nationaler, sondern auf
europäischer Ebene geben; hier sorge sie für den Zusammenhalt der Nationen
untereinander. Dieses neue, noch zu entwickelnde bzw. zu errichtende moralische System
könne und müsse als „europäisches Verbindungsglied“ („lien européen“) dienen, und zwar
stärker noch als das alte (auf der Religion beruhende).
An der Schaffung dieses neuen moralischen, der Industrialisierung und Europäisierung
entsprechenden bzw. diese forcierenden Systems nun will Saint-Simon aktiven Anteil
nehmen. Seine bisherigen Ausführungen sieht er bloß als Vorstufe dazu.148
Als direktes Ziel seiner diesbezüglichen Anstrengungen gibt er an, das Schicksal derjenigen
Klasse so weit wie möglich verbessern zu wollen, die keine anderen Existenzmittel habe als
die Arbeit ihrer Hände, und zwar dies nicht nur in Frankreich, sondern in ganz Europa und
weltweit.149 Als Mittel zur Erreichung dieses Ziels bezeichnet er zum einen, dieser Klasse
soviel Arbeit wie möglich bereit zu stellen, zum anderen die öffentliche Bildung und
Erziehung der selben Klasse, ist dies doch die Voraussetzung dafür, dass diese ihre
Arbeiten so gut wie möglich ausführen kann.
Diesen Ausführungen nun schließt sich die bereits annoncierte „Adresse aux
Philanthropes“ an, in der die vorstehend analysierten moralischen Anschauungen SaintSimons ihren kondensierten Ausdruck finden.150
Hier bezieht er sich zunächst auf das christliche Prinzip der Brüderlichkeit und der
Nächstenliebe, welches nunmehr zum Axiom der weltlichen Macht werden solle.151 Die
Verfassung sei so zu gestalten, dass sie so schnell wie möglich zur Verbesserung der
sozialen Existenz der zahlreichsten Klasse führt.152 An die Philanthropen gerichtet fordert er
zur Unterordnung der weltlichen Macht unter dieses moralische Prinzip auf.
Der erste Artikel einer dementsprechenden (und nicht durch falsche theologische oder
metaphysische Vorstellungen verfälschten) Verfassung, so Saint-Simon, müsste lauten:
„DAS ZIEL DER POLITISCHEN ASSOZIATION DER FRANZOSEN IST ES, DURCH FRIEDLICHE ARBEITEN
VON POSITIVER NÜTZLICHKEIT ZU WOHLSTAND ZU GELANGEN.“153 Dies richtet sich zum einen
gegen die sog. „faulen“ bzw. unproduktiven Klassen und Stände, zum anderen aber auch
gegen die permanente Kriegführung unter der Regie Napoleons, die häufig zur Zielscheibe
der Kritik Saint-Simons wird.
So wie es nun aber innenpolitisch um die Überwindung des sich ausbreitenden Egoismus
zwischen den Individuen gehe,154 so müsse sich auch außenpolitisch Frankreich als Teil
eines Ganzen, und zwar des europäischen Ganzen, verstehen und nicht isoliert bzw. gegen
die anderen Nationen, sondern gemeinsam mit diesen gegen die alle betreffende Krise
vorgehen. Und hier, also auf der außenpolitischen Ebene, gebraucht Saint-Simon auch
expressis verbis den Begriff der Solidarität: „Denn Frankreich“, so lesen wir bei ihm,
„befindet sich in einer Position, die es bis zu einem bestimmten Punkt von seinen Nachbarn
abhängig macht und die eine Art politischer Solidarität zwischen ihm und den anderen
Völkern des Kontinents herstellt.“155
147
Ebenda, S. 51.
Ebenda, S. 56.
149
Ebenda, S. 81ff.
150
Saint-Simon : Adresse aux Philanthropes. In : Ebenda, S. 85-134.
151
« TOUS LES HOMMES DOIVENT SE REGARDER COMME DES FRERES, ILS DOIVENT S’AIMER ET SE SECOURIR LES UNS LES
AUTRES. » Ebenda, S. 85 (Hervorhebung im Text).
152
Ebenda, S. 86.
153
« L’OBJET DE L’ASSOCIATION POLITIQUE DES FRANÇAIS EST DE PROSPERER PAR DES TRAVAUX PACIFIQUES, D’UNE UTILITE
POSITIVE. » Ebenda, S. 96.
154
Ebenda, S. 97f.
