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Einleitung
Problemstellung
Bereits seit den 1970er Jahren lässt sich eine auffällige Zunahme von Erzählungen und Romanen zur historischen Hexenverfolgung sowohl für Erwachsene als
auch für Kinder und Jugendliche feststellen. Wir haben es dabei mit einer Unterabteilung des historischen Romans zu tun, der, was den Bereich der Kinderund Jugendliteratur angeht, eben zu dieser Zeit in eine neue Phase eintrat. Nicht
der jugendliche Held steht wie vordem im Mittelpunkt der Erzählungen, sondern, wie die Literaturwissenschaftlerin Gabriele von Glasenapp konstatiert: Die
auf dem Historikertag 1972 neu postulierte „Auffassung von der Geschichte als
einem Ort gesellschaftspolitischer Prozesse erlaubte dem historischen Roman
nun auch die Hinwendung zu den bisherigen Randgruppen der Geschichte: den
Außenseitern wie Hexen, ‚Zigeunern‘, Juden, den so genannten unterprivilegierten Bevölkerungsgruppen, darunter vor allem Frauen (…). Das problemorientierte Jugendbuch hatte einen historischen Ableger bekommen.“1 Eine Sonderstellung nehmen dabei Hexenerzählungen ein, die ganz bewusst kein
geschichtsdidaktisches Konzept verfolgen, sondern mit Hilfe fiktiver Elemente
auch schon bei jungen Lesern Interesse zu wecken versuchen für eine Zeit, in
der der frühneuzeitliche Hexenwahn viele Tausende Opfer forderte. Den besonderen Erfolg verdankt diese Art des geschichtserzählenden Jugendbuchs jedoch
der Tatsache, so die These von Glasenapps, dass Unterhaltungselemente eine
wichtige Rolle spielen.2 Ergänzend möchte ich zusätzlich das Augenmerk auf
den transnationalen Charakter dieser Spezies richten, denn Hexenverfolgungen
gab es nicht nur in einer Vielzahl europäischer Länder, sondern ebenso in Nordamerika.3
Für die Zunahme dieser Ausprägung geschichtserzählender Literatur ist
jedoch nicht nur der von von Glasenapp für Ende der 1970er Jahre festgestellte
Paradigmenwechsel verantwortlich, sondern ebenso die „neue“ Frauenbewegung, die in bewusster Verkennung der historischen Tatsachen die Hexe zum
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Glasenapp, Gabriele von „Die Zeitalter werden besichtigt / Zur Inszenierung von Geschichte in der neueren historischen Kinder- und Jugendliteratur“. In: Jahrbuch für
Kinder- und Jugendliteraturforschung 2000/2001, S. 107.
Glasenapp, Gabriele von/Wilkending, Gisela: Geschichte und Geschichten, Frankfurt/M.,
Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2005, S. 21
Und gibt es noch heute in verschiedenen afrikanischen Staaten, in Indien und PapuaNeuguinea, vergl. Zeitungsberichte aus dem Kongo, Burkina Faso und Kamerun, wie beispielsweise: Grill, Bartholomäus: „Die Macht der Hexen“. In: Die Zeit vom 15.09.2005,
Scheen, Thomas: „Hexenkinder“. In: FAZ vom 2.9.2006, Veser, Thomas: „Die Seelenfresserinnen“ in: FAZ vom 03.11.2007.
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Einleitung
Symbol ihres Kampfes gegen eingefahrene gesellschaftliche Strukturen bzw. die
Diskriminierung von Frauen machte. Letzteres hatte allerdings auch die Festschreibung einer Reihe von Vor- und Fehlurteilen zur Folge, die später zum Klischee erstarrten und heute häufig der sachlichen Auseinandersetzung mit dem
Thema entgegenstehen.
Auf der Spur neuer Wege in der historischen Forschung möchte ich versuchen, diese Klischees kenntlich zu machen und entsprechend einzuordnen. Im
Mittelpunkt meiner Arbeit steht der Versuch, Kriterien zu entwickeln, mit deren
Hilfe literarische Werke auszumachen sind, die sowohl mit den historischen Gegebenheiten in Einklang zu bringen sind, als sich in Ansätzen auch auf unser
heutiges Zusammenleben beziehen lassen und jungen Lesern altersentsprechende Erkenntnisse ermöglichen.4 Um diese Kriterien zu gewinnen, wird es im
ersten Kapitel einerseits um den aktuellen Stand der geschichtswissenschaftlichen Forschung gehen, die heute andere Wege beschreitet als noch vor zehn
Jahren und andererseits werden Erkenntnisse der neueren kinder- und jugendliterarischen Forschung eine wichtige Rolle spielen. Da in den Hexenerzählungen
größtenteils weibliche Protagonisten anzutreffen sind, werden daneben jüngere
Studien zum Thema „Die abenteuerliche Heldin“5 einen breiten Raum einnehmen.
Der Feststellung des aktuellen Forschungsstands folgt dann die Analyse
einer Reihe ausgewählter Hexenerzählungen aus vier Zeiträumen, den 1970er,
1980er und 1990er Jahren bis hin zu Hexenerzählungen ab dem Jahre 2000. Die
chronologische Vorgehensweise hat den Vorteil, dass äußere Einflüsse auf die
Gattung „Hexenerzählung“, z.B. die Aktivitäten der „neuen“ Frauenbewegung,
aber auch parallel laufende erfolgreiche Serien aus dem Fantasybereich mit einbezogen werden können.
Die 15 analysierten Titel6 wurden aus einer Gesamtzahl von rund 30 Erzählungen, die sämtlich innerhalb der letzten vier Jahrzehnte zu dem Thema
erschienen sind, ausgewählt. Damit möchte ich insbesondere auf das breite
Spektrum der Auseinandersetzung mit dem Phänomen „Hexen- und Hexenver4
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Nach Holger Zimmermann hat die geschichtserzählende Kinder- und Jugendliteratur „eine klar umrissene Aufgabe: Sie soll Kindern und Jugendlichen auf eine unterhaltsame Art
ein umfangreiches Wissen über historische Sachverhalte vermitteln, um bei den heranwachsenden Lesern ein doppeltes Interesse zu wecken: Einerseits soll sie für das Lesen
an sich, andererseits für die Beschäftigung mit der Vergangenheit begeistern.“ Hintergrund dieser Feststellung ist die von Hans-Heino Ewers in seiner Einführung „Literatur
für Kinder und Jugendliche“ (München 2000) konstatierte ‚didaktische Norm‘ für diese
Art von Literatur. In: Glasenapp, Gabriele von/Wilkending, Gisela Geschichte und Geschichten, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford, Wien 2005, S. 57.
Corinna Kehlenbeck Auf der Suche nach der abenteuerlichen Heldin. Weibliche Identifikationsfiguren im Jugendalter, Frankfurt/M., New York 1996.
Drei davon als zusammenhängende Fortsetzungsgeschichte.
Problemstellung
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folgung“ aufmerksam machen. Auffällig war der immer wieder anders gewählte
Ansatz, mit dem Thema umzugehen. Das eine Mal sind es junge Mädchen und
Frauen, die in den Verdacht geraten, mit dem Teufel im Bunde zu sein, das andere Mal ältere Frauen und Männer, die sich zwar weniger als Identifikationsfiguren eignen, dafür aber engen Kontakt zu Kindern und Jugendlichen haben
oder sogar, wie im Fall eines schwedischen Autors, Halbwüchsige, die sich an
der Hexenverfolgung zu bereichern versuchten und schließlich dabei zu Tode
kamen. Alle diese literarischen Zugangsweisen werfen ein jeweils anderes Licht
auf das, was damals geschah.
Ein Ziel der vorliegenden Studie wird sein, aufzuzeigen, welches Hexenbild sich in dieser Buchgattung manifestiert hat und in inwieweit es mit den Ergebnissen der neueren historischen Forschung in Einklang zu bringen ist. Schon
jetzt kann gesagt werden, dass dabei deutliche Abweichungen festzustellen sind.
Das Aufzeigen dieser Diskrepanzen möchte dazu anregen, sich auch auf der
Kinder- und Jugendliteraturebene differenzierter mit dem Phänomen „Hexenverfolgung“ auseinanderzusetzen.
Mein besonderes Augenmerk gilt ebenso den unterschiedlichen nationalen
Eigenheiten, sowie der Tatsache, dass sich weibliche Autoren anders mit dem
Thema auseinandersetzen als männliche. Nach meiner Auffassung gehen skandinavische und englische Autoren sehr viel eigenwilliger mit dem Thema um als
deutsche. Während bei ersteren sowohl mythische als auch religiöse Motive eine
wichtige Rolle spielen und jungen Lesern auf diese Weise eine Vorstellung von
der Geistesverfassung der Menschen im 16. bis 18. Jahrhundert gegeben wird,
gehen deutsche Autoren in der Regel von historischen Gegebenheiten, Orten
und Personen aus. Beides hat seine Berechtigung und zeigt einmal mehr, mit
welcher Vielfalt von Herangehensweisen das Genre „Hexenerzählung“ seine
Leser in den Bann zu ziehen versteht.
Einleitung
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1.
