Lehren und Lernen für die Zukunft
Transcription
Lehren und Lernen für die Zukunft
33303.book Seite 1 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Beiträge zu "Selbstständige Schule" Herausgegeben von Projektleitung: "Selbstständige Schule" Wilfried Lohre, Ulrich Kober, Petra Madelung, Detlev Schnoor, Katrin Weisker (Hrsg.) Christoph Höfer Petra Madelung Lehren und Lernen für die Zukunft Unterrichtsentwicklung in selbstständigen Schulen 1. Auflage Bestellnummer 33303 33303.book Seite 2 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Selbstständige Schule.nrw ist das gemeinsame Projekt des Ministeriums für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und der Bertelsmann Stiftung. www.selbststaendige-schule.nrw.de www.bildungsverlag1.de Unter dem Dach des Bildungsverlages EINS sind die Verlage Gehlen, Kieser, Stam, Dähmlow, Dümmler, Wolf, Dürr + Kessler, Konkordia und Fortis zusammengeführt. Bildungsverlag EINS Sieglarer Straße 2, 53842 Troisdorf ISBN 978-3-427-33303-6 © Copyright 2006: Bildungsverlag EINS GmbH, Troisdorf Das Werk und seine Teile sind urheberrechtlich geschützt. Jede Nutzung in anderen als den gesetzlich zugelassenen Fällen bedarf der vorherigen schriftlichen Einwilligung des Verlages. Hinweis zu § 52a UrhG: Weder das Werk noch seine Teile dürfen ohne eine solche Einwilligung eingescannt und in ein Netzwerk eingestellt werden. Dies gilt auch für Intranets von Schulen und sonstigen Bildungseinrichtungen. 33303.book Seite 3 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 | 3 „[…] da es sich so verhält, dass die Wissenschaften, recht betrieben, uns letzten Endes nichts anderes als Lebensklugheit, Redlichkeit und Entschlußkraft lehren können, wollte man die Kinder von Anfang an befähigen, sie auf dem Boden der Wirklichkeit zu erlernen: nicht übers Hörensagen, sondern kraft Erprobung im Handeln. So wurden die Zöglinge auf lebendige Art geformt und zurechtgebogen, weniger durch Weisungen und Worte als durch Vorbilder und Taten, damit das Wissen kein bloßer Ankauf ihrer Seele bleibe, sondern ihr zum natürlichen, ihr ganzes Wesen und Wirken prägenden Eigentum werde.“ Michel de Montaigne (1533–1592), Essais, Frankfurt a. M. 1998, S. 77. „Von klein auf schreit man uns die Ohren voll, als ob man unablässig in einen Trichter nachschütte, und nichts anderes haben wir zu tun, als immer wieder nachzusprechen, was man uns vorgesprochen hat. Ich möchte, dass der Erzieher es besser mache und von Anfang an die seinen Händen anvertraute Seele je nach Leistungskraft ihr Können vorführen und selber die Gegenstände richtig einschätzen, unterscheiden und wählen lasse: manchmal mit und manchmal ohne seine Wegweisung. Ich will nicht, dass er allein sich etwas ausdenke und davon rede, ich will, dass er seinem Zögling zuhöre, wenn der seinerseits redet. […] Bei den Schulmeistern, die unserem heutigen Brauch getreu mit ein und demselben Unterrichtstoff und nach ein und demselben Maß eine Vielzahl junger Geister von so unterschiedlichen Maßen und Begabungen unter ihre Fuchtel nehmen, ist es kein Wunder, wenn sich in der ganzen Herde Kinder kaum zwei oder drei finden, die aus solcher Erziehung einen nennenswerten Gewinn davontragen.“ Michel de Montaigne (1533–1592), Essais, Frankfurt a. M. 1998, S. 83 „Unsere pedantische Lehrsucht bemüht sich fortwährend, die Kinder das zu lehren, was sie allein viel besser lernen, übersieht aber dasjenige, was wir allein sie lehren können.“ „Darf ich es wagen, hier die oberste, wichtigste und nützlichste Regel aller Erziehung darzulegen? Sie heißt nicht: Zeit gewinnen, sondern: Zeit verlieren!“ Jean-Jacques Rousseau (1712–1778), Emile ou de l’education, zitiert nach Scheuerl, H., Hrsg., Lust an der Erkenntnis: Die Pädagogik der Moderne, München 1992, S. 52 bzw. S. 54 „§12 Durch langes Belehren, dem kein Schritt des Schülers abgemessen genug ist, können Schulleute von Verstand auf die Frage kommen: ‚Wie will der arme Scholar einmal ohne unser Lenken recht gehen, da er schon bei demselben irreläuft?‘ […]“ Jean Paul (1763–1825), Antrittsrede im Johanneum-Paulinum; oder Erweis, dass Erziehung wenig wirke, zitiert nach Scheuerl, H., Hrsg., Lust an der Erkenntnis: Die Pädagogik der Moderne, München 1992, S. 122 33303.book Seite 4 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 4 | „Er ist […] auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt. […] Der Schüler ist reif, wenn er so viel bei andern gelernt hat, dass er nun für sich selbst zu lernen im Stande ist.“ Wilhelm von Humboldt (1767–1835), Königsberger Schulplan, zitiert nach Scheuerl, H., Hrsg., Lust an der Erkenntnis: Die Pädagogik der Moderne, München 1992, S. 142 „Dem Kind gehört der erste Platz, und der Lehrer folgt ihm und unterstützt es. Er muß auf seine eigene Aktivität zugunsten des Kindes verzichten. Er muß passiv werden, damit das Kind aktiv werden kann.“ Maria Montessori (1870–1952), Grundgedanken der Montessori-Pädagogik, Hrsg.: Oswald, P./Schul-Benesch, G., 15. Aufl., Freiburg 1997, S. 40 „Guter Unterricht ist ein Unterricht, in dem mehr gelernt als gelehrt wird.“ Titel eines Aufsatzes von Franz E. Weinert (1930–2001) in: Freund, J., u. a. (Hrsg.), Guter Unterricht – Was ist das? Aspekte von Unterrichtsqualität, Wien 1998, S. 7–18 „Bildungsreformen schlagen hauptsächlich aus zwei Gründen fehl: Zum einen sind die Probleme komplex und hartnäckig. Es ist schwer, sich wirksame Lösungen einfallen zu lassen, und noch schwerer sie tatsächlich in die Praxis umzusetzen. Der zweite Grund ist, dass die verwendeten Strategien nicht die Dinge in Angriff nehmen, die wirklich wichtig wären. Sie sind weder auf eine grundlegende Unterrichtsreform noch auf die damit verbundene Entwicklung einer neuen pädagogischen Teamkultur ausgerichtet.“ Michael Fullan (geb. 1940), Die Schule als lernendes Unternehmen: Konzepte für eine neue Kultur in der Pädagogik, dt., Stuttgart 1999, S. 85 33303.book Seite 5 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 | 5 Inhalt Vorwort . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 7 1 Warum dieses Buch und für wen?. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 11 2 Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was uns bleibt: lebenslang lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Bildungsziele der Schule: Wissen und Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Was wir über Lernen wissen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernen und Unterricht. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 15 15 20 23 27 2.1 2.2 2.3 2.4 3 3.1 3.2 Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Worum es geht: Lernkompetenz erwerben . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ursprungskonzepte und ihre Weiterentwicklung in den Projekten "Schule & Co." und "Selbstständige Schule" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.1 Grundlagentrainings für Schülerinnen und Schüler . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.3.2 Selbstständigkeit: Über Lernspiralen zum selbst gesteuerten Lernen (SegeL) . . . 3.4 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.1 Lehrerinnen und Lehrer als Lernende . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 3.4.2 Lehrerinnen und Lehrer brauchen ein neues Rollenverständnis und vielfältige Kompetenzen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4 4.1 Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lehrerteams: Fach, Klasse, Jahrgang, Bildungsgang (Unterrichtsentwicklung und Personalentwicklung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.1 „Fahrplan“ zur Unterrichtsentwicklung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.2.2 Fortbildung für Steuergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3 Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 4.3.1 Fortbildung für Schulleiterinnen und Schulleiter . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 5 5.1 5.2 5.3 5.4 5.5 Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Standards . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Besonderheiten der Schulstufen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Aufbau des Fortbildungsprogramms . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Trainerinnen und Trainer . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Ausbilderinnen und Ausbilder . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 34 34 36 42 42 53 58 58 60 71 77 79 82 91 93 95 98 98 100 101 107 110 33303.book Seite 6 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 6 | Inhalt 6 6.1 6.2 6.3 6.4 6.4.1 6.4.2 6.4.3 6.4.4 6.4.5 Regionale Unterstützung und Steuerung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Die regionale Steuergruppe . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Das regionale Bildungsbüro . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulgespräche . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KURS als Beispiel für einen Baustein der regionalen Bildungslandschaft . . . . . Kooperationsvereinbarungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kooperationsmanager oder -berater und Steuergruppen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . KURS im Unterricht . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Nachhaltigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsentwicklung und beruflicher Erfolg. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 112 116 119 119 120 121 123 124 127 128 7 7.1 7.2 7.3 7.4 Anschlussfähigkeit . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsentwicklung und Neue Medien . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsentwicklung und Sprachförderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsentwicklung und individuelle Förderung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Unterrichtsentwicklung, fachliche Fortbildung und standardorientierte Unterrichtsentwicklung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 129 129 130 131 8 8.1 8.1.1 8.1.2 8.2 8.2.1 8.2.2 8.2.3 8.3 Qualitätssicherung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulen evaluieren intern . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Evaluationsberaterinnen und -berater. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . SEIS . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Schulen werden extern evaluiert . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Lernstandserhebungen. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Kernlehrpläne und standardisierte Abschlussprüfungen . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Qualitätsanalyse bzw. Schulinspektion. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . Regionale und landesweite Qualitätssicherung der Trainings . . . . . . . . . . . . . . . 135 135 135 136 139 139 143 145 149 9 Schlussbemerkung. . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 151 133 10 10.1 10.2 Anhang . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Lehren und Lernen für die Zukunft . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 155 Kooperationsvertrag vom 22.8.2001 Anlage zum Kooperationsvertrag vom 13.12.2005 . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 177 10.3 Kompetenzprofil für Schulleiterinnen und Schulleiter selbstständiger Schulen 187 10.4 Module für Schulleiterfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 191 10.5 Module für Steuergruppenfortbildung . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 196 10.6 Literaturverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 200 Die Autoren . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 209 Stichwortverzeichnis . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . . 210 33303.book Seite 7 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Vorwort | 7 Vorwort Auf die Frage, worauf es ankomme, hat Bill Clinton die berühmte Antwort gegeben: „It’s the economy, stupid!“ Für die Schule ließe sich das übersetzen mit: „Der Unterricht ist das Entscheidende!“ Menschen lernen überall: in der Familie, im Beruf, im Spiel, im Kindergarten, in der Musik, in der Kirche … – aber die Schule ist der Ort, wo die gesamte nachwachsende Generation systematisch und (hoffentlich) nachhaltig das lernt, was sie für das Leben in unserer demokratischen Gesellschaft nach deren Maßgabe braucht. Und Unterricht ist das Kerngeschäft von Schule! Deshalb ist das zentrale Ziel des Projektes “Selbstständige Schule“ die Verbesserung der Qualität schulischer Arbeit und insbesondere des Unterrichts. Schulen verbessern ihr internes Management, sie entwickeln eine neue Führungskultur, sie lernen sich selbst zu evaluieren, sie bewirtschaften ihre Ressourcen eigenverantwortlich, sie organisieren ihren Unterricht neu, sie verändern die Mitwirkungs- und Partizipationsstrukturen, sie bilden sich fort. Das alles aber macht nur Sinn, wenn es dazu dient, dass Schülerinnen und Schüler besser lernen können. Im Zentrum der gesamten Anstrengungen steht deshalb die Weiterentwicklung des Unterrichts. Die empirische Schulforschung, seit PISA auch in Deutschland anerkannt, zeigt, dass Schule nicht dann automatisch besser wird, wenn sich die Rahmenbedingungen ändern. Was aber ist guter Unterricht? Darüber hat es im Projekt einen intensiven Diskussionsprozess gegeben, in dem die schulpolitischen Vorgaben ebenso eine Rolle gespielt haben wie die Erkenntnisse der Unterrichtsforscher, das Wissen der Schulpraktiker und die Erfahrungen der Fortbildner. Die Ergebnisse wurden in der Broschüre „Lehren und Lernen für die Zukunft – Guter Unterricht und seine Entwicklung im Projekt ‘Selbstständige Schule‘“ zusammengefasst und gehen auch in den Qualitätsrahmen der Qualitätsanalyse NRW ein. Dazu wurde ein Trainingsprogramm weiterentwickelt und erprobt, das seine Wurzeln im Vorläuferprojekt “Schule & Co.“ hatte und die wichtigsten aktuellen Fortbildungsansätze auf diesem Gebiet integriert. Es geht dabei darum, Unterricht auf allen Schulstufen und in allen Schulformen so zu gestalten, dass die Kinder und Jugendlichen intelligentes Wissen und Lernkompetenz erwerben. Sie sollen am Ende ihrer Schulzeit so selbstständig und motiviert lernen, dass sie das ihr Leben lang tun können und wollen; denn nur so werden sie in der Wissensgesellschaft bestehen können. Erste Erfahrungen, die in Nordrhein-Westfalen und in fast allen anderen Bundesländern mit Schulinspektionen bzw. Qualitätsanalysen gewonnen 33303.book Seite 8 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 8 | Vorwort werden konnten, zeigen, dass in folgenden Bereichen schulischer Qualitätsarbeit Fortbildungsbedarf besteht: z z z z z z Diagnosefähigkeit Differenzierung im Unterricht und individuelle Förderung selbst gesteuertes Lernen Formen der Schüleraktivierung Lehrerkooperation und Teamarbeit Führungsverantwortung und Qualitätsmanagement Diese ersten Erfahrungen haben die beiden Projektträger, das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen und die Bertelsmann Stiftung, in ihrer gemeinsamen Überzeugung bestätigt, dass das im Projekt erarbeitete und erprobte Konzept der Unterrichtsentwicklung ein wichtiger zukunftsorientierter Baustein in der Umgestaltung des nordrhein-westfälischen Schulsystems ist. Die mit diesem Konzept verbundenen Fortbildungen werden im Rahmen eines neuen Unterstützungssystems den seit August 2006 eigenverantwortlichen Schulen in NRW sukzessive angeboten. Dabei ist die Einführung eines „Lernzeitbudgets“ für die Schulen, die sich im Rahmen von Pädagogischen Tagen mit dem gesamten Kollegium in die Fortbildung begeben wollen, eine wichtige Voraussetzung, um die großen Anstrengungen auch mit Unterstützung der Eltern in Angriff nehmen zu können. Ein fundiertes Konzept liegt vor, ausgebildete Trainerinnen und Trainer stehen zur Verfügung, organisatorische Voraussetzungen wurden geschaffen und das Land NRW stellt entsprechende Ressourcen für Moderatorinnen und Moderatoren zur Verfügung. Damit wurden in der ersten Projekthälfte wesentliche Entwicklungsarbeiten für eine systematische und nachhaltige Unterrichtsentwicklung geleistet, sodass nach und nach alle Schulen des Landes in diesen Prozess einbezogen werden können. Das Projekt wird in seiner zweiten Hälfte an der Absicherung des Erreichten arbeiten, indem es sich schwerpunktmäßig der Gestaltung regionaler Bildungslandschaften widmet und erprobt, wie diese gesteuert und finanziert werden können. Der vorliegende Band beschreibt und begründet das Konzept der Unterrichtsentwicklung und stellt das dazugehörige Trainingsprogramm für Lehrerinnen und Lehrer sowie Schülerinnen und Schüler detailliert dar. Er erläutert aber auch, was eine Schule organisatorisch verändern muss, damit nach und nach wirklich alle Schülerinnen und Schüler von den Qualitätsverbesserungen profitieren, und wie solche Entwicklungen im regionalen Umfeld der Schule unterstützt werden können. Grundlage für die dargestellten Praxiserfahrungen in diesem Buch ist eine reflektierte Erfah- 33303.book Seite 9 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Vorwort | 9 rung in mehr als 450 Projekt- und Korrespondenzschulen des Landes Nordrhein-Westfalen und zahlreichen Schulen in anderen Bundesländern. Heribert Brabeck Wilfried Lohre Düsseldorf und Gütersloh, im Juli 2006 33303.book Seite 10 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 33303.book Seite 11 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 1 Warum dieses Buch und für wen? Bauchfrei … zap … gepierct … zap … der neueste Anastacia-Song im Hintergrund … zap … voll coole Dialoge … zap … rasante Schnitte ... zap … zap … zap … und jetzt ist Montagmorgen: keine Hintergrundmusik, ein voll uncool gekleideter Lehrer, keine schnellen Schnitte, sondern 45-MinutenTakt, keine Fernbedienung zum Wegzappen. Es geht aber um die gleiche Anstrengung: Da versucht jemand, die Aufmerksamkeit seines Publikums zu gewinnen, sie möglichst lange zu fesseln und bei seinen Zuhörern etwas zu erreichen. Nur tut der Akteur des Montagmorgens das mit Mitteln, die seinen Zuhörern in ihrem sonstigen Leben eher fremd geworden sind. Er erzählt, trägt vor, schreibt an die Tafel, führt ein „gelenktes“ Gespräch (in dem jede/r Einzelne der etwa 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer – wenn überhaupt – nur minuten- oder manchmal sogar nur sekundenlang reden darf). Im Vergleich zu seinem Konkurrenten vom Sonntag oder auch vom Montagnachmittag ist er ein eher schlechter Entertainer. Der Zuhörer kann ihn aber nicht wegzappen. Als Flucht bleibt nur das Weghören, Wegträumen, die Unaufmerksamkeit, die Ablenkung, das Stören. Eine Karikatur? Aber sicher! Es gibt Lehrerinnen und Lehrer, die begnadete Unterhalter sind, und es gibt Schülerinnen und Schüler, die konzentriert zuhören und auf diese Weise intensiv lernen können. Aber die Karikatur zeigt in ihrer Zuspitzung zweierlei: Die Schülerinnen und Schüler sind anders als vor 25 Jahren, vielleicht sogar anders als vor zehn Jahren. Sie sind von den Medien geprägt. Sie sind vielfach ebenso verwöhnt im Sinne von overprotected und hedonistisch wie andererseits oft sozial vernachlässigt. Die Schule funktioniert aber häufig noch in Routinen, die vor vielen Jahren ausgebildet, seitdem tradiert und sicher auch perfektioniert wurden. Unterricht ist – in seiner Hochform – ein komplexes, fein ziseliertes Werk, das auf einer wissenschaftlich fundierten Sachanalyse basiert, auf einigen Vermutungen über die Lerngruppe und auf fachdidaktischen bzw. -methodischen Überlegungen. Ein kleines Kunstwerk des Lehrens und der Lehrer als Unterrichtskünstler. Aber wie das so ist mit Kunstwerken! Sie gefallen oder gefallen nicht, sie sprechen an oder stoßen auf Ablehnung, sie lösen im Betrachter oder Zuhörer etwas aus oder lassen ihn unberührt. Sie zwingen ihn aber nicht unbedingt zur eigenen Aktivität. Der Zuhörer oder Betrachter konsumiert die Kunst. Um zurück zum Unterricht zu kommen: Der Belehrte wird nicht unbedingt zum Lerner. Und hier beginnt das Problem. Unsere Gesellschaft wird als Wissensgesellschaft bezeichnet. Es wird gesagt, in ihr habe nur derjenige eine Chance, der motiviert ist sich Wissen anzueignen, der weiß, wie man sich 33303.book Seite 12 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 12 | Warum dieses Buch und für wen? Wissen aneignet, der mit Wissen umgehen kann, der Techniken kennt, einzelne Wissenselemente zu verknüpfen, der bereit ist, das alles immer wieder zu tun – kurz jemand, der selbstständig und eigenverantwortlich lernen kann, dies gerne tut und bereit ist, es ein Leben lang zu tun. Johannes Rau, der Initiator der immer noch zukunftweisenden Empfehlungen der nordrhein-westfälischen Bildungskommission von 1995, sagte zu diesem Thema als Bundespräsident 2004: „Die alte Volksweisheit ‚Was Hänschen nicht lernt, lernt Hans nimmermehr‘ erhält angesichts des rasanten Wandels eine ganz neue Bedeutung. Heute könnte man sagen: ,Hänschen muss lernen, damit Hans weiterlernen kann.‘“1 Hänschen muss also das Lernen lernen. Wo sollte es diese Ausbildung erwerben, wenn nicht dort, wo die Fachleute für Lernen arbeiten (sollten?), in der Schule also? Neben Deutsch, Englisch, Mathematik, Französisch, Physik, Biologie, Chemie, Geschichte, Sozialwissenschaften, Religion, Sport, Musik, Kunst, Friedenserziehung, Umwelterziehung, Gesundheitserziehung, Benimmschule … nun noch ein weiteres Fach? Die Länge der – bei Weitem nicht vollständigen – Aufzählung allein ist schon Beleg dafür, dass das kein sehr erfolgreiches Unterfangen sein dürfte. Es muss um ein training on the job gehen, man muss das Lernen sozusagen beim Lernen lernen. Das geschieht aber nicht automatisch; denn sonst hätte Schule viel mehr autonome Lerner hervorbringen müssen und nicht so viele, die in der Schule eher widerwillig oder mit geringem Einsatz um eines Abschlusses willen pauken oder andererseits meinen, das Lernen höre glücklicherweise nach der Schule oder spätestens nach der Ausbildung auf. Um das Lernen zu lernen bedarf es einer Systematik, die alle Fächer und Lernarrangements in einer Schule einbezieht und – in einer regionalen Bildungslandschaft – alle Schulen einer Region. Auf diese Weise entsteht für den einzelnen Schüler ausreichend Zeit (9, 10, 12 oder gar 13 Jahre) für Übung und Reflexion, um Routinen ausbilden zu können, die ein Leben lang tragfähig sind. In dem vorliegenden Band wird ein Konzept beschrieben, wie Unterricht so entwickelt werden kann, dass er den neuen Anforderungen gerecht wird, die aus veränderten gesellschaftlichen Bedingungen entstanden sind. Dieses Konzept wird allen Schulen im Projekt "Selbstständige Schule" angeboten. Zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches stehen in Nordrhein-Westfalen ca. 400 Trainerinnen und Trainer dafür zur Verfügung, über die Hälfte der 278 Projektschulen haben das Angebot dieser systematischen Unterrichtsentwicklung angenommen. Darüber hinaus arbeiten bereits einige hundert so genannte Korrespondenzschu- 1 Rau, J., Den ganzen Menschen bilden – wider den Nützlichkeitszwang. Plädoyer für eine neue Bildungsreform, Weinheim und Basel 2004, S. 12 33303.book Seite 13 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Warum dieses Buch und für wen? | 13 len2 mit dem gleichen Ansatz – ebenso wie die "Schule & Co.