155
« …puisque la France se trouve dans une position qui la rend, jusqu’à un certain point, dépendante de ses
voisins, et qui établit une espèce de solidarité politique entre elle et les autres peuples du continent. » Ebenda,
S. 100.
148
38
Das, wenn man so will, „historische Gewordensein“ dieser Gemeinsamkeiten der
westeuropäischen Nationen begründet er hier wieder aus der Zugehörigkeit zum
ehemaligen Herrschaftsbereich des Römischen Reiches, aber auch aus der gemeinsamen
feudalen und christlichen Geschichte, die sich daran anschloss. Die „gegenwärtige Krise“,
von der Europa gerade – sprich 1821 – betroffen sei, vergleicht er mit derjenigen Krise, die
durch den Niedergang des Römischen Reiches ausgelöst worden war.156 Auch damals
hätten sich in ganz Europa moralischer Verfall und Egoismus breit gemacht. Doch genau in
Reaktion auf den politisch-moralischen Verfall des Römischen Reiches hätte schließlich die
Entstehung der christlichen Moral und Religion resultiert.
In Analogie nun zu diesem Prozess fordert Saint-Simon auf, zu den ursprünglichen Werten
von Brüderlichkeit und Nächstenliebe zurückzukehren und diese, allerdings europaweit, zu
den Prinzipien des politischen Handelns zu erklären und tatsächlich zu machen und somit
dem sich ausbreitenden Egoismus und dem drohenden Zerfall der Gesellschaft157
entgegenzuwirken. Dabei will er ganz offensichtlich diese Prinzipien nicht nur auf nationaler
oder europäischer, sondern auf universaler Ebene der Menschheit als Ganzer angewandt
sehen, spricht er doch von dem Prinzip, „dass alle Nationen und alle Menschen zum
allgemeinen Wohlergehen der menschlichen Art beitragen müssen […]“.158
Dem Egoismus setzt Saint-Simon also den Philanthropismus entgegen; er unterteilt die
Gesellschaft in zwei Klassen: in die Klasse der Philanthropen und in die Klasse der
Egoisten.159 Von „Solidarität“ handelt er, zumindest explizite, nicht auf der nationalen
Ebene. Hier spricht er eher von Brüderlichkeit und Nächstenliebe. Den Begriff der Solidarität
verwendet er genau dann, wenn er von den Beziehungen zwischen den Nationen handelt.
Diese Ansichten hat Saint-Simon konsequent weiterentwickelt und ausformuliert in seiner
1825 erschienenen Schrift „Neues Christentum“, auf welche abschließend eingegangen
werden soll.160
Auch in dieser Schrift stellt er das Prinzip der Brüderlichkeit in das Zentrum der christlichen
Religion.161 Diesem Prinzip entsprechend müsse die Gesellschaft so organisiert werden,
dass so schnell und so vollständig wie möglich die moralische und physische Existenz der
zahlenmäßig stärksten Klasse verbessert werde.162
Das so verstandene „wahre“ Christentum solle zur einzigen und universellen Religion
werden, so Saint-Simon.163 Während er sich von dessen Umsetzung auf nationaler Ebene
eine Verbesserung der Lebensbedingungen der „ärmsten Klasse“ verspricht, spricht er
bezüglich der internationalen Ebene von der Einheit aller Völker und ihrem friedlichen
Zusammenleben, die aus seiner Verwirklichung resultieren würden.164
Die Umsetzung dieses urchristlichen Philanthropismus habe, so lesen wir, zum Ziel, das
Himmelreich auf Erden zu errichten und der Unterdrückung der Armen ein Ende zu
bereiten; ihr Wohlergehen müsse in den Mittelpunkt des Wirkens aller Institutionen gestellt
werden.165 Gleichzeitig würde aus der konsequenten Anwendung des Philanthropismus mit
der Brüderlichkeit als Herzstück die Einheit aller Völker, ihr friedliches Zusammenleben und
damit das Ende des Krieges resultieren. Immer wieder betont er als allgemeines Ziel die
weitest gehende Verbesserung der moralischen und physischen Existenz der zahlreichsten
156
Vgl. ebenda, S. 101ff. Deutlich ist, wie hier Montesquieus Analysen des institutionellen und sittlichmoralischen Verfalls des Römischen Reiches Pate gestanden haben.
157
Ebenda, S. 104.
158
« […] le principe que toutes les nations et tous les hommes doivent contribuer au bien-être général de
l’espèce humaine […] ». Ebenda, S. 110.