Der geschichtswissenschaftliche Forschungsstand
Auch wenn heute, fast 230 Jahre nach der letzten Vollstreckung eines Todesurteils gegen eine vermeintliche Hexe, noch immer keine genauen Zahlen vorliegen und vermutlich auch nie vorliegen werden, gehen neuere Forschungen
davon aus, dass zumindest 40.000-60.000 Menschen in ganz Europa und Neuengland Opfer der Hexenverfolgung wurden. Etwa 25.000 Hinrichtungen gab es
allein im Heiligen Römischen Reich Deutscher Nation. Auch dass nicht nur
Frauen angeklagt wurden, sondern zu einem erheblichen Teil auch Männer und
sogar Kinder, ist eine Tatsache, über die man erst seit einigen Jahren Genaueres
weiß, wie mehrere, kürzlich erschienene wissenschaftliche Studien belegen.7
Auch die von den Bremer Soziologen Gunnar Heinsohn und Otto Steiger 1985
aufgestellte und von der „neuen“ Frauenbewegung dankbar aufgenommene These von der „Vernichtung der weisen Frauen“8 als Hüterinnen des alten Volkswissens über die Geburtenkontrolle wurde inzwischen vielfach widerlegt. Denn
„soweit es die überlieferten Berufsangaben in den Hexenprozessakten erkennen
lassen, waren Hebammen unter den Prozessopfern nur in marginaler Zahl vertreten; ihr Anteil lag im kleinen Promillebereich; unter den 60.000 Menschen,
die vom 15. bis zum 18. Jahrhundert als vermeintliche Hexen und Hexenmeister
hingerichtet worden sind, waren vermutlich nicht mehr als 200 Hebammen, eher
weniger.“9
Eine grundlegende Rolle bei der Betrachtung des Themas „Hexenverfolgung“ spielt außerdem, dass es sich dabei um eine Überlagerung bäuerlichen
Volksglaubens durch eine äußerst ausgeklügelte Dämonologie handelte. Und
schließlich gilt es, territoriale Unterschiede zu berücksichtigen, die zumeist aus
der Tatsache resultieren, dass es infolge von Epidemien, Witterungseinflüssen
und Kriegen in einigen Gebieten Europas zu großen wirtschaftlichen Krisen
kam, in deren Folge immer wieder Sündenböcke10 gesucht wurden, um die aufgebrachten und verängstigten Menschen zu beruhigen. Der amerikanische HistoDiss. Rolf Schulte. In: Beier-de Haan, Rosmarie, Voltmer, Rita u. Irsigler, Franz: Hexenwahn. Ängste der Neuzeit, Begleitband zur Ausstellung im Deutschen Historischen Museum Berlin, Wolfratshausen 2002, S. 13 u. Weber, Hartwig: Hexenprozesse gegen Kinder,
Frankfurt am Main 2000.
8 Heinsohn, Gunnar/Steiger, Otto: Die Vernichtung der weisen Frauen. Hexenverfolgung,
Kinderwelten, Bevölkerungswissenschaft, Menschenproduktion, München 1985.
9 Beier-de Haan, Voltmer, Irsigler a.a.O., S. 143.
10 Von dem französischen Literaturwissenschaftler und Kulturanthropologen René Girard
stammt die These, dass sich in Zeiten sozialer Krisen der „kollektive Hass“ gegen Einzelne oder ganze Gruppen richtet, denen dann die abscheulichsten Verbrechen unterstellt
werden, für die sie verfolgt und geopfert werden, um auf diese Weise „die gestörte soziale Balance wiederherzustellen“. (Girard; René: Ausstoßung und Verfolgung: Eine historische Theorie des Sündenbocks, Frankfurt am Main 1992, S. 2, Erstausgabe: Paris 1982).
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Der geschichtswissenschaftliche Forschungsstand
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riker Brian P. Levack11 kommt daher zu dem einleuchtenden Schluss, dass die
europäische Hexenjagd nur schwer auf einen gemeinsamen Nenner zu bringen
ist und man besser von „einer Reihe individueller Jagden sprechen“ sollte, „von
denen jede einzelne auf ihre besondere Weise entstanden“ sei. Überhaupt wurde
die Hexenverfolgung als ein Phänomen der ländlichen Bevölkerung bzw. kleinerer Städte erst richtig erkannt, als man die ideologische Perspektive auf der Basis romantischer Vorstellungen aufgab und stattdessen sozialgeschichtliche und
anthropologische Herangehensweisen in den Vordergrund stellte. Als Beispiel
für diese Vorgehensweise kann der 2004 von Historikern der Universität Tübingen vorgelegte Band Wider alle Hexerei und Teufelswerk12, gelten, der mit Hilfe
von 21 gründlichen Detailstudien zu den ländlichen Gebieten und Städten Südwestdeutschlands erstmals ein genaueres Bild der Hexenverfolgung in diesem
Teil Europas zeichnet.
Einen Schritt weiter geht die englische Historikerin Lyndal Roper, die mit
ihrem 2007 auf Deutsch erschienenen Band Hexenwahn: Geschichte einer Verfolgung13 Prozessakten aus Nördlingen, Würzburg, Marchtal und Augsburg einer genauen Untersuchung unterzieht und anhand der Aussagen der angeklagten
Frauen ein präziseres Bild davon zeichnet, wie Hexenbeschuldigungen entstehen
konnten und welche emotionalen Motive dabei eine Rolle spielten. Erstmals
wird so auch klar, wer diese Frauen waren und aus welcher Situation heraus sie
in den Verdacht gerieten, eine Hexe zu sein. Es ist das Verdienst Ropers, statt
der historischen Begleitumstände Menschen in den Mittelpunkt ihrer Forschung
zu stellen.
Von dem französischen Historiker Jean Delumeau14 schließlich stammt
die These, dass die Hexenverfolgungen aufhörten, als sich die Angst in den
verschiedenen Gesellschaftsschichten allmählich zu legen begann. Das betraf
besonders auch die Bauern, die nach den immer wieder sprunghaften Preissteigerungen im 16. Jahrhundert ab dem 17. Jahrhundert erste Verbesserungen ihrer
materiellen Lage zu spüren bekamen. Die Erkenntnis, dass das im Spätmittelalter vorausgesagte Ende der Welt nun doch nicht eingetreten war, und die Aufklärung, die sich im 18. Jahrhundert von England aus in ganz Europa und
Nordamerika auszubreiten begann, taten ein Übriges. Ein letzter im deutschsprachigen Raum heftig als „Justizmord“ diskutierter Prozess betraf 1782 die
11 Levack, Brian P.: Hexenjagd: Die Geschichte der Hexenverfolgungen in Europa, London
1987, München 1995, S. 13
12 Lorenz, Sönke, Schmidt, Jürgen Michael (Hrsg.): Wider alle Hexerei und Teufelswerk:
Die europäische Hexenverfolgung und ihre Auswirkungen auf Südwestdeutschland,
Ostfildern 2004.
13 Roper, Lyndal: Hexenwahn: Geschichte einer Verfolgung, München 2007, Erstausgabe:
New Haven, London 2004.
14 Delumeau, Jean: Angst im Abendland: Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des
14. bis 18. Jahrhunderts, 2 Bde., Reinbek 1985, Erstausgabe: Paris 1978.
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Einleitung
Schweizerin Anna Göldi. Danach verschwand das Hexereidelikt allmählich aus
der europäischen Strafgesetzgebung.
Der historische Roman und seine Entstehung
2.
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Der historische Roman und seine Entstehung
Der historische Roman behandelt als „Form der Geschichtsdichtung geschichtliche Ereignisse und Personen (…) in freikünstlerischer Prosagestaltung“ und gibt
„je nach Art des gewählten Stoffes und der Darstellungsweise einen individuellen Lebenslauf oder ein allgemeines Geschichtsbild, das jedoch in Folge dichterischer Freiheiten nicht immer das wissenschaftlich anerkannte, sondern auch
ein intuitiv erfühltes oder nach ästhetischen Gesichtspunkten umgestaltetes sein
kann.“15 Nach Hugo Aust wäre „unter dem Gesichtspunkt der Darstellungsintention“ zwischen einer rekonstruktiven und einer parabolischen Variante zu unterscheiden. Während die rekonstruktive Form „eine möglichst authentische Wiederherstellung einer früheren geschichtlichen Person, Epoche oder Welt“
anstrebe, suche die parabolische „in der Geschichte den Spiegel für die Gegenwart.“16 Als Begründer des europäischen historischen Romans gilt der Schotte
Walter Scott (1771-1832), der mit seinen Roman Waverly or ‘Tis Sixty Years
Since (1814) und später mit seinem Roman Ivanhoe (1819) „Geschichte zum
exotischen Abenteuer verfremdete“17, indem er authentische und fiktive Elemente so miteinander verquickte, dass atmosphärisch dichte Erzählungen entstanden. Nach Georg Lukács geht auf ihn die Erfindung des ‚mittelmäßigen
Helden‘18 zurück, der „als durchschnittlicher Mensch antiheroisch konzipiert ist
und somit lesernah erscheint.“19
Die Geburt einer lesbaren, aber doch ‚wahren‘ Geschichte, die das literarisch interessierte Publikum genauso anspricht wie den wissenschaftlich vorgebildeten Leser20, kann als Beginn des historischen Romans gelten. Im Zuge der
begeisterten Rezeption Scotts im Laufe des 19. Jahrhunderts und des anlässlich
der Reichsgründung 1871 neu erwachten Nationalbewusstseins der Deutschen21
entstand eine Vielzahl weiterer Romane, von denen heute nur noch wenige, wie
beispielsweise Die Ahnen (6 Bde. 1872-80) von Gustav Freytag, Ekkehard
(1855) von Joseph Viktor von Scheffel und Ein Kampf um Rom (4 Bde. 1876-
15 Definition nach Gero von Wilpert Sachwörterbuch der Literatur, 5. Aufl. Stuttgart 1969,
S. 329.
16 Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar 1994, S. 33.
17 Ebd. S. 67.
18 Lukács, Georg: Der historische Roman. Neuwied, Berlin 1965, S. 39 f.
19 Aust, Hugo: Der historische Roman. Stuttgart, Weimar 1994, S. 65.
20 Zur gleichen Zeit etablierte sich Geschichte als eigenständige Wissenschaft. Bahnbrechend für die moderne Geschichtswissenschaft wirkte die Vollendung der historischen
Methode durch den deutschen Historismus im 19. Jahrhundert.