-Schulen" im Kreis Herford. Das Konzept soll Eingang in den neuen Qualitätsrahmen des Landes finden; die Fortbildungen sollen im neuen Unterstützungssystem des Landes allen Schulen zugänglich gemacht werden.3 Das Leitbild ist das Individuum, das sich kompetent im persönlichen und gesellschaftlichen Alltag bewegt, das gelernt hat, Probleme zu lösen und dazu bereit und motiviert ist, die erlernten Problemlösungsstrategien in allen denkbaren Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll zu nutzen. Dazu werden in Basistrainings Fertigkeiten und Fähigkeiten erworben, die anschließend in allen möglichen Unterrichts- und Lernsituationen gepflegt und weiterentwickelt werden (sei es im Fachunterricht oder im fächerübergreifenden Unterricht, sei es in Freier Arbeit oder in der Wochenplanarbeit, sei es in einer Arbeitsgemeinschaft oder im Selbstlernzentrum, sei es allein oder im Team, sei es in der Bibliothek oder vor dem Computer). In ihrem Zusammenwirken untereinander und vor allem in Verbindung mit den fachlichen Kompetenzen machen sie das eigenständige Lernen aus. Dieses Buch bietet Anregungen für alle, die mit der Verbesserung von Unterricht zu tun haben: z z z z z 2 3 Lehrerinnen und Lehrer finden Ausführungen zu einem systematischen Trainingsprogramm und dessen Umsetzung in der Schule. Schulische Steuergruppen finden „Fahrpläne“, wie sie einen systematischen Prozess der Unterrichtsentwicklung in ihrer Schule in Gang setzen und gestalten und dessen Qualität sichern können. Eltern finden Ideen, die sie in ihre Arbeit in den schulischen Mitwirkungsgremien einbringen können. Schulleiterinnen und Schulleiter finden z. B. Anregungen zur Teambildung an ihrer Schule. Regionale Steuergruppen finden Vorschläge, wie Unterrichtsentwicklung zur Basis für die Entstehung einer regionalen Bildungslandschaft werden könnte. Die Projektträger haben im Mai 2004 vereinbart, dass möglichst viele Schulen einer Region die neuen Möglichkeiten und Wege einer regionalen Schulentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" nutzen und in die regionalen Qualifizierungsprozesse eingebunden werden sollen, damit sich regionale Schul- und Bildungslandschaften entwickeln können. Diese Korrespondenzschulen nehmen an den Qualifizierungsprogrammen teil, erwerben aber nicht den Status von Projektschulen. Die Entscheidung obliegt der regionalen Steuergruppe, ob und zu welchem Zeitpunkt die Zusammenarbeit mit weiteren Schulen in der Region kontraktiert wird. Vgl. www.selbststaendigeschule.nrw.de/RegionaleBildungslandschaften/Transfer_in_die_Region Vgl. „Anlage zum Kooperationsvertrag zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen und der Bertelsmann Stiftung vom 21. August 2001“, unterzeichnet am 13. Dezember 2005 (s. Anhang) 33303.book Seite 14 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 14 | Warum dieses Buch und für wen? Evaluationsberaterinnen und -berater finden Ansatzpunkte, wie sie die interne Evaluation in Schulen auf dem Weg der Qualitätssicherung begleiten können. z Schulaufsichtsbeamte finden Anregungen für einen neuen Blick auf systemische Schulentwicklung sowie deren Akteure. z Schülerinnen und Schüler fehlen in dieser Aufzählung von möglichen Adressaten. Um sie geht es eigentlich – und zwar darum, dass jede/r Einzelne von ihnen Lernkompetenz erwirbt. Eine Schule kann erst dann behaupten, sie habe den Unterricht systematisch verbessert, wenn sie sicher sein kann, dass alle Schülerinnen und Schüler dieser Schule davon profitieren: nach und nach – denn um Blitzerfolge kann es dabei nicht gehen, wohl aber um nachhaltige Wirkungen, und die brauchen Zeit und Unterstützung. Aus der Perspektive von Schülerinnen und Schülern bedeutet Nachhaltigkeit auch, dass sie nicht nur in der Grundschule Fähigkeiten ausbilden, sondern dass die Schule der Sekundarstufe I und die darauf folgende Schule in ähnlicher Weise arbeitet und diese Fähigkeiten immer weiter entwickelt. Wenn Schulen in einer Region so zusammenarbeiten, dass „Bildungsbiografien ohne Brüche“4 möglich werden, dann stehen Schülerinnen und Schüler wirklich im Zentrum aller Bemühungen, so zu lehren, dass sie lernen können und wollen … in der Gegenwart und in der Zukunft. 4 Titel eines Vorhabens in einer Modellregion; vergleichbare Arbeitsschwerpunkte haben mehrere Regionen. 33303.book Seite 15 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 2 Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Die Gesellschaft des beginnenden 21. Jahrhunderts wird als Wissensgesellschaft beschrieben, eine Kennzeichnung, die auf den ersten Blick suggeriert, dass Schülerinnen und Schüler in unseren Schulen bestens auf das Leben in dieser Gesellschaft vorbereitet werden, denn genau das war der Auftrag von Schule, seitdem es sie gibt: die Vermittlung von Wissen. Bei genauerem Hinsehen gerät die Vorstellung der optimalen Passung ins Wanken. Der Übergang vom Industriezeitalter zum Zeitalter des Wissens findet weltweit statt. In der Industriegesellschaft war Deutschland gut positioniert und ist deshalb auch heute noch Exportweltmeister. In der sich entwickelnden neuen Gesellschaft spielen Wissensgüter die entscheidende wirtschaftliche Rolle – und da ist Deutschland bereits heute oft auf Importe angewiesen. Die Arbeitsmärkte brauchen viel mehr Hochqualifizierte als noch in der Industriegesellschaft – aber in Deutschland studieren nur 35 % der Jugendlichen im Vergleich zu 51 % im OECD-Durchschnitt. Zudem leistet sich Deutschland, dass ein erheblicher Teil eines Altersjahrgangs die Schulen als nicht berufsbildungsfähig und damit chancenlos für den veränderten Arbeitsmarkt verlässt. Wenn hier von Arbeitsmärkten die Rede ist, soll allerdings nicht eine der unsinnigen Antinomien im Bildungswesen bedient werden. Spätestens wenn das Weinert’sche Kompetenzmodell als wichtiger Bezugspunkt für Unterrichtsentwicklung beschrieben wird, wird deutlich werden, dass es nicht um bessere Verwertbarkeit von Wissen oder bloße Effizienzsteigerung geht, nicht um den „Nützlichkeitszwang“, gegen den Rau argumentiert. 2.1 zu wenig Hochqualifizierte und zu viele Berufsbildungsunfähige Rau: … wider den Nützlichkeitszwang Was uns bleibt: lebenslang lernen Es gibt drei hervorstechende Kennzeichen dieser Wissensgesellschaft. Die gegenwärtige Halbwertzeit des Wissens macht jegliche Gewissheit zunichte, einmal Gelerntes sei über Jahrzehnte hinweg tragfähig. Zunehmend, so betont Hartmut von Hentig1, stehen Lehrerinnen und Lehrer vor der großen Herausforderung, Kinder für eine Welt vorbereiten zu müssen, die sie selbst noch nicht kennen. Die Anforderungen der Arbeitswelt sind andere als noch vor zehn Jahren, und der demografische Wandel 1 Übergang vom Industriezeitalter in die Wissensgesellschaft Hentig, H. von, Ach, die Werte, Weinheim und Basel 2001, S. 21 ff. drei Merkmale der Wissensgesellschaft: Halbwertzeit des Wissens 33303.book Seite 16 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 16 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Anforderungen der Arbeitswelt gefährdet nicht nur unsere Sozialsysteme, sondern wird auch die Bildungssysteme deutlich verändern. Die veränderten Anforderungen der Arbeitswelt bilden sich beispielsweise ab in den Kriterien, nach denen ein Konzern wie Shell, der weltweit 100.000 Mitarbeiter beschäftigt, neue Mitarbeiter, sogenannte High Potentials, im Assessment Centre auswählt2 (– und viele dieser Kompetenzen sind sicherlich nicht nur für zukünftige Führungskräfte relevant): “Capacity: Do you have the analytic ability to place problems in a wide but relevant perspective? z the ability to analyse data quickly and learn fast, basing judgement on fact not sentiment z the ability to analyse outside existing boundaries to identify implications and learn from others z the creativity to propose innovative solutions z the ability to manage uncertainty within complex environments to produce workable solutions Achievement: Do you have the ability to get things done? z the drive and enthusiasm to set yourself and others challenging unambiguous targets z the resilience to deliver z the courage and self-confidence to tackle unfamiliar problems and go against the crowd when necessary Relationships: Do you have the ability to work efficiently with others in a team? z genuine respect and concern for people z valuing contributions from others regardless of culture or status z demonstrating honesty and integrity in all actions z creating trust through open and direct communications z persuading others through the inspiration, sensitivity and clarity of their argument z arranging clear means of communication and decision making” Werden Kinder und Jugendliche in unseren Schulen oft genug angeleitet, unbekannte Probleme mutig und selbstbewusst anzugehen und sich, wenn nötig, non-konform zu verhalten? Lernen sie Schwung und Begeisterung dafür zu entwickeln, sich selbst und anderen klare Ziele zu setzen, die eine Herausforderung darstellen? Lernen sie von anderen zu lernen? Lernen sie, die Beiträge anderer wertzuschätzen – unabhängig von deren Kultur oder Status? 2 http://www.shell.com 33303.book Seite 17 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Was uns bleibt: lebenslang lernen | 17 Bildungsökonomen wie Klaus Klemm erläutern3, welches Umdenken der demografische Wandel im Bildungswesen erfordern wird. Wenn – wie prognostiziert – die Zahl der Erwerbstätigen in der Bundesrepublik bis 2030 bei deutlich verschobenen Altersgewichten um 5 Millionen sinken wird, bedeutet das womöglich, dass wir länger arbeiten müssen. Es bedeutet aber sicher, dass wir uns während dieser Arbeitszeit mit verschiedensten Aufgaben werden auseinandersetzen müssen. Auf diese steigende Anforderung an Flexibilität wird sich Schule einstellen müssen. Eine weitere riesige Herausforderung, die auf die Schulen zukommt, liegt darin, verstärkt auch denjenigen Kindern und Jugendlichen die optimalen Entwicklungschancen zu eröffnen, die aus den sogenannten bildungsfernen Schichten stammen. Dieser Anteil wird allen Prognosen zufolge steigen. Das Brachliegen großer Potenziale ist volkswirtschaftlicher Unsinn, den sich Deutschland nicht leisten kann. Die OECD kritisiert regelmäßig, dass in Deutschland der Anteil der Schulabsolventen mit Hochschulreife im Vergleich zu anderen Industrienationen geradezu niederschmetternd gering ist. Gleichzeitig gibt es eine „Risikogruppe“ junger Menschen, die den Anforderungen moderner Berufe kaum noch gerecht wird und die in Deutschland größer ist als in anderen vergleichbaren Ländern. Der Direktor des Max-Planck-Instituts für Bildungsforschung, Jürgen Baumert, stellt fest: „Interpretiert man die Leistungsergebnisse der Reading-Literacy Study und von TIMSS und PISA im unteren Kompetenzbereich inhaltlich und vergleicht diese mit den Ansprüchen zukunftsfähiger Berufsausbildungen, so lässt sich eine Risikogruppe junger Menschen identifizieren, die in Deutschland im Vergleich zu anderen modernen Dienstleistungsund Wissensgesellschaften ungewöhnlich groß ist und fast ein Viertel einer Altersgruppe ausmacht. Die Wahrscheinlichkeit, dieser Risikogruppe anzugehören, ist nicht gleich verteilt. Besonders betroffen sind Kinder und Jugendliche aus Zuwandererfamilien und aus sozial schwachen und bildungsfernen Elternhäusern.“4 Der Bildungsbericht 2006 der Kultusministerkonferenz belegt, dass wiederum mehr als ein Viertel der Kinder und Jugendlichen bis 25 Jahre einen Migrationshintergrund aufweist.5 Ein Land, das auf lange Sicht auf Einwanderung angewiesen sein wird, wenn es seine Wirtschaftskraft erhalten will, muss sich auch in sei3 4 5 Klemm, K., „Bildungsinvestition – Grundlage für Wirtschaftswachstum“ in: Berger, R. / Wüst, K., Hrsg., Innovation durch Partnerschaft. Dokumentation einer Tagung am 27. Mai 2004 in Neuss, veranstaltet von der Stiftung Partner für Schule NRW, Düsseldorf 2004, S. 48–59 Baumert, J., „Was wissen wir über die Entwicklung von Schulleistungen?“ in: PÄDAGOGIK, Heft 4, April 2006, S. 46 Konsortium Bildungsberichterstattung im Auftrag der Ständigen Konferenz der Kultusminister der Länder in der Bundesrepublik Deutschland und des Bundesministeriums für Bildung und Forschung, Hrsg., Bildung in Deutschland. Ein indikatorengestützter Bericht mit einer Analyse zu Bildung und Migration, Bielefeld 2006, S. 142; auch als Volltext im Internet: www.bildungsbericht.de/daten/gesamtbericht.pdf demografischer Wandel ein Viertel der unter 25-Jährigen hat Migrationshintergrund 33303.book Seite 18 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 18 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Kompetenzen für ein befriedigendes privates und berufliches Leben Weinerts Definition: Kompetenzen Nicht in der Schule für das Leben, sondern lebenslang lernen! nen Schulen der Anforderung der Integration und bestmöglichen Förderung stellen. Aber hier sollte nicht nur volkswirtschaftlich argumentiert werden. Das Menschenrecht auf bestmögliche Bildung für jeden Einzelnen und jede Einzelne so gut wie möglich einzulösen, steht einem Land wie Deutschland mit seinen Bildungstraditionen gut zu Gesicht. Teilweise unter erschwerten Bedingungen, „mit geringerem familiärem Kapital“6 werden Kinder und Jugendliche bis zum Erwachsenenalter ein ganzes Bündel von Kompetenzen erworben haben müssen, um – woher auch immer sie kommen und mit welchen Potenzialen auch immer sie ausgestattet sein mögen – privat und beruflich ihren ganz persönlichen Weg in dieser Gesellschaft gehen zu können. Diese Erkenntnis spiegelt sich auch in dem Literacy-Konzept wider, von dem die PISA-Studie ausgeht. Es geht um Kompetenzen, „die in modernen demokratischen Gesellschaften für eine befriedigende und selbst verantwortete Lebensführung in persönlicher und wirtschaftlicher Hinsicht sowie für die aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben notwendig sind.“7 Unter Kompetenzen versteht man nach Weinert „die bei Individuen verfügbaren oder durch sie erlernbaren kognitiven Fähigkeiten und Fertigkeiten, um bestimmte Probleme zu lösen, sowie die damit verbundenen motivationalen, volitionalen8 und sozialen Bereitschaften und Fähigkeiten, um die Problemlösungen in variablen Situationen erfolgreich und verantwortungsvoll nutzen zu können.“9 Mit anderen Worten: Kompetenz ist die funktionale Verbindung von Wissen, Verstehen, Können und Wollen. Die veränderten Anforderungen der Wissensgesellschaft bedingen, dass es nicht mehr genügt, in der Schule für das Leben zu lernen, sondern dass die Menschen ihr ganzes Leben lang lernen müssen. Deshalb – so Klafki – ist die Fähigkeit, selbstständig lernen zu können, bedeutsam. Zudem konstatiert er, „dass die Fähigkeit zum selbstständigen Lernen zu einer reich entwickelten Persönlichkeit gehört, zur Freiheit des Menschen […].“10 6 Baumert, J., (2006), S. 57 Deutsches PISA-Konsortium, Hrsg., PISA 2000, Opladen 2001, S. 16 8 vom eigenen Willen gesteuert 9 Weinert, F. E., „Vergleichende Leistungsmessung in Schulen – eine umstrittene Selbstverständlichkeit“ in: Weinert, F. E., Hrsg., Leistungsmessung in Schulen, 2. Aufl., Weinheim und Basel 2002, S. 27 f. 10 Klafki, W., „Selbstständiges Lernen muss gelernt werden!“ in: Stübig, F., Hrsg. Selbstständiges Lernen in der Schule, Beiträge zur Gymnasialen Oberstufe, 5, Universität Kassel, Kassel 2003, S. 20 ff.; er fährt fort: „Drittens: Im Grunde ist alles spezifisch menschliche Lernen so angelegt, dass es von Beginn an Momente der individuellen Selbstständigkeit enthält. […] Schließlich viertens: […] Erziehung durch Selbsttätigkeit zur Selbstbestimmungsfähigkeit enthält also immer auch eine politische Komponente.“ 7 33303.book Seite 19 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Was uns bleibt: lebenslang lernen | 19 Dem lebenslangen Lern- und Bildungsprozess liegt also das Leitbild einer „selbstständigen Lernerin“ bzw. eines „selbstständigen Lerners“ zugrunde. Nur wer selbstständig lernen kann, wird auch ohne das stützende Korsett einer Institution wie der Schule weiterlernen. Selbstständig Lernende sind in der Lage, „ihr eigenes Lernen [zu] regulieren, [...] sich selbstständig Lernziele zu setzen, dem Inhalt und Ziel angemessene Techniken und Strategien auszuwählen und sie auch einzusetzen. Ferner halten sie ihre Motivation aufrecht, bewerten die Zielerreichung während und nach Abschluss des Lernprozesses und korrigieren – wenn notwendig – die Lernstrategie.“11 Sie sind in der Lage, ihre Lernziele und Lernstrategien auch in komplexeren sozialen Beziehungen gemeinsam mit anderen Personen zu entwickeln, umzusetzen und kritisch zu hinterfragen.12 Kinder und Jugendliche, Junge und Alte, alle Menschen lernen in unterschiedlichen schulischen und außerschulischen Kontexten. Ihre Lernprozesse sind höchst individuell und komplex. Bei aller Unterschiedlichkeit – so belegt die neuere Hirnforschung – ist allem Lernen jedoch eines gemeinsam: Man lernt vor allem durch Handeln in als relevant empfundenen Kontexten, durch langsames „Können-Lernen“13, wobei geistiges Handeln eingeschlossen ist. Es kann davon ausgegangen werden, dass es wesentlich von der Lernerfahrung in der Schule abhängt, wie gut oder wie schlecht dieses lebenslange Lernen „funktioniert“, nicht nur im Sinne von „wissen wie“, sondern auch im Sinne von „wissen wollen“. Auch wenn quantitativ der Anteil schulischen Lernens am Lernen überhaupt nicht sehr hoch ist, so ist Schule doch „der einzige gesellschaftliche Ort, der darauf spezialisiert ist, kulturelle Lerngelegenheiten, die unter den Gesichtspunkten der Lehrund Lernbarkeit ausgewählt und geplant sind, der gesamten nachwachsenden Generation zugänglich zu machen. […] Durch die Bereitstellung stabiler Lernumwelten kann langfristig, systematisch und kumulativ gelernt werden.“14 Schulische Bildung wird von Schülerinnen und Schülern in unterrichtlichen und außerunterrichtlichen Zusammenhängen erworben, aber in erster Linie erfolgt ein systematischer Erwerb von fachlichen und überfachlichen Kompetenzen innerhalb des schulischen Unterrichts. 11 Deutsches PISA-Konsortium (2000), S. 271 Zur Genese der Zielsetzung des selbstständigen Lernens vgl. Stübig, F. „Selbsttätigkeit als Weg zur Selbstständigkeit – ein Rückblick“ in: Stübig, 2003, S. 9–18 13 Spitzer, M., Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg und Berlin 2002, S. 65 14 Baumert, J., (2006), S. 40 12 Nur selbstständig Lernende können lebenslang lernen! Schulische Lernerfahrungen sind prägend. Unterricht ist das Kerngeschäft von Schule. 33303.book Seite 20 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 20 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Der Bildungsgang einer einzelnen Schülerin oder eines einzelnen Schülers, der mehrere Unterrichtsfächer über mehrere Jahrgangsstufen umfasst, sollte dabei in Gänze betrachtet werden: in der Einzelschule und über mehrere Schulstufen bzw. -formen hinweg, sowohl horizontal (gleichzeitig innerhalb mehrerer Fächer) als auch vertikal (über mehrere Jahrgänge hinweg). Dass die einzelne Schülerin oder der einzelne Schüler Bildung auch in weiteren institutionellen Zusammenhängen erhält und wie diese mit dem schulischen Unterricht verknüpft werden können, davon wird in Kap. 6 die Rede sein. Wenn Schülerinnen und Schüler heute entscheidende Grundlagen für das lebenslange Lernen im schulischen Unterricht erwerben sollen, dann muss der herkömmliche Unterricht sich verändern. Das führt zu den Fragen, welchen Zielen sich Schule verpflichten muss und was „guten Unterricht“ ausmacht. 2.2 Bildungsziele der Schule: Wissen und Lernen Im Wesentlichen lassen sich aus dem Leitbild einer „selbstständigen Lernerin“ bzw. eines „selbstständigen Lerners“ zwei Forderungen ableiten, die als Ziele eines guten Unterrichts gelten können. Er muss den systematischen Erwerb fachlicher Kompetenzen und die Ausbildung überfachlicher Kompetenzen unterstützen und gleichzeitig einfordern. Beide Ziele hängen eng miteinander zusammen und werden hier nur aus analytischen und pragmatischen Gründen getrennt. Das bekannteste und einflussreichste Leitbild einer Lernkultur hat Weinert vorgelegt.15 An ihm orientiert sich das Konzept von Unterrichtsentwicklung, das in diesem Buch vorgestellt wird und in der im März 2004 erstmals veröffentlichten Broschüre der Projektleitung „Lehren und Lernen für die Zukunft – Guter Unterricht und seine Entwicklung im Projekt ’Selbstständige Schule’“16 präsentiert wurde. Weinert beschreibt sechs fundamentale fachliche und überfachliche Bildungsziele, die sich aus dem Bildungs- und Erziehungsauftrag der Schule ergeben: 15 Weinert, F. E., Lehren und Lernen für die Zukunft – Ansprüche an das Lernen in der Schule. Vortrag am 29.03.2000 im Pädagogischen Zentrum in Bad Kreuznach, in: Pädagogische Nachrichten Rheinland-Pfalz 2/2000, S. 5 ff. 33303.book Seite 21 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Bildungsziele der Schule: Wissen und Lernen | 21 z z z z z z 16 Erwerb intelligenten Wissens Intelligentes Wissen ist nicht reines Faktenwissen, sondern ein gut organisiertes, fachlich und überfachlich und auch lebenspraktisch vernetztes System von flexibel nutzbaren Fähigkeiten, Fertigkeiten, Kenntnissen und metakognitiven Kompetenzen.17 Erwerb anwendungsfähigen Wissens Wissen gut geordnet im Kopf gespeichert zu haben, bedeutet noch nicht, dass man es anwenden kann. Die Schule muss deshalb dafür sorgen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, ihr Wissen in unterschiedlichen, möglichst auch fachübergreifenden Anwendungssituationen zu nutzen. Erwerb variabel nutzbarer Schlüsselqualifikationen Schlüsselqualifikationen sind wichtige Kenntnisse und wichtiges Können, die nicht nur in einer Situation, sondern in möglichst vielen Situationen anwendbar sind. Dazu gehören beispielsweise die Lesekompetenz und die Medienkompetenz, aber auch die nachfolgend genannten Kompetenzen. Erwerb des Lernen Lernens (Lernkompetenz) Damit werden die Lernprozesse selbst zum Gegenstand des Unterrichts. Es geht darum, mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam nicht nur zu reflektieren, was sie gelernt haben, sondern auch, wie sie es gelernt haben. Das bedeutet, für jedes Fach und jeden Lernenden die erfolgreichen Lernwege und Lernstrategien zu erfassen und bewusst zu machen. Das Ziel ist, Expertise für das eigene Lernen zu gewinnen. Erwerb sozialer Kompetenzen Hier geht es um soziales Verstehen, soziale Geschicklichkeit, soziale Verantwortung und Konfliktlösungskompetenz. Erwerb von Wertorientierungen Gemeint ist der Aufbau einer Schulkultur, durch die soziale, demokratische und persönliche Werte vermittelt werden können. Das in dieser Broschüre vorgelegte Konzept beruht auf einer Verständigung von Vertretern des Schulministeriums, den Koordinatoren der Bezirksregierungen und Vertreterinnen und Vertretern der Bertelsmann Stiftung sowie der Projektleitung auf eine gemeinsame Vorstellung der Qualität von Unterricht und von Unterrichtsentwicklung und – zur Unterstützung dessen in einem wichtigen Sektor – auf ein Programm zur Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern. Das gemeinsame Verständnis, das dort formuliert wird, berücksichtigt Ergebnisse neuerer Forschung zum Lehren und Lernen, schulpolitische Grundlagen und Entscheidungen des Landes Nordrhein-Westfalen sowie Erkenntnisse zur Unterrichtsentwicklung, insbesondere zur Entwicklung überfachlicher Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern, und zur die Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern aus dem Projekt "Schule & Co.". Die Broschüre befindet sich im Anhang; sie kann per Mail angefordert werden über: [email protected]; sie steht auch als Download im Internet zur Verfügung unter: www.selbststaendige-schule. nrw.de. (Zur Entwicklung und Geschichte dieses Konzeptes und zu entsprechenden Veröffentlichungen vgl. Kap. 3.2) 17 Der Begriff „metakognitive Kompetenz“ wird in Kap. 2.3 erklärt. Weinerts Leitbild einer Lernkultur 33303.book Seite 22 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 22 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Die wichtigste Aufgabe des Bildungs- und Ausbildungssystems und des lebenslangen Lernens besteht darin, dass Kinder, Jugendliche und Erwachsene intelligentes Wissen erwerben. „Es gibt keine herausragende Kompetenz auf anspruchsvollen Gebieten ohne ausreichendes inhaltliches Wissen. Nach dem gegenwärtigen Forschungsstand der Kognitionswissenschaften kann es keine Zweifel geben, dass es zum Scheitern verurteilt ist, wenn man durch formale Techniken des Lernen Lernens oder mit Hilfe einiger weniger Schlüsselqualifikationen fehlendes oder mangelhaftes inhaltliches Wissen kompensieren wollte.