159
Vgl. ebenda, S. 121.
160
Saint-Simon : Nouveau christianisme. Dialogues entre un conservateur et un novateur. In : Ders. : Œuvres,
Bd. III, Paris 1966, S. 97-192.
161
Ebenda, S. 108.
162
Ebenda, S. 109.
163
Ebenda, S. 112.
164
Vgl. ebenda, S. 110.
165
Vgl. ebenda, S. 144ff.
39
Klasse.166 Um dieses Ziel zu erreichen, müsse die größtmögliche Menge an Arbeit
bereitgestellt werden. Heute, so schreibt er, ist der Planet bekannt und erforscht:
Wissenschaftler, Künstler und Industrielle müssten jetzt einen Plan aufstellen, wie der
Territorialbesitz der Menschheit so produktiv und so angenehm wie möglich gestaltet
werden kann.167 Dabei, und auch das betont er immer wieder, würden Arme und Reiche
gleichermaßen gewinnen.
Die Schaffung einer friedlichen Welt, in welcher das größtmögliche Wohlergehen der
ärmsten Klassen realisiert wird, und zwar auf der Basis der universellen Anwendung des
urchristlichen Prinzips der Brüderlichkeit – all dies, so Saint-Simon, sei gegen das (auf
Gewalt gegründete) Reich des Cäsar gerichtet.168 Doch bleibt die Frage, ob Saint-Simon
tatsächlich eine grundlegende Veränderung der „Lage der arbeitenden Klassen“ im
emanzipatorischen Sinne im Sinn hat, oder ob diese nicht doch, seinen Anschauungen
gemäß, stets die „ärmsten“ und „zahlreichsten Klassen“ bleiben, deren Lage sich nur im
Rahmen des Gegebenen verbessern würde. Für Letzteres würde auch sprechen, dass er
sich eine derartige Verbesserung auch nicht von den eigenen Aktivitäten dieser Klassen
verspricht, sondern von dem entsprechenden philanthropischen Agieren der Herrschenden,
wie er sich denn auch in seinen die Schrift abschließenden Sätzen noch einmal an die
Fürsten wendet, die er mit Verweis auf das Christentum dazu aufruft, alles in ihren Kräften
Stehende zu tun, um so schnell wie möglich das soziale Glück des Armen zu erhöhen!169
Es ist also vermutlich nicht zufälligerweise, dass er auf dieser Ebene von Brüderlichkeit,
Nächstenliebe, von Milde, Güte, Barmherzigkeit u.a. spricht,170 nicht aber von – Solidarität.
Charles Fourier:
Fourier: Glück für alle auf der Basis von Attraktion
Einer der originellsten und zugleich sehr aktuellen Autoren im Rahmen des
Solidaritätsdiskurses ist wohl Charles Fourier (1772-1837), der seine Anschauungen
zunächst in dem 1808 erschienenen Werk „Théorie des quatre mouvements“,171 also seiner
„Theorie der vier Bewegungen“, darlegt. Nach einem gut 20jährigen Denk- und
Überarbeitungsprozess gibt er dann schließlich 1829 sein Buch „Le nouveau monde
industriel et sociétaire“ heraus,172 welches korrekt ins Deutsche übersetzt ungefähr „Die
neue industrielle und genossenschaftliche Welt“ heißen müsste. Auf dieses Werk seiner
„Reifezeit“ möchte ich mich im Folgenden konzentrieren, enthält es doch in kondensierter
Form sowohl seine Kritik an der ihn umgebenden Gesellschaft – der „Zivilisation“ –, als
auch, im Gegenzug dazu, den Entwurf einer idealen, eben genossenschaftlichen
Gesellschaft oder auch „Assoziation“ – womit er nicht zuletzt zu einem der Stichwortgeber
des „Manifests“ von Marx und Engels geworden ist. Und auch Schritte dorthin zeichnet er
vor, innerhalb derer der Solidarität ein besonderer Stellenwert zukommt.
Das Originelle Fouriers besteht dabei in meinen Augen darin, dass er, in Verarbeitung
solcher naturwissenschaftlicher und philosophischer Theorien der damaligen Zeit wie
derjenigen von Newton, Linné, Rousseau und Schelling – Autoren, auf die er sich immer
wieder bezieht –, ein System einer letztlich universalen Harmonie aller Menschen
miteinander auf der Basis von Attraktion und Repulsion aufstellt: Statt die Unterschiede
zwischen den Menschen auszuschließen, wie dies einige seiner „philanthropischen“
Zeitgenossen täten – hier grenzt er sich ab von der „Sekte“ Robert Owens, aber auch von
166
Ebenda, S. 152.