21 Der historische Roman übernahm dabei identitätsstiftende Aufgaben. Nach dem deutschfranzösischen Krieg 1870/71 entstand bei den Deutschen ein gesteigertes Nationalbewusstsein.
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Einleitung
78) von Felix Dahn22, literarisch eine Rolle spielen. Viele der damals in großer
Zahl erschienenen historischen Romane schafften es jedoch nicht, über die Zeit
ihrer Entstehung hinaus Wirkung zu entfalten. Waltraud Maierhofer macht für
diesen Tatbestand unter anderem ihre „ambivalente Haltung zwischen Faktizität
und Fiktion – den einen nicht nah genug an den überlieferten Quellen, den anderen nicht original genug“23 – verantwortlich und zitiert Hans Vilmar Geppert,
der den „Hiatus von Fiktion und Historie“ vor allem bei der „zum Trivialen neigenden Form des historischen Romans“ bestätigt findet, die dieser zu verdecken
versuche, während der andere, der ‚wahre‘ historische Roman, ihn sogar noch
„akzentuiere und bloßstelle.“24
Eine weitere Richtung vertritt Hayden White, der als Vertreter des „New
Historicism“ davon ausgeht, dass eine ‚objektive‘ Darstellung von Geschichte
schlichtweg nicht erreichbar ist, dass literarische Fiktionen aber trotzdem historisches Wissen darüber vermitteln können, nicht wie ein Ereignis war, sondern
wie es hätte sein können.25
Ein erstes Umdenken, zumindest, was die Darstellung von Geschichte für
Historiker als Produkt „großer Einzelner“ anging, bahnte sich auf dem Historikertag 1972 an, als besonders die jüngeren Historiker „Geschichtsprozesse und
geschichtliche Zusammenhänge aus den sozialen, politischen und ökonomischen
Zusammenhängen einer Epoche zu erklären versuchten.“26
Dass daran zu einem erheblichen Teil auch das Volk beteiligt ist, hat sich
inzwischen herumgesprochen und findet seinen Niederschlag ebenso in historischen Romanen wie in den Bühnenwerken mit geschichtlichem Hintergrund.
Der Germanist Walter Hinck hält deshalb in seiner Aufsatzsammlung Geschichtsdichtung wenige Jahre später fest: „Dichtung muß sich dem Diktat der
res factae nicht beugen“, [sie] „entwickelt ihren eigenen Wahrheitsanspruch“;
[denn] „sie versteht den historischen Fall eher als ein Gleichnis.“27 So könne der
22 Gehört neben Romanen von W. Alexis und G. Freytag zum Typus des deutschen sog.
Professorenromans, Gero von Wilpert Sachwörterbuch der Literatur, 5. Aufl. Stuttgart,
1969, S. 593.
23 Vergl. Maierhofer, Waltraud: Hexen - Huren - Heldenweiber: Bilder des Weiblichen in
Erzähltexten über den Dreißigjährigen Krieg, Köln 2005, S. 1.
24 Geppert, Hans Vilmar: Der „andere“ historische Roman: Theorien und Strukturen einer
diskontinuierlichen Gattung, Tübingen 1976, S. 42 f: „Den Hiatus mit dem Recht der
Freiheit der Phantasie gestalten und ausbilden – die ‚Schreibweise‘ ist in der Tat der
‚Schlüssel‘ zur Poetik des ‚anderen‘ historischen Romans.“
25 White, Hayden: „Das Problem der Erzählung in der modernen Geschichtstheorie.“ In:
Rossi, Pietro: Theorie der modernen Geschichtsschreibung, Frankfurt/M. 1987, S. 57106.
26 Glasenapp, Gabriele von: „Die Zeitalter werden besichtigt: Zur Inszenierung von Geschichte in der neueren historischen Kinder- und Jugendliteratur“. In: Jahrbuch für
Kinder- und Jugendliteraturforschung, Stuttgart, Weimar 2000/2001, S. 104
27 Hinck, Walter: Geschichtsdichtung. Göttingen 1995, S. 58.
Der historische Roman und seine Entstehung
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historische Roman zwar die Historiographie nicht ersetzen, aber er könne „geschichtsbewahrend“ wirken. Und er fügt an anderer Stelle hinzu: „Geschichtsorientierte Literatur kommt zu ihren Stärken dort, wo sie eine substantielle statt
einer abgelenkten Geschichtserfahrung vermittelt und die Korrespondenz von
Gegenwart und Geschichte in der Form selbst zum Vorschein bringt.“28
28 Ebd. S. 60.
Einleitung
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3.
Die kinder- und jugendliterarische Forschungslage
Die Anfänge des geschichtserzählenden Kinder- bzw. Jugendbuchs29 in Deutschland fallen in die zweite Hälfte des 18. Jahrhunderts. Bis weit ins 19. Jahrhundert hinein waren sie, laut Heinrich Pleticha30, Produkte eines romantischen Geschichtsverständnisses und beschränkten sich vor allem auf die Schilderung des
mittelalterlichen Deutschland. Weder gelang eine klare Herausarbeitung der
Fakten noch eine genaue Erfassung der Atmosphäre. Entscheidende Impulse erhielt der geschichtserzählende Jugendroman dann ähnlich wie der historische
Erwachsenenroman von den Erzählungen Walter Scotts, in deren Folge auch
deutsche Autoren wie Wilhelm Hauff (Lichtenstein 1826), Brigitte Augusti (ihre
fünfbändige Serie An deutschem Herd entstand in den Jahren 1885-88) und
Oskar Höcker (Das Ahnenschloss, 4 Bde. 1879-89) mit eigenen geschichtserzählenden Werken für Jugendliche herauskamen. Auch hier sorgte das ständig
wachsende Interesse an der eigenen Vergangenheit rasch für eine große Zahl
von Neuerscheinungen, das dann aber Anfang der 1930er Jahre in eine, besonders auch von den Nationalsozialisten geförderte, vor allem das Germanentum
verherrlichende Heldenliteratur mündete.31
Das änderte sich, laut Winfred Kaminski32, nach dem Zweiten Weltkrieg
insofern, als die Schauplätze für Abenteuergeschichten für Kinder und Jugendliche nun zunächst einmal dem Bedürfnis nach „Weite und Ferne“ Rechnung trugen. Aber immer noch spielten männliche Helden die entscheidende Rolle und
es gab so gut wie keine Geschichten über diejenigen, die eigentlich den Hauptteil der Gesellschaft ausmachen – das einfache Volk. Daneben fällt ein starkes
Interesse an historischen Erzählungen zum Thema „Vor-, Früh- und Alte Geschichte“ auf, die unter der Rubrik „gestaltetes Sachbuch“, von Hugo Aust als
ein „Ineinander von geschichtlicher Unterhaltung und sachkundlichem Unterricht“33 bezeichnet, in großer Zahl neu aufgelegt wurden. Elisabeth Ott, die ihre
1985 veröffentlichte Studie mit dem Titel Historische Romane für Kinder und
Jugendliche vor allem den Neuerscheinungen der Jahre 1960 bis 1983 zu den
Themen „Römische Geschichte“ und Französische Revolution“ widmete, kon29 Um Verwechslungen mit der historischen Kinder- und Jugendliteratur zu vermeiden, hat
sich inzwischen der Terminus „geschichtserzählender Kinder- und Jugendroman“ eingebürgert (vergl. Glasenapp, Gabriele v. In: Glasenapp, Gabriele v./Wilkending, Gisela:
Geschichte und Geschichten. Frankfurt/M. u.w. 2005, S. 17.
30 Vergl. Pleticha, Heinrich: „Geschichtliche Kinder- und Jugendliteratur“. In: Lange, Günter (Hrsg.): Taschenbuch der Kinder- und Jugendliteratur, Hochgehren 2000, S. 445-461.
31 Ebd. S. 455.
32 Vergl. Kaminski, Winfred: „Kinder- und Jugendliteratur in der Zeit von 1945 bis 1960“.
In: Doderer, Klaus (Hrsg.): Zwischen Trümmern und Wohlstand, Weinheim, Basel 1988,
S. 133.
33 Aust, Hugo: Der historische Roman, Stuttgart, Weimar 1994, S. 37.
Die kinder- und jugendliterarische Forschungslage
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statiert in diesem Zusammenhang das Dominieren von „Klischees, die traditionelle bürgerliche Rollenbilder in die Vergangenheit transportieren und via
Identifikationsangeboten für überzeitlich und allgemein menschlich deklarieren.“34
Abschließend postuliert sie zu Recht „eine differenzierte[re] Darstellung
bestimmter geschichtlicher Ereignisse und Situationen (…), die dem Leser neben Informationen über die Zeit auch Einblicke in die gesellschaftlichen Verhältnisse ermöglichen.“35
Doch zunächst trat in diesen Jahren eine ganz andere Art geschichtserzählender Jugendliteratur in den Vordergrund, nämlich die zeitgeschichtliche. Es
ging dabei um die Aufarbeitung der jüngsten Vergangenheit, der Epoche des
Nationalsozialismus und ihrer Folgen, die noch längst nicht abgeschlossen ist.