“18 Die wichtigste Voraussetzung für anspruchsvolle Lernprozesse ist zweifelsohne eine solide und gut organisierte Wissensbasis, aber es bedarf der Schlüsselqualifikationen und anderer Kompetenzen, um das Wissen fruchtbar zu machen. Bildungsziele der Schule Erwerb intelligenten Wissens Erwerb anwendungsfähigen Wissens Erwerb variabel nutzbarer Schlüsselqualifikationen Qualifizierung Unterrichtsentwicklung Erwerb der Lernkompetenz Erwerb sozialer Kompetenzen Erwerb von Wertorientierungen nach: Weinert 2000 © Selbstständige Schule Abb. 1: Bildungsziele der Schule Erkenntnisse aus PISA Auch durch die PISA-Studie weiß man um diesen Zusammenhang. Darin wird vor allem im Bereich der Lesekompetenz nachgewiesen, dass die Selbstregulierung des Lernens insbesondere vor dem Hintergrund lebenslanger Lernprozesse wichtig ist und auch das fachliche Lernen befördert. „Lesekompetenz im Sinne effektiver Informationsverarbeitung“, heißt es dort, „bedarf einer intentionalen und strategischen Steuerung des Lern18 Weinert, F. E., (2000), S. 5 33303.book Seite 23 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Was wir über Lernen wissen | 23 und Leseprozesses.“19 Genau hier setzt das in diesem Buch beschriebene Konzept der Unterrichtsentwicklung an. Schülerinnen und Schüler können den Anspruch an Schule erheben, dass fachliches und überfachliches Lernen im Sinne der Bildungsziele Weinerts und der Erkenntnisse der PISA-Studie in einen methodisch variabel und vielfältig gestalteten Unterricht integriert werden und zum Erwerb komplexer Handlungskompetenzen führen, bei denen „intellektuelle Fähigkeiten, bereichsspezifisches Vorwissen, Fertigkeiten und Routinen, motivationale Orientierungen, metakognitive und volitionale Kontrollsysteme sowie persönliche Wertorientierungen“20 zusammenwirken. 2.3 fachliches und überfachliches Lernen Was wir über Lernen wissen Die Fähigkeit zur Selbstregulierung des eigenen Lernens spielt zur Erreichung der dargelegten Bildungsziele eine bedeutsame Rolle. Es handelt sich bei der Selbstregulierung um ein „dynamisches Wechselspiel zwischen kognitiven, metakognitiven und motivationalen Aspekten des Lernens.“21 Den Ausführungen im 6. Kapitel der PISA-Studie folgend22, können diese Aspekte wie folgt gekennzeichnet werden: Was heißt Selbstregulierung des Lernens? Auf der kognitiven Ebene geht es um die Kenntnis, Auswahl und Anwendung von bereichsspezifischen und allgemeinen Lernstrategien zur Informationsverarbeitung und Problemlösung, verbunden mit Wissen um deren Wert und Nutzen. Dabei versteht man unter einer Strategie eine bewusst einsetzbare, häufig aber automatisierte Folge von Handlungsschritten, die in einer bestimmten Situation aus dem Handlungsrepertoire abgerufen und situationsadäquat eingesetzt wird, um Lern- oder Leistungsziele zu erreichen. Dazu gehören insbesondere Lern- und Problemlösungsstrategien. z Auf der metakognitiven Ebene handelt es sich um Strategien zur Steuerung des Lernprozesses. Hierzu zählen die Planung (z. B. des Lernziels und der Mittel, die zur Zielerreichung notwendig sind), die Überwachung (z. B. des Lernfortschritts), die Steuerung (z. B. durch die Veränderung der Mittel), die Kontrolle und Bewertung der Zielerreichung sowie die Kenntnis eigener Stärken und Schwächen beim Lernen. z Auf der motivationalen Ebene zeichnen sich selbst regulierte Lerner dadurch aus, dass sie in der Lage sind, sich selbstständig Ziele zu set- kognitive Ebene z 19 Deutsches PISA-Konsortium (2000), S. 76 Deutsches PISA-Konsortium (2000), S. 22 21 Ebd., S. 271 22 Ebd., S. 272 f. 20 metakognitive Ebene motivationale Ebene 33303.book Seite 24 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 24 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts zen, sich selbst zu motivieren, Lernvorgänge gegenüber konkurrierenden Handlungswünschen abzuschirmen und Erfolge und Misserfolge angemessen zu verarbeiten. Selbstständige Lernerinnen und Lerner Lernstrategie korrigieren Steuerung des eigenen Lernens fachliche Kompetenzen Selbstständiges Lernen Lernziele setzen Zielerreichung bewerten Techniken und Strategien auswählen Motivation aufrechterhalten nach: PISA 2000 © Selbstständige Schule Abb. 2: Selbstständige Lernerinnen und Lerner Die Fähigkeit zur Selbstregulierung ist nicht abstrakt erlernbar, sondern nur in der konkreten, reflektierten Auseinandersetzung mit spezifischen Gegenständen. Sie kann u. a. dadurch gefördert werden, dass nach dem Ablauf bestimmter Lernsequenzen eine metakognitive Phase eingelegt wird, um mit den Schülerinnen und Schülern gemeinsam den bisherigen Lernprozess und die Lernergebnisse zu reflektieren. Sie kann auch dadurch erheblich gefördert werden, dass die Lernangebote, auf die der oder die Einzelne im Laufe der individuellen Lernbiografie trifft, miteinander verknüpft werden; denn das macht Lernen wesentlich effektiver. Eine systematische Unterrichtsentwicklung innerhalb einer Schule sowie der Aufbau regionaler Bildungslandschaften unterstützen insofern die Entwicklung des Individuums (vgl. Kap. 4 und 6). 33303.book Seite 25 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Was wir über Lernen wissen | 25 In Zeiten des PISA-Schocks erhofft man sich neue, gesicherte Antworten auf die alten Fragen, wie Lernen am besten funktioniert, und fragt die Neurowissenschaftler, wie das menschliche Gehirn arbeitet. Die Debatte, ob die neurowissenschaftliche Grundlagenforschung einen wesentlichen Beitrag dazu leisten kann, das Lehren und Lernen an den Schulen zu verbessern, ist in vollem Gange. Kritiker sind mit der Kognitionspsychologin Elsbeth Stern der Meinung, dass die Gehirnforscher keine Antwort geben können auf die Frage, wie Lernen gestaltet werden muss, und dass sie (noch) keine vollständigen, in sich schlüssigen Angebote machen können, die Lehrerinnen und Lehrern bei der Verbesserung ihres Unterrichts helfen.23 Aber es ist – jenseits aller Verklärung der Hirnforschung als neuer Leitwissenschaft – doch erstaunlich, dass die Forscher z. B. aus den Gruppen um Wolf Singer in Frankfurt oder um Manfred Spitzer in Ulm zwar „bis jetzt noch keine Ergebnisse erzielt haben, die uns zwingen, Erkenntnisse der Unterrichtsforschung anders zu sehen“24, dennoch aber den Pädagogen neue, erstmals naturwissenschaftlich untermauerte Argumente an die Hand geben, das umzusetzen, was sie – oft schon seit langer Zeit – als richtig erkannt haben.25 Wenn es z. B. aus der Hirnforschung Hinweise darauf gibt, dass Ähnliches, kurz hintereinander gelernt, sich gegenseitig auflöst, dann ist das ein Anlass dafür, erneut über die Gestaltung der Stundenpläne an vielen unserer Schulen und den gängigen 45-Minuten-Rhythmus nachzudenken – und über die Verantwortung von Klassenkonferenzen für die Vernetzung der Angebote der unterschiedlichen Fächer. Davon wird noch einmal die Rede sein, wenn es um die Organisation der Unterrichtsentwicklung und um die Schaffung von Lernarrangements für selbstständiges Arbeiten geht (vgl. Kap. 3.3 und 4). Wenn es aus der Hirnforschung Hinweise darauf gibt, dass der Neurotransmitter Dopamin, der für angenehme Gefühle verantwortlich ist, immer dann ausgeschüttet wird, wenn der Lernende ein Erfolgserlebnis hat, dann ist das ein Anlass dafür, noch einmal darüber nachzudenken, ob in der Schule oft und systematisch genug individuelle Erfolgserlebnisse ermöglicht werden, um daraus neue Motivation zu gewinnen für weiteres Lernen. Davon wird u. a. im Kap. 7.3 die Rede sein, wenn es um den Zeitbedarf für individuelle Förderung geht. 23 Vgl. Stern, E., „Wie viel Hirn braucht die Schule? Chancen und Grenzen einer neuropsychologischen Lehr-Lern-Forschung“ in: Zeitschrift für Pädagogik 50 (4), 2004, S. 531–538 24 Kerstan, T./Thadden, E. von, „Wer macht die Schule klug?“ Interview mit Manfred Spitzer und Elsbeth Stern in: DIE ZEIT Nr. 28, 01.07.2004, http://www.zeit.de/2004/28/CSpitzer_2fStern2?page=all 25 Eine Einführung in die Erkenntnisse der Gehirnforschung für das Lernen liefert Manfred Spitzer in seinem bereits zitierten Werk: Lernen. Gehirnforschung und die Schule des Lebens, Heidelberg und Berlin 2002 Wie funktioniert Lernen am besten? Fragen an die Neurowissenschaftler Hirnforscher unterstützen Pädagogen. 33303.book Seite 26 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 26 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Erkenntnisse der subjektiven Didaktik Wenn es aus der Hirnforschung Hinweise darauf gibt, dass die Emotionen eine entscheidende Rolle beim Lernen spielen, dass emotionale Zustände zusammen mit Inhalten gespeichert werden, dann ist das ein Anlass dafür, der Lernatmosphäre und der Lernumgebung erneut Aufmerksamkeit zu schenken. Lehrerinnen und Lehrer sowie Erzieherinnen und Erzieher, die nach der Methode von Maria Montessori arbeiten, werden diese Erkenntnisse in ihrem Handeln nur bestätigen. Davon wird die Rede sein, wenn es um die Gestaltung guten Unterrichts geht. Wenn die Hirnforschung Hinweise darauf gibt, dass Wissen nicht so ohne Weiteres übertragbar ist, sondern im Gehirn eines jeden neu geschaffen werden muss und dieses Erschaffen am besten durch Handeln geschieht, dann muss wieder darüber nachgedacht werden, wie Unterricht so gestaltet werden kann, dass Schülerinnen und Schüler so aktiv wie irgend möglich handelnd ihr eigenes Wissen erschaffen können. In direkter Verbindung damit steht die Frage, welche Rolle der Lehrerin oder dem Lehrer dann zukommt. Davon wird immer wieder die Rede sein, wenn es um eine neue Lehrkultur geht. Das Verständnis vom Lernen als einer von jedem Individuum zu leistenden eigenständigen Konstruktion ist auch ein Leitgedanke der „Subjektiven Didaktik“. Edmund Kösel gehört zu den schulpädagogischen Forschern, die schon lange vor TIMSS und PISA die Illusion von der flächendeckenden Effizienz des lehrergeleiteten Großgruppenunterrichts in Schule und Hochschule zerstört haben. Vor dem Hintergrund der internationalen Vergleichsstudien werden seine Arbeiten auf neue Weise aktuell. Er verwertet interdisziplinär Forschungsergebnisse aus der Neurobiologie, aus der Evolutionstheorie, aus der Physik und aus der Kommunikationswissenschaft und lässt sich bei der theoretischen Fundierung seiner „Subjektiven Didaktik“ von der „Neueren Systemtheorie“ und vom „Radikalen Konstruktivismus“ leiten.26 Grundlegend für jedes Lernen ist demnach das Prinzip der Selbstorganisation und Selbststeuerung. „Alle Lernprozesse des Menschen sind als ein in sich geschlossenes Netzwerk anzusehen, das sich autonom verhält und in dem die ablaufenden Prozesse rekursiv voneinander abhängen.“27 Das führt bei Kösel zu einer radikalen Ablehnung „eines falschen Mythos von Didaktik als ‚Input-Output-Didaktik‘“28. „Wir glaubten, die didaktischen Maßnahmen eines Lehrenden hätten direkten und linearen Einfluß auf das Lernverhalten eines jeden Schülers, meist sogar in gleicher Weise. Es wurde so getan, als ob jedes Element in einem System sich in vorhersehbarer Weise zu den anderen verhalten und sich selbst verändern würde. Es 26 Kösel, E., Die Modellierung von Lernwelten. Ein Handbuch zur subjektiven Didaktik, 3. Aufl., Elztal-Dallau 1997 27 Ebd., S. 198 28 Ebd., S. 222 33303.book Seite 27 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lernen und Unterricht | 27 wurde ferner angenommen, daß durch didaktische Interventionen jedes System zu einem bestimmten Ziel-Zustand hinmanövriert werden könnte.“29 Kösels Paradigmenwechsel in der Didaktik führt zur „Modellierung von Lernwelten“ – so der Titel seines Buches. Ohne ihm im Einzelnen bei Verfahren wie „Chreoden-Analyse“ folgen zu müssen, lohnt sich die Auseinandersetzung mit seinen Gedanken zur Didaktik in der Postmoderne, weil sie die Lehrende oder den Lehrenden immer wieder verweisen auf das, was auch das ultimative Ziel der in diesem Buch dargestellten Unterrichtsentwicklung ist: Die Lernende oder den Lernenden in ihren/seinen individuellen Zugriffen auf die Gegenstände zu stärken und in ihrer/seiner Selbstständigkeit zu fördern und sie/ihn damit letztlich autonom zu machen. Welcher Argumentation auch immer man sich am ehesten anschließen mag, ob der volkswirtschaftlichen oder der das aufklärerisch-humanistische Bildungsideal vertretenden, ob man die neueste Hirnforschung heranzieht oder die Lernpsychologie, ob man sich auf die Erkenntnisse der Pädagogik insgesamt oder bestimmte Richtungen beruft oder die internationalen Schulleistungsvergleiche bemüht, ob man ein stark oder schwach gegliedertes Schulsystem vorzieht – eines ist ganz klar: Unterricht ist der Ort, an dem systematisches schulisches Lernen stattfindet. Unterricht ist demzufolge der Ort, wo die Forderung nach möglichst großen Lernerfolgen umgesetzt werden muss. Eine Verständigung darauf ist trotz vieler (unsinniger) Antinomien im Bildungsstreit nicht schwierig. Ein möglicher Weg, wie Lehrerinnen und Lehrer dabei unterstützt werden können, dieser Anforderung gerecht zu werden, wird in diesem Band dargestellt. 2.4 Lernen und Unterricht „Ob Unterricht gut oder schlecht ist, ob Lehrkräfte erfolgreich oder erfolglos sind, hängt entscheidend davon ab, welche Zielkriterien man zugrunde legt“30, betont der Schulforscher Andreas Helmke mit Bezug auf die Bildungsziele Weinerts und fügt erläuternd hinzu: „Um das Lernen zu lernen oder um soziale Kompetenzen zu erwerben, sind andere Lehr-Lern-Szenarien angemessen als für den systematischen sachlogischen Wissensaufbau“31, der nach Weinert eine Unterrichtsmethode erfordert, die lehrergesteuert, aber schülerzentriert ist32. Die Unterschiedlichkeit der 29 Ebd., S. 221 Helmke, A., Unterrichtsqualität – erfassen, bewerten, verbessern, Seelze 2003, S. 44. Dieser Band ermöglicht einen guten Überblick über die Ergebnisse neuerer Forschung zum Lehren und Lernen. 31 Helmke, A. (2003), S. 46 32 Weinert, F.A. (2000), S. 6 30 Warnung vor jeder Dogmatik 33303.book Seite 28 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 28 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts Aber: Perspektivenwechsel ist nötig! Schülerinnen und Schüler sind heute anders als vor 10 oder 20 Jahren. von Weinert eingeforderten Kompetenzen, die mehrdimensionale Zielsetzung, die sich daraus für Unterricht ergibt, bedingt, dass Unterricht in der Schule nicht eindimensional konstruiert sein kann. Daraus folgt: Den guten Unterricht, die ideale Lehrmethode gibt es nicht. Sinnvoll ist, fasst man die sechs genannten Bildungsziele ins Auge, eine Balance zwischen lehrergesteuerten und schülergesteuerten Unterrichtsformen. Dabei können und müssen z. B. Lehrgänge und Trainings genauso zur Anwendung kommen wie Routine bildende Phasen und projektartiges Arbeiten. Die in diesem Zusammenhang immer wieder auftauchende Frage: „Selbstgesteuertes Lernen – der Tod des Frontalunterrichts?“ ist nur mit „Keineswegs!“33 zu beantworten. In einem Interview zu den Ergebnissen der zweiten PISA-Studie und den „Klischees des Lehrens“34 stellt Helmke fest, dass man aus der Studie nicht ableiten könne, welcher Unterricht zu besseren Leistungsergebnissen führt. Schlechte Ergebnisse können weder mit Frontalunterricht noch mit Gruppenunterricht korreliert werden: „Vom Leistungsgefälle kann man keinesfalls auf die Unterrichtsqualität rückschließen.“35 Auf die Frage, ob also die Gegenüberstellung von Frontalunterricht und Gruppenarbeit Unsinn sei, antwortet Helmke: „Genau. Ich warne vor jeder Dogmatik. Es kommt immer auf den guten Methodenmix an. Denn unterschiedliche Lernziele erfordern unterschiedliche Lehr- und Lernmethoden. Schule muss nicht nur Kenntnisse vermitteln, sondern auch lehren, wie man sich selbstständig Wissen aneignet.“36 Der Frontalunterricht – so Gudjons im Basisartikel des Heftes der Zeitschrift PÄDAGOGIK, das selbst gesteuertes Lernen zum Thema hat – „wird allerdings von der traditionellen, nahezu alleinigen Unterrichtsform mit Allzweckcharakter zu einer Unterrichtsphase, die in ein Gesamtkonzept schüleraktiven (und in großen Teilen selbst gesteuerten) Unterrichts integriert ist und dort ebenso begrenzte wie unverzichtbare Funktionen hat.“37 Es geht also nicht um den Tod des Frontalunterrichts, aber eben auch nicht um eine bloße Akzentverschiebung, sondern um einen grundlegenden Perspektivenwechsel. Damit trägt man auch am ehesten der Tatsache Rechnung, dass Schülerinnen und Schüler heute anders sind als vor 40, 30, 20 oder sogar 10 Jahren. Die Generation der heute 60-Jährigen mag sich wundern, dass aus Klassen mit 45 Schülerinnen und Schülern in den fünfziger Jahren in Niederbayern oder Ostfriesland oder der Eifel, in denen das Pult vorne und auf 33 Gudjons, H., „Selbstgesteuertes Lernen der Schüler: Fahren ohne Führerschein? in: PÄDAGOGIK, Heft 5, Mai 2003, S. 8 34 Spiewak, M., „Vibrierende Pädagogen“, Interview mit Andreas Helmke in: DIE ZEIT Nr. 30, 21.07.2005, http://www.zeit.de/2005/30/B-Helmke-Interview?page=all 35 Ebd., S. 1 36 Ebd. 37 Gudjons, H., (2003), S. 8 33303.book Seite 29 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lernen und Unterricht | 29 einem Podest stand und der Lehrer oder die Lehrerin von dort „frontal“ unterrichtete, doch auch promovierte Physiker und (sehr selten) Physikerinnen oder erfolgreiche Rechtsanwälte und (manchmal) Rechtsanwältinnen hervorgegangen sind. Doch – um nur ein Merkmal herauszugreifen – Dutzende von Fernsehkanälen und der bezahlbare Zugang zu Computern und Mobiltelefonen haben zunehmend z. B. die Aufmerksamkeitsspanne der Kinder und Jugendlichen deutlich verändert. Aber sie sind nicht nur anders, sie sind vor allem unterschiedlicher. Die Lebensverhältnisse der einzelnen Familien und Regionen in Deutschland klaffen immer weiter auseinander, die Familienstrukturen haben sich verändert, die Menschen mussten mobiler werden bis hin zu Migrationszwängen. Da sind unterschiedliche Muttersprachen noch der offensichtlichste Unterschied, mit dem man am ehesten umgehen können sollte. Doch selbst davon sind viele unserer Schulen noch ein ganzes Stück entfernt. Helmke bezeichnet den Umgang mit Heterogenität sogar als die „zentrale Herausforderung dieses Jahrzehntes“. Er hält „Passung“ im umfassenden Sinn für das Schlüsselmerkmal für guten Unterricht, ein „Metaprinzip“38. Die PISA-Studie hat mit Zahlen belegt, dass die fehlende Lesekompetenz der 15-Jährigen in Deutschland sowie die wenig ausgeprägte mathematische und naturwissenschaftliche Kompetenz auf der mangelnden Förderung durch die Schule beruhen. Die Schul- und Bildungssysteme anderer Länder schaffen es entschieden besser, diese Kompetenzen früh zu fördern, Schwächen der Schülerinnen und Schüler zu erkennen und sie unabhängig von deren Herkunft auszugleichen. Sie schaffen es außerdem, mehr Spitzenleistung zu fördern. Hilfe im Umgang mit „Heterogenität und Differenzierung“39 ist deshalb eine gefragte Dienstleistung, die jedoch nicht in ein- oder mehrtätigen Fortbildungen angeboten werden kann. Nur wenn Lehrerinnen und Lehrer ihren Unterricht systematisch und gemeinsam weiterentwickeln und dabei eine zuverlässige und längerfristige Unterstützung erhalten, werden sie dazu befähigt, in ihrem Unterricht heterogenen Zielsetzungen, die aus sich wandelnden gesellschaftlichen Ansprüchen erwachsen, gerecht zu werden, und das bedeutet dann auch heterogenen Voraussetzungen, die diese Kinder mitbringen, und heterogenen Verhältnissen, in denen diese Kinder heute leben und in Zukunft leben werden, angemessen zu begegnen. Dass eine hohe Individualisierungskultur zu guten Leistungen führen kann, hat im Rahmen von PISA Schweden bewiesen. Integration (bis hin zur Integration von Behinderten in das Regelsystem) hat dort einen hohen 38 Helmke, A., „Was wissen wir über guten Unterricht? Über die Notwendigkeit einer Rückbesinnung auf den Unterricht als dem ,Kerngeschäft‘ der Schule“ in: PÄDAGOGIK, Heft 2, Februar 2006, S. 45 39 So z. B. der Titel von Heft 9, September 2003, der Zeitschrift PÄDAGOGIK Umgang mit Heterogenität lernen 33303.book Seite 30 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 30 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts „Lehren und Lernen für die Zukunft“ Merkmale guten Unterrichts Stellenwert ebenso wie der Umgang mit schwachen Schülerinnen und Schülern.40 Dass die stärkere Orientierung am Individuum nur geleistet werden kann, wenn Lehrerinnen und Lehrer die Chance bekommen, anders zu arbeiten und dafür auch qualifiziert zu werden, ist dabei eine wichtige Erfahrung. Davon wird in Kapitel 4 die Rede sein. Im Projekt "Selbstständige Schule" hat es mit dem Papier „Lehren und Lernen für die Zukunft – Guter Unterricht und seine Entwicklung im Projekt "Selbstständige Schule"“ eine konzise Darstellung dessen gegeben, was als gemeinsame Zielvorstellung von Unterricht verstanden werden kann. Diese Schrift ist der Referenzrahmen für alle Projektschulen und aus dem Wissen heraus entstanden, dass die Verständigung auf ein gemeinsames Leitbild in einer Schule zu erheblichen Synergieeffekten für das Lernen der Schülerinnen und Schüler führt. Trotz der Gefahr der Verselbstständigung, die solche „Listen“ in sich bergen und auf die Helmke hinweist41, sollen hier im Sinne einer Handlungsbasis (nicht einer Handlungsvorschrift) wichtige Merkmale „guten“ Unterrichts mit dem Fokus des selbstständigen Lernens in einer praxisorientierten Form zusammengefasst werden. Dabei sind aktuelle Kenntnisse aus der Forschung über Unterrichtsentwicklung sowie schulpolitische Grundlagen und Entscheidungen des Landes NordrheinWestfalen berücksichtigt. Unterrichtsplanung z Orientierung an Planungen im Team der Lehrerinnen und Lehrer, wobei die unterschiedlichen Ausgangssituationen und Dispositionen der Lernenden analysiert und vertikale Transfers zum Aufbau zunehmend anspruchsvollen fachlichen Lernens (durch das Fachteam) und horizontale Transfers in ähnliche fachliche oder fachübergreifende Kontexte (durch das Klassen-, Jahrgangs- oder Bildungsgangteam) berücksichtigt werden. z Orientierung an fachlich bedeutsamen Standards (insbesondere an Kernlehrplänen), wobei die Unterschiede in den Lernständen und im Leistungsvermögen der Lernenden analysiert und berücksichtigt sowie vorhandenes Wissen und erworbene Kompetenzen gezielt einbezogen werden. 