Vgl. ebenda, S. 152ff.
168
Ebenda, S. 154. Man vermeint hier schon Berdjaev zu lesen, der in den 1940er Jahren das „Reich des
Geistes“ dem „Reich des Cäsar“ gegenüberstellt.
169
Ebenda, S. 192.
170
Vgl. ebenda, S. 129f.
171
Charles Fourier: Théorie des quatre mouvements. Paris 1808.
172
Charles Fourier: Le nouveau monde industriel et sociétaire ou invention du procédé d’industrie attrayante et
naturelle distribuée en séries passionnées. Ich beziehe mich im Folgenden auf die Ausgabe Paris, Flammarion,
1973, da sie die erste vollständige französische Ausgabe der Schrift darstellt.
167
40
Saint-Simon, was insofern interessant ist, als ja hierzulande alle drei Autoren zumeist in
einem Atemzug genannt werden –, beruhe sein System geradezu auf der geschickten
Ausnutzung der bislang viel zu wenig beachteten mentalen Differenzen zwischen den
Menschen, die es frühzeitig zu erkennen und in Serien („séries passionnées“, hier wird der
Einfluss des Systems der botanischen Klassifikationen von Linné deutlich) zu kombinieren
gelte. Statt, wie in der, heute würde es wohl heißen, „verklemmten“ bürgerlichen Moral
immer wieder gepredigt, also die vermeintlich negativen Neigungen resp. Triebe der
Menschen zu unterdrücken, komme es vielmehr darauf an, diese zum Wohle aller zur
Wirkung kommen zu lassen. Das von ihm angestrebte Ergebnis bestünde dann in einer
Gesellschaft, in der die Einzelnen in der Arbeit – also nicht „jenseits“ derselben – ihre
Fähigkeiten, Neigungen, Interessen und Triebe ausleben und befriedigen können. Damit
aber beruht sein ideales Modell der Assoziation nicht auf dem Prinzip der Wohltätigkeit der
Reichen für die Armen, wie dies bei seinem Zeitgenossen Saint-Simon zu finden ist, und
welches die gegebenen sozialen Differenzen letztlich bestehen lässt, sondern vielmehr auf
dem der Tätigkeit aller, was in der Tat eine grundlegende gesellschaftliche Umwälzung zur
Voraussetzung hat. Und so begreift er auch seinen Entwurf: Im Gegensatz zu den
Ökonomen seiner Zeit, wie etwa Say, Sismondi oder Stewart, oder eben den bereits
genannten Owen und Saint-Simon, die letztlich doch im Rahmen der gegebenen
„zivilisierten Gesellschaft“ verblieben, müsse es doch darum gehen, sich aus diesem
„Teufelskreis“ herauszubegeben und noch einmal prinzipiell neu anzufangen. Hier wird
deutlich, in welchem Maße die Zivilisationskritik Rousseaus Pate gestanden hat.
Originell ist Fourier nicht zuletzt deshalb, weil er bei seiner Suche nach universeller
Harmonie, in welcher er sich als konsequenter Nachfolger Schellings sieht – konsequenter
im Übrigen noch als Schelling selbst! –, Analogien auch und gerade dort sucht und zu
finden meint, wo sie nicht gerade üblicherweise gesucht und gesehen werden: etwa
zwischen bestimmten Pflanzen – Blumen, Kohl- und Rübensorten – oder Tieren – Vögeln,
Säugetieren u.a. – und speziellen Charaktereigenschaften bzw. Klassen von Menschen.173
Das liest sich dann zuweilen sehr amüsant, und es passt zu der häufig erwähnten Tatsache,
dass Fourier inmitten der von ihm in seiner zu einem Gewächshaus umfunktionierten
Wohnung gehegten und gepflegten Pflanzen gestorben sei.