Erst gegen Ende der 1980er Jahre erhielt der geschichtserzählende Jugendroman
von Neuem Aufschwung. Der Grund: „Die konsequente Hinwendung zur Darstellung so genannter Alltagsgeschichte“.36 Damit zusammenfiel, dass sich auch
der moderne Jugendroman inzwischen weiterentwickelt hatte und sich so moderner Erzähltechniken wie die der „Ich-Erzählung, des personalen Erzählens,
des inneren Monologs, des Bewusstseinsstroms“37 und der Multiperspektivität
bediente. Für die Autoren hieß das: Weg vom auktorialen Erzähler mit seinem
didaktisch-moralischen Anspruch und hin zu farbigen und spannenden Geschichten, denen es jedoch häufig an der nötigen Distanz fehlt, die Andersartigkeit vergangener Zeiten so einzufangen, dass junge Leser sich ein Bild machen
können von den Unterschieden zur eigenen Gegenwart. Auch auf die Kritik an
ihren oftmals eindimensionalen Protagonisten haben die Autoren der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur inzwischen reagiert und eine große Anzahl vielschichtiger Helden und Heldinnen entwickelt.38
Geschichtserzählende Kinder- und Jugendliteratur scheint inzwischen zu
einem besonders beliebten Genre geworden zu sein, das speziell auch weibliche
Leser anspricht, aber in der Hauptsache unterhalten will. So lässt sich im Großen
und Ganzen auch der von von Glasenapp aufgestellten These von der Hybridität
34 Ott, Elisabeth: Historische Romane für Kinder und Jugendliche, Frankfurt/M. 1985,
S. 229.
35 Ebd. S. 235.
36 Vergl. Glasenapp, Gabriele von: „Was ist Historie? Mit Historie will man was. Geschichtsdarstellungen in der neueren Kinder und Jugendliteratur“. In: Glasenapp, G. v./
Wilkending, Gisela: Geschichte und Geschichten, Frankfurt am Main u.w., 2005, S. 31.
37 Ewers, Hans-Heino: „Die Emanzipation der Kinderliteratur“. In: Raecke, Renate/
Baumann, Ute D.: Zwischen Bullerbü und Schewenborn, München 1995, S. 23.
38 Vergl. Zimmermann, Holger: „Adoleszenz in Antike und Mittelalter? Die Funktion der
Identifikation in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart“.
In: Glasenapp, Gabriele von/Wilkending, Gisela: Geschichte und Geschichten, Frankfurt
am Main u.w., 2005, S. 61.
12
Einleitung
dieser Art von Literatur zustimmen.39 Geschichtserzählende Jugendromane können heute alles Mögliche sein: Abenteuererzählungen ebenso wie Kriminalromane, Adoleszenzgeschichten genauso wie Liebesgeschichten und noch einiges
mehr.
39 Glasenapp, Gabriele von: Was ist Historie? Frankfurt am Main u.w. 2005, S. 21.
Material und methodisches Vorgehen
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Material und methodisches Vorgehen
1.
Hexenprozesse als literarisches Thema
Wolfgang Behringer, einer der profiliertesten Forscher auf dem Gebiet der historischen Hexenverfolgung, nennt das Jahr 142840 als ungefähren Beginn erster
massiver Verfolgungen in Savoyen, Dauphiné. In der Zeit von 1480 bis 1525 –
wir befinden uns inzwischen in der Frühen Neuzeit – kam es dann erneut zu einer endemischen Verfolgungswelle, dieses Mal an vielen verschiedenen Orten
Westeuropas. Und schließlich setzte nach einigen Jahren der relativen Ruhe die
Jagd auf vermeintliche Hexen 1562 ein weiteres Mal ein. Als besonderen Höhepunkt bezeichnet Behringer die Jahre 1626-1630, eine Zeit, in der in Europa der
30jährige Krieg wütete. Erst 1782 kam es zur letzten „legalen“ Hinrichtung einer Frau in der Schweiz. Sie löste europaweit Proteste aus, als deren Triebfeder
sich das neue Denkgebäude herausstellte, das die Aufklärung dem magischen
Weltbild des Mittelalters entgegensetzte oder, wie die englische Historikerin
Lyndal Roper es ausdrückt: „Ein Grund für den Rückgang des Hexenwahns war
ein Wandel bei den Ängsten der Menschen. Da [sie] bei Krankheits- und Todesfällen nicht länger glaubten, Hexen hätten die Hand im Spiel“41, schwanden
auch die dadurch ausgelösten Ängste.
Obwohl es zu den meisten Prozessen in den Staatsarchiven umfangreiches
Aktenmaterial gibt42, entdeckte erst der nachromantische Historismus des
19. Jahrhunderts die Hexenverfolgung als literarisches Thema. Doch fast alle
Werke, die zu dieser Zeit entstanden, seien sie literarisch anspruchsvoller oder
eher trivialer Art, schrieben unter dem Vorwand, über ein Phänomen der Vergangenheit aufklären zu wollen, „das Bild der gefährlichen Frau“43 fort. Besonderen Erfolg hatte 1843 der Band Bernsteinhexe von Wilhelm Meinold, der vom
Verfasser zunächst als Fragment einer barocken Chronik aus dem 17. Jahrhundert ausgegeben wurde, sich aber schon bald als reine Fiktion entpuppte.44 Es
40 Behringer, Wolfgang: Hexen: Glaube. Verfolgung. Vermarktung, München, 4. Auflage
2005, S. 35 u. 108-110.
41 Roper, Lyndal: Hexenwahn: Geschichte einer Verfolgung, München 2007, S. 28. Ich
zitiere bewusst aus der deutschen Übersetzung, da Roper einen Großteil ihrer Forschungen der Deutschen Hexenverfolgung widmete. Erstausgabe: New Haven, London 2004.
42 Das allerdings schwierig zu lesen ist und in der Regel zuerst transkribiert werden muss.
43 Maierhofer, Waltraud: Hexen - Huren - Heldenweiber: Bilder des Weiblichen in Erzähltexten über den Dreißigjährigen Krieg, Köln 2005, S. 207.
44 Erst nach einigen begeisterten Rezensionen des Werks bekannte Meinhold in der Augsburger Allgemeinen Zeitung vom 23.1.1844, es handle sich bei der vermeintlichen alten
Chronik um eine Fiktion und er sei der alleinige Autor (zit. nach Maierhofer, Waltraud:
Hexen - Huren - Heldenweiber, S. 213).
14
Einleitung
geht dabei um ein junges hübsches und begabtes Mädchen, Tochter eines
früheren Pfarrers in Coserow auf Usedom, das während des 30jährigen Krieges
von seiner Umgebung als Hexe denunziert wird und dem in der Folge der
Prozess gemacht wird. Doch hat Maria bei allem Pech auch Glück. Sie wird in
letzter Minute auf wundersame Weise gerettet und schließlich sogar rehabilitiert.
Zurück bleibt der Eindruck einer „trivialisierende[n] Verbindung des Hexenbildes mit den polaren Bildern der verführerischen und gelehrten Frau“45, das
später noch in vielen anderen Werken zu finden ist und wenig zu tun hat mit der
Wirklichkeit, bei der es in der Regel um allein stehende alte Frauen ging, die ihr
tägliches Brot mit allerlei Dienstleistungen und dem Verkauf von magischen
Mitteln verdienten und dadurch leicht in den Verdacht gerieten, mit dem Teufel
im Bunde zu stehen.
Seinen geistigen Rückhalt erhielt dieser Gedanke durch den Malleus
Maleficarum (1486/87), zu deutsch Hexenhammer, des Dominikanermönchs
Heinrich Kramer/Institoris. Der darin enthaltene Fragenkatalog spielte bei der
Vernehmung so genannter „Hexen“ eine wichtige Rolle und bestärkte die spätmittelalterliche Auffassung von der Frau als einem unersättlichen Wesen in sexuellen Dingen, das leicht ein Opfer des Teufels werden konnte. „Meinhold
gelang [auf diese Weise] die Verbindung von religiösem Grundton, direktem
Ansprechen des verbotenen Themas weibliche Sexualität und gruseliger Atmosphäre mit ‚glücklichem‘, aber antiemanzipatorischem Ende, die die Leser/innen
in den Bann zog und gleichzeitig die Beschränkung der Sexualität auf die Institution Ehe predigte.“46
Und obwohl Meinhold selbst zur Entlarvung seines, heute dem Schauerroman zugerechneten Werkes als Fälschung beitrug, erlebte der als unvollständige Chronik daherkommende Roman immer wieder neue Übersetzungen47 und
Nachdrucke. In Deutschland sogar bis in die 1990er Jahre hinein.48 Auch in den
Werken von Wilhelm Raabe (Else von der Tanne, 1865), Gustav Freytag (Die
Ahnen Bd. 1, 1878) und Ricarda Huch (Der Dreißigjährige Krieg, 1812/1814)
fand das Thema seinen Niederschlag, wenn auch in weniger reißerischer Form.
Was bei letzteren besonders auffällt, ist, dass die Hexenprozesse hier vorrangig
„als private Schicksale dargestellt [werden] vor dem Hintergrund des 30jährigen
Krieges, aber in keinem politischen Zusammenhang“ mit ihm.49
Die Hexenverfolgung als Metapher für Gewaltherrschaft und Rassismus
war dann mehr als 100 Jahre später Thema des umfangreichen Romans Der
45
46
47
48
49
Ebd. S. 212.
Ebd. S. 228 f.
Allein ins Englische wurde der Roman dreimal übersetzt. Ebd. S. 210 Fußnote 18.
Ebd. S. 211 Fußnote 19.
Ebd. S. 255.
Hexenprozesse als literarisches Thema
15
Fürst der Welt der Österreicherin Erika Mitterer50, der 1940 herauskam, aber
zunächst nur wenig Beachtung fand. Dass er 1988 nochmals neu aufgelegt
wurde, hat wohl seinen Grund in der Tatsache, dass Ende der 1970er Jahre die
„neue“ Frauenbewegung das Thema für sich entdeckte und plötzlich ein großer
Bedarf an geschichtserzählenden Werken zur Hexenverfolgung entstand. Weitere Autoren, wie beispielsweise der Journalist Wolfgang Lohmeyer, zogen nach
und fanden mit ihren Romanen unter anderem Anklang im Geschichtsunterricht
der weiterführenden Schulen.51
Inzwischen gehören Hexenromane für Erwachsene zum Angebot jeder
Buchhandlung. Favorisiert werden in der Hauptsache „selbstbewusste junge
Frauen“ – das vermitteln allein schon die Titelbilder – „die ihr Leben lang gegen
die Abhängigkeit von den Männern ankämpf[en]“52. Dass es sich hierbei um einen Anachronismus handelt, wird jedem klar, der sich näher mit dem Phänomen
„Hexenverfolgung“ beschäftigt.