40 Vgl. Eikenbusch, G., „Alle sind gleich – aber jeder ist anders…“ in: PÄDAGOGIK, Heft 9, September 2003, S. 10 ff.; vgl. auch Bos, W., Schwippert, K., „Leitthemen im Länderbericht“ in: Bundesministerium für Bildung und Forschung, Hrsg., Vertiefender Vergleich der Schulsysteme ausgewählter PISA-Staaten. Kanada, England, Finnland, Frankreich, Niederlande, Schweden, Bonn 2003, S. 73–75; zu einem schwedischen Konzept des lebenslangen Lernens vgl. auch Madelung, P./Götte, Z., „Von den Schweden lernen? Lebenslanges Lernen als regionales Programm in der schwedischen Kommune Örebro“ in: Projektleitung, Hrsg., Regionale Bildungslandschaften. Grundlagen einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft, Troisdorf 2004, S. 98 ff. 41 Helmke, A., (2006), S. 44 33303.book Seite 31 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lernen und Unterricht | 31 Orientierung an den Bedürfnissen und Interessen der Lernenden im Rahmen curricularer Vorgaben durch die Einbeziehung der Schülerinnen und Schüler in die Planung und Gestaltung der Lernprozesse, wobei die Themen, Probleme und Sachverhalte altersangemessen und für die Lernenden sinnstiftend und bedeutsam und die thematischen und methodischen Ziele und Schwerpunkte sowie die Anforderungen transparent sind. z In Abhängigkeit von Altersstufe, Schulform und Fach ist der Unterricht stärker in Form von Unterrichtsvorhaben, d. h. in offenen und komplexen Lernsituationen so organisiert, dass sie Folgendes ermöglichen, erfordern und unterstützen: – mehrere Perspektiven auf ein Thema, – selbst Probleme definieren und Aufgaben formulieren, – eine gemeinsame Arbeitsplanung, – unterschiedliche Leistungsniveaus, – individuelle Lernwege, – selbstständige Auswahl erlernter Methoden und Strategien, – den Blick über die Grenzen des Faches, – kooperatives Lernen, – ganzheitliches Lernen sowie – die Reflexion der Lernwege und -ergebnisse. z Auswahl eines gut aufbereiteten, anregenden, gehaltvollen und mehrperspektivischen Materials und kognitiv anspruchsvoller, klar definierter, nach Möglichkeit problemhaltiger divergenter Aufgaben, d. h. von Aufgaben, deren Bearbeitung möglichst wenig durch festgelegte Vorgaben eingeengt ist und die verschiedene Lösungs- und individuelle Bearbeitungswege ermöglichen. z Unterrichtsdurchführung z Die fachlichen Standards sind Orientierungspunkte im Lernprozess. z Das Vorwissen der Schülerinnen und Schüler wird gezielt aktiviert und als Grundlage der weiteren Arbeit genutzt. z Der Arbeitsprozess ist in allen Phasen für die Lernenden transparent: Zeitplan, Arbeitsschritte, Produkte und deren Qualität, Präsentation. z Arbeitspläne werden durch einen begleitenden Reflexionsprozess gemeinsam überprüft, weiterhin eingehalten oder begründet revidiert. z Offene Lernformen, die selbstständige Entscheidungen der Schülerinnen und Schüler über das methodische Vorgehen ermöglichen, Formen der direkten Instruktion sowie Lehrgangs- und Trainingslernen sind in den Lernprozess funktional integriert. z Für systematisches individuelles und kooperatives Arbeiten und Lernen steht ausreichend Zeit zur Verfügung, die optimal genutzt wird. 33303.book Seite 32 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 32 | Bildungsherausforderungen an die Schule und die Entwicklung guten Unterrichts z z z z z z z z z z z Begriffe, Sachverhalte, Zusammenhänge und Verstehensprobleme werden rechtzeitig und gründlich geklärt. Lehrende und Lernende lassen Fehler und Lernumwege zu und lernen aus ihnen. Neue Medien werden sinnvoll eingesetzt. Arbeitsergebnisse werden angemessen präsentiert. Der Unterricht enthält im notwendigen Umfang klar ausgewiesene Leistungssituationen für Einzelne oder für Gruppen. Das Gelernte wird durch intelligente und anspruchsvolle Formen des Übens in variablen Anwendungskontexten gefestigt, bei denen horizontale und vertikale Transfers möglich sind. Leistungen werden anerkannt und gewürdigt. Die Lernprozesse und Lernergebnisse werden von den Lernenden kontinuierlich reflektiert und eingeschätzt. Der Umgang zwischen den Lernenden sowie zwischen Lernenden und Lehrenden ist von Respekt und Fairness geprägt. Eine offene Lernatmosphäre sowie klare Regeln und Vereinbarungen unterstützen die Arbeit der Lerngruppe. Sitzordnung, Raumgestaltung und -ausstattung ermöglichen den Lernenden anforderungsgerechtes Arbeiten. Leistungsbewertung und Unterrichtsevaluation z Die Leistungsbewertung ist transparent und berücksichtigt Leistungen in allen Kompetenzbereichen. z Die Formen der Leistungsmessung sind vielfältig und der Komplexität des Kompetenzerwerbs angemessen. z Zur Selbstvergewisserung der Lehrenden über den Erfolg ihrer Arbeit und zur Qualitätssicherung im Unterricht kommen variable, aber methodisch kontrollierte Feedbackverfahren zur Anwendung, die nützliche Informationen über Lernerfolge, Lernbarrieren und Lernschwierigkeiten einzelner Lernender oder von Lerngruppen liefern und die Grundlage für individuelle Beratung und Unterstützung bilden. z Von den Lehrenden gezielt eingeholte Feedbacks der Lernenden sind darüber hinaus eine Grundlage für eine Verbesserung der Unterrichtsplanung und -durchführung. Lehrerinnen und Lehrer brauchen Expertise für die Vermittlung von Lernkompetenz. Aufgrund der universitären Einbindung der ersten Phase der deutschen Lehrerausbildung hat bisher niemand Zweifel angemeldet an der fachwissenschaftlichen Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern, die sie als Grundvoraussetzung für die Planung von Unterricht benötigen. Die Expertise für die Vermittlung von Lernkompetenz wird dagegen nicht mit der gleichen Sicherheit und Systematik erworben.42 Nun ist die Förderung von Lernkompetenz nicht trennbar von Inhalten und muss fachlich, didak- 33303.book Seite 33 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lernen und Unterricht | 33 tisch-methodisch und schulorganisatorisch eingebettet werden. Insofern bleibt die Trennung von fachlicher und Lernkompetenz ein analytisches Konstrukt, das sich aber als nützlich erweist, wenn es darum geht, Hilfe für Lehrerinnen und Lehrer zu gestalten, die ihren Unterricht verbessern und weiterentwickeln wollen. 42 Im Rahmen einer internationalen Vergleichsstudie stellt Reuter fest: “The following competences are central to discourse on the teaching ideal […]: (1) competency in a discipline […], (2) competency related to a broader learning area […], (3) didactic competency […], (4) leadership qualities (for classes and learning groups) […], (5) diagnostic, advisory and evaluative competencies […], (6) media competency […], (7) metacognitive competency [...]. Even though there seems to be a consensus that these competencies are desirable for professional employment as a teacher, they are not systematically developed in the current teacher-training courses. To put it more pointedly: the subjectrelated qualification is geared towards the standards of the respective discipline; the subject-related didactic training is marginalized; and the pedagogical-psychological qualification is very arbitrary. Discussions of national (examination) standards for teacher training are only just beginning to appear.” Reuter, L.R., „Teacher training“ in: Döbert, H., Klieme, E., Sroka, W., eds., Conditions of School Performance in Seven Countries. A Quest for Understanding the International Variation of Pisa Results, Münster 2004, S. 319 f. 33303.book Seite 34 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 3 Eine Antwort auf PISA, IGLU etc. Standard und Anpassung Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Die in den folgenden Kapiteln beschriebenen Trainingsmaßnahmen erheben nicht den Anspruch, das einzig mögliche Konzept zur Unterrichtsentwicklung zu sein. Sie basieren auch nicht auf einem vollständig entfalteten theoretischen Konzept. Vielmehr handelt es sich um ein Lernkonzept, das auf den bisher dargestellten theoretischen Grundlagen fußt und neu erkannte schulische Anforderungen wie auch bildungspolitische Rahmensetzungen konstruktiv aufnimmt und aktiv in seine inhaltliche Weiterentwicklung einbezieht. Es kann verstanden werden als eine mögliche Antwort auf die Evaluationsergebnisse, die die Leistungsvergleichsstudien von TIMSS über PISA und IGLU bis zu DESI, von LAU über KESS zu VERA geliefert haben und liefern; denn: „Wir wissen immer besser Bescheid über fachliche Schwächen und Stärken von Schülern. Wenn es darum geht, aus den Ergebnissen der großen Evaluationsstudien unterrichtliche Konsequenzen für die systematische Verbesserung des Lehrens und Lernens, für den Ausgleich von Kompetenzdefiziten abzuleiten, sieht die Lage schlechter aus.“1 Die Trainingsmaßnahmen wollen und dürfen kein Korsett sein, sondern ein in sich stimmiges, plausibles und deshalb „verführerisches“ Angebot, das einerseits interessante Ausgangspunkte für eine gemeinsame Praxis in einer Schule und darüber hinaus in einer Bildungsregion bietet, andererseits aber die Anpassung an die Besonderheiten der Einzelschule ermöglicht, ja sogar erfordert. Die angestrebte Selbstständigkeit und Eigenverantwortung jeder mit dem Konzept arbeitenden Schule werden auch im Prozess ernst genommen. 3.1 überfachliche plus fachliche Kompetenzen Worum es geht: Lernkompetenz erwerben „Jetzt komme ich zum Kern des ‚guten‘ Unterrichts, nämlich zu fachübergreifenden Merkmalen, die seine Qualität ausmachen.“2 In diesem Sinn setzen die Trainingsmaßnahmen bei der Förderung von Methoden-, Team- und Kommunikationskompetenzen an, beschränken sich aber nicht darauf, sondern sind immer auf die Verzahnung mit den fachlichen Kompetenzen angelegt. Sie werden also in ihrem Gesamtzusammenhang den Anforderungen gerecht, die sich aus einer umfassenden Definition von Lernkompetenz ergeben, wie sie Weinert geliefert hat (vgl. Kap. 2.1 1 2 Helomke, A. (2006), S. 42 Ebd., S. 44 33303.book Seite 35 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Worum es geht: Lernkompetenz erwerben | 35 und 2.2). Er unterscheidet im Kontext des schulischen Unterrichts folgende Kompetenzen: fachliche Kompetenzen (z. B. physikalischer, fremdsprachlicher, musikalischer Art), z fachübergreifende Kompetenzen (z. B. Problemlösen) sowie z Handlungskompetenzen, „die neben kognitiven auch soziale, motivationale, volitionale und oft moralische Kompetenzen enthalten und es erlauben, erworbene Kenntnisse und Fertigkeiten in sehr unterschiedlichen Lebenssituationen erfolgreich, aber auch verantwortlich zu nutzen“.3 z Dieser Kompetenzbegriff schließt fachliche und überfachliche kognitive sowie metakognitive Strategien der Steuerung des Lernprozesses ein und ist über die Ebene der Handlungskompetenz als Lernkompetenz zu bezeichnen. Zu fachübergreifenden Kompetenzen gehören z. B. Arbeits-, Zeit- und Lernplanung, also so scheinbar einfache Dinge wie einen Schreibtisch einrichten und so komplizierte Dinge wie den eigenen Lerntyp kennen und beachten. Dazu gehören die so vielfältig und auch komplex gewordenen Methoden der Informationsgewinnung und -erfassung, also schnell und Sinn entnehmend lesen ebenso wie eine Website entschlüsseln. Dazu gehören dann auch Informationsverarbeitung und -aufbereitung, also z. B. ein Protokoll schreiben und eine Filmmitschrift machen. Eng damit verbunden sind kommunikative Kompetenzen wie z. B. freies Sprechen bei der Präsentation von Arbeitsergebnissen. Zu sozialen Kompetenzen gehören Kooperationsfähigkeit, also z. B. andere als Arbeitspartner akzeptieren und gemeinsam Entscheidungen treffen, ebenso wie Regelverhalten und Konfliktfähigkeit, also z. B. sachlich-konstruktiv Kritik üben. Eng damit verbunden sind kommunikative Kompetenzen, die unter der Überschrift „miteinander reden“ zusammengefasst werden können, also z. B. gezielt Fragen stellen und aktiv zuhören. Handlungskompetenz umfasst Lernmotivation, also neugierig sein, offen sein, Freude am Lernen und an der Arbeit entwickeln, Forscherdrang stärken, ebenso wie die Fähigkeit der Selbsteinschätzung, also z. B. eigene Stärken und Schwächen wahrnehmen, aber auch Selbstbewusstsein fördern, dazu die Fähigkeit, Verantwortung für das eigene Tun zu übernehmen und Frustrationstoleranz aufzubauen. Um diese Kompetenz-Ziele auch nur annähernd zu erreichen, brauchen wir einen Perspektivenwechsel in unseren Schulen unter dem Motto „Vom Lehren zum Lernen“. Wilfried Bos hat dies bei einer Veranstaltung 3 Weinert, F. E., (2002), S. 27 f. Was heißt das eigentlich: fachübergreifende Kompetenzen? Was heißt das eigentlich: soziale Kompetenzen? Was heißt das eigentlich: Handlungskompetenz? Vom Lehren zum Lernen! 33303.book Seite 36 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 36 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept des Projektes "Selbstständige Schule" in Herford im März 2005 auf den Punkt gebracht, indem er betonte, in Deutschland müsse endlich Abschied genommen werden von der noch immer weithin vorhandenen Monokultur des „fragend-entwickelnden“ Unterrichts in Form von Frontalunterricht.4 Bei diesem Abschied sollen den Lehrerinnen und Lehrern die in den nächsten Kapiteln beschriebenen Trainings helfen. Dass diese Überlegungen nicht erst in der aktuellen Debatte um die sogenannte neue Lernkultur relevant sind, mag ein Zitat von Humboldt belegen, das aus dem Jahr 1809 stammt: „Der Zweck des Schulunterrichts ist die Übung der Fähigkeiten und die Erwerbung der Kenntnisse, ohne welche wissenschaftliche Einsicht und Kunstfertigkeit unmöglich ist … Der junge Mensch soll in Stand gesetzt werden, den Stoff, an welchem sich alles eigene Schaffen immer anschließen muss, teils schon jetzt wirklich zu sammeln, teils künftig nach Gefallen sammeln zu können, und die intellektuell-mechanischen Kräfte auszubilden. Er ist also auf doppelte Weise, einmal mit dem Lernen selbst, dann mit dem Lernen des Lernens beschäftigt.“5 3.2 Vorläuferprojekt "Schule & Co." Ursprungskonzepte und ihre Weiterentwicklung in den Projekten "Schule & Co." und "Selbstständige Schule" Das Projekt "Selbstständige Schule" kann sich auf Erfahrungen stützen, die in einem anderen Projekt gesammelt wurden. „Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld“, kurz "Schule & Co.", hieß das vom nordrhein-westfälischen Schulministerium und von der Bertelsmann Stiftung initiierte und von 1997 bis 2002 in der Stadt Leverkusen und im Kreis Herford durchgeführte Projekt.6 Ziele waren die qualitätsorientierte Selbststeuerung an Schulen und die Entwicklung regionaler Bildungslandschaften – insofern kann es heute als Vorläuferprojekt von "Selbstständige Schule" angesehen werden. Es basierte einerseits auf 4 5 6 www.selbststaendige-schule.nrw.de/ /service/News/Prof._Bos_Mythen_ueber_Schulqualitaet, Stand Juli 2005. Nebenbei bemerkt: Bos „zerstörte“ mit seinen Untersuchungen verschiedene „Mythen der Schulqualität“, so z. B. dass es für den Lernerfolg auf die Zahl der Unterrichtsstunden, die Zahl der Schuljahre oder die Größe der Lerngruppen ankomme. Diese Faktoren seien zwar wichtig, aber nicht entscheidend. Entscheidend sei vielmehr die Qualität des Unterrichts und die pädagogische Teamkultur. Für die Teamarbeit – so ergebe der internationale Vergleich – wendeten deutsche Lehrerinnen und Lehrer weniger Zeit auf als ihre Kolleginnen und Kollegen im Ausland. Humboldt, W. von, Königsberger Schulplan in: Flitner, A./Giel, K., Hrsg., Wilhelm von Humboldt: Werke in fünf Bänden, Darmstadt 1996, Band IV, S. 169 f., zitiert nach Helmke (2003), S. 23 www.schule-und-co.de. Im Kreis Herford wird das Projekt seit 2002 in Kooperation zwischen dem Kreis Herford und der Bezirksregierung Detmold mit 83 von den insgesamt 98 Schulen des Kreises fortgesetzt und weiterentwickelt; vgl. www.regionales–bildungsbuero.de 33303.book Seite 37 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Ursprungskonzepte und ihre Weiterentwicklung | 37 Anregungen der Bildungskommission NRW7 und andererseits auf Erfahrungen, die in Kanada in der Schulregion von Durham (Toronto) gemacht wurden. Für ihren innovativen Weg der Schulreform war die Schulbehörde von Durham 1996 mit dem Carl Bertelsmann-Preis ausgezeichnet worden. "Schule & Co." hatte beim Start kein fertiges Konzept für die Umsetzung seiner Ziele. Vielmehr wurden zu Beginn des Projektes alle Schulen befragt, worin denn die wesentlichen Schwierigkeiten und Probleme ihres schulischen Alltags bestünden, um Unterstützung für die Bewältigung dieser Probleme bereitzustellen. Die Befragung aller 52 Schulen ergab, dass Schulen sich Unterstützung für vier Bereiche erhofften: Carl BertelsmannPreis 1996 Verbesserung der pädagogischen Arbeit, z Verbesserung der internen Kooperation und Führung, z Verbesserung der Kooperation im Umfeld und z Verbesserung des Ressourceneinsatzes. z Diesen Bedürfnissen entsprechend, wurden kontinuierlich Qualifizierungsangebote und Unterstützungsmaßnahmen aufgebaut, sodass am Ende des Projektes vielfältige Erfahrungen vorlagen und ein in der Praxis erprobtes Konzept für die Entwicklung von Schulen evaluiert werden konnte.8 Ein zentrales Ergebnis war, dass Unterricht sowie das eigenverantwortliche Lernen und Arbeiten der Schülerinnen und Schüler der ultimative Bezugspunkt von Schulentwicklung sind – eine Bestätigung des kanadischen Schulforschers Michael Fullan, der postuliert, dass die meisten Reformprojekte im Bildungsbereich scheitern, weil „die verwendeten Strategien nicht die Dinge in Angriff nehmen, die wirklich wichtig wären. Sie sind weder auf eine grundlegende Unterrichtsreform noch auf die damit verbundene Entwicklung einer neuen pädagogischen Teamkultur ausgerichtet.“9 7 8 9 Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft, Neuwied 1995 Vgl. Bastian, J./Rolff, H-G., Abschlussevaluation des Projektes "Schule & Co.", Gütersloh 2002 Herrmann, J., Unterrichtsentwicklung im Projekt "Schule & Co." – Interne Evaluation, Gütersloh 2002 Holtappels, H. G./Leffelsend, S., Entwicklung überfachlicher Kompetenzen durch Schülertrainings und Unterrichtsentwicklung: Ergebnisse einer Schülerbefragung des Projektes "Schule & Co." – Forschungsbericht, Gütersloh 2003 Fullan, M., Die Schule als lernendes Unternehmen: Konzepte für eine neue Kultur in der Pädagogik, Stuttgart 1999, S. 85 Warum scheitern Schulprojekte? 33303.book Seite 38 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 38 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Heinz Klippert: Pädagogische Schulentwicklung Risters/Cwik: Angebot für die Grundschulen Weiterentwicklungen Als Qualifizierungsprogramm zur Verbesserung des Unterrichts konnten die Projektschulen in "Schule & Co." in der ersten Phase die „Pädagogische Schulentwicklung“ wählen.10 Sie bot zu diesem Zeitpunkt zuerst für Lehrerinnen und Lehrer und dann für Schülerinnen und Schüler Trainings zum eigenverantwortlichen Arbeiten, Methodentrainings, Kommunikationstrainings und Trainings zur Teamentwicklung im Klassenraum. Heinz Klippert, der Entwickler dieses Programms zur Lehrerfortbildung, schulte Trainerinnen und Trainer für beide Modellregionen, die bald an Projektschulen zu arbeiten begannen. Da Klippert selbst zu diesem Zeitpunkt vorrangig Erfahrungen in der Sekundarstufe I besaß, wurden Trainerinnen und Trainer für Grund- und Förderschulen ergänzend durch Willi Risters und Gabriele Cwik weiterqualifiziert. Zusätzlich zu Klipperts Grundausbildung arbeiteten alle ausgebildeten Trainerinnen und Trainer in Praxisworkshops an Verfahren zur Selbstevaluation ihres eigenen Unterrichts.11 In allen Projektschulen waren Steuergruppen gebildet und im Schulentwicklungsmanagement geschult worden, kurze Zeit später wurde nach einer umfassenden Bedarfserhebung die Fortbildung der Schulleiterinnen und Schulleiter begonnen; außerdem wurden zeitversetzt auch Evaluationsberaterinnen und -berater ausgebildet. Bereits 1999, also vor Mitte der Laufzeit des Projektes, wurde deutlich, dass dieses Grundkonzept von Klippert den bis dahin beteiligten Schulen eine wirksame Unterstützung bot. Da erstmals eine so große Zahl von Schulen verschiedener Schulformen parallel mit diesem Programm arbeitete, wurde aber gleichzeitig deutlich, in welchen Bereichen es der Weiterentwicklung bedurfte12: 10 Klippert, H., Methodentraining. Übungsbausteine für den Unterricht, Weinheim und Basel 1994 (inzwischen 15. Aufl., 2005) Klippert, H., Kommunikationstraining. Übungsbausteine für den Unterricht, Weinheim und Basel 1995 (inzwischen 10. Aufl., 2005) Klippert, H., Teamentwicklung im Klassenraum, Übungsbausteine für den Unterricht, Weinheim und Basel 1998 (inzwischen 7. Aufl., 2005) Lohre, W., Hrsg./Klippert, H., Auf dem Weg zu einer neuen Lernkultur, Gütersloh 1999 Inzwischen liegen weitere Bände vor, die dieses Programm darstellen: Klippert, H., Pädagogische Schulentwicklung. Planungs- und Arbeitshilfen zur Förderung einer neuen Lernkultur, 2. Aufl., Weinheim 2000 Klippert H., Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen. Bausteine für den Fachunterricht, 4. Aufl., Weinheim und Basel 2004 Klippert, H./Müller, F., Methodenlernen in der Grundschule. Bausteine für den Unterricht, 2. Aufl., Weinheim und Basel 2004 Klippert, H., Planspiele, 4. Aufl., Weinheim und Basel 2002 Klippert, H., Lehrerbildung. Unterrichtsentwicklung und der Aufbau neuer Routinen, Weinheim und Basel 2004 Klippert, H., Lehrerentlastung, Weinheim und Basel 2006 11 Vgl. Herrmann, J., Höfer, C., Evaluation in der Schule – Unterrichtsevaluation. Berichte und Materialien aus der Praxis, Gütersloh 1999 12 Vgl. Höfer, C., Unterrichtsentwicklung im Projekt "Schule & Co.", Gütersloh 2002 33303.book Seite 39 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Ursprungskonzepte und ihre Weiterentwicklung | 39 z z z z z Schulstufen- bzw. schulformspezifische Differenzierungen erleichterten die Akzeptanz in den Kollegien und verringerten die notwendige Adaptionsleistung des Kollegiums für die eigene Schule. Die Verzahnung mit dem Fachunterricht wurde systematischer angegangen. Die gezielte Arbeit an der Lehrerrolle unterstützte die Ausbildung neuer Routinen. Systematische Selbstreflexion und Elemente der Selbstevaluation begleiteten den Veränderungsprozess bei Lehrerinnen und Lehrern sowie Schülerinnen und Schülern. Neue Medien mit ihren besonderen Möglichkeiten wurden einbezogen. Aufgrund der Vorerfahrungen von Risters/Cwik13 wurden den Grundund Förderschulen von Anfang an nur Wochentrainings angeboten, in denen die Vorbereitung von Unterricht im Lehrerteam, die Durchführung und die Reflexion im Team integriert sind (s. Kap. 5.3). Andere Aspekte wurden schon während der Ausbildung der ersten Trainerinnen und Trainer in das Programm eingebaut und später nach ihrer Erprobung in der Praxis zu festen Bestandteilen erklärt. Als ein Beispiel seien die Lerntagebücher genannt, mit denen gute Erfahrungen auch bei der Thematisierung der Lehrerrolle gemacht werden konnten.14 Parallel zu kontinuierlichen eigenen theoretischen Überlegungen und den aus der nun vielfältigeren Praxis abgeleiteten Veränderungen wurde gezielt nach ergänzenden Konzepten und elaborierten Erfahrungen mit ähnlichen programmatischen Zielsetzungen gesucht. Wichtige Impulse konnten von der Schulentwicklerin Kerstin Tschekan gewonnen werden, die sich mit den Gelingensbedingungen von Lernen aus konstruktivistischer Sicht auseinandergesetzt hat. Sie hat auch die sich verändernde Lehrerrolle im Prozess der Unterrichtsentwicklung systematisch dargestellt und die Notwendigkeit erläutert, diesen Prozess bewusst und kontinuierlich zu steuern. Vom lehrergesteuerten Unterricht hin zu einem „Unterricht des schülerverantwortlichen Lernens“ wird die begleitende Rolle des Lehrers und der Lehrerin immer wichtiger, während die vorgebende und aktivierende reduziert werden.15 Tschekan stellt – in Anlehnung an amerikanische Studien – als ein Kernziel von Unterricht 13 Risters und Cwik haben inzwischen außerhalb des Projektes unter der Überschrift „Lernen von Anfang an“ Adaptionen des Klippert’schen Modells für die Grundschule erarbeitet und bieten Trainings speziell für Grundschulen; vgl. Cwik, G./Risters, W., Lernen von Anfang an, Berlin 2004 14 Vgl. Tolksdorf, R., „Lernjournale an der Sonderschule für Lernbehinderte“, in: Buchen, H./Horster, L./Rolff, H.-G., Hrsg., Schulleitung und Schulentwicklung, E 2.32., Berlin 2002, S. 1–17 15 Vgl. Tschekan, K., „Guter Unterricht und der Weg dorthin“ in: Buchen, H./Horster, L./ Rolff, H.