Aktuell ist Fourier in mehrfacher Hinsicht: Zum einen ist da der von ihm immer wieder
erwähnte Krisenkontext, vor dessen Hintergrund er seine Anschauungen entwickelt:
Speziell bezieht er sich wiederholt auf die Überproduktionskrise von 1826, die weite
Bevölkerungsschichten in Frankreich und England, den „Musterländern“ der modernen
Industrie, ins Elend stürzte. Zum anderen ist es nachgerade erstaunlich, mit welcher
Vehemenz er in seinen Entwurf einer künftigen Assoziation ökologische Aspekte integriert,
die keinen Appendix bilden, sondern seinen Anschauungen tatsächlich immanent sind – so
wie ja die Liebe zur Natur ganz offensichtlich eine seiner Vor-Lieben bildet –, und es
erstaunt zudem die äußerst aktuell wirkende Sprache, mit welcher er diesen Aspekt seines
Denkens zum Ausdruck bringt. Und schließlich: die Frauenfrage. Nicht zufälligerweise gilt
Fourier als derjenige, der den Begriff „Feminismus“ geprägt und zum ersten Mal verwendet
habe. Die Gleichberechtigung der Frauen in der von ihm angestrebten Assoziation ist ein
ganz entscheidender Zug derselben.
Schauen wir, nach diesen Vorbemerkungen, einmal genauer in den Text, also „Le nouveau
monde industriel et sociétaire“, hinein. Einen Aufriss der Schrift und ihres Anliegens finden
wir im Vorwort.174
Eine (zumindest) Vervierfachung des Einkommens aller – das sei die Frucht der Anwendung
seiner Methode, die er als die „natürliche genossenschaftliche Methode“ („méthode
sociétaire naturelle“) bezeichnet.175 Um dieses Ziel zu erreichen, gebrauche es der richtigen
Ordnung, eben der neuen industriellen Ordnung („nouveau monde industriel“).
173
Vgl. insbesondere den Abschnitt „Epilogue sur l’analogie“, in: Ebenda, S. 521ff.
Vgl. Préface. In: Ebenda, S. 37-83.
175
Ebenda, S. 37.
174
41
Eine solche „Assoziation“ – die andere Bezeichnung für die neue industrielle Ordnung – sei
nicht gegen den göttlichen Willen gerichtet, sondern vielmehr von Gott gewollt.176 In den
vergangenen Jahren, so Fourier, sei immer wieder das Wort „Assoziation“ benutzt worden,
jedoch ohne Kenntnis des Inhalts und der wahren Ziele des Begriffs, der somit sinnentleert
worden sei (weswegen er auch im Titel seiner Schrift nicht von Assoziation gesprochen
habe).
In die Assoziation müssten alle integriert werden. Dabei könne es sich nicht darum handeln,
den Armen, der arbeitenden Klasse, ein Existenzminimum (ohne Arbeit) zur Verfügung zu
stellen; vielmehr müsse es sich darum handeln, die Arbeit attraktiv zu gestalten, sie aus
einer Pflicht in ein Vergnügen zu verwandeln, und das Arbeitsergebnis müsse das
vorgeschossene Existenzminimum abdecken.177
Die Arbeit in ein Vergnügen zu verwandeln setze aber das Studium und die richtige
Zusammensetzung, um nicht zu sagen: Komposition, der „séries passionnées“, also der
„Serien/Reihen von Leidenschaften“ voraus. Eine neue Wissenschaft, die es bis dahin nicht
gab – und die es, wenn man es recht besieht, bis heute nicht gibt: Eine Wissenschaft, in
der es sich darum handeln würde, durch genaue Beobachtung der Fähigkeiten und
Neigungen der Menschen den Ort in der gesellschaftlichen Tätigkeit herauszufinden, der zu
ihm/ihr passt. Eine sehr originelle Idee von Fourier, die, wenn man sich Jugendliche oder
junge Erwachsene anschaut, eine Erklärung bietet für deren oftmaliges Unglücklichsein und
ein probates Mittel zu seiner Behebung wäre.
Fourier jedenfalls stellt drei Voraussetzungen der „neuen industriellen Ordnung“ auf, als da
sind: die industrielle Attraktion, die proportionelle Aufteilung (der Gewinne), und das
Gleichgewicht der Bevölkerung.178 Dabei betont er immer wieder die Rolle der Attraktion
bzw. eben der Attraktivität von Industrie und Arbeit: Sein System beruhe eben nicht auf
Zwang und Gewalt; es werde nicht von irgendwelchen Machthabern oder Intellektuellen
aufoktroyiert, wie bei R. Owen und dessen Sekte geschehen, sondern gehe aus den
Neigungen der Menschen selbst hervor. Die „wahre Assoziation“ sei insofern eine Kunst,
und zwar „die Kunst, auf die Industrie alle Leidenschaften, alle Charaktere, Geschmäcker
und Instinkte“ anzuwenden179 – eine, wenn man so will, Verbindung von Industrie- bzw.