50 Mitterer, Erika: Der Fürst der Welt. Neuauflage Wien 1988.
51 Angelika Bunz empfiehlt in ihren didaktischen Aufbereitung des Themas aus Ermangelung anderer Texte seine beiden Romane Die Hexe (1976) und Der Hexenanwalt (1979).
52 Klappentext zu Fritz, Astrid: Die Hexe von Freiburg, Hamburg 2003.
Einleitung
16
2.
Der Hexenroman als Subgattung des geschichtserzählenden
Jugendromans
Erste Jugendbücher zum Thema „Hexenverfolgung“
Von vielen Beobachtern der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur
nahezu unbemerkt, hat sich, laut Holger Zimmermann, in den vergangenen Jahren bei der Auswahl des historischen Gegenstands, eine auffallende Verschiebung zugunsten der Frühen Neuzeit ergeben.53 Damit einher geht ein starkes
Interesse an sozialkritischen Fragen und nicht zuletzt an Frauengeschichte.
Zwar gab es 1968 bereits den Roman Der Teufelskreis der Jugendbuchautorin Ingeborg Bayer. Er hatte aber insgesamt nicht den Erfolg, der nur wenige Jahre später weiteren Jugendbüchern beschieden war, die das Phänomen
„Hexenverfolgung“ für junge Leser so aufbereiteten, dass diese einen historisch
relevanten Zugang zu dem komplexen Thema bekommen konnten. Da es sich
hierbei um ein europaweites Phänomen handelt, das später auch auf die übrige
westliche Welt, beispielsweise Nordamerika übergriff, ist hier an erster Stelle
Rosemary Sutcliffs The Witch Brat / Hexenkind, 1970 im englischen Original
erschienen54, zu nennen. Doch noch sehr viel mehr Interesse, und zwar wohl
hauptsächlich für den Schulunterricht, fand ab 1971 Ingeborg Engelhardt mit
ihrem bis heute 28mal aufgelegten Werk Hexen in der Stadt. Dessen großer
Vorzug: Es gibt zwar keinen durchgängigen jungen Helden bzw. eine Heldin als
Identifikationsfigur, aber die Geschehnisse sind so klar und übersichtlich aus
verschiedenen Perspektiven dargestellt und halten sich weitgehend an die Fakten, dass sie jugendlichen Lesern ab 13 Jahren Mut machen, sich weiter mit dem
Thema zu beschäftigen. Der dänische Autor Leif Esper Andersen mit einer Erzählung Heksefeber (1974) / Hexenfieber (1977) und die Engländerin Helen
Griffiths mit ihrer Geschichte eines durch Kriegserlebnisse traumatisierten Mädchens (Witchfear 1975 / Hexentochter 1989) schlossen sich an, doch bildet sich
das eigentliche Muster „Hexenerzählung für Jugendliche“ nach meinen Recherchen erst ab den 1990er Jahren heraus.55
Zunächst einmal ist es die „neue“ Frauenbewegung, die Ende der 1970er
Jahre für weiteren Auftrieb sorgt. Sich „Hexe“ zu nennen, galt damals als
53 Zimmermann, Holger: Geschichte(n) erzählen, Frankfurt/M. 2004, S. 146 f.
54 1979 ins Deutsche übersetzt, 2000 und 2006: Neuauflagen.
55 Gemeint sind auf Kinder und Jugendliche zugeschnittene Erzählungen. Genaueres dazu
in Kap.V 1.2. Hexenerzählungen für Kinder und Jugendliche bzw. Erwachsene im Vergleich.
Der Hexenroman als Subgattung des geschichtserzählenden Jugendromans
17
schick, hatte aber auch, wie Silvia Bovenschen feststellt56, den „Glamour des
Fatalen“. Und sie fährt fort: „Die historische Hexe post festum zu einem Urbild
weiblicher Freiheit und Kampfkraft zu erheben, wäre ein Zynismus angesichts
ihres millionenfachen Leidens, für das die Vorstellungskraft wohl kaum ausreicht. Andererseits steht die Aktualität des Hexenbildes für eine heutige Möglichkeit des Widerstands, die der historischen Hexe versagt war.“57 Waltraud
Maierhofer fügt den Bovenschens Feststellungen zum Bild der Hexe die These
hinzu, dass es hier um eine der wirkungsvollsten Formen von Ideologieproduktion gehe, die mehr zur Mythenbildung als zu historischem Wissen beitrage.
„Die Texte“, so die Literaturwissenschaftlerin, „verwenden zwar Informationen
zu den ‚wirklichen‘ Verfolgungen und Prozessen und deuten manchmal Kausalzusammenhänge an, schwelgen aber vor allem in mehrdeutigen polaren Bildern
von Exotik / Naturverbundenheit, Hilflosigkeit / Gewalt, geheimnisvollen Fähigkeiten und Unwissenheit.“58
Der Paradigmenwechsel im geschichtserzählenden Jugendroman
Doch nachdem einmal das Interesse an der Gestalt der Hexe und ihrem Schicksal geweckt war, tauchten diese nun auch vermehrt im geschichtserzählenden
Kinder- und Jugendbuch auf, zumal hier just zu dieser Zeit ein Paradigmenwechsel stattgefunden hatte, wie Gabriele von Glasenapp59 bemerkt. Statt um
die großen Figuren und Persönlichkeiten geht es nun immer öfter um „Geschichte von unten“. Wie sich dabei allmählich auch eine eigene Subgattung
„Hexenerzählung für Kinder und Jugendliche“ herausbildete, ist Gegenstand der
folgenden Untersuchung von 15 aus 30 ausgewählten Romanen aus dem Zeitraum 1971 bis 2007. Das Textkorpus umfasst dabei bewusst Titel sowohl von
deutschen als auch – soweit übersetzt – von skandinavischen und englischen
Autoren. Diese Einschränkung ermöglicht nun einen Vergleich auf breiter Basis,
und vor allem wird klar, wie verschiedenartig und von äußeren Einflüssen mitbestimmt die Aufarbeitungen dieses Themas sind. Während Margit-Ute Burkhardt in ihrer Dissertation Hexengeschichte – Hexengeschichten: Strategien des
Erzählens von Hexenverfolgung in der deutschen Jugendliteratur des 20. Jahr-
56 Bovenschen, Silvia: „Die aktuelle Hexe, die historische Hexe und der Hexenmythos“. In:
Becker, Bovenschen, Brackert u.a.: Aus der Zeit der Verzweiflung: Zur Genese und
Aktualität des Hexenbildes, Frankfurt/M. 1977, S. 259.
57 Ebd. S. 265.
58 Maierhofer, Waltraud: Hexen - Huren - Heldenweibe: Bilder des Weiblichen in Erzähltexten über den Dreißigjährigen Krieg. Köln 2005, S. 22.
59 Glasenapp, Gabriele von: „Die Zeitalter werden besichtigt. Zur Inszenierung von Geschichte in der neueren historischen Kinder- und Jugendliteratur“. In: Jahrbuch für
Kinder- und Jugendliteraturforschung 2000/2001 Stuttgart/Weimar 2001, S. 102.
Einleitung
18
hunderts60 nur fünf deutsche Erzählungen61 zum Gegenstand ihrer Untersuchung
macht und zu dem Schluss kommt, alle fünf seien „ähnlich konstruiert [und]
könnten daher nicht als autonome Literatur bezeichnet werden“62, möchte ich
wiederum durch die Einbeziehung von weiteren, in anderen europäischen Ländern erschienenen und ins Deutsche übersetzten Titeln zeigen, wie vielfältig der
Umgang mit dem Phänomen „Hexenverfolgung“ sein kann und man sehr wohl
von einem eigenständigen Genre sprechen kann.
Die Folge: Eine Flut von Neuerscheinungen / Eingrenzung
Doch nicht alle Erzählungen, die im Laufe der 1970er Jahre bis heute herauskamen oder als Übersetzungen, beispielsweise aus dem Schwedischen, andersartige Ansätze zeigen, scheinen mir geeignet, Heranwachsenden ein Bild von dem
zu vermitteln, was sich in den Jahren von 1428 bis 1782 an Hexenverfolgungen
in Europa und Nordamerika abspielte. Nicht aufgenommen wurden daher:
! Texte, die noch nicht dem Muster „Hexenerzählungen für Kinder und Jugendliche“ entsprechen, wie es sich später herausbildete, wie beispielsweise Der Teufelskreis (196863) von Ingeborg Bayer und Das Tal der Hexen von Marianne Winterstein (1984),
! Texte, die das Phänomen „Hexenverfolgung“ nur am Rande behandeln,
wie beispielsweise Klara och Skallbergsvargarna / Lina bei den Wölfen
von Margit Geijer (Schweden 1986, ins Deutsche übersetzt 1997),
Muschelkind von Rudolf Herfurtner (1995), The Raging Quiet /
Flüsternde Hände von Sherryl Jordan (USA 1999, deutsche Übersetzung
2001),
! Texte, die von der historisch nicht zu begründenden These ausgehen, es
handele sich bei den angeklagten Frauen um Vertreterinnen einer uralten
Naturreligion, wie Melvin Burgess Erzählung Burning Issy / Im Bann der
Hexenkräfte (1992, deutsche Übersetzung 1997 bzw. 2004) glauben machen möchte und
! Texte, bei denen, meiner Ansicht nach, vor allem die Absicht der Autorin
bzw. des Autors im Vordergrund steht, den Stoff unter Hintanstellung der
historischen Tatsachen als Plot für eine Kriminalerzählung zu nützen, wie
60 Burkhardt, Margit-Ute: Hexengeschichte - Hexengeschichten: Strategien des Erzählens
von Hexenverfolgung in der deutschen Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts, Konstanz
2004.