-G., Hrsg., Schulleitung und Schulentwicklung, E 2.31, Berlin 2002, S.1–16 Kerstin Tschekan: Veränderungen der Lehrerrolle 33303.book Seite 40 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 40 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Norm Green: Cooperative Learning neben selbstständigem und effizientem Lernen das kooperative Lernen heraus und postuliert den Mehrwert des gemeinsamen gegenüber dem individuellen Lernen. Der Blick richtete sich auch nach Kanada, wo der Name Norm Green für das Herzstück des preisgekrönten kanadischen Reformansatzes auf Unterrichtsebene steht. Greens Überlegungen zum „Cooperative Learning“16, seine u. a. von Maslow (Bedürfnishierarchie), Bruner (Reziprozität), Gardner (Multiple Intelligenzen), Borba (Selbstvertrauen) und Bloom (Lerntaxonomie) abgeleiteten Begründungen, z seine vielfältigen Angebote für die Praxis im Klassenraum, 17 z die durch amerikanische Untersuchungen von Joyce und Johnson/ 18 Johnson belegten Erfolge dieser Methoden z und nicht zuletzt seine überzeugende Trainingsarbeit auch mit deutschen Lehrerinnen und Lehrern sowie Trainerinnen und Trainern z haben dazu geführt, dass Elemente seines Trainingsprogramms auch Eingang gefunden haben in die Trainings, die heute im Projekt "Selbstständige Schule" angeboten werden. Weidner definiert: „Kooperatives Lernen ist eine besondere Form von Kleingruppenunterricht, der – anders als der traditionelle Gruppenunterricht – die sozialen Prozesse beim Lernen besonders thematisiert, akzentuiert und strukturiert. Der Entwicklung von der losen Gruppe zum ,echten‘ Tun mit erkennbarer Identität kommt hohe Bedeutung zu. Durch vielfältige Maßnahmen und Aktivitäten wird die Eigenverantwortlichkeit für die Gruppenlernprozesse angebahnt und ausgebaut. Durch sensibel geplante Prozesse wird eine positive gegenseitige Abhängigkeit der Gruppenmitglieder erzeugt, was sich sowohl auf die sozialen Interaktionsprozesse als auch auf die Arbeitsergebnisse oder -pro16 Ein „Trainingsbuch“ zu Greens Programm liegt inzwischen vor: Green, N./Green, K., Kooperatives Lernen im Klassenraum und im Kollegium, Seelze-Velber 2005. Eine Adaption für die eigene Schule wurde vorgelegt von Margit Weidner, Kooperatives Lernen im Unterricht. Das Arbeitsbuch, Seelze-Velber 2003. Ebenfalls auf der Basis der Arbeit an der eigenen Schule ist entstanden: Brüning, L., Saum, T., Erfolgreich unterrichten durch Kooperatives Lernen. Strategien zur Schüleraktivierung, Essen 2006; eine kurze Darstellung der Prinzipien und Ziele kooperativen Lernens ist auch nachzulesen in: Fink, M., Tschekan, K., Hilbig, I., „Schüler aktivieren – kooperativ arbeiten“ in: Lernende Schule, Heft 33, 2006, S. 4–8 (Dieses Heft ist komplett dem Thema „Kooperatives Lernen“ gewidmet.) 17 Joyce, B., Models of Teaching, 7th ed., Boston 2003 18 Johnson, D./Johnson, R. Circles of Learning: Cooperation in the Classroom, Edina, Minnesota 1986; dies., Cooperation and Competition – Theory and Research, Edina, Minnesota 1989; inzwischen wurde eine der zahlreichen Arbeiten der amerikanischen Geschwister, die zu den Wegbereitern des kooperativen Lernens gehören, ins Deutsche übersetzt: Johnson, D./Johnson, R., Johnson Holubec, E., Kooperatives Lernen – Kooperative Schule. Tipps, Praxishilfen, Konzepte, Mülheim a.d. Ruhr 2005 33303.book Seite 41 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Ursprungskonzepte und ihre Weiterentwicklung | 41 dukte günstig auswirkt. Hervorzuheben ist: Die Gruppenprozesse beim Kooperativen Lernen sind mindestens genauso wichtig wie das Arbeitsprodukt.“ [Hervorhebungen im Original]19 Aus Greens kreativen Arrangements stammen wichtige Impulse für den Trainingsbaustein „Teamentwicklung im Klassenraum“, der heute sowohl deutlicher theoretisch begründet ist als auch in höherem Maße prozessorientiert. Teamentwicklung bezieht sich darin stärker auf längerfristig arbeitende Schülerteams denn auf kurze Gruppenarbeitsphasen im Unterricht. Damit wird die Notwendigkeit der Reflexion automatisch generiert. Green benennt als Basiselemente kooperativen Lernens: positive Abhängigkeit, individuelle Verantwortlichkeit, Interaktion von Angesicht zu Angesicht, Sozial- und Teamkompetenz sowie Gruppenstrategien20 und betont: „Eine gelungene Teambildung und Teamentwicklung ist eine der entscheidenden Grundlagen für erfolgreiche Gruppenarbeit. […] Dazu bedarf es elementarer Kenntnisse von Gruppenorganisation und Gruppendynamik sowie darauf basierender methodischer Kompetenzen.“21 Für die Teambildung sowohl im Lehrerzimmer als auch im Klassenraum bietet Green eine Vielzahl von Ideen an. Deutliche Veränderungen hat auch der sogenannte EVA-Baustein erfahren. EVA steht für „Eigenverantwortliches Arbeiten“ und war im Ursprungskonzept Klipperts ein Qualifizierungsbaustein wie die Bausteine zu Methode, Kommunikation und Teamentwicklung. Nach der Einarbeitung von Teilen der Konzepte Tschekans und Greens war daraus bereits in "Schule & Co." ein „Anwendungsbaustein“ geworden. Er wird Lehrerinnen und Lehrern als letzter der vier angeboten und richtet sich nicht mehr an Klassenteams (vgl. Kap. 4.1), sondern an Fachteams derselben Schule. Um die noch weitergehenden Veränderungen in "Selbstständige Schule" zu markieren wurde der Baustein umgetauft und heißt heute „SegeL“, „Selbst gesteuertes Lernen“ im Fachunterricht (im fächerübergreifenden, fächerverbindenden Unterricht, im Projektunterrricht etc.) (vgl. Kap. 4.2.1). Zusammenfassend lassen sich folgende Kennzeichen der heute angebotenen Trainings nennen: ausgerichtet am Leitbild des selbstständigern Lerners bzw. der selbstständigen Lernerin in einem lebenslangen Lernprozess, z theoriegeleitet, z ausdifferenziert für Schulstufen und -formen (Es gibt Trainings für die Primarstufe, die Sekundarstufe I, die Sekundarstufe II, Förderschulen, Berufskollegs), z 19 Weidner, M., (2003), S. 29 Vgl. Green, N.,/Green, K., S. 76 21 Ebd., S. 49 20 von EVA zu SegeL Kennzeichen heutiger Trainings 33303.book Seite 42 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 42 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept z z z z z systematisch an den Fachunterricht angebunden (SegeL), orientiert an komplexen Aufgaben und Lernarrangements, ausgerichtet auf Reflexion und Metakognition, verbunden mit kontinuierlicher Arbeit zur Veränderung der Lehrerrolle sowie adaptionsfähig und anschlussfähig (z. B. Neue Medien, Lesekompetenz). Es ist wichtig hervorzuheben, dass diese Trainings und die damit induzierte Form der Unterrichtsentwicklung mit vielen Schulen gemeinsam erarbeitet und in der Praxis weiterentwickelt wurden.22 3.3 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen 3.3.1 Grundlagentrainings für Schülerinnen und Schüler Grundlagen- oder Sockeltrainings An Klipperts grundsätzlicher Gliederung der Trainings in mehrere Bausteine wird auch in den Trainings im Projekt "Selbstständige Schule" sowohl für die Primarstufe als auch für die Sekundarstufe I festgehalten. Trotz anderer möglicher Kategorisierungen von Lernkompetenz hat sich dieses erfahrungsgestützte Vorgehen bewährt. Aufbau, Ausbau und die möglichst eigenständige Anwendung von Lernkompetenzen sollen bei den Schülerinnen und Schülern zunächst durch Grundlagen- oder Sockeltrainings angebahnt werden. Diese Entscheidung geht davon aus, dass diese Lernkompetenzen insofern als überfachliche bezeichnet werden können, als sie einen methodischen Kern haben (Funktion, Schrittfolgen, Regeln), der in allen Fächern Gültigkeit beanspruchen und variabel angewendet werden kann.23 Die Entscheidung wird durch die Erfahrung gestützt, dass Schülerinnen und Schüler umso effektiver lernen können, je klarer die Lernangebote, die ihnen gemacht werden, auch für sie erkennbar miteinander verknüpft sind. 22 160 Projektschulen und 95 Korrespondenzschulen in den verschiedenen Projektregionen sowie ca. 200 Korrespondenzschulen im Regierungsbezirk Detmold befinden sich im Prozess. Darüber hinaus begann im Jahr 2004 der Transfer in Regionen der Bundesländer Niedersachsen und Brandenburg. Gerade diese Schulen haben mit ihren konkreten Erfahrungen nicht nur das Konzept in der Fläche bestätigt, sondern durch ihre Rückmeldung, Kritik und Verbesserungsvorschläge die Weiterentwicklung maßgeblich beeinflusst. In NRW gibt es inzwischen ca. 400 Trainerinnen und Trainer aller Schulformen, die nach diesem Konzept an Schulen arbeiten können. 23 Vgl. Tschekan, K. (2002), S. 15 33303.book Seite 43 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 43 Trainings zur Unterrichtsentwicklung anwendungsfähiges Wissen intelligentes Wissen variabel einsetzbare Schlüsselqualifikationen Wertorientierung selbst gesteuertes Lernen Methodentraining Kommunikationstraining Teamentwicklung soziales Lernen © Selbstständige Schule Abb. 3: Trainings zur Unterrichtsentwicklung Die Lernarrangements, die für solche Grundlagentrainings gestaltet werden, heißen „Trainingsspiralen“ – so wie die entsprechenden sich anschließenden Arrangements für den Fachunterricht „Lernspiralen“ (vgl. Kap. 3.3.2) genannt werden. Das Bild der Spirale soll das mehrstufige Sich-Hineinarbeiten der Lernenden in eine bestimmte Methode, in ein bestimmtes (fachliches) Thema veranschaulichen. Anders ausgedrückt: Die Schülerinnen und Schüler durchlaufen unterschiedliche, sich ergänzende Übungen bzw. Arbeitsphasen, die ihnen Gelegenheit geben, sich sukzessive mit dem betreffenden Gegenstand vertraut zu machen. Redundanzen sind vor allem bei den Trainingsspiralen nicht nur zulässig, sondern sogar erwünscht, damit alles hinreichend durchdrungen und begriffen werden kann. Das vorrangige Ziel einer Trainingsspirale ist der Aufbau ausgewählter Methoden-, Kommunikations- und Teamkompetenzen, also überfachlicher Kompetenzen, sowie häufig auch bestimmter sozialer Kompetenzen (social skills). In der Regel werden sie an einem der Jahrgangsstufe angemessenem fachlichen Inhalt trainiert. Jede Trainingsspirale beginnt damit, dass Voreinstellungen zum Lerngegenstand aufgebaut werden und vorhandenes Vorwissen bei jedem einzelnen Mitglied der Lerngruppe rekonstruiert wird. Die darauf folgende Erarbeitung neuen Wissens wird Trainingsspiralen 03.fm Seite 44 Dienstag, 10. Oktober 2006 1:44 13 44 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept systematisch reflektiert, das neu Gelernte vielfältig geübt und angewendet. Die Schülerinnen und Schüler arbeiten nach vorgegebenen Arrangements, die der Lehrer oder die Lehrerin allein verantwortet. Abb. 4: Trainingsspirale In einer Reihe von Trainingsspiralen der Primarstufe werden bestimmte Teilkompetenzen selbst zum Inhalt des Grundlagentrainings. Handwerkliche Grundfertigkeiten wie z. B. das präzise Ausschneiden von Formen 33303.book Seite 45 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 45 im ersten Schuljahr werden ausprobiert, durch Reflexion werden Schwierigkeiten und günstige Vorgehensweisen erkannt, die dann in selbst erstellten Regelplakaten fixiert werden. Die jeweilige Problemstellung entspricht möglichst einer fachlichen Anforderung des Jahrgangs. Vergleichbares gilt auch für Trainingsspiralen der Sekundarstufe. Teilkompetenzen oder Strategien werden so weit wie möglich an exemplarischen fachlichen Inhalten erarbeitet. Wie Lehrerinnen und Lehrer dafür qualifiziert werden, solche Trainingsund Lernspiralen zu gestalten, davon soll in Kap. 4.2.1 die Rede sein. Es gibt immer wieder neue Entwicklungen und Anregungen für die Gestaltung von Trainingsspiralen, aber keine Blaupausen, da sie von den Lehrerinnen und Lehrern einer Klasse oder einer Klassenstufe gemeinsam konzipiert werden müssen. Dabei spielen die besonderen Erfordernisse ihrer Schule ebenso eine wichtige Rolle wie die Charakteristika der Lerngruppen, die trainiert werden sollen, der eigene fachliche Hintergrund der Lehrerinnen und Lehrer genauso wie der Bezug zum aktuellen Fachunterricht. Die Trainingsspiralen wie auch die späteren Lernspiralen für den Fachunterricht folgen einer bestimmten Systematik. Es handelt sich nie um die wahllose Aneinanderreihung einzelner Methoden, wie gelegentlich kritisch unterstellt wird. Vielmehr geht es letztendlich immer auch darum, erfahrbar zu machen, wie durch bestimmte Methodenarrangements Inhalte systematisch und reflektiert erschlossen werden können. Lernspiralen sind damit qualitativ etwas anderes als herkömmliche Unterrichtsreihen. Das Bild der Spirale ist auch geeignet, den systematischen Aufbau von Lernkompetenz von Klasse 1 (oder womöglich schon vom Vorschulalter an) bis zur Stufe 12 oder 13 zu verdeutlichen. Die Trainingsspiralen sind – das versteht sich eigentlich von selbst – den Anforderungen einer altersgemäßen Vermittlung und den jeweils zu erreichenden Zielen angepasst. Wie die einzelne Trainingsspirale in sich spiralförmig aufgebaut ist, so ist auch der gesamte Trainingsprozess einer Lerngruppe so gestaltet, dass der nächstfolgende Baustein jeweils die im vorhergehenden Training erlernten Methoden aufgreift, sie in neue Lernarrangements einfädelt und dann weiter ausbaut. Wie die Trainingsspiralen in der Sekundarstufe I auf den Trainings der Primarstufe aufbauen, so setzen die Trainings in der Sekundarstufe II den Kompetenzausbau im Sinne eines Spiralcurriculums stufengemäß fort. Dieser Gedanke wird im Kap. 6 beim Thema Bildungsregion noch einmal aufzugreifen sein. Keine Blaupausen! Spiralcurriculum von 1 bis 12 33303.book Seite 46 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 46 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Missverständnis: Unterrichtsentwicklung ist nicht gleich Methodentraining Warum komplexe Lernarrangements oft scheitern… …und wie sie gelingen können. Methodenkompetenz: Grundlagenbaustein I (MT) Es sei an dieser Stelle, bevor die einzelnen Bausteine der Schülertrainings genauer beschrieben werden, vorsorglich noch einmal betont: Unterrichtsentwicklung im hier beschriebenen Sinn grenzt sich bewusst vom reinen Methodentraining ab und orientiert sich an den hohen Ansprüchen der Entwicklung einer Fähigkeit zur Selbstregulierung des Lernens. Im Verständnis vieler Schulpraktiker wurde in den vergangenen Jahren Klipperts Ansatz immer wieder auf ein solch reines Methodentraining reduziert. Damit ist man ihm nicht gerecht geworden, denn er hat sein Programm selbst als „Pädagogische Schulentwicklung“ viel umfassender angelegt. Der erste Grundlagenbaustein ist in der Regel ein Methodenbaustein, bei dem elementare Lern- und Arbeitstechniken trainiert werden. Freie Arbeit oder Projektwochen, Selbstlernzentren oder Stationenarbeit sind inzwischen weit verbreitete Arrangements. Sie sind allerdings komplex und stellen so hohe Anforderungen an die Fähigkeiten der Schülerinnen und Schüler, dass diese häufig überfordert sind. Dann werden nicht die gewünschten Ergebnisse erzielt und die scheinbar die Selbstständigkeit fördernden Szenarien bleiben bloße Spielwiesen. Das bestätigt dann wiederum diejenigen, die meinen, nur im „eigentlichen“ – und das meint dann im lehrerzentrierten – Unterricht seien vernünftige Resultate zu erzielen. Einen anderen Effekt beschreiben Tschekan/Herrmann, wenn sie konstatieren, dass Schülerinnen und Schüler in solchen Arrangements oft „[…] in der zur Verfügung stehenden Zeit nicht ausreichende Lernergebnisse vorweisen können. Dies führt dann wieder dazu, dass die Lehrperson den Schülerinnen und Schülern durch Hinweise und Vorgaben behilflich sein muss, die entsprechenden Aufgaben zu lösen. Durch eine solche nachträgliche Hilfestellung übernimmt aber wieder die Lehrkraft die Steuerung der Lernprozesse, obwohl es gerade Ziel offener Unterrichtsformen war, die Steuerung bei den Schülerinnen und Schülern zu belassen. Selbstständiges Lernen wird paradoxerweise durch eine Unterrichtsgestaltung, die es ermöglichen soll, verhindert.“24 Ein wichtiger Grund für das Scheitern ist, dass der selbstständige Lerner bzw. die selbstständige Lernerin eine Fülle von Mikrokompetenzen beherrschen muss, um solche Makromethoden wie Referat, Facharbeit, Wochenplanarbeit oder die oben genannten bewältigen zu können. Er oder sie muss geeignete Arbeitsmaterialien auswählen und eine Dokumentation anlegen können, einen Arbeitsplan erstellen und Termine einhalten, eine Lernkartei anlegen und Mindmapping nutzen, schnell oder selektiv lesen, eine Bibliothek nutzen und im Internet recherchieren, einen Text markieren und strukturieren, protokollieren und kommentie24 Tschekan, K./Herrmann, J., „Unterrichtsentwicklung im System am Beispiel des Hamburger ‚Regionalprojekts‘“ in: Journal für Schulentwicklung, Heft 2, 2004, S. 20 33303.book Seite 47 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 47 ren, eine Tabelle anlegen und ein Diagramm gestalten … und diese Liste erhebt keineswegs Anspruch auf Vollständigkeit. Dass man solche Methoden sozusagen en passant lernt, ist eher unwahrscheinlich. Die nötige Methodenbeherrschung stellt sich in der Regel nicht von selbst ein, wenn man Schülerinnen und Schüler nur gewähren und selbstständig arbeiten lässt. Sie stellt sich auch nicht ein, wenn die Methoden „gelehrt“ werden. Sie müssen durch intensives Methodenlernen erworben werden – experimentell im Wege des learning by doing. Und dieses Tun muss immer wieder reflektiert werden. Vor allem die unsicheren, unselbstständigeren, phlegmatischeren Schülerinnen und Schüler sind darauf angewiesen, dass die methodischen Fähigkeiten grundlegend geübt werden. Aber auch leistungsstärkere und -willigere Schülerinnen und Schüler gestalten mit solchem Handwerkszeug ihren Lernprozess effektiver. Je nach Alters- und Schulstufe werden in diesem Baustein u. a. trainiert: Inhalte des Trainingsbausteins verschiedene Methoden der Arbeits-, Zeit- und Lernplanung, verschiedene Methoden der Informationsgewinnung und -erfassung sowie z verschiedene Methoden der Informationsverarbeitung und -aufbereitung. z z Die erwähnten Makromethoden lassen erahnen, dass selbst die Bündelung aller Mikromethoden aus diesem Bereich nicht ausreichen würde, um komplexe Aufgaben zu bewältigen. Andere Lernstrategien müssen hinzukommen. Kommunikationskompetenz: Grundlagenbaustein II (KT) Im zweiten Baustein werden die Grundlagen für die Argumentations- und Gesprächskompetenz der Schülerinnen und Schüler gelegt. Es ist eine weit verbreitete Klage in Schulen und in der Arbeitswelt, dass die Kommunikationsfähigkeit vieler Kinder und Jugendlicher nicht ausreichend ausgeprägt sei. Über die Gründe lässt sich trefflich streiten, aber die Auswirkungen sind eindeutig. Das soziale Miteinander im Klassenraum, in der Schule, in der Familie und in größeren gesellschaftlichen Zusammenhängen leidet. Ein demokratisches Gemeinwesen ist aber in besonderer Weise auf die Argumentations- und Diskussionsfähigkeit seiner Mitglieder angewiesen. Teamarbeit, unabdingbar heute an fast jedem Arbeitsplatz, setzt voraus, dass die Kommunikation der Teammitglieder funktioniert. Das gilt natürlich auch für die in Schule praktizierten Formen der Teamarbeit: Partner- und Gruppenarbeit. Wenn die Kommunikation mit anderen nicht funktioniert, berührt das in ganz erheblichem Maße auch Kompetenzen, die häufig unter Selbstkompetenzen zusammengefasst werden. Das Selbstbewusstsein leidet mit allen Konsequenzen Auswirkungen mangelnder Kommunikationsfähigkeit 33303.book Seite 48 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 48 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Erkenntnisse der DESI-Studie Nicht allein der Deutschunterricht ist zuständig! Inhalte des Trainingsbausteins für die Freude an der und den Erfolg mit der Arbeit – von der Freude am Leben ganz zu schweigen. Es ist also allen klar: Die kommunikativen Potenziale der Kinder und Jugendlichen müssen stärker herausgefordert und konsequenter entwickelt werden. Dass dafür der Frontalunterricht zu wenig Gelegenheit bietet, ist hinreichend beschrieben. Einen interessanten Aspekt beleuchtet z. B. die im März 2006 vorgelegte DESI-Studie (Deutsch Englisch Schülerleistungen International). Sie belegt anhand einer Videostudie in 105 Englischklassen, dass „die Lehrkraft im Durchschnitt doppelt so viel spricht wie alle Schüler zusammen. Auf Fragen der Lehrkraft erfolgt in der Hälfte der Fälle innerhalb von 3 Sekunden die Schülerantwort – wenn nicht, wird nur selten länger gewartet.“25 Positiv gewendet: Die Studie zeigt, dass ein hoher Sprechanteil von Schülerinnen und Schülern und geduldigeres Warten auf Schülerantworten – neben anderen fachspezifischen und überfachlichen Faktoren der Unterrichtsqualität – nachweislich mit einem besonders starken Zuwachs im Hörverstehen zusammenhängt. Dass es nicht ausreicht, eine solch grundlegende und umfassende Aufgabe allein dem Deutschunterricht zuzuweisen, also sie allein zu einem Teilziel eines in manchen Jahrgangsstufen nur dreistündig (d. h. 3 x 45 Minuten pro Woche) unterrichteten Faches zu machen, liegt auf der Hand. Selbst wenn der Deutschunterricht sich ausschließlich auf die Förderung der kommunikativen Kompetenz konzentrieren würde, könnte der einzelne Schüler bzw. die einzelne Schülerin in einer „normal“ großen Lerngruppe nur etwa 180 Minuten, also 3 Stunden pro Jahr, an Übungszeit für sich beanspruchen. Natürlich ist diese Rechnung Unsinn, weil solche Zeiten nicht einfach per Division zu ermitteln sind. Sie zeigt aber bei aller Vereinfachung doch, dass Kommunikationskompetenz in ihrem überfachlichen Kern sozusagen vor die Klammer gezogen werden und dann in vielfältigen fachlichen Zusammenhängen geübt werden muss. Schließlich wird kommunikative Kompetenz (wie die anderen überfachlichen Kompetenzen auch) in allen Fächern als notwendig zugrunde gelegt – also müssen auch alle für ihren Erwerb verantwortlich sein. Im Grundlagenbaustein II werden – wieder spiralförmig aufbauend möglichst über mehrere Jahrgangsstufen bis hin zum Training für das mündliche Abitur in Stufe 12 oder 13 – u. a. geschult: 25 Klieme, E., „Zusammenfassung zentraler Ergebnisse der DESI-Studie“, www.dipf.de/ desi/DESI_Ausgewaehlte_Ergebnisse.pdf, S. 7 33303.book Seite 49 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 49 nonverbale Elemente (Sprechangst überwinden, Blickkontakt halten, Körpersprache und Mimik deuten und einsetzen, zuhören, Nähe aushalten, vor größeren Gruppen stehen etc.) und paraverbale Elemente (Lautstärke und Tonhöhe variieren, deutlich artikulieren etc.), z verbale Elemente: – frei sprechen (zusammenhängend und strukturiert erzählen, berichten, darstellen; vollständige Sätze formulieren und Satzmuster variieren können, Fachsprachen verwenden etc.), – miteinander reden (Gesprächsregeln kennen und anwenden, sich aktiv beteiligen, überzeugend argumentieren, eigene Meinung verbalisieren und begründen, gezielte Fragen stellen, auf Fragen eingehen, aktiv zuhören, Gehörtes wiedergeben, zusammenfassen, fair und sachlich bleiben, in Rollen schlüpfen und Positionen anderer übernehmen, provozieren ohne zu verletzen etc.). z Auf die Reflexion als wichtiges Element eines Lernprozesses wurde bereits mehrfach hingewiesen. Sie ist bei diesem Training besonders wichtig, weil Schülerinnen und Schüler gelegentlich dazu neigen, solche Übungen als Spielereien zu betrachten. Das entsprechende Problembewusstsein muss oft erst geweckt und die Bereitschaft entwickelt werden, sich auf einem Gebiet auf einen systematischen Lernprozess einzulassen, wo scheinbar Persönliches tangiert wird. Dazu ist es vor allem wichtig, dass Schülerinnen und Schüler lernen, mit Rückmeldungen zu ihrem eigenen Kommunikationsverhalten konstruktiv umzugehen und anderen ein konstruktives Feedback zu geben. Auch und gerade für diese Trainings gilt, dass sie ihre Wirkung erst dann dauerhaft entfalten können, wenn die Schülerinnen und Schüler in möglichst vielen Situationen in den verschiedenen Unterrichtsfächern die Möglichkeit zur Übung erhalten und damit gleichzeitig zur Anwendung herausgefordert werden. Es ist nämlich ganz unbestritten ein sehr langwieriger Prozess für das Subjekt, sein Kommunikationsverhalten dauerhaft und sicher zu verbessern. Die Trainings in der Sekundarstufe I bauen deshalb auch hier systematisch auf den Grundschultrainings auf. Teamkompetenz: Grundlagenbaustein III (TT) Dass in der Wirtschaft Teamfähigkeit ein wichtiges Kriterium für die Beurteilung von Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern und damit für beruflichen Erfolg ist, braucht nicht mehr ausgeführt zu werden. Es lohnt sich aber vielleicht daran zu erinnern, dass die Zusammenarbeit mit anderen seit Jahrzehnten von Reformpädagogen als ein wichtiges Element ganzheitlichen Lernens und damit der Persönlichkeitsentwicklung verstanden