Arbeits- und Mentalitätsforschung.
Als optimale Größe der Assoziation schlägt er eine Anzahl von 1800 Personen vor; bereits
die Zusammenlegung von ca. 300 Einzelhaushalten zu einem einzigen großen Haushalt
bringe Einsparungen in Größenordnungen mit sich: Er rechnet vor, wie Einsparungen an
den verwendeten Ressourcen bei gleichzeitiger Vervielfachung des Produkts vorgenommen
werden könnten.
Statt auf die bürgerliche Familie setzt Fourier also auf das Subjekt „Assoziation“ bzw.
„Phalange“, in welcher die unterschiedlichen Leidenschaften nicht als Hindernis, sondern
als Ressource betrachtet werden. Und er stellt die Frage, warum man denn nicht längst
schon auf dieses geniale System gekommen sei. Seine Antwort: Während in der Antike die
Sklaverei daran gehindert habe, ein alle Menschen integrierendes Gesellschaftssystem zu
entwerfen, sei es in der Moderne das Vorurteil, die Familie und die individuelle Konkurrenz
wären unvermeidlich, das zum selben Ergebnis führte. Doch ihm zufolge ist die „zivilisierte
Gesellschaft“ mit ihren beiden Sünden, also der Zerstückelung in einzelne Familien und der
Konkurrenz, eben nicht der Weisheit und Geschichte letzter Schluss bzw. Schritt, sondern
nur, allerdings notwendiges, Durchgangsstadium zur Assoziation; notwendig insofern, als
176
Ebenda, S. 38; diese Gottgefälligkeit seiner Anschauungen betont Fourier immer wieder.
Ebenda, S. 39. Damit spricht sich Fourier zwar, wenn man dies mit gegenwärtigen Begriffen bezeichnen will,
für ein Grundeinkommen aus, dieses müsse aber durch eigene Arbeit abgedeckt werden.
178
Ebenda, S. 40. Mit letzterem Prinzip, dem Gleichgewicht der Bevölkerung, entspricht er Anschauungen, wie
sie zeitgleich etwa von R. Malthus vertreten wurden.
179
„[…] la vraie association, l’art d’appliquer à l’industrie toutes les passions, tous les caractères, goûts et
instincts […].“ Ebenda, S. 41.
177
42
sie die große Industrie, die schönen Künste und die höheren Wissenschaften geschaffen
habe.180 Doch trotz aller Zivilisation würden die Armen leiden.
Daraus folgt für Fourier: Die zivilisierte Gesellschaft ist „eine verkehrte Welt“ („un monde à
rebours“); erst die Assoziation, die alle Klassen befriedigt, werde „eine richtige Welt“ („un
monde à droit sens“) darstellen.181 Also bereits bei Fouier, und nicht erst bei Feuerbach,
findet sich die Vorstellung, die Welt müsse vom Kopf auf die Füße, i.e. umgekehrt werden.
In dem Unterabschnitt „Enormité du produit sociétaire“182 geht Fourier auf die immensen
Vorteile der Assoziation ein. Bereits die „negativen Vorteile“, die durch Einsparungen
entstünden, also, wie er schreibt, „ohne etwas zu tun“, wären enorm: Und hier kommen
die bereits erwähnten ökologischen Aspekte seiner Anschauungen zum Vorschein: Die
Einsparungen an Heizmaterial, aber auch die Effektivierung des Fischfanges, würden zur
Wiederherstellung der Wälder, Quellen, der Luft („climatures“) und der Fischbestände
führen.183
Und in diesem Kontext verwendet er zum ersten Mal das Wort Solidarität bzw., um genauer
zu sein, „solidarisch“, wenngleich er von der Sache her von Anfang an davon handelt. Denn
in einem Vergleich von Assoziation und Zivilisation schreibt er, die Assoziation setze „die
korporative, solidarische, wahrhafte, vereinfachende und garantierte Konkurrenz“ anstelle
der „individuellen, unsolidarischen, verlogenen, verkomplizierenden und willkürlichen
Konkurrenz“, kurz der „merkantilen Anarchie“ die „Vereinfachung“ entgegen.184 Fourier
substiutiert also nicht einfach Konkurrenz durch Solidarität, sondern individuelle,
unsolidarische durch korporative, solidarische Konkurrenz – eine Kombination, die ich
bislang nur bei ihm gefunden habe.