61 Es handelt sich dabei um: Engelhardt, Ingeborg: Hexen in der Stadt (1971), Heyne,
Isolde: Hexenfeuer (1990), Parigger, Harald: Die Hexe von Zeil (1996), Haß. Ulrike:
Teufelstanz (1982) und Bayer, Ingeborg: Der Teufelskreis (1968).
62 Ebd. S. 187/88.
63 2001 in der 14. Auflage.
Der Hexenroman als Subgattung des geschichtserzählenden Jugendromans
19
beispielsweise Het vuur van wraak / Die Hexe von Bodmin Moor von
Karel Verleyen (belgische Originalfassung 2002, deutsche Übersetzung
2005), Mor äringen Häxa / Die Hexe von Agunda von Olof Svedelid
(Schweden 1979, ins Deutsche übertragen 2005), De amulett / Das Amulett aus den Flammen von Simone van der Vlugt (Niederlande 1995, deutsche Übersetzung 1998) und Hexentanz von Christa Maria Zimmermann
(2005).
Wichtig ist mir, so weit wie möglich, all die Bücher zu erfassen, die jungen Lesern einen Zugang zu dem Thema verschaffen, sie zu eigenen historischen Recherchen anregen und ihnen die Hintergründe der stellenweise auch auf heutige
Verhältnisse anwendbaren Umstände menschlichen Zusammenlebens vor Augen
führen. Denn wie die Geschichtslehrerin Hedda Gaschke schreibt: „Empfehlenswert sind nur Bücher, die einerseits auf wissenschaftlicher Recherche basieren, deren Autoren aber andererseits so viel Einfühlungsvermögen in jugendliche Leser besitzen, dass der Text einen Zugang zum Verständnis der jeweiligen
Epoche vermittelt: Nur dann können Kinder und Jugendliche wirklich verstehen,
wie der entsprechende Zeitabschnitt das Denken und Handeln der Personen beeinflusst hat.“64 Ziel meiner Untersuchungen ist es, die Vielfalt und Eigenständigkeit des Genres „Hexenroman“ auch für Kinder und Jugendliche unter Beweis zu stellen und gleichzeitig Kriterien zu entwickeln, die die Grenzen dieses
Genres aufzeigen.
64 Gaschke, Hedda: „Geschichte erzählen“. In: Sonderbeilage „Chancen“ Die Zeit. Nr.19
vom 29.04.2004 Hamburg, S. 28.
20
3.
Einleitung
Verschiedene Arten, mit dem Thema Hexenverfolgung umzugehen
Auch heute noch werden in Film, Fernsehen, Boulevardblättern, historischen
Romanen und auf Internetseiten in großer Zahl Klischees und Vorurteile über
die historische Hexenverfolgung verbreitet, die darauf hinauslaufen, dass Kirche
und Staat, „motiviert von einer aggressiven Frauenfeindlichkeit im Mittelalter,
zumeist rothaarige und besonders hübsche oder alte und besonders hässliche,
insgesamt fast 9 Millionen Frauen, vorzugsweise Hebammen und Heilerinnen,
von lüsternen und perversen Inquisitoren (…) [hätten] foltern und verbrennen
lassen, um damit die weiblichen Mitglieder der Gesellschaft zu disziplinieren,
ihr geheimes Wissen um Heilkunde, Verhütung und Abtreibung auszurotten und
sie gleichzeitig aus dem Berufsleben zu vertreiben, um Männer, nicht zuletzt
Ärzte, von unnötiger Konkurrenz zu befreien.“65
Auch Kinder- und Jugendromane zu diesem Thema sind nicht ganz frei
von solchen Fehleinschätzungen, doch lässt sich insgesamt eine große Ernsthaftigkeit beim Umgang mit dem Thema feststellen. Fast allen Autoren geht es
darum, die historische Hexenverfolgung als Ganzes zu erfassen, Ursachen und
Wirkungen in einen Gesamtzusammenhang zu stellen und die Folgen für die
Betroffenen jungen Leser transparent zu machen. Wie viele unterschiedliche
Ausprägungen dieses Thema haben kann, zeigt die Art, mit der im Einzelnen
vorgegangen wurde. So lassen sich folgende Gruppen unterscheiden:
! Erzählungen, die dokumentierten Fällen nachgehen,
! Erzählungen, die vor einem historischen Hintergrund spielen, deren Protagonisten aber fiktiv sind,
! Erzählungen, in denen Kinder oder Jugendliche die Hauptrolle spielen,
! Erzählungen, die in einer frei erfundenen mythischen Welt und in einem
nicht näher bestimmbaren bäuerlichen Milieu spielen,
! Erzählungen, die das Vorhandensein übernatürlichen Gaben und den
Glauben an deren Vererbbarkeit in den Vordergrund stellen,
! Erzählungen, die das Thema Hexenverfolgung an einem Schwesternkonflikt festzumachen versuchen,
! Erzählungen, in denen die Restriktionen einer Religionsgemeinschaft die
Folie für die Verfolgung bilden,
! Erzählungen, in denen nur mittelbar betroffene Kinder und Jugendliche
im Vordergrund stehen.
! Erzählungen, die Ereignisse aus dem 30jährigen Krieg und dessen Begleiterscheinungen zum Auslöser eines Traumas werden lassen.
65 Voltmer, Rita / Irsigler, Franz: „Die europäischen Hexenverfolgungen in der Frühen Neuzeit: Vorurteile, Faktoren, Bilanzen“. In: Hexenwahn: Ängste der Neuzeit, Begleitband
zur gleichnamigen Ausstellung. Berlin 2002, S. 30.
Verschiedene Arten, mit dem Thema Hexenverfolgung umzugehen
21
Wie bereits gesagt, gehen insbesondere englische und skandinavische Autoren
anders mit dem Thema um als deutsche. Ihnen geht es nicht so sehr um die Darstellung historischer Gegebenheiten als vielmehr um den Versuch, jungen Lesern eine Vorstellung von den Befindlichkeiten der Menschen in der Frühen
Neuzeit zu geben – entsprechend der These des französischen Historikers Jean
Delumeau66, dass „die Häufung von Aggressionen, die auf die abendländischen
Völker von 134867 bis zu Beginn des 17. Jahrhunderts einstürzten, (…) in allen
gesellschaftlichen Schichten eine tief greifende seelische Erschütterung [bewirkte], von der sämtliche Ausdrucksformen jener Zeit, Texte und Bilder Zeugnis ablegen. Ein Land der Angst entstand, in dessen Innerem eine Kultur sich
unbehaglich fühlte und das sie mit krankhaften Phantasiegebilden bevölkerte.“
66 Delumeau, Jean: Angst im Abendland: Die Geschichte kollektiver Ängste im Europa des
14. bis 18. Jahrhunderts, Reinbek 1985, Bd. 1, Erstausgabe: Paris 1978, S. 39.
67 Europaweite Pestepidemie mit ca. 25 Mio. Toten.
Einleitung
22
4.
Forschungsbericht
Die Demontage des Helden
„Bis in die [19]50er Jahre hinein“, schreibt Barbara Scharioth, „war die Geschichtsschreibung geprägt vom Glauben an die Objektivität ermittelbarer Fakten über historische Abläufe.“68 Was sie jedoch schon als Jugendliche bei der
Lektüre historischer Romane vermisste, waren Helden, die ihr als Vorbilder dienen konnten. Das änderte sich Ende der 1970er Jahre, als zumindest Alltagsgeschichte mehr und mehr Eingang in das geschichtserzählende Jugendbuch fand.
Nun war Geschichte nicht länger Sache der Herrschenden, sondern erzählte von
ganz normalen Menschen und damit auch von Jugendlichen, wenn letztere auch
noch längst nicht tragende Rollen inne hatten. Von armen alten Frauen, die als
Hexen verfolgt wurden, erfährt man zu diesem Zeitpunkt in Jugendbüchern nur
am Rande, zumal sie sich kaum als Identifikationsfiguren für junge Leser eigneten. Sie werden deshalb von Scharioth auch nicht weiter erwähnt.
Vom Geschichtsbewusstsein Jugendlicher
Von einem ganz anderen Standpunkt aus betrachtet Elisabeth Ott69 die Wirkung
des geschichtserzählenden Jugendromans auf junge Leser. Zunächst einmal hält
sie fest, dass Untersuchungen gezeigt haben, dass „der schulische Geschichtsunterricht offensichtlich keine ernstzunehmende Instanz ist, die zur Bildung von
Geschichtsbewusstsein beiträgt.“70 Sie beruft sich dabei auf die Untersuchung
von Erich Schön zum Wandel jugendlicher Lesekultur aus dem Jahre 1987 und
folgert: „Die Vergangenheit hat – so scheint es – an Erklärungswert und Hilfe
für die Gegenwart stark eingebüßt.“71 Hierin, so Ott, liegt die große Chance der
geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur, denn „differenzierte Erzählstrukturen schaffen (…) Distanzierungen, ohne das Lesevergnügen stören zu
müssen.“72 Von den Ereignissen in der Frühen Neuzeit, zu denen auch die
Hexenverfolgung zählt, ist dabei überhaupt noch nicht die Rede. Denn das
Hauptinteresse der geschichtserzählenden Jugendromane, so Ott, lag in den Jah-
68 Scharioth, Barbara: „Die Demontage des Helden“ In: Doderer, Klaus (Hrsg.): Neue
Helden in der Kinder- und Jugendliteratur, Weinheim 1986, S. 39-46.