wird. Wirtschaftliche und pädagogische Argumente treffen sich hier also. Reflexion Wie erzeugt man Nachhaltigkeit? Wirtschaft und Reformpädagogik 33303.book Seite 50 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 50 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Partner- und Gruppenarbeit: alte Hüte? Was heißt eigentlich Teamfähigkeit? Teamkompetenz bei Schülerinnen und Schülern, aber auch bei Lehrerinnen und Lehrern Partner- und Gruppenarbeit sind doch nun wirklich feste Bestandteile des didaktisch-methodischen Repertoires an unseren Schulen – mag man da einwenden. Schülerinnen und Schüler führen sie täglich durch. Das ist sicher richtig, aber sie werden von ihnen (ebenso wie von Lehrerinnen und Lehrern) nicht selten als nicht zielgerichtet und effizient genug empfunden: Da wird Zeit vergeudet, weil man viel zu lange über die Arbeitsorganisation diskutiert. Da arbeiten immer dieselben, andere drücken sich. Schwächere werden untergebuttert, Stillere kommen nicht zu Wort. Konflikte kochen hoch, deren Lösung mehr Arbeitszeit einnimmt als die Arbeit an der Sache. Keiner fühlt sich wirklich verantwortlich für das Ergebnis, das sowieso immer von den geborenen Entertainern präsentiert wird. Die Klassenräume sind zu klein, die Lautstärke wird unerträglich. Die Mängelliste ließe sich beliebig verlängern. Wie auch für andere Kompetenzen gilt für die Teamfähigkeit, dass sie sich aus vielen Mikroelementen zusammensetzt, die bewusst gemacht, gezielt erarbeitet und eingeübt werden müssen. Nicht wenige davon könnten auch als Bestandteile der emotionalen Intelligenz beschrieben werden. Da geht es darum, andere (auch des anderen Geschlechts, auch mit anderer Herkunft) als Arbeitspartnerinnen oder Arbeitspartner zu akzeptieren. Nicht immer ist es einfach, andere Ideen zuzulassen oder zu entscheiden, wann es gilt, sich selbst einzubringen oder sich zurückzunehmen. Toleranz und Rücksichtnahme gehören unabdingbar dazu, Unterstützung zu geben und anzunehmen, einen einmal erreichten Konsens zu respektieren, aber auch zu Empathie fähig zu sein und im Konfliktfall zu vermitteln. Konflikt- und Kooperationsfähigkeit könnte man zusammenfassend sagen, aber das darf nicht dazu führen, dass Trainings zur Förderung der Teamfähigkeit im Klassenzimmer reine gruppendynamische Übungen und Befindlichkeitsklärungen sind. Die in diesem Band vorgestellten Trainings verstehen sich so, dass Schülerinnen und Schüler in der Lerngruppe gemeinsame Regeln erarbeiten und vereinbaren, dass sie Standards für Arbeitsabläufe festlegen und Interaktions- und Kooperationsroutinen schaffen. Dazu gehören dann z. B. Funktionen wie Gruppenleiter, Regelbeobachter und Zeitwächter zu verteilen und zu übernehmen, einen gemeinsamen Arbeitsplan zu erstellen, gängige Melderegeln zu beachten, das Wort gezielt weiterzugeben, die Gesprächsleitung übernehmen zu können, beim gestellten Thema zu bleiben u. v. a. m. Hier ist besonders augenfällig, dass solche Regeln nur dann zu einem Erfolgsfaktor für Teamarbeit werden, wenn sie immer wieder reflektiert werden, wenn sie langfristig eingeübt werden und sozusagen in Fleisch und Blut übergehen und wenn sie Gültigkeit in allen Lernzusammenhängen dieser Lerngruppe haben – nicht nur für ein Fach, nicht nur für ein Schuljahr, nicht nur bei einem Lehrer oder einer Lehrerin. Die vorherige Verständigung aller Lehrerinnen und Lehrer nicht nur der Lerngruppe, 33303.book Seite 51 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 51 sondern der Schule auf gemeinsame Zielvorstellungen trägt wesentlich zum Erwerb der Teamfähigkeit bei ihren Schülerinnen und Schülern bei. Die Teamkompetenz der Lehrerinnen und Lehrer ist nicht nur wichtige Voraussetzung, weil sie möglicherweise Vorbildcharakter hat, sondern sie ist auch aus inhaltlichen Gründen wichtig. In einer Schule ist – um dies an einem Beispiel zu erläutern – das Zufallsprinzip bei der Auswahl derjenigen, die Arbeitsergebnisse präsentieren, zur Regel gemacht geworden. Das führt nicht nur zu Hitlisten der witzigsten „Zufallsgeneratoren“ in der Schülerzeitung, sondern nach und nach zu dem Effekt, dass es für jeden Schüler und jede Schülerin zur Selbstverständlichkeit wird, Arbeitsergebnisse vor kleinen und größeren Gruppen zu präsentieren, und sich die Qualität der Präsentation schulweit allmählich deutlich verbessert. (Natürlich wird das durch andere Trainingsmaßnahmen unterstützt.) Außerdem steigt der Grad an Verantwortung, die jeder bzw. jede Einzelne für Arbeitsergebnisse von Gruppen übernimmt, erkennbar und damit das Engagement für die Arbeit; denn es könnte einen ja jederzeit treffen …! Zwei weitere Effekte können erzielt werden. Teamfähigkeit als wesentliche Teilkompetenz der Selbstständigkeit schafft Raum für Differenzierung und individuelle Betreuung im Klassenraum. Sind die Schülerinnen und Schüler zuverlässig und für längere Zeiträume in der Lage in Teams zu arbeiten und sich gegenseitig zu unterstützen, kann die Lehrerin bzw. der Lehrer sich gezielt mit den Problemen Einzelner beschäftigen und sie in der besonderen Weise fördern, derer sie zu diesem Zeitpunkt vielleicht bedürfen. Er/sie kann den gewonnenen Freiraum aber auch für gezielte Beobachtungen und Diagnose nutzen. Zudem leistet Teamfähigkeit ebenso wie die untrennbar damit verbundene Kommunikationsfähigkeit einen nicht zu unterschätzenden Beitrag zur Gewaltprophylaxe.26 Die beiden folgenden Abbildungen verdeutlichen zusammenfassend den Aufbau von Lernkompetenz über die drei Grundlagentrainings: 26 Gewaltprophylaxe ist damit kein Thema mehr, das quasi als Insel irgendwo platziert werden muss, sondern wird zum integrativen Bestandteil schulischer Arbeit. ein Beispiel aus der Praxis zwei weitere Effekte 33303.book Seite 52 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 52 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Trainingsspiralen im Bereich der Grund- und Sonderschulen Methodentraining TS TS Handwerkliche Grundtechniken – Schneiden Effizientes Lesen Kommunikationstraining TS Nonverbale Kommunikation Teamentwicklung TS Für Teamarbeit sensibilisieren TS Gruppenprozesse reflektieren und Regeln anbahnen Schwerpunkt: Blickkontakt TS Paraverbale Kommunikation Schwerpunkt: Arbeit mit der Stimme TS TS Markieren Visualisieren Schwerpunkt: Heftgestaltung TS Verbale Kommunikation Freies Sprechen und aktives Zuhören Kommunikation TS VerbaleMiteinander Reden Regeln zur Teamarbeit TS entwickeln und einüben TS Alternative Formen der Gruppenarbeit durchspielen © Selbstständige Schule Abb. 5: Trainingsspiralen im Bereich der Grund- und Sonderschulen Methodentraining Kommunikationstraining Teamentwicklung TS Markieren & Strukturieren TS Für GA sensibilisieren Nachdenken über TS Effektiver Lernen & Behalten TS GA – Regeln anbahnen & klären TS Angstfreies Sprechen & Argumentieren üben TS Rasch Lesen & Nachschlagen TS Regelgebundene GA durchführen TS Miteinander Reden lernen TS Visualisieren & Gestalten TS Kleines 1 x 1 der Rhetorik TS Klassenarbeiten vorbereiten TS Zeitmanagement TS Sinn erfassend Lesen TS Kommunikation(sängste) Trainingsspiralen im Bereich der Sekundarschulen © Selbstständige Schule Abb. 6: Trainingsspiralen im Bereich der Sekundarschulen 33303.book Seite 53 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 53 3.3.2 Selbstständigkeit: Über Lernspiralen zum selbst gesteuerten Lernen (SegeL) Selbstverständlich generieren auch mehrere solcher Grundlagentrainings in verschiedenen Schulstufen noch nicht den selbstständigen Lerner oder die selbstständige Lernerin. Viel zu oft geben sich Schulen der Illusion hin, dass mit einigen Trainings an wichtigen Schnittpunkten der Schullaufbahn das selbstständige Lernen zu bewältigen sei. Man kann aber nicht davon ausgehen, dass eine solch komplexe Kompetenz nach mehreren Trainingstagen – mögen diese auch noch so gut gestaltet sein und das praktische Kennenlernen ermöglichen – verankert ist. Wenn die Trainingsmaßnahmen nicht eng mit dem Fachunterricht (dem fächerübergreifenden, dem fächerverbindenden Unterricht) verzahnt sind, wird ihnen kein nachhaltiger Erfolg beschieden sein. Das Gelernte muss im Fachunterricht systematisch „gepflegt“ werden, damit Routine entsteht. Ziel ist es, dass Schülerinnen und Schüler immer eigenständiger Entscheidungen über individuell zu benutzende Methoden treffen können. Zur Bearbeitung einer Aufgabe im Fachunterricht wählen sie aus der ständig wachsenden Zahl zur Routine gewordener Methoden aus, werden aufgefordert, diese Wahl zu begründen und später die Angemessenheit ihrer Entscheidung und den Erfolg zu reflektieren. Erkenntnisse aus der Diskussion nach PISA haben den Wert systematischer Reflexion für den Aufbau metakognitiver Kompetenzen deutlich gemacht. Es geht auf Dauer um Lernarrangements im Alltagsunterricht, die die Selbstständigkeit der Schülerinnen und Schüler phasenweise immer stärker fordern und fördern. Nur auf der Grundlage von systematischen Trainings und Pflegemaßnahmen haben aber auch die mehrfach genannten hoch anspruchsvollen und komplexen Szenarien wie Projektarbeit, Wochenplan- oder Freiarbeit, Jahres- oder Facharbeiten eine bessere Chance, zu erfolgreichen Arbeitsformen zu werden. Wie die Schülerinnen und Schüler den Aufbau der Kompetenzen in den Grundlagenbausteinen in den sogenannten Trainingsspiralen erleben, so bilden sie Routinen durch die Pflege im Fachunterricht in den sogenannten Lernspiralen. Das Ziel einer Lernspirale ist die Weiterentwicklung fachlicher Kompetenzen. Der Inhalt ist in der Regel durch die Lehrerin oder den Lehrer vorgegeben und entspricht dem Lehrplan oder Kernlehrplan oder dem schuleigenen Lehrplan, kann aber auch von der Lerngruppe mit bestimmt sein. Grundlagentrainings allein reichen nicht! Pflege im Fachunterricht Lernspiralen 03.fm Seite 54 Dienstag, 10. Oktober 2006 1:52 13 54 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Abb. 7: Lernspirale Dabei bekommen die Schülerinnen und Schüler im Fachunterricht die Gelegenheit, sich in ein Thema regelrecht „hineinzubohren“, weil ihnen Aufgaben angeboten werden, die unterschiedlich komplex sind, unterschiedliche Zugänge ermöglichen und verschiedene methodische Zugriffsweisen herausfordern. Der Lehrer oder die Lehrerin wird den Schülerinnen und Schülern innerhalb eines bestimmten Korridors Gestaltungsmöglichkeit und Verantwortung zugestehen. Sie nutzen die Metho- 33303.book Seite 55 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 55 den-, Kommunikations- und Teamkompetenzen, die sie bereits beherrschen, „pflegen“ sie dabei und entwickeln Routine. Dabei wird – ähnlich wie in den Trainingsspiralen – nach einem dreischrittigen Verfahren gearbeitet. Zuerst aktivieren die Lernenden ihr Vorwissen, dann erarbeiten sie sich neue Kenntnisse und Verfahrensweisen, um sich zuletzt an komplexeren Anwendungs- und Transferaufgaben zu versuchen. Kein revolutionär neuer Aufbau von Unterricht! – mag da mancher denken. Oberstes Prinzip bei einer Lernspirale ist allerdings, dass die Schülerinnen und Schüler so häufig und intensiv wie möglich selbst tätig werden, ihren eigenen Lernweg selbst finden und so viel Verantwortung wie möglich tragen. Je sicherer Schülerinnen und Schüler sind und je umfangreicher ihr Repertoire an Teilkompetenzen ist, umso eher kann der Lehrer oder die Lehrerin Entscheidungen den einzelnen Lernenden überlassen. Der bzw. die Einzelne muss möglichst bald wissen, ob er oder sie z. B. für eine Darstellung neuen Wissens als Form ein Struktogramm, eine Mindmap, einen Ablaufplan oder eine lineare Darstellung bevorzugt. Und er oder sie muss die Wahl begründen, die damit gemachten Erfahrungen reflektieren und bewerten können. Je nach Entwicklungsstand ist der Lehrer oder die Lehrerin dann stärker in der vorgebenden, aktivierenden oder begleitenden Rolle (vgl. Kap. 3.4.2) In diesem Zusammenhang soll auch kurz vom Üben die Rede sein, vom „intelligenten“ Üben allerdings. H. Meyer spricht vom Negativ-Image des Übens und davon, dass Üben dann Spaß mache (und damit Erfolg versprechend sei), „wenn freiwillig geübt wird, wenn Spielräume für Selbsttätigkeit gegeben sind, wenn der Übungserfolg unmittelbar einsichtig ist und selbst kontrolliert werden kann und wenn ein sachliches Interesse am Lerngegenstand besteht“.27 Zu den Merkmalen „intelligenten“ Übens gehören nach Meyer u. a., dass „die Schüler Überkompetenz entwickeln und die richtigen Lernstrategien benutzen“ und dass der Lehrer oder die Lehrerin die Möglichkeit hat, „gezielte Hilfestellungen“ zu geben.28 Diese Art von Üben passt also gut in Lernspiralen im Fachunterricht, in denen der Lehrer oder die Lehrerin zunehmend Verantwortung auf die selbstständiger werdenden Schülerinnen und Schüler überträgt und damit die Rolle des Lernberaters bzw. der Lernberaterin übernehmen kann. Lernspiralen schließen selbstverständlich den gut platzierten Lehrervortrag oder das gut geführte (sogenannte gelenkte) Unterrichtsgespräch nicht grundsätzlich aus, sind aber ein neuer Fokus.29 27 Meyer, H., Was ist guter Unterricht?, Berlin 2004, S. 105 Ebd. 29 Die Grundlage des fachlichen Lernens in den Phasen einer Lernspirale wird von Taeger und Lagoda, zwei schulischen Praktikern, die nicht im Modellversuch arbeiten, mit aktuellen neurobiologischen Erkenntnissen in Verbindung gebracht, vgl. Taeger, K., Lagoda, R.-J., „Lernen – ein Prozess in sieben Phasen“ in: SchulVerwaltung NRW, 4/2006, S. 108–111 28 „intelligentes“ Üben 33303.book Seite 56 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 56 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Ziel: SegeL Das hohe Lied des handlungsorientierten Unterrichts haben schon die Reformpädagogen gesungen – mag der Kritiker wiederum einwerfen. Aber nicht zuletzt PISA hat gezeigt, dass nicht alles, was Reformpädagogen gepredigt haben, schon überall Gehör gefunden hat. Zudem ist ein zweites wichtiges Prinzip solcher Trainings- und Lernspiralen, dass Schülerinnen und Schüler immer wieder das, was sie tun, und wie sie es tun, reflektieren.30 Das „Ineinander von Denken und Tun“31 ist das Entscheidende. Ziel der Arbeit in den Trainingsspiralen (vgl. Abb. 4) und in den Lernspiralen (vgl. Abb. 7) in möglichst allen Unterrichtsfächern ist das zunehmend selbst gesteuerte Arbeiten im Fachunterricht, ein Ziel, das nur über viele Zwischenschritte zu erreichen ist (vgl. Abb. 9). Unterrichtsentwicklung Perspektive der Schülerinnen und Schüler Sockeltraining Umsetzung Ziel Pflege im Unterricht Eigenständige Anwendung Baustein 1/2/3: Baustein 1/2/3: • Methoden • Kommunikation • Team Wiederholen und Üben im Fachunterricht Offene Lernarrangements, fachbezogen, fächerübergreifend Material, Auswertung, Evaluation Material, Evaluation Routine im Einsatz und Anwendung in verschiedenen Fächern zunehmende Selbstverantwortung für die Lernwege Selbstkontrolle Selbststeuerung der Lernprozesse Kennenlernen und Erproben grundlegender Methoden und Verfahren selbst gesteuertes Lernen © Selbstständige Schule Abb. 8: Unterrichtsentwicklung – Perspektive der Schülerinnen und Schüler 30 Ein Instrument dazu ist z. B. PAUL, das Persönliche Arbeits- und Lernbuch, dargestellt in: Herrmann, J., Höfer, C., Weisker, K., Handbuch zur Basisqualifizierung von schulischen Beraterinnen und Beratern für Evaluation im Rahmen des Projektes "Selbstständige Schule", Projektpublikation, Gütersloh 2004, erhältlich über die Projektbüros Gütersloh und Düsseldorf 31 Gudjons, H., „Handlungsorientierter Unterricht. Begriffskürzel mit Theoriedefizit? in: PÄDAGOGIK, Heft 1, 1997, S. 6, zitiert nach Klippert, Eigenverantwortliches Arbeiten und Lernen, S. 56 03.fm Seite 57 Dienstag, 10. Oktober 2006 1:52 13 Schülerinnen und Schüler lernen das Lernen | 57 Abb. 9: Spirale SegeL 33303.book Seite 58 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 58 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept 3.4 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen 3.4.1 Lehrerinnen und Lehrer als Lernende Neues im Team lernen und reflektieren systematisches Lernen und Verlernen Das Leitbild des selbstständig und lebenslang Lernenden wurde bisher als Leitbild für Schülerinnen und Schüler expliziert. Es kann in Schulen aber nur zu einer den Alltag tragenden und bestimmenden Zielvorstellung werden, wenn es ein korrespondierendes Selbstverständnis der Lehrerinnen und Lehrer gibt. Das bedeutet, dass Lehrerinnen und Lehrer, die den Unterricht für selbstständiger arbeitende Schülerinnen und Schüler planen, durchführen und evaluieren, selbst wieder – immer wieder – zu Lernenden werden. Die Trainings zur Unterrichtsentwicklung basieren auf der Annahme, dass Lehrerinnen und Lehrer am ehesten den vielfältigen Ansprüchen an eine zeitgemäße Lehrerrolle gerecht werden und zudem mit ihrer Arbeit und sich selbst zufriedener sind, wenn sie im Sinne eines kontinuierlichen Lernprozesses Neues lernen, diesen Lernprozess systematisch reflektieren und dies am besten gemeinsam mit anderen im Team tun. Sie müssen aber auch die Chance dazu erhalten. Häufig sind Veränderungsanforderungen an Schule mit der Illusion verbunden, dass ein Erlass genüge, um eine Veränderung sicherzustellen. Da aber Veränderungen von den Menschen realisiert werden müssen, die am Ort dieser Veränderungen arbeiten, müssen diese Menschen die Gelegenheit haben, die Kenntnisse und Kompetenzen zu erwerben, die für diese Veränderungen nötig sind. Dabei müssen noch die besonderen Bedingungen des Arbeitsfeldes Schule berücksichtigt werden. Haenisch erläutert – unter Berufung auf Frey – dazu, „dass der Lehrerberuf einer der wenigen Berufe ist, bei dem durch die Dauer der Praxis kein Qualitätsfortschritt entsteht. Das wird damit erklärt, dass Lehrkräfte mit der Zeit Amalgame ausformen, das heißt, dass sich Verhaltensmuster bilden, die sehr resistent sind. Der gute Wille hat sich dabei als Veränderungsbemühung als wirkungslos erwiesen und allein Wissen beeinflusst das Verhalten praktisch auch nicht. Aus diesen Analysen kann gefolgert werden, dass wahrscheinlich in erheblichem Umfang systematisches Lernen und Verlernen erforderlich ist, wenn sich im Unterricht etwas verändern soll. Das wenige, was sich bisher an Befunden in dem recht neuen Forschungsgebiet ,Lernen der Lehrkräfte‘ finden lässt, scheint dies zu bestätigen. Vieles was wir über das Lernen von Schülerinnen und Schülern wissen, scheint danach auch für Lehrkräfte zu gelten, […].“32 Das bestätigt auch Helmke, wenn er von „stabilen Routinen 32 Haenisch, H., „Was Lehrkräfte benötigen, um ihren Unterricht zu verändern“ in: SchulVerwaltung NRW, Heft 5/2004, S. 136; er bezieht sich auf Frey, K., „Kann man Lehrpersonen so qualifizieren, dass sie Gelerntes in die Praxis transferieren?“ in: Bildung und Erziehung 53, 2000, S. 247–255 33303.book Seite 59 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen | 59 und Gewohnheiten“ spricht und für die Unterrichtsentwicklung folgert, „[…], dass Veränderungen an einer einzelnen Stellschraube des gesamten Wirkungsgeflechtes kaum geeignet sind, den ‚Output’ des Systems deutlich und nachhaltig zu beeinflussen.“33 Trainings zur Unterrichtsentwicklung wenden sich deshalb, noch bevor sie Schülerinnen und Schülern angeboten werden können, zuerst an deren Lehrerinnen und Lehrer. Sie können im Laufe der Grundlagentrainings für Lehrkräfte, der Workshops und der gemeinsamen Weiterarbeit in Teams Lehrertrainings vor Schülertrainings durch eigene Erfahrungen in der „Schülerrolle“ für Neues sensibilisiert und motiviert werden, z zugleich die Sicherheit gewinnen, dass Verbesserungen möglich sind, z ihre eigene Rolle als Lehrer bzw. Lehrerin reflektieren und weiterentwickeln, z durch Selbstreflexion und im Austausch mit Kolleginnen und Kollegen die Umsetzung in der täglichen Unterrichtsarbeit absichern. z Damit berücksichtigen die Trainings zwei wichtige Aspekte, die Haenisch für Veränderungen in Schule beschreibt: „Wenn Lehrkräfte zur Veränderung ihres Unterrichts motiviert werden sollen, müssen sie die Erfahrung machen können, dass es ihnen etwas nützt, sie müssen die Erwartung einer Verbesserung damit verbinden. Dafür müssen Lernumgebungen geschaffen werden, die vielfältige Gelegenheiten geben, eigene Erfahrungen in Erinnerung zu rufen sowie eigene Interessen und Probleme einzubringen, um auf diese Weise das kritische Überdenken der eigenen Position in die Wege zu leiten. […] Eine interessante Möglichkeit zur Selbstreflexion besteht darin, sich in die Schülerrolle zu versetzen. Lernen mit den Augen der Schülerinnen und Schüler zu sehen und Erfahrungen darüber zu sammeln, wie Schüler/ innen behandelt werden, sensibilisiert für Schülerbedürfnisse und fördert das Verständnis dafür, warum bestimmte Lehraktivitäten bei den Schülern ankommen und warum andere nicht von Erfolg gekrönt sind.“34 Die Trainings für Lehrerinnen und Lehrer sowie die dazugehörigen schulorganisatorischen Veränderungen werden systematisch in Kap. 4 dargestellt. 33 34 Helmke, A. (2006), S. 44 Haenisch, H. (2004), S. 136 f. zwei wichtige Aspekte für Lehrertrainings 33303.book Seite 60 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 60 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept 3.4.2 Lehrerinnen und Lehrer brauchen ein neues Rollenverständnis und vielfältige Kompetenzen Es kann im Rahmen eines Buches über Unterrichtsentwicklung nicht darum gehen, ein vollständiges Kompetenzprofil für Lehrerinnen und Lehrer darzustellen. Auf der Grundlage dessen, was insgesamt Lehrerexpertise ausmacht35, sollen jedoch bestimmte Merkmale von Lehrenden akzentuiert werden, die im Hinblick auf das Leitbild des selbstständigen Lernens für die Gestaltung „guten“ Unterrichts besonders wichtig sind und in den Trainings aufgegriffen werden. direkte und indirekte Steuerung Neues Rollenverständnis Die differenzierten Formen eines „guten“ Unterrichts erfordern eine differenzierte Wahrnehmung von Rollen, die Lehrerinnen und Lehrer einnehmen und beherrschen müssen. Ihnen obliegt als Kernaufgabe die „gezielte und nach wissenschaftlichen Erkenntnissen gestaltete Planung, Organisation und Reflexion von Lehr- und Lernprozessen sowie ihre individuelle Bewertung und systematische Evaluation“36. Sie können sich also – auch wenn die Schülerinnen und Schüler selbstständiger arbeiten – aus Verantwortung für die Steuerung der Lernprozesse auf keinen Fall zurückziehen. Sie können diese Steuerung aber direkter oder indirekter ausüben. Wenn Schülerinnen und Schüler selbstständiger arbeiten (sollen), wird sich auch die Rolle des bzw. der Lehrenden verändern (müssen). Das Verhältnis von vorgebender Rolle, die z. B. im fragend-entwickelnden Unterricht dominant ist, z aktivierender Rolle, die in Trainings die vorrangige ist, z und begleitender Rolle, die auf Lehrerseite dem von Schülerinnen und Schülern stärker selbst verantworteten Lernen entspricht, z wird sich zunehmend zugunsten der begleitenden Rolle verändern.37 Wo diese Veränderungsnotwendigkeit nicht akzeptiert wird, wird Unterrichtsentwicklung mit dem Ziel der erhöhten Selbstständigkeit bei Schülerinnen und Schülern nicht funktionieren. Lehrerinnen und Lehrer müssen in dieser Rolle ebenso einen Prozess moderieren können wie eine effiziente individuelle Lernberatung durchführen. Sie müssen dabei oft lernen, mit hoher Selbstdisziplin einen Teil der Verantwortung bewusst und gezielt an Schülerinnen und Schüler abzugeben, die Ampel gelegentlich gegen ihre 35 Hier sei verwiesen auf Helmke, A. (2003), Kapitel 3: Lehrerexpertise, Kontext und Unterrichtsqualität 36 Arnold, K.