Insgesamt werde alles einfacher: vom Handel über die Sprache, die öffentlichen Arbeiten
und die Wahlen, produktiver und – gesünder. Zudem: Im Gegensatz zur Zivilisation, in
welcher die Moral zur Unterdrückung der Neigungen und Triebe der Menschen aufrufe und
führe, entspreche die Assoziation eben diesen Eigenschaften, Geschmäckern und Trieben,
die sich hier ausleben könnten (und die somit aus negativen Trieben zu produktiven
Triebkräften umfunktioniert werden).185 Kurz: Folgt man Fourier, so widerspricht die
Zivilisation der Natur, während die Assoziation ihr entspricht, und zwar sowohl der äußeren
als auch der inneren Natur des Menschen. Hier zeigt er sich ganz als Fortsetzer des Erbes
von Rousseau.
Diesen Gedanken führt er in dem Abschnitt „Cercle vicieux de l’industrie civilisée“, also
„Teufelskreis der zivilisierten Industrie“, fort.186 Mit Blick auf die modernen Ökonomen und
die reale Ökonomie in den Spitzenländern der Zivilisation – England und Frankreich – zeigt
er auf, dass die Zivilisation und ihre Prediger im Rückwärtsgang liefen: Der Industrialismus,
d.h. die „antigenossenschaftliche Ökonomie“ („économie antisociétaire“), predige die
„Zerstückelung“ („le morcellement“), also das genaue Gegenteil der „genossenschaftlichen
Ökonomie“ („économie sociétaire“). Doch wohin habe dies geführt? Zu wachsender Armut
in den Zentren der sog. Zivilisation, sprich in London und Paris, wo Armut, Kinderarbeit und
Hunger in diversen Formen grassierten.187 Die so viel gepriesene „zivilisierte Industrie“ sei
also – eine Verhöhnung der Natur. Überhaupt sei in dieser Gesellschaft alles verkehrt: Die
Konsumtion, die Zirkulation, die Konkurrenz – alles verkehrt! Das Individuum befinde sich in
beständigem Widerspruch mit den Interessen der Masse, der Reichtum wachse, doch die
Multitude („la multitude“!) bzw. die arme Klasse werde davon ausgeschlossen, da sie nicht
180
Ebenda, S. 44f.
Ebenda, S. 49.
182
Ebenda, S. 51ff.
183
Ebenda, S. 51, vgl. aber auch schon S. 41.
184
„L’association, en substituant la concurrence corporative, solidaire, véridique, simplifiante et garantie, à la
concurrence individuelle, insolidaire, mensongère, complicative et arbitraire […].“ Ebenda, S. 53.
185
Ebenda, S. 59ff.
186
Ebenda, S. 63ff.
187
Ebenda, S. 64f.
181
43
einmal Arbeit finde.188 Der Teufelskreis der zivilisierten Industrie bestehe eben darin, dass in
der Zivilisation die Armut aus dem Überfluss selbst erwachse. Trotz allen Reichtums seien
die Armen unglücklich, doch die Reichen – auch! Erst die neue Ordnung werde, auf der
Grundlage der „Leidenschafts-Serien“ und ihrer richtigen Anwendung/Komposition, das
wahre Glück und Vergnügen gewährleisten. Die Zivilisation schaffe Elemente des Glücks,
nicht aber das Glück selbst.189
Eine – allerdings noch nicht erreichte – vierte, die Reife- bzw. Verfallsphase der Zivilisation
(„phase de caducité“) wäre aus seiner Sicht die Vorstufe zur Periode der „sozialen
Garantien“ („garanties sociales“) bzw. der „solidarischen Garantien“ („garanties solidaires“),
die ihr übergeordnet ist bzw. an sie anschließt.190
Um aus der Zivilisation heraus- und in die neue Gesellschaftsperiode hineinzukommen,
seien neue Wissenschaften notwendig, bzw. die gegebenen Wissenschaften müssten neue
Gegenstände untersuchen:
Die Moralisten müssten eine Analyse der Zivilisation vornehmen, die Politiker (oder
Politikwissenschaftler?) die Theorie der solidarischen Garantien („théorie des garanties
solidaires“) aufstellen, die Ökonomen eine Theorie der genossenschaftlichen
Herangehensweisen („théorie des approximations solidaires“), die Metaphysiker die Theorie
der Anziehung durch Leidenschaften („théorie de l’attraction passionnée“), und schließlich
die Naturwissenschaftler die Theorie von der universellen Analogie („théorie de l’analogie
universelle“).191
Nur so könnten die neuen Fragen, nämlich diejenigen nach der „industriellen Anziehung“,
der „proportionellen Verteilung“, des Gleichgewichts der Bevölkerung und der Ökonomie
der Ressorts, gestellt und beantwortet werden. Doch die Ökonomen und Politiker
verblieben im Teufelskreis der Zivilisation, diesem „intellektuellen Labyrinth“, statt sich
außerhalb derselben zu stellen und nach einer neuen Gesellschaft zu suchen, und wenn sie
dies täten, wie etwa „die Sekte Owen“, dann würden sie die Idee der Assoziation
verfälschen, indem sie solche „lächerlichen Sophismen“ aufstellten wie die
Gütergemeinschaft oder „die sanfte Brüderlichkeit der durch ihre Meinung geeinten wahren
Philanthropen“. Statt dieses „Einheitsgedusels“ gebrauche es in der Assoziation der
Übereinstimmungen wie der Nichtübereinstimmungen („accords“ und „discords“).192
Und wessen es insgesamt bedarf, um die neuen Wissenschaften von der neuen
Gesellschaft aufzustellen, das sei ein – Kompass!