69 Ott, Elisabeth: „Geschichte in jugendlichen Lebenswelten“. In: Ewers, Hans-Heino
(Hrsg.): Jugendkultur im Adoleszenzroman, Weinheim, München 1994, S. 131-138.
70 Ott, S. 134.
71 Ott, S. 137.
72 Ott, S. 141.
Forschungsbericht
23
ren nach dem Zweiten Weltkrieg bei der römischen Geschichte, dem Mittelalter
und der Französischen Revolution.73
Liebenswerte Hexen
Hexen, so scheint es zur selben Zeit, haben eine radikale Wandlung durchgemacht. Sie sind nun nicht mehr alte bemitleidenswerte Frauen, die ein schweres
Schicksal erleiden oder den Kindern Angst einjagen, sondern liebenswerte,
amüsante Figuren, die jungen Lesern Mut machen und sie zum Streiche Ausdenken animieren. Ausführlich hat sich Susanne Barth74 mit Otfried Preußlers
Kleiner Hexe75 befasst, die schon bald viele weitere Nachfolgerinnen bekommen
sollte.
Die historische Hexe
Das Interesse an der historischen Hexe und ihrem Schicksal wird jedoch wenig
später erneut durch einen Geschichtsdidaktiker76 geweckt. Zwei erfolgreiche
Hexenerzählungen77 haben ihn überzeugt, und er regt an, sie im Unterricht zu
lesen. Seine Begründung: „… wenn in Romanen ferne historische Epochen in
einzelnen Menschen und deren Schicksalen greifbar [werden] und dem heutigen
Leser zahlreiche Identifikationsmöglichkeiten geboten werden“78, kann damit in
noch ganz anderer Weise das Interesse der Schüler für historische Entwicklungen geweckt werden. Allerdings müsse gerade bei historischen Jugendromanen,
so Henne, mehr als bislang üblich, auf literarische Qualität geachtet werden.
Auch Michael Sauer79 stellt eine große Anzahl von Neuerscheinungen geschichtserzählender Jugendliteratur fest und plädiert dafür, diese auch für den
Unterricht zu nützen. Hintergrund sind für ihn „die neueren Debatten über das
Erzählen“ im Geschichtsunterricht.80 Gerade „für das Fach Geschichte“, so
Sauer, „ist Imagination wichtiger als für die meisten anderen Schulfächer,
73 Ott, S. 131.
74 Barth, Susanne: „Aufmüpfig und doch brav“. In: Hurrelmann, Bettina (Hrsg.): Klassiker
der Kinder- und Jugendliteratur, Frankfurt/M. 1995, S. 419-438.
75 Erstmals erschienen 1957.
76 Henne, Hermann: „Das Mittelalter war finster und rau: Rittertum und Hexenverfolgung
im historischen Jugendroman“. In: Praxis Schule 5-10, Braunschweig 1997, S. 18-20.
77 Es handelt sich dabei um Hexenfieber von L. E. Andersen, das zu diesem Zeitpunkt
bereits in der 14. Auflage vorliegt und Isolde Heynes Hexenfeuer.
78 Henne, S. 18.
79 Sauer, Michael: „Historische Kinder- und Jugendliteratur“. In: Geschichte lernen 12,
H. 71, Seelze 1999, S. 18-26.
80 Namentlich beruft er sich dabei auf Holger Hasberg, Joachim Rohlfes, Bodo von Borries
und Rolf Schörken.
Einleitung
24
[denn] sie lässt vor dem inneren Auge des Lesers Vorstellungswelten entstehen,
in denen er an historischen Ereignissen und Lebenssituationen, an Handeln,
Denken und Fühlen der Menschen unmittelbar teilhat, emotionale Beziehungen
zu ihnen aufbaut.“81
Auch er mahnt die literarische Qualität dieser Werke an und verlangt, dass
Realität und Fiktion klar zu unterscheiden sein müssen. Was ihm vor allem bei
den Erzählungen zur historischen Hexenverfolgung auffällt, ist „die Hinwendung zu alltags- und sozialgeschichtlichen Aspekten.“82 Doch sollten die Darstellungen, so Sauer, so verfasst sein, dass sie dazu einladen, „gegenwärtiges
Denken und Handeln zu überprüfen und gegebenenfalls zu verändern.“83
Hexenfiguren der modernen Kinder- und Jugendliteratur
Eine Vielzahl von magischen Figuren stellt Adrienne Hinze84 in der heutigen
Kinderliteratur fest. Sie heißen zwar nicht immer „Hexe“, haben aber ihre
Vorläufer in den Hexen der Romantik, denen ebenso Zauberkräfte nachgesagt
wurden. Um diesem Phänomen auf den Grund zu gehen, bezieht sie in ihre
Untersuchungen auch zwei Werke85 der geschichtserzählenden Kinder- und
Jugendliteratur mit ein. Am Ende kommt sie zu dem Schluss, dass es sich bei
den heutigen Hexenfiguren um ein Konstrukt handelt, das aus verschiedenen
Abspaltungen weiblicher Attribute entstanden ist. (Näheres dazu in Kap. V, 4).
Endgültig einen Umschwung, was die Bevorzugung männlicher Protagonisten in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur angeht, konstatiert Gabriele von Glasenapp86 wenig später, indem sie festhält: „Die Auffassung
von Geschichte als einem Ort gesellschaftspolitischer Prozesse erlaubt dem historischen Roman nun auch die Hinwendung zu den bisherigen Randgruppen
der Geschichte: den Außenseitern wie Hexen, ‚Zigeunern‘, Juden, Frauen …“87
Sie warnt jedoch gleichzeitig vor einer „falschen zeitlichen Einordnung von
Vorstellungen, Sachen und Personen“.88
81
82
83
84
85
86
87
88
Sauer, S. 19.
Sauer, S. 22.
Sauer, S. 25.
Hinze, Adrienne: Moderne Hexen in der Kinder- und Jugendliteratur der Gegenwart,
Frankfurt/M. 1999.
Es handelt sich dabei um die beiden Erzählungen Hexenfeuer (1997) von Isolde Heyne
und Hexenprobe (1991), Bd. 1 der Trilogie von Maj Bylock.
Glasenapp, Gabriele von: „Die Zeitalter werden besichtigt. Zur Inszenierung von Geschichte in der neueren historischen Kinder- und Jugendliteratur“. In: Jahrbuch für
Kinder- und Jugendliteraturforschung 2000/2001, Stuttgart, Weinheim 2001, S. 95-115.
Glasenapp, S. 107.
Ebd., S. 108.
Forschungsbericht
25
Auch Margit-Ute Burkhardt stellt in ihrer Dissertation89 aus dem Jahre
2004 eine auffällige Zunahme von Hexenromanen in der geschichtserzählenden
Kinder- und Jugendliteratur fest und untersucht sie nach den Kategorien Paratextualität, Handlungsschemata, Figurenzeichnung, Erzählstruktur und Leserbeeinflussung, um am Ende festzustellen, „dass alle fünf [untersuchten] Werke
ähnlich konstruiert erscheinen.“90 Übersetzungen aus anderen europäischen Ländern zu dem Thema hat sie jedoch bewusst nicht mit einbezogen.
Hexenerzählungen als eigene Gruppe innerhalb der geschichtserzählenden
Kinder- und Jugendliteratur
Holger Zimmermann schließlich widmet in seiner umfassenden Darstellung der
geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur91 den Erzählungen zur
historischen Hexenverfolgung ein eigenes Kapitel92 und folgert, dass die Konjunktur dieses Themas auf dem Buchmarkt wahrscheinlich eine Folge der in den
1990er Jahren besonders aktiven Hexenforschung ist. Die Mädchen- und Frauenfiguren in diesen Erzählungen gehören jedoch nach seinen Worten „mehrheitlich zum Typus der Opferheldinnen“.93 „Kennzeichen dieses Rollentypus ist“, so
Zimmermann, „dass abweichendes Verhalten – etwa Hilfsbereitschaft, Selbstbestimmung oder eigenständige Gestaltung der Sexualität – die Frauen in die Isolation führt.“94
Hexenerzählungen, international
Auf ein spezielles Charakteristikum heutiger Kinder und Jugendliteratur macht
Gabriele von Glasenapp in ihrer neuesten Publikation95 aufmerksam. Kinderund Jugendliteratur war, nach ihren Worten, im 19. Jahrhundert eine vordringlich deutsch(-national) ausgerichtete Textsorte.
89 Burkhardt, Margit-Ute: Hexengeschichte – Hexengeschichten: Strategien des Erzählens
von Hexenliteratur in der deutschen Jugendliteratur des 20. Jahrhunderts, Konstanz
2004, nur als pdf im Netz.
90 Burkhardt, S. 187.
91 Zimmermann, Holger: Geschichte(n) erzählen: Geschichtliche Kinder- und Jugendliteratur und ihre Didaktik, Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles, New York, Oxford,
Wien 2004.
92 Zimmermann, S. 186-200.
93 Kehlenbeck, Corinna: Auf der Suche nach der abenteuerlichen Heldin, S. 145.
94 Zimmermann, S.198 f.
95 Glasenapp, Gabriele von: „Was ist Historie? Mit Historie will man was. Geschichtsdarstellungen in der neueren Kinder- und Jugendliteratur“. In: Glasenapp, Gabriele von/
Wilkending, Gisela: Geschichte und Geschichten. Frankfurt/M., Berlin, Bern, Bruxelles,
NewYork, Oxford, Wien 2005, S. 15-40.