-H., „Beurteilungskompetenz“, in: unterrichten/erziehen, 20 (1), S. 12–15; zitiert nach Helmke (2003), S. 86 37 Vgl. Tschekan, K. (2004) 33303.book Seite 61 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen | 61 eigenen zu voreiligen Interventionen auf „Rot“ zu stellen38, da sich über lange Jahre ihre Einstellung verfestigt hat, dass nur sie selbst ihren Schülerinnen und Schülern beim Lernen helfen können. Und dennoch dürfen sie, da der Erwerb sozialer und persönlicher Kompetenz in der Schule immer wichtiger wird, die Rolle der Erzieherinnen und Erzieher nicht vernachlässigen. Wenn nun dazu noch einmal betont wird, dass nichts gegen einen gut vorbereiteten und gut dargebotenen Lehrervortrag spricht, dagegen viel gegen eine Monokultur frontalen Unterrichts (wie gegen jede Art von Monokultur), dann klingt das alles wie die Quadratur des Kreises. Die Lehrerin bzw. der Lehrer soll ihre bzw. seine traditionellen Rollen weiterhin ausfüllen und die neuen gleichzeitig entwickeln, die Verhaltensänderungen und oft geradezu eine Veränderung von Persönlichkeitsmerkmalen erfordern. Das ist nur in einem Lernprozess vorstellbar, der dem Einzelnen nicht allein zugemutet wird. Nur im Team entsteht der Rückhalt für so weit gehende Veränderungen. Ebenso wichtig ist es, dass einem solchen Lernprozess ausreichend Zeit eingeräumt wird und die Leitung einer Schule ihn wirklich unterstützt. Die für die Trainings als notwendig erachteten schulorganisatorischen Maßnahmen werden in Kap. 4.2 beschrieben. Vom Einzelkämpfer zum Teamarbeiter Aus der empirischen Forschung über Schulqualität ist bekannt, dass in guten Schulen überdurchschnittlich häufig eine systematische Zusammenarbeit zwischen Lehrerinnen und Lehrern festzustellen ist. Sie drückt sich vor allem in einem starken Konsens in didaktisch-methodischen Fragen, in der beständigen Abstimmung des Unterrichts und in einer ständigen gemeinsamen Erörterung und Festlegung von übergreifenden Verhaltensregeln aus.39 Es gehört demnach zum wohlverstandenen Selbstverständnis von Lehrerinnen und Lehrern, sich als Lehrende und Lernende im Team zu verstehen. Das bedeutet, bereit und fähig zu sein, Unterricht und Erziehung gemeinsam mit Kolleginnen und Kollegen im Zusammenwirken der Unterrichtsfächer zu planen, zu evaluieren und weiterzuentwickeln. Eine aufgabenbezogene und effiziente Teamarbeit erfolgt im Klassen-, Jahrgangs-, Bildungsgang- und Fachteam.40 38 Vgl. Ziegler, A., „Wir dachten, die Ampel zeigt rot!“ in: PÄDAGOGIK, Heft 7/8 2000, S. 17–21 39 Vgl. Haenisch, H., „Gute und schlechte Schulen im Spiegel der empirischen Schulforschung“ in: Tillmann, K.-J., Hrsg., Was ist eine gute Schule, Hamburg 1989, S. 35 40 Interessant ist, dass auch Autoren, die von einem anderen Verständnis von Unterrichtsentwicklung ausgehen, als es in diesem Band beschrieben wird, immer die Notwendigkeit von Teamarbeit betonen. (vgl. Horster., L., „Was tun mit der neuen Freiheit? Kernlehrpläne als Anlass für Unterrichtsentwicklung“ in: Schulleitung und Schulentwicklung, E 2.44, 8/2005, S. 1–12 oder Kerl, G., u. a., „Kleine Konferenz mit großer Wirkung. Fachjahrgangskonferenzen sorgen für Unterrichtsentwicklung und Entlastung“ in: Schulleitung und Schulentwicklung, D 4.10, 8/2005, S. 1–13) Quadratur des Kreises? Teamarbeit und ausreichend Zeit! 33303.book Seite 62 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 62 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Warum Unterrichtsentwicklung in Teamarbeit besser gelingt. professionelle Lerngemeinschaften An einem Beispiel sei die Bedeutung von Teamarbeit für das Gelingen der Unterrichtsentwicklung illustriert. Wenn es in einer bestimmten Lerngruppe um die Pflege der in den Grundlagentrainings erworbenen Kompetenzen geht, besteht die Gefahr, dass Arrangements „kaputt gepflegt“ werden, weil einzelne Lehrerinnen und Lehrer nicht wissen, dass alle anderen die gleichen Pflegeschwerpunkte legen. Die Pflege, der Auf- und Ausbau der Kompetenzen bedürfen deshalb immer wieder der abgestimmten Planung und des Austausches über Erreichtes in der Gruppe der Lehrerinnen und Lehrer, die gemeinsam eine Lerngruppe unterrichten. Es kann allerdings auch nicht darum gehen, den Fachunterricht nach den Erfordernissen einer wie auch immer gearteten (nicht existierenden) Didaktik der überfachlichen Kompetenzen auszurichten. Spätestens bei der Planung von Pflegemaßnahmen ist der einzelne Fachlehrer bzw. die einzelne Fachlehrerin auf seine bzw. ihre fachliche Kompetenz verwiesen. Er bzw. sie trägt weiterhin die Verantwortung für die Erreichung der curricularen Lernziele und muss dem jeweiligen Fachinhalt angemessene methodische und didaktische Entscheidungen treffen, kann sich aber z. B. bei der gemeinsamen Gestaltung von Lernspiralen Rückhalt in der Fachgruppe holen. Davon wird in Kap. 4.1 die Rede sein. Durch Teamarbeit kann also der Gefahr begegnet werden, dass der Fachunterricht in „Methodenhuberei“ ausarten könnte – ein gelegentlich von Kritikern vorgebrachter Einwand. Die Erfahrung hat gezeigt, dass Veränderungen in Schulen besonders dann dauerhaft wirksam werden, wenn die Teams bereits gemeinsam lernen. Damit wird die notwendige Sicherheit gewährleistet, die man braucht, wenn man das Neue gegen alte Strukturen und Routinen im Alltag verankern möchte. Da es in der Regel in den Teams der beteiligten Lehrerinnen und Lehrer bei den Fortbildungsmaßnahmen zu positiven Lernund Arbeitserfahrungen kommt, ist es effizient, wenn ein solches Team auch im Alltag zusammenarbeitet. Durch eine solch enge Verzahnung von Fortbildung und dauerhaftem gemeinsamem Arbeitszusammenhang entstehen die „professionellen Lerngemeinschaften“41, die als so wirksam für Veränderungen beschrieben werden. In ihnen ist auch das „Verlernen“ alter Routinen, das mit dem „Erlernen“ des Neuen unabdingbar verbunden ist, am ehesten möglich. Von bloßen Lehrerteams unterscheiden sich professionelle Lerngemeinschaften darin, dass ihr ultimativer Bezugspunkt die Entwicklung des Unterrichts ist. Sie teilen Haltungen und Werte, die für ihre Arbeit relevant sind, begreifen sich selbst als lebenslange Lerner und sind professionell in dem Sinne, dass sie zielorientiert arbeiten, ihre Praxis deprivatisiert haben und sich ständig in einem reflek41 Haenisch, H. 2004, S. 136; vgl. Gathen, J. van, „Was macht die Arbeit einer „Professionellen Lerngemeinschaft“ aus?“ in: SchulVerwaltung Nr. 3/2005, S. 88–90 33303.book Seite 63 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen | 63 tierenden Dialog befinden. In angloamerikanischen Studien ist der positive Effekt ihrer Arbeit auf Schülerleistungen bereits nachgewiesen42, aber auch für Deutschland gibt es vergleichbare Erkenntnisse.43 Der Praxisbericht von Homeier „Kooperatives Lernen und Schulentwicklung“ bestätigt ebenfalls: „Auf Dauer kann eine Veränderung nur dann tragfähig und effektiv gestaltet werden, wenn Lehrkräfte regelmäßig aus innerer Überzeugung kooperieren und ihren Platz in festen Teams finden. Im Mittelpunkt muss dabei die Unterrichtsqualität stehen, denn alle Schülerinnen und Schüler haben das Recht auf einen Unterricht gleichmäßig hoher Qualität.“44 Schließlich soll auch erwähnt werden, dass Kooperation entlastend ist und der Gesundheit der Lehrerinnen und Lehrer dient.45 Intensivierung der Reflexion von Unterricht Die kontinuierliche Reflexion des eigenen Unterrichts ist nicht nur ein Kennzeichen der Professionalität des Lehrerhandelns, sondern nach Helmke eine „Schlüsselbedingung“ der Verbesserung des eigenen Unterrichts. Er führt aus: „Die Fähigkeit und Bereitschaft, den eigenen Unterricht in seiner Gesamtheit jederzeit selbstkritisch zu hinterfragen, verfügbare Methoden und Werkzeuge (beispielsweise Schülerfeedback, kollegiale Rückmeldung und Supervision zum Unterricht, oder Messung unterrichtlicher Wirkungen) zur Selbstdiagnose und -verbesserung einzuholen, ist ein zentrales und für den Unterrichtserfolg unabdingbares Merkmal der Lehrperson.“46 Diesen Überlegungen wird in den drei Grundlagenbausteinen, besonders aber im SegeL-Baustein Rechnung getragen. 42 Vgl. Gathen, J., S. 89; Pionierarbeit auf diesem Gebiet haben geleistet Susan Rosenholz mit ihrem Buch Teachers’ Workplace: The Social Organisation of Schools, New York 1991, und Donald Schön mit Teachers as reflecting Practitioners, London 1983; zum aktuellen Forschungsstand vgl. Bonsen, M., Rolff, H.-G., „Professionelle Lerngemeinschaften von Lehrerinnen und Lehrern“ in: Zeitschrift für Pädagogik, 52. Jahrgang 2006, Heft 2, S. 167–184 43 Eine zurzeit laufende Studie von Petra Herzmann an der Universität des Saarlandes zur Kooperation von Lehrerinnen und Lehrern scheint interessante Ergebnisse zu erbringen zum Zusammenhang zwischen langfristiger Professionalisierung des Lehrerhandels und der Verbesserung von Schülerleistungen; vgl. www.uni-saarland.de/fak5/ezw/ fp-herzmann_lesekompetenz.htm 44 Homeier, W., „Kooperatives Lernen und Schulentwicklung“ in: Lernende Schule. Für die Praxis pädagogischer Schulleitung in der Lernenden Schule, Heft 33/2006, S. 1 45 Ein Projekt des rheinland-pfälzischen Kultusministeriums unter der Leitung von Helmut Heyse hat Hinweise dazu erbracht, vgl. auch www.interconnections.de/id_9273.html 46 Helmke, A. (2003), S. 53 Schlüsselbedingung 33303.book Seite 64 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 64 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Gegenseitige Hospitationen Klassentüren sind in der Regel noch immer geschlossen. Lehrerinnen und Lehrer als Lernende brauchen aber die systematische Rückmeldung anderer Professioneller zur Reflexion ihres Unterrichts. So gängig die Forderung nach regelmäßigen kollegialen Hospitationen auch sein mag, eine innerschulische Kultur dazu ist selten anzutreffen. Aber gerade diese Form der Zusammenarbeit ist hilfreich, wenn es um die konstruktive Arbeit an der Weiterentwicklung der Lehrerrolle gehen soll. „Auch bei gegenseitigen Unterrichtsbesuchen arbeiten Lehrkräfte zusammen, aber diese Strategie hat eine besondere Qualität. Es werden nicht nur Gespräche über Unterricht geführt oder Erfahrungen ausgetauscht, sondern es werden konkret die unterrichtlichen Aktivitäten und Verhaltensweisen in den Blick genommen. Hospitationen Arbeitsphasen für Lehrerteams LehrerIn 1 LehrerIn 2 LehrerIn 3 Absprache zur Umsetzung in ihren Fächern: Zeitraum, Materialien etc. Absprachen zur Hospitation: Inhalte, Zeitpunkte, Auswertung Unterrichtspraxis gemäß Absprachen Hospitation gemäß Absprachen gemeinsame Reflexion der Unterrichtspraxis Feedback zur Hospitation gemeinsame Bewertung Diskussion/Austausch mit anderen LehrerInnenteams über die jeweilige Praxis © Selbstständige Schule Abb. 10: Kollegiale Hospitationen: Arbeitsphasen für Lehrerteams konkrete Fragen und Beobachtungen Dabei geht es nicht um Kontrolle, sondern darum, Rückmeldungen zu erhalten, um gegebenenfalls auf ,blinde‘ Flecken des Unterrichts aufmerksam zu werden. Diejenigen, die andere Kolleginnen und Kollegen in ihren Unterricht einladen, haben dabei konkrete Fragen und Beobachtungsaufträge und wollen ehrliche Rückmeldung. Deshalb funktioniert diese Strategie von Unterrichtsentwicklung am besten, wenn eine Vertrauensbasis 33303.book Seite 65 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen | 65 zwischen den Beteiligten besteht.“47 Diese Vertrauensbasis kann in Teams, die bereits gemeinsam trainieren, leichter entstehen. In Wochentrainings sind solche Hospitationen fester Bestandteil des Programms und deshalb besonders interessant, weil der Unterricht vorher gemeinsam vorbereitet und anschließend im Team reflektiert wird. (vgl. Abb. 19) Allerdings dürfen solche Ansätze nicht einmalige Aktionen bleiben oder nur auf ein Team in der Schule begrenzt sein. Es gehört zu den Aufgaben der Steuergruppe, nach pragmatischen, im Stundenplan fest verankerten Formen für viele Teams zu suchen. Auch hier gilt es neue Rollen einzuüben – für den Einladenden ebenso wie für den Hospitierenden. Um allen Beteiligten zu helfen, alte „Bewertungsreflexe“ zu vermeiden, wurde ein sogenannter Hospitationsleitfaden entwickelt.48 Ausbau der diagnostischen Kompetenzen Mit der Reflexion des eigenen Unterrichts korrespondieren diagnostische Kompetenzen, um Lernvoraussetzungen, Lernfortschritte und Leistungsprobleme der einzelnen Schülerinnen und Schüler fortlaufend beurteilen und darauf aufbauend weitere Lernschritte und Lernaufgaben sowie Fördermaßnahmen planen und organisieren zu können. Die diagnostische Kompetenz von Lehrerinnen und Lehrern ist vielfach, zuletzt in der PISAStudie, als defizitär bezeichnet worden. Die PISA-Studie zeigt das am Beispiel der Einschätzung der Lesekompetenz von Schülerinnen und Schülern durch ihre Lehrerinnen und Lehrer. DESI hat andererseits gezeigt, wie wichtig es ist, dass an der richtigen Stelle angesetzt wird – und mit den richtigen Mitteln. „Wird die Gestaltung des Unterrichts in sinnvoller Weise an den Lernvoraussetzungen der Schüler ausgerichtet, z. B. wenn in Klassen mit vergleichsweise niedrigem Leistungsstand mit vielfältigeren Methoden gearbeitet und die sprachliche Basisfähigkeit dort verstärkt trainiert wird, zeigen sich positive Effekte.“49 In den Trainings gibt es bisher zur Diagnosefähigkeit zwar einzelne Elemente (z. B. Beobachtungsbögen), aber noch kein gesondertes Arbeitspaket. Fertiggestellt sind bereits die Beschreibungen der Kompetenzen, die nach Einführung in einer Trainingsspirale und bei angemessener Pflege im Fachunterricht erreicht werden können. Sie sind beobachtbar und können sowohl in Beobachtungsbögen zu diagnostischen Zwecken für Lehrerinnen und Lehrer als auch in Selbstbeobachtungsbögen für Schülerinnen und Schüler umgesetzt werden. Offen ist zurzeit noch, ob 47 Haenisch, H., „Schulpraktische Ansätze zur Entwicklung von Unterricht“ in: SchulVerwaltung NRW, Heft 1/2006, S. 4 48 S. Herrmann, J., Höfer, C., Weisker, K. (2004), S. 110 49 KMK-Pressemitteilung: Stellungnahme der Kultusministerkonferenz zu den Ergebnissen der Studie „Deutsch Englisch Schülerleistungen International“ (DESI), S. 5; vgl. Abschnitt „Merkmale von erfolgreichem Unterricht in Deutsch und Englisch“ Vertrauen schaffen Verankerung im Stundenplan zusätzliches Modul? 33303.book Seite 66 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 66 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Grenzen des überfachlichen Ansatzes komplexe Aufgaben ein zusätzliches Modul entwickelt werden soll, wie das z. B. bereits für den Einsatz Neuer Medien geschehen ist (vgl. Kap. 7.1). Mit dem vorliegenden Ansatz der Unterrichtsentwicklung, der auf die systematische Entwicklung überfachlicher Lernkompetenzen setzt, können nicht alle Probleme gleichzeitig gelöst werden. Das anzunehmen hieße, ihn zu überfordern und oder ihn für allmächtig zu erklären. Es wird notwendig sein, die diagnostische Kompetenz der Lehrkräfte in ihrem Unterrichtsfach außerhalb dieses Ansatzes zusätzlich zu schulen. Hier hat der überfachliche Ansatz seine Grenze. Veränderte didaktisch-methodische Kompetenzen Um die Selbstständigkeit von Schülerinnen und Schülern in ihren Lernprozessen zu stärken, müssen Lehrerinnen und Lehrer über bestimmte didaktisch-methodische Fähigkeiten verfügen. Sie vermitteln ihren Schülerinnen und Schülern schrittweise die notwendigen Kompetenzen und planen und organisieren altersgemäße, zunehmend offenere Lehr- und Lernszenarien, in denen die Schülerinnen und Schüler diese Kompetenzen in fachlichen und überfachlichen Zusammenhängen einsetzen können. Was die Kompetenzen anbetrifft, geht es einerseits um fachspezifische Methoden und Strategien (z. B. das Experimentieren im naturwissenschaftlichen Unterricht, das Problemlösen im Mathematikunterricht, die Textanalyse und Interpretation im Deutsch- oder das Hörverstehen im Fremdsprachenunterricht). Fachliche Expertise ist z. B. gefragt, um passende Themen, Problemstellungen oder Inhalte auszuwählen, damit Schülerinnen und Schüler schon vorhandene Kompetenzen anwenden können und müssen. Andererseits geht es um die überfachlichen Fähigkeiten, Methoden und Strategien sowie Arbeits-, Lese- und Lerntechniken, die beispielsweise mithilfe der vorgestellten Trainings erworben werden können. Der Formulierung angemessen komplexer Aufgaben im Fachunterricht kommt eine hohe Bedeutung für selbstständiges Lernen zu. Bevor sich Expertengruppen im Vorfeld von TIMSS und PISA mit der Frage auseinandersetzten, wie Kompetenzen erhoben und dafür angemessene Aufgaben kreiert werden können, waren Aufgabenstellungen im Unterricht in deutschen Schulen sicherlich eher eindimensional. Sie bezogen sich häufig auf Inhalte, die gerade aktuell im Unterricht behandelt wurden; Lösungswege waren eher vorgezeichnet und sollten von den Schülerinnen und Schülern genau so beschritten werden, wie sie das gelernt hatten. Mit der Ausnahme von offenen Unterrichtsformen (wie z. B. der Projektarbeit) war im alltäglichen Fachunterricht die Aufgabenstellung oft so gewählt, dass in der Regel damit eine einzige richtige Lösung erreicht werden konnte. Die Aufgabe selbst sollte sicherstellen, dass der Bestand an abfragbarem Wissen größer wurde. Die in PISA entwickelten Aufgabentypen 33303.book Seite 67 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen | 67 und die neuen bundesweit gültigen Standards mit ihrer klaren Orientierung an Kompetenzen haben dazu geführt, dass heute in verschiedensten Arbeitszusammenhängen an neuen Aufgabentypen gearbeitet wird.50 Im Rahmen der in diesem Buch beschriebenen Konzeption wird an einer neuen Aufgabenkultur vor allem in den Workshops zum selbst gesteuerten Lernen (SegeL) für Lehrerinnen und Lehrer gearbeitet. Damit diese neue Aufgabenkultur der neuen Lehr- und Lernkultur angemessen ist, setzen sich Lehrerinnen und Lehrer dabei intensiv damit auseinander, wie bedeutungsvolle und komplexe Aufgaben für Schülerinnen und Schüler gestaltet sein müssen, und üben deren Konstruktion. Aufgabenstellungen, die weniger auf das passgenaue Abrufen von Wissensständen abzielen, sondern durch zunehmende Komplexität das eigene planerische Denken jeder einzelnen Schülerin und jedes einzelnen Schülers herausfordern, sind „Lernaufgaben“, bei deren Erledigung jede und jeder auch viel über sich selbst und ihr/sein Lernen erfahren kann. Erweiterte Kompetenzen zur Klassenführung Von hoher Bedeutung für den Lernerfolg ist eine effiziente störungspräventive Klassenführung, d. h. die Fähigkeit, die Schülerinnen und Schüler einer Lerngruppe „zu motivieren, sich möglichst lange und intensiv auf die erforderlichen Lernaktivitäten zu konzentrieren, und – als Voraussetzung dafür – den Unterricht möglichst störungsarm zu gestalten oder auftretende Störungen schnell und undramatisch beenden zu können“, damit im Rahmen vorgegebener Zeiteinheiten die aktive Lernzeit ein hohes Ausmaß annimmt.51 Dazu bedarf es der Vereinbarung und Durchsetzung von Regeln, Routinen und Ritualen. Hilbert Meyer beantwortet mit „Zehn Merkmalen“52 die Frage, was guter Unterricht sei. Auf der Ebene der Indikatoren (nicht allerdings hinsichtlich der gewählten Systematik) weisen diese Merkmale eine hohe Affinität zu dem in diesem Buch beschriebenen Konzept auf. Allein zwei dieser Merkmale zielen auf Voraussetzungen für guten Unterricht, die zum Thema „Klassenführung“ gehören: „Lernförderliches Klima“ und „Vorbereitete Umgebung“. Meyer belegt, „dass ein positives Unterrichtsklima nachhaltige, allerdings nicht sonderlich starke positive Auswirkungen auf die folgenden Dimensionen hat: Leistungsbereitschaft und Leistungsverhalten, 50 In NRW haben Arbeitsgruppen im Landesinstitut für Schule in Soest mit Bezug auf die in den Kernlehrplänen ausgewiesenen Kompetenzen konkrete Aufgaben veröffentlicht. Diese Aufgabentypen sollen helfen, eine neue Aufgabenkultur zu entwickeln, die ihre Entsprechung in den Aufgaben der Lernstandserhebungen und der kommenden zentralen Prüfungen am Ende der Sekundarstufe I finden soll. 51 Weinert, F. E., Hrsg., Psychologie des Lernens und der Instruktion (Enzyklopädie der Psychologie. Pädagogische Psychologie, Bd. 2), Göttingen 1996, S. 124, zitiert nach Helmke, A. (2003), S. 78 52 Meyer, H. (2004), S. 17 Hilbert Meyer: lernförderliches Klima und vorbereitete Umgebung 33303.book Seite 68 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 68 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept […], Einstellungen zu Schule und Unterricht, […], Sozialverhalten, […], Interessenentwicklung, […].53 Die vorgestellten Trainings bieten zur effektiven Klassenführung eine Vielzahl von Varianten zu erprobten Verfahren und von neuen Anregungen. Bewertung reflexiver Leistungen neue Kultur der Bewertung Ausbau des Repertoires zur Leistungsmessung Eine neue Lernkultur bedingt auch eine veränderte Form der Leistungsbewertung54, die einhergeht mit der modifizierten Lehrerrolle. Eine höhere Selbstständigkeit und Eigenverantwortung der Schülerinnen und Schüler bei der Bearbeitung komplexer Aufgaben führt notwendigerweise zur zusätzlichen Orientierung des Unterrichts auf die Prozesse des Lernens und deren Reflexion. Damit stellt sich unter anderem die Frage nach der Abbildung und auch Bewertung von reflexiven Leistungen, die wichtiger Bestandteil eines Unterrichts sind, der Schülerinnen und Schüler als selbstbewusste Partner einer Lerngemeinschaft ernst nimmt. In Gesprächen mit Lehrkräften, die an der Weiterentwicklung ihres Unterrichts arbeiten, werden immer wieder zwei Probleme benannt: zum einen die Unsicherheit, neben der fachbezogenen Leistung des Einzelnen auch Leistungen von Gruppen und soziale Kompetenzen zu bewerten; zum anderen die Schwierigkeit, Prozesse in Bewertungszusammenhänge einzubeziehen, wo es doch eine langjährige Kultur der Bewertung von Produkten gibt. Häufig wird in diesen Gesprächen nicht zwischen Fragen der Bewertung und dem Problem der Benotung differenziert. Lehrerinnen und Lehrer sehen aber häufig auch aus formalen Gründen Schwierigkeiten beim Ermitteln von Zensuren und haben hier nur selten den Mut, tradierte Wege zu verlassen. Beschäftigt man sich konsequent mit den Fragen der Bewertung und lässt die Benotung zunächst außer Acht, sind Lösungen der beiden oben genannten Probleme erreichbar. Am Beispiel der nordrhein-westfälischen Richtlinien und Lehrpläne der Grundschule wird deutlich, dass Lehrkräfte, die sie als verbindliche Vorgabe ernst nehmen, nicht nur zu entsprechendem Handeln legitimiert, sondern genau dazu aufgefordert sind. In den Richtlinien wird grundsätzlich festgestellt: „Sie [die Leistungsbewertung]) berücksichtigt auch die individuelle Lernentwicklung der einzelnen Kinder.“55 Im Lehrplan Deutsch z. B. wird konkretisiert: „Als 53 Ebd., S. 51 Zur Diskussion neuer Formen der Leistungsbewertung vgl. Bohl, T., Prüfen und Bewerten im Offenen Unterricht, Weinheim und Basel 2005, und Bohl, T., Leistungsbeurteilung in der Reformpädagogik, Weinheim und Basel 2005 55 Ministerium für Schule, Jugend und Kinder des Landes NRW, Hrsg., Deutsch, Sachunterricht, Mathematik, Musik, Kunst, evangelische Religionslehre, katholische Religionslehre – Grundschule. Richtlinien und Lehrpläne zur Erprobung, Frechen 2003, S. 12 54 33303.book Seite 69 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerinnen und Lehrer lehren das Lernen | 69 Leistungen werden nicht nur Ergebnisse, sondern auch Anstrengungen und Lernfortschritte bewertet. Auch in Gruppen erbrachte Leistungen und soziale Kompetenzen sind zu berücksichtigen.“56 Damit sich eine andere Kultur der Bewertung entwickeln kann, sind Instrumente der Selbst- und Fremdbewertung sowohl zwischen Schülerinnen und Schülern als auch mit Lehrerinnen und Lehrern ein fester Bestandteil der Trainings zur Unterrichtsentwicklung.57 Traditionelle Leistungssituationen sind häufig gekennzeichnet durch von der Lehrerin bzw. dem Lehrer gestellte Aufgaben, begrenzte Zeit, Einzelarbeit (häufig ohne Hilfsmittel); es sind also in der Regel Tests oder Klassenarbeiten. Sie sind als Leistungssituationen nach wie vor berechtigt, entsprechen aber oft nicht komplexen und reflexiven Anforderungen. Eine Leistungssituation, wie sie zum Beispiel ein Vorhaben oder eine andere komplexe Arbeitsform darstellen, erzeugt eine Vielzahl von Reflexions-, aber auch Bewertungsanlässen. Wenn auch die Lernenden sich ihrer individuellen Leistungen bewusst werden sollen, dann ist es in komplexeren Arbeitsvorhaben angemessen, vor Beginn des Vorhabens am besten gemeinsam zwischen Lehrerinnen und Lehrern und Schülerinnen und Schülern Bewertungskriterien zu erarbeiten und festzulegen. Darüber hinaus lohnt es sich, offen zu bleiben für weitere Kriterien, die sich erst durch systematische Kommunikation über Leistungen während der Phasen eines Vorhabens ergeben. Aufgabe der Lehrerinnen und Lehrer ist es also, möglichst komplexe und offene Leistungssituationen zu organisieren. Sicherlich geht die Ehrlichkeit und Offenheit eines Schülers in seinem Lerntagebuch verloren, wenn es von der Lehrerin oder dem Lehrer benotet wird. Deshalb muss die Beurteilung von Reflexionsprozessen und -produkten notenfrei bleiben. Und trotzdem ist es möglich, viele Teile eines Lernprozesses zu bewerten und danach auch in ein Notenraster zu bringen – vor allem dann, wenn mit den Schülerinnen und Schülern differenziert vereinbart wurde, welche Teile einer Leistung zensiert werden und welche nicht. Jedes Produkt, das in einem Lernprozess entsteht, kann zensiert werden, zum Beispiel kann nach entsprechender Vereinbarung das verschriftlichte Ergebnis einer Recherche im Internet im Rahmen eines Projekts benotet werden, ohne dass die anderen Leistungsbereiche in diesem Fall benotet werden müssten. Genauso können Protokolle, Berichte und andere Teilprodukte eines Gesamtprozesses nach üblichen Kriterien 56 57 Ebd. S. 22 Interessante Anregungen zum Thema finden sich in: Buschmann, R., „Selbstwirksam lernen, leisten, bewerten (Projekt des Landes Schleswig-Holstein)“ in: Brackhahn, B. u. a., Hrsg., Lernen – leisten – bewerten & Anschlüsse – Übergänge. Qualitätsverbesserung in Schulen und Schulsystemen QUISS, Bd. 4, München 2004, S. 7–100 neue Leistungssituationen 33303.book Seite 70 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 70 | Unterrichtsentwicklung – das Trainingskonzept Projektprüfung Absicherung im Team bewertet werden. Die in Baden-Württemberg eingeführte Projektprüfung legitimiert zusätzlich zur Benotung des fachlichen Könnens die Benotung nicht nur der Projektmappe und der Präsentation, sondern auch der Teamfähigkeit, der Planungskompetenz und der Fähigkeit zur Reflexion und Selbsteinschätzung, aber eben nicht der Reflexionsinhalte und deren Qualität. Welche konkreten Schritte auf einem neuen Weg der Leistungsbewertung die einzelne Lehrerin bzw. der einzelne Lehrer auch gehen will, sie tun gut daran, sie gemeinsam mit den anderen im Team zu erarbeiten und zu verabreden. Das sichert ab, schützt vor Missverständnissen und „Angriffen“ durch andere, seien es Kolleginnen oder Kollegen oder auch Eltern, die nur auf ihre persönliche Schulerfahrung zurückgreifen können. Neben den Teamkolleginnen und -kollegen erweisen sich die beteiligten Schülerinnen und Schüler nach den bisherigen Erfahrungen häufig als konstruktive Mitstreiter auf einem neuen Weg, wenn man sie ernst nimmt und intensiv beteiligt. 33303.book Seite 71 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 4 Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Vergleicht man Wandlungsprozesse in der Wirtschaft mit denen in der Schule, so kann man feststellen, dass wir es in der Schule „mit einer besonders hohen Komplexität und einer herausgehobenen Bedeutung des menschlichen Faktors zu tun haben.“1 Böttcher und Brohm erläutern, dass die Erkenntnisse der Betriebswirtschaft zu den psychologischen, soziologischen und ökonomischen Komponenten des „Change Management“ für das besondere System Schule fruchtbringend angewendet werden können, weil auch im System Schule deren Grundannahmen bestätigt werden. Es gibt zwar nicht das Change Management, sondern konkurrierende Modelle, aber allen Modellen gemeinsam ist die Erkenntnis, dass Reformen wahrscheinlich dann am ehesten scheitern, „wenn Wandlungsprozesse Mängel in der systematischen und/oder methodischen Kohärenz aufweisen sowie die Integration der Mitarbeiter in die Prozesse und ihre Gestaltung unzureichend ist.“2 Der Organisation und Gestaltung des Reformprozesses „Unterrichtsentwicklung“ muss also besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden. Schulentwicklung erfolgt im Zusammenwirken von Organisationsentwicklung, Personalentwicklung und Unterrichtsentwicklung. Es war ein zentrales Ergebnis des Projektes "Schule & Co.", dass weder Organisationsentwicklung noch Unterrichtsentwicklung allein zur nachhaltigen Verbesserung der Qualität schulischer Arbeit und insbesondere des Unterrichts einer ganzen Schule führt.3 Unterrichtsentwicklung ist die zentrale Aufgabe, aber ohne die Weiterentwicklung der Schule als Organisation und ohne die Weiterentwicklung des Personals wird Unterrichtsentwicklung nicht nachhaltig zum „Eigentum“ der Schule und aller darin Lehrenden und Lernenden. Die Steigerung der Unterrichtsqualität kann nicht allein die Aufgabe einer einzelnen Lehrerin oder eines einzelnen Lehrers sein, sondern eine Schule muss sich als ganzes System von Lehrenden, Lernenden und Erziehenden auf den Weg machen. Fortbildungen sind in diesem Sinne nicht effizient, wenn sie sich nur an einzelne Lehrerinnen und Lehrer richten. Sie führen auch nicht zur Entwicklung der gesamten Schule, wenn sie auf einzelne Lehrerteams zielen, sondern nur, wenn die Fortbildungen von Teams eingebettet sind in den Aufbau von Strukturen, die eine lernende Organisation ausmachen: 1 2 3 Böttcher, W./Brohm, M., „Die Methodik des Change Management und die aktuelle Schulreform. Über das gebrochene Verhältnis von Chancen und Realität.“ in: Die deutsche Schule, Heft 3, 2004, S. 271 Ebd. Bastian, J./Rolff, H.-G. (2002), S. 62 f. Change Management Unterrichtsentwicklung + Personalentwicklung + Organisationsentwicklung = Schulentwicklung Wann sind Fortbildungen effizient? 33303.book Seite 72 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 72 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Schulentwicklung als Lernprozess teamorientiert – systematisch – die ganze Schule erfassend individuell zielgerichtetes zielgerichtetes Lernen Lernen teamorientiert Trainings und Fortbildungen Trainings und Fortbildungen (intern/extern) (intern/extern) & Aufbau von (Lern-) Strukturen (intern) individuelle Entwicklung individuelle Entwicklung Schule als lernende Organisation führt nicht zur führt nicht zwingend zur führt zur Schulentwicklung Schulentwicklung Schulentwicklung © Selbstständige Schule Abb. 11: Schulentwicklung als Lernprozess Diese Forderung ist gegründet auf vielfältigen Erfahrungen mit Fortbildungen in der Vergangenheit. Sie wurden häufig von Lehrerinnen und Lehrern als Einzelnen wahrgenommen. Selbst wenn sie in einer sehr guten Veranstaltung Neues erfahren und für sich individuell gelernt hatten, fehlten ihnen zur Umsetzung in der gesamten Schule aktive Mitstreiterinnen und Mitstreiter, die auch an der Maßnahme teilgenommen und mitgelernt hatten. Sie blieben also allein mit ihrer Absicht und ihrem Wunsch, etwas zu verändern, und konnten maximal die Arbeit in der eigenen Klasse verbessern – oft war das im Alleingang auch schon schwierig. Nicht ganz selten führte das Scheitern letztlich zu Frustrationen und der abnehmenden Bereitschaft sich auf weitere Veränderungsprozesse einzulassen. Wie in allen Bundesländern wurden aus dieser Erfahrung auch in Nordrhein-Westfalen Konsequenzen gezogen. Fortbildungen wurden nun z. B. im Rahmen von sogenannten SCHILF-Maßnahmen (Schulinterne Lehrerfortbildung) ganzen Kollegien oder größeren Gruppen in oder außerhalb der Schule angeboten. Obwohl Lernprozesse von einer Teilgruppe des Kollegiums gemeinsam gemacht wurden, die ganze Gruppe vielleicht mit viel Schwung und Euphorie in die Schule zurückkam und damit bessere Voraussetzungen für eine Umsetzung in der Schule bestanden, brachten auch diese weiter gehenden Anstrengungen häufig keine nachhaltigen Erfolge in der Schulentwicklung, weil die Implementationsversu- 33303.book Seite 73 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern | 73 che sowohl an Rahmenbedingungen, wie z. B. dem 45-MinutenRhythmus, der Unterrichtsverteilung oder dem Stundenplan, scheiterten als auch an Details, wie z. B. fehlenden Materialien oder langfristig wirksamen Absprachen zwischen beteiligten Kolleginnen und Kollegen. Ein Beispiel aus der Wirtschaft soll die Konsequenzen veranschaulichen, die aus diesen Erkenntnissen für Schulentwicklung gezogen werden können. Wenn ein großer Automobilhersteller seine Produktion von Fließband- auf Gruppenprozesse umstellen will, ist klar, dass es im Sinne eines Erfolg versprechenden Change Managements nicht ausreicht, das Management zu qualifizieren. Jeder einzelne Mitarbeiter und jede einzelne Mitarbeiterin, der bzw. die an den Prozessen und Produkten beteiligt ist, muss geschult werden, Neues im Probehandeln erfahren, einen eigenständigen Lernprozess im Team durchlaufen. Verändertes sicheres Handeln wird weder durch Gelesenes oder Gehörtes noch durch Anweisungen oder Aushänge erzeugt. Nehmen wir einmal an, ganze Belegschaftsteile seien dafür trainiert worden, zukünftig in Gruppen zu produzieren und hätten in der Qualifizierung gelernt, diese Prozesse eigenverantwortlich zu gestalten. Wenn nach einer Woche diese Gruppen wieder an dieselben Fließbänder wie vor dieser Woche gestellt würden, wäre die gesamte Investition in die Qualifizierungsmaßnahme umsonst gewesen. Für die Schule bedeutet das: Wenn Veränderung in eine Erprobungs- und Stabilisierungsphase gehen soll, ist es notwendig, Strukturen aufzubauen, die das ermöglichen. Aus diesem Grund ist Fortbildung im Sinne von Schulentwicklung nur gewinnbringend, wenn sie in die entsprechenden Strukturveränderungen eingebettet ist. Im Projekt "Selbstständige Schule" wurden deshalb Steuergruppen als „Sorgeträger“ für den Prozess der Unterrichtsentwicklung eingeführt. Eine konzertierte Aktion von zeitlich und inhaltlich aufeinander abgestimmten Qualifizierungsmaßnahmen (für Lehrerinnen und Lehrer, für Steuergruppen, für Schulleiterinnen und Schulleiter, für Evaluationsberaterinnen und -berater, für Schülerinnen und Schüler) sorgt dafür, dass der Weg zum Ziel führen kann. Auf die Bedeutung der Verschränkung von solchen Qualifizierungsangeboten weisen auch die Ergebnisse der von Holtappels und Leffelsend durchgeführten, auf die Entwicklung überfachlicher Kompetenzen durch Schülertrainings gerichteten Schülerbefragung als Teil der Abschlussevaluation des Projektes "Schule & Co." hin.4 4 Holtappels, H.G./Leffelsend, S. (2003), S. 61 ff.; s. auch www.schule-und-co.de; Kategorie Presse & Publikationen; Abschlussevaluation 33303.book Seite 74 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 74 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Strukturen einzelschulischer Entwicklung Qualifizierung: Leitung und Führung Schulleitung Qualifizierung: Schulentwicklungsmanagement Qualifizierung: Klassenteams Fachteams Qualitätsarbeit Steuergruppe Evaluation (Methoden/Prozesse) Evaluationsberater Trainings zur Unterrichtsentwicklung © Selbstständige Schule Abb. 12: Strukturen einzelschulischer Entwicklung aufeinander abgestimmte Fortbildungen für alle Mitglieder der lernenden Organisation Schule Die Abbildung zeigt, dass im Zentrum der Arbeit einer Schule die Teams stehen, die unmittelbar an der Verbesserung des Unterrichts arbeiten. Schulleitung, Steuergruppen und schulinterne Evaluationsberaterinnen und -berater sind sozusagen Dienstleister, die alles dafür tun, dass die Teams in der Unterrichtsentwicklung optimale Unterstützung erhalten. Aus der Perspektive der Schülerinnen und Schüler bedeutet das, dass sie alle nur dann gleichermaßen eine Chance haben, von den neuen Entwicklungen zu profitieren, wenn sich die Schule insgesamt entwickelt und es nicht mehr vom Zufall der Lehrerzuweisung zu einer Lerngruppe abhängt, ob ein Schüler oder eine Schülerin profitieren oder nicht. Es bedeutet aus der Schüler-Perspektive aber auch, dass sie unterschiedliche Lernangebote, auf die sie im Laufe ihrer individuellen Lernbiografie treffen, umso effektiver verknüpfen können, je besser diese Lernangebote selbst systematisch verbunden sind. Weiter gedacht bedeutet das dann allerdings, dass es nicht genügt, dass die gesamte Schule sich weiterentwickelt, sondern dass es eine abgestimmte Entwicklung in der Region geben muss (vgl. Kap. 6). Eine systematische, auf die Verbesserung des Unterrichts ausgerichtete innerschulische Entwicklung sowie der Aufbau regionaler Schul- und Bildungslandschaften unterstützen insofern die individuelle Lernbiografie von Schülerinnen und Schülern. 33303.book Seite 75 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern | 75 Will eine Einzelschule so verstandene Unterrichtsentwicklung betreiben, so muss sie einen Verständigungsprozess aller innerhalb des Kollegiums, mit den Schülerinnen und Schülern und mit den Eltern, d. h. mit allen Beteiligten eines ganzen Systems herbeiführen. Wird die Entscheidung auf der Basis fundierter Vorinformationen getroffen, so ist damit erfahrungsgemäß eine Prioritätensetzung für die Entwicklung der ganzen Schule erfolgt. Die Verbesserung des Unterrichts als eines zielgerichteten Entwicklungsprozesses für alle Beteiligten bindet viele Kräfte, sodass andere Entwicklungen zumindest für eine gewisse Zeit zurückgestellt oder mit verminderter Intensität betrieben werden, bis sie zu einem späteren Zeitpunkt integriert werden können. Diese Überlegungen müssen ihren Niederschlag auch im Schulprogramm finden (wenn auch umgekehrt die Schulprogrammarbeit nicht immer als Instrument zu einer systematischen Verbesserung des Unterrichts funktioniert hat). Mit der Festschreibung im Schulprogramm, die das Ergebnis der Arbeit aller Mitwirkungsorgane sein muss, ist auch eine Verbindlichkeit für alle an der Schularbeit Beteiligten gegeben. Dabei ist es allerdings wichtig, dass das Gespräch über den Sinn der Maßnahmen bei Lehrerinnen und Lehrern, aber auch Schülerinnen und Schülern nicht nur in der Anfangsphase des Verständigungsprozesses geführt, sondern ständig in Gang gehalten wird. Tschekan/Herrmann nennen das die „anthropologische Dimension“ der Unterrichtsentwicklung, die neben der „methodisch-strategischen“, der „inhaltlichen“, der „organisatorischen“ und der „evaluierenden Dimension“ wichtig sei: „Das bedeutet, in der Schule/im Unterricht gibt es Gespräche darüber, warum z. B. kooperatives Lernen besser ist als individuelles Lernen, warum es zunächst von der Lehrkraft strukturiert wird und wohin das Ganze führen soll.“5 Ownership ist ein anderer Begriff, mit dem dieses Phänomen umschrieben wird: „Um dies [Verbesserung der Unterrichtsqualität] zu erreichen, müssen Lehrkräfte in ihrer Kompetenz breit gestärkt werden und sie müssen diesen Prozess zu ihrer Sache machen (Ownership). Ownership kann man nicht anordnen, es muss sich aus den Diskussionsprozessen in den den Prozess tragenden Individuen entwickeln. Das setzt eine breite Beteiligung und Kooperation aller an Entscheidungsfindungen über inhaltliche Veränderungen voraus […].“6 Besonders offensichtlich wird dieser Anspruch auch aus der Elternperspektive. Wenn sich eine Schule mit hoher Elternzustimmung z. B. vor zwei Jahren für die Unterrichtsentwicklung entschieden hat, müssen nicht nur die in jedem folgenden Schuljahr neu aufgenommenen Schülerinnen und Schüler in das Qualifizierungssystem eingebunden werden, 5 6 Tschekan, K./Herrmann, J. (2004), S. 21 f. Homeier, W., „Kooperatives Lernen und Schulentwicklung (2006), S. 1 Verständigung aller auf das gemeinsame Ziel Ownership 33303.book Seite 76 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 76 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern So erfasst die Entwicklung die gesamte Schule. jährlich neu müssen auch deren Eltern intensiv informiert und mit auf den Weg genommen werden. Unterrichtsentwicklung im Sinne eines gesamtschulischen Entwicklungsprozesses ist durch folgende Merkmale gekennzeichnet: z z z z z z z drei Merkmale gelingender Unterrichtsentwicklung: systematisch teamorientiert nach und nach die ganze Schule erfassend Lehrerinnen und Lehrer verstehen sich als Lernende in einer lernenden Organisation. Angemessene (überfachliche und fachliche) Teamstrukturen werden aufgebaut, gepflegt und abgesichert. Eine schulische Steuergruppe koordiniert professionell den gesamtschulischen Entwicklungsprozess. Die Schulleitung fordert und fördert diesen Entwicklungsprozess auf der Basis von Leitbild und Schulprogramm und trägt die Verantwortung für die Qualität; sie ist in der Lehrerrolle selbst Vorbild. Die erforderlichen Qualifizierungsmaßnahmen erfolgen sukzessive auf der Grundlage einer gesamtschulischen Fortbildungsplanung. Die Schule nutzt dabei die ihr zur Verfügung stehenden Gestaltungsfreiräume und erschließt sich – wenn erforderlich – neue Möglichkeiten. Die Maßnahmen werden auf Wirksamkeit und Nachhaltigkeit intern evaluiert. Eine so verstandene Unterrichtsentwicklung genügt wesentlichen Forderungen: Sie ist systematisch und teamorientiert und erfasst nach und nach die ganze Schule. Die Unterrichtsentwicklung muss systematisch sein, dies meint in dem genannten Kontext, dass die einzelne Schule ihre Entwicklungsgeschwindigkeit zwar selbst festlegt und in realisierbare Entwicklungsschritte einteilt, dabei aber den Lernprozess der Schülerinnen und Schüler als Ganzes berücksichtigt, d. h. dass sie die über alle Unterrichtsfächer einer Jahrgangsstufe gehende Entwicklung genauso im Blick hat wie die über alle Jahrgangsstufen (der jeweiligen Schulform) gehende Entwicklung in einem Fach. Dabei berücksichtigt sie die Schnittstellen zu den Herkunftsschulen und den Anschlussschulen (vgl. Kap. 6). Die Unterrichtsentwicklung muss teamorientiert sein, meint demnach, dass die Lehrerinnen und Lehrer sowohl in der vertikalen als auch in der horizontalen Betrachtung des Entwicklungs- und Lernprozesses unbedingt dauerhaft kooperieren müssen, damit bei den einzelnen Schülerinnen oder Schülern vergleichbare Kompetenzen entstehen können. Die Unterrichtsentwicklung muss nach und nach die ganze Schule erfassen, bedeutet dann, dass alle Schülerinnen und Schüler – unabhängig davon, von welchen Lehrerinnen und Lehrern sie unterrichtet werden – die Sicherheit haben müssen, von und in diesem Entwicklungsprozess 33303.book Seite 77 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehrerteams: Fach, Klasse, Jahrgang, Bildungsgang (Unterrichtsentwicklung und Personalentwicklung) | 77 profitieren zu können. Das heißt, sie müssen ihren Lernprozess wirklich als ganzheitliche Strategie erfahren können. Die Rollen und Aufgaben der einzelnen Gruppen bei der Steuerung eines solch komplexen Systems werden in den folgenden Abschnitten beschrieben. 4.1 Lehrerteams: Fach, Klasse, Jahrgang, Bildungsgang (Unterrichtsentwicklung und Personalentwicklung) Die Notwendigkeit von Teamarbeit auch bei Lehrerinnen und Lehrern und die Besonderheiten von professionellen Lerngemeinschaften wurden in Kap. 3.4.2 erläutert. Als organisierte Arbeitszusammenhänge sind in Schulen, insbesondere Sekundarstufen-Schulen, grundsätzlich Fachkonferenzen (oder Fachgruppen) und Klassenkonferenzen (resp. Jahrgangsstufenkonferenzen oder Bildungsgangkonferenzen) etabliert. Das Team von Lehrerinnen und Lehrern, das einer bestehenden Lerngruppe auf Schülerseite korrespondiert und das Lernen dieser Gruppe gemeinsam verantwortet, ist jedoch die Klassenkonferenz (resp. Jahrgangsstufenkonferenz oder Bildungsgangkonferenz). In ihr ist am ehesten der schnelle Wechsel auf die Schülerperspektive möglich, wenn es darum geht, die verschiedenen Angebote, die der Schüler oder die Schülerin im Laufe eines Schultages, einer Schulwoche, eines Schuljahres oder im Verlauf einer oder mehrerer Jahrgangsstufen erhält, zu vernetzen. So können Schülerinnen und Schüler darin unterstützt werden, dass sie die vielen „Puzzlesteine“ von Bildung in ein stimmiges Bild zusammenfügen. Fächerverbindendes oder fächerübergreifendes Arbeiten und transversales Denken werden so erheblich vereinfacht. Wenn Unterrichtsentwicklung im Interesse der Schülerinnen und Schüler bei den überfachlichen Kompetenzen ansetzt, sind Klassenkonferenzen die geeignete fächerübergreifende Arbeitsstruktur, um diese Entwicklung zu planen, umzusetzen und zu reflektieren. Aus ihnen können sich am ehesten Teams im Sinne von professionellen Lerngemeinschaften herausbilden, die als gemeinsames Ziel die bestmögliche Entwicklung der Lernkompetenz aller Schülerinnen und Schüler der gemeinsamen Lerngruppe haben. Der einzelne Lehrer bzw. die einzelne Lehrerin kann selbstverständlich nicht für alle Klassen, in denen er/sie unterrichtet, solchen Teams angehören. In der Primarstufe sind statt der Klassenteams oft Jahrgangsstufenteams sinnvoll, wenn nur wenige Lehrerinnen und Lehrer in einer Klasse eingesetzt sind, oder in kleinen Grund- oder Förderschulen sogar Doppeljahrgangsteams. In den Berufskollegs hat sich die Arbeit in Bildungsgangteams bewährt. Fachkonferenzen oder Klassenkonferenzen? Grundschulen: Jahrgangsstufenkonferenzen Berufskollegs: Bildungsgangteams 33303.book Seite 78 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 78 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern ganze Kollegien oder mehrere Lerngruppen? Bedeutung der Fachkonferenzen Die Trainingsangebote für Lehrerinnen und Lehrer richten sich entsprechend immer an solche Klassen-, Jahrgangsstufen- oder Bildungsgangteams. In Grund- und Förderschulen werden die Fortbildungen sogar grundsätzlich für ganze Kollegien durchgeführt, innerhalb der Fortbildungen arbeiten die Lehrerinnen und Lehrer aber wieder in den Klassen- oder Jahrgangsstufenteams. In Sekundarschulen werden die Trainings in der Regel für Teilgruppen angeboten, die zusammen eine Lerngruppe in sinnvoller Größe bilden (20 bis 30 Teilnehmerinnen und Teilnehmer). Das sind dann z. B. mindestens alle Lehrerinnen und Lehrer, die im Jahrgang 5 unterrichten, wenn – aus guten Gründen – auch mit den Schülertrainings in 5 begonnen werden soll. In den Folgejahren werden dann die Lehrerteams des jeweils nächsten fünften Jahrgangs trainiert, sodass – je nach Zeitplan der Schule – in einigen Jahren große Teile des Kollegiums erreicht werden. (zur Implementation vgl. Kap. 4.2.1) Doch auch Fachteams spielen für die Unterrichtsentwicklung eine wichtige Rolle; denn Unterricht materialisiert sich außerhalb der Sockeltrainings nach wie vor als Fachunterricht, das heißt die Pflege des Gelernten vollzieht sich in jeweils fachlich angemessenen Ausprägungen im Unterricht der einzelnen Fächer und die eigenständige Anwendung in – aus den Einzelfächern heraus organisierten – Lernarrangements wie Freiarbeit, Projektarbeit, Wochenplanarbeit, fächerübergreifendem bzw. fächerverbindendem Unterricht, Facharbeit, Selbstlernzentren etc. Die Erfahrung hat gezeigt, dass die hier vorgestellten Trainings zur Unterrichtsentwicklung, die doch bei überfachlichen Kompetenzen ansetzen, auch die Arbeit in den (insbesondere in Sekundarschulen traditionell wichtigen) Fachteams neu beleben können. Die gemeinsame Verständigungsbasis erleichtert offensichtlich auch den fachlichen Erfahrungsaustausch und die fachliche Weiterarbeit. Wenn sich eine Schule beispielsweise entschlossen hat, mit einem Basistraining in der Stufe 5 zu beginnen, werden Lehrerteams aus allen fünften Klassen zuerst von Trainerinnen und Trainern im Methodentraining geschult. Die Lehrerinnen und Lehrer entwerfen dann ein für ihre eigene Schule geeignetes Basistraining für ihre Klassen und führen es gemeinsam im Jahrgang durch. Man könnte