Hinsichtlich der Industrie findet er diesen Kompass in der „industriellen Anziehung“, d.h. in
der Analyse der Fähigkeiten und Neigungen der Menschen, die sie für diese oder jene
Tätigkeiten prädestiniert machten (und für andere eben nicht); eine derartige Analyse sei
bereits bei den Kindern im Alter von drei Jahren vorzunehmen, damit diese schon in dieser
Zeit in etwa 20 Serien ihre verschiedenen körperlichen und geistigen Fähigkeiten ausüben
und ausleben können. Das Aufdecken der Bestimmung („vocation“) der Einzelnen und ihre
Entwicklung seit dem frühen Alter an muss, so Fourier, Gegenstand der Wissenschaften
werden.193
Bezüglich der Administration findet er einen solchen Kompass im „zusammengesetzten
Monopol“ („monopol composé“), in Analogie zum Geldmonopol des Staates, welches eben
kein einfaches, sondern ein Monopol mit zwei Gegengewichten ist und so im
Gleichgewicht gehalten wird.194
Die Anwendung des letztgenannten Kompasses, also des staatlichen Monopols, welches in
Ansätzen bereits vorhanden sei, auf den Handel, würde zu einer Einschränkung der
zerstörerischen Konkurrenz und damit zu einer Periode der solidarischen Garantien führen,
188
Ebenda, S. 71. Auch dies eine sehr aktuelle Sprache!
Ebenda, S. 72.
190
Ebenda, S. 73f.
191
Ebenda, S. 74.
192
Ebenda, S. 75.
193
Ebenda, S. 75ff.
194
Ebenda, S. 77.
189
44
welche eine Zwischenstufe zwischen dem zivilisierten und dem genossenschaftlichen
Zustand bildet.195
Die Anwendung des erstgenannten und von Fourier favorisierten, allerdings aus seiner
Sicht weitaus komplizierteren, Kompasses, der „Leidenschaftsserien“, würde zur
Assoziation führen, dem letztlichen Ziel der Menschheit.196
Die Notwendigkeit, endlich aus dem gegebenen Zustand sogenannter Zivilisation
herauszukommen, wenn auch erst einmal nur übergangsweise durch die Anwendung des
staatlichen Monopols und damit der Kontrolle auf Handel und Produktion, begründet
Fourier mit Verweis auf die Überproduktionskrise von 1826, welche die Unzulänglichkeiten
des gegebenen Gesellschaftszustandes hinlänglich bewiesen habe. Angesichts der durch
diese Krise offenbar gewordenen Desaster dieser so gepriesenen Gesellschaft sei der
schrittweise Übergang zur Assoziation nicht, wie von deren Adepten gepredigt, gottlos,
sondern vielmehr im Einklang mit dem Willen Gottes.
195
„C’est donc le monopole composé, qui est la deuxième boussole sociale ; son application au commerce nous
aurait ouvert une issue de civilisation et nous aurait élevés à la période des garanties sociales, qui est l’échelon
intermédiaire entre l’état civilisé et l’état solidaire. » Ebenda, S. 78.
196
Ebenda, S. 79.
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