26
Einleitung
„Heute hingegen“, so von Glasenapp, „trägt die geschichtserzählende Literatur einen überwiegend transnationalen Charakter, d.h. Autorinnen und Autoren unterschiedlichster Nationalitäten verhandeln nun auch die Vergangenheit
anderer Nationen, Kulturkreise, Ethnien und Minderheiten. Aus Geschichte sind
Geschichten geworden …“96 Und noch etwas ist ihr aufgefallen: Geschichtserzählungen in der Kinder- und Jugendliteratur sind heute „in erster Linie Unterhaltungsliteratur.“97 Das hängt mit ihrem hybriden Charakter zusammen, in
dem sich Anteile vieler Genres wiederfinden: des Abenteuerromans, der Liebesgeschichte, des Kriminalromans, der Tagebucherzählung und der Adoleszenzgeschichte, um nur einige zu nennen. Dies trifft besonders auch auf die Hexenerzählungen zu und hat, nach den Worten von Glasenapps, eine stärkere
Ausrichtung des Genres auf weibliche Leser zur Folge.98
Bedeutung der Identifikationsfigur im geschichtserzählenden Jugendroman
Wie wichtig für junge Leser von geschichtserzählenden Werken Identifikationsfiguren sind, ist das Thema Holger Zimmermanns im gleichen Band.99 „Auf die
Kritik an ihren oftmals eindimensionalen Heldenfiguren haben die Autoren (…)
inzwischen reagiert und eine große Anzahl vielschichtiger Helden entwickelt.“100 Zwei Typen von Erzählungen fallen dabei, so Zimmermann, besonders
auf: der Abenteuerroman und der Adoleszenzroman. Zimmermann warnt aber
zugleich davor, gegenwärtige Vorstellungen von Kindheit und Erwachsenwerden einfach auf das Mittelalter zu übertragen, denn „eine zu große Annäherung
an gegenwärtige Identifikationsmuster kann wiederum das historisch korrekte
Bild einer Epoche verfälschen.“101 Es ist deshalb unabdingbar, so der Wissenschaftler, dass Autoren diese Diskrepanz in ihren Erzählungen deutlich machen.
Für weibliche Protagonisten in Abenteuerromanen, aber ebenso in Hexenerzählungen102 wurde deshalb durch Michael Krejci der Begriff der „unzeitgemäßen
Heldin“103, d.h. einer Heldin, die nicht in die Zeit passt, geprägt. Dass Angebote
dieser Art bei jungen Lesern „Neugier wecken“ und „zu einer freiwilligen wei-
96
97
98
99
Glasenapp, S. 31.
Ebd., S. 33.
Ebd., S. 34.
Zimmermann, Holger: „Adoleszenz in Antike und Mittelalter? Die Funktion der
Identifikationsfigur in der geschichtserzählenden Kinder- und Jugendliteratur“. In:
Glasenapp/Wilkending: Geschichte und Geschichten, Frankfurt/M. u.w. 2005, S. 57-72.
100 Ebd., S. 61.
101 Ebd., S. 67.
102 Anmerkung der Verfasserin vorliegender Arbeit.
103 Zit. nach Zimmermann, S. 67.
Forschungsbericht
27
tergehenden und intensiveren Beschäftigung mit dem Gegenstand“ anregen, ist
die andere Seite der Medaille, so Zimmermann.104
Hexenprozesse als literarisches Thema
Hexenprozesse als literarisches Thema sind eine Erscheinung des nachromantischen Historismus, schreibt Waltraud Maierhofer in ihrer 2005 erschienenen
Untersuchung Hexen – Huren – Heldenweiber: Bilder des Weiblichen in
Erzähltexten über den Dreißigjährigen Krieg105 und ergänzt: „Im Laufe des
19. Jahrhunderts (…) wurden gerade nicht die realen historischen Frauen entdeckt, sondern es werden nationalen Helden zeitgenössische bürgerliche Weiblichkeitsideale an die Seite gestellt oder Außenseiterinnen der Vergangenheit
(besonders die ‚Hexe‘) exotisiert und damit nochmals aus der bürgerlichen Gesellschaft ausgeschlossen und exemplarisch bestraft.“106 Das verkehrt sich ins
Gegenteil im 20. Jahrhundert, als, auf Grund eines fundamentalen Missverständnisses historischer Fakten, Hexen plötzlich zu einem beliebten Motiv als
Vorbilder unabhängiger Frauen wurden.107 Doch Maierhofer führt auch Gegenbeispiele an und hält fest: „Insgesamt zeigt sich, dass historische Jugendromane
bei der Revision von Weiblichkeitsmustern und Hinwendung dazu, Frauengeschichte adäquat einzubeziehen, durchaus ernst zu nehmen sind.“108 Und sie
ergänzt, dieses Mal in Verbindung mit Walter Ummingers umfangreicher Darstellung des Lebens Friedrichs von Böhmen (1596-1632)109: „Das Thema der
Hexenverfolgungen wird zwar mit einbezogen, verselbständigt sich aber nicht
zu reißerischen Gruselgeschichten, sondern wird aus verschiedenen Perspektiven beleuchtet und fungiert als ein weiteres Indiz für die umfassende Krise.“110
104 Zimmermann, S. 68.
105 Maierhofer, Waltraud: Hexen - Huren - Heldenweiber, Köln, Weimar, Wien 2005,
S. 206.
106 Ebd., S. 31.
107 Ebd., S. 369.
108 Ebd., S. 379.
109 Umminger, Walter: Das Winterkönigreich. Stuttgart 1994.
110 Ebd., S. 391.
Einleitung
28
5.
Darstellung der Methode und der Analysekriterien
In den vorhergehenden Abschnitten wurde deutlich, dass verschiedene Umstände dazu beigetragen haben, dass ab den 1970er Jahren vermehrt Erzählungen für Kinder und Jugendliche zur historischen Hexenverfolgung auf dem
Buchmarkt erschienen. Ziel des nachfolgend beschriebenen Forschungsansatzes
wird es sein, die Eigenheiten dieser Art von Erzählungen u.a. im Vergleich zum
Hexenroman für Erwachsene herauszuarbeiten. Zugleich soll die Vielfalt der
Möglichkeiten, mit diesem Thema umzugehen, näher beleuchtet werden, um auf
diese Weise deutlich zu machen, dass Hexenerzählungen inzwischen zu einem
eigenen Genre geworden sind.
In der Analyse steht die Frage im Vordergrund, inwieweit es den Autoren
gelingt, ihren Lesern ein geschichtlich adäquates Bild der historischen Ereignisse zu vermitteln. Mein besonderes Augenmerk gilt dabei eventuell auftauchenden Klischeevorstellungen, die ähnlich wie im Hexenroman für Erwachsene
auch in den geschichtserzählenden Büchern für Kinder und Jugendliche zu dem
Thema zu finden sind.
Die Analyse umfasst vier nach Zeiträumen unterschiedene Textgruppen,
in denen durchschnittlich drei bis vier Erzählungen mit Blick auf ihre Erscheinungszeit untersucht werden. Ausgangspunkt ist die Hypothese, dass sich das
Gattungsmuster der Hexenerzählung, so wie wir es heute kennen, ab den 1970er
Jahren erst allmählich entwickelte. Gab es in den ersten Erzählungen noch keine
genaueren Schilderungen der Umstände der Verfolgung und fehlten die für
junge Leser wichtigen Identifikationsfiguren zur Einfühlung in die Situation, so
lässt sich ab dem Ende der 1980er Jahre von einem eigenen Muster Hexenerzählung für Kinder und Jugendliche sprechen, in denen die Figur der Hexe die
zentrale Rolle einnimmt.
Die Absicht, historische Voraussetzungen und Ursachen der Hexenverfolgung zu beschreiben und diese zugleich im Erleben der Menschen zu veranschaulichen, scheint auf den ersten Blick gewagt und dürfte die literarischen
Möglichkeiten eines geschichtserzählenden Kinder- und Jugendromans übersteigen, und dennoch ist es einer Reihe von Autoren gelungen, mittels Figurenauswahl, Figurendarstellung und Handlungsführung eine Reihe historisch
relevanter Bedingungen und Konflikte in ihren Erzählung so ins Bild zu setzen,
dass junge Leser sehr wohl einen Eindruck von den Lebensbedingungen der
Menschen in der Frühen Neuzeit erhalten und zugleich verstehen, wie es zu
diesen massiven Verfolgungen kommen konnte bzw. was diese ausgelöst hat.
Darstellung der Methode und der Analysekriterien
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Die Analysekriterien gliedern sich dabei in die drei Gruppen:
1. Sachlich-historische Kriterien:
Welches Geschichtsbild wird vermittelt?
Erfahren die jungen Leser etwas über die historischen Hintergründe der
Hexenverfolgung?
Geben der gewählte Ausschnitt bzw. das dargestellte Problem historisch
relevante Konflikte, Strukturen oder Zusammenhänge wieder?
Wenn ja, mit welchen Mitteln geschieht dies?
Handeln die fiktiven oder historisch bezeugten Personen in einem Umfeld,
das den historischen Gegebenheiten entspricht?
Ermöglichen sie den Blick auf bestimmte Lebens- und Machtverhältnisse?
2. Darstellerische Kriterien:
Werden gängige Klischees vermieden?
Wird das Thema Hexenverfolgung aus wechselnden Perspektiven beleuchtet?
Ist die Behandlung des Stoffes dem Thema angemessen?
Ist klar zu erkennen, dass die Menschen in der Frühen Neuzeit über ein
anderes Weltbild verfügten?
Ist ein Gegenwartsbezug zu spüren?
Wie geht die Erzählung mit den Themen Grausamkeit und Gewalt um?
Wie wird die Andersartigkeit der Lebensbedingungen und der sich daraus
ergebenden Sinnesart vermittelt?
3. Formale Kriterien:
Welche Erzählstrukturen liegen vor?
Sind sie dem Thema angemessen?
Ermöglichen sie dem Leser/der Leserin die kritische Auseinandersetzung mit
dem Text?
Erlauben sie Distanzierungen?
Befriedigen sie das Bedürfnis nach Spannung und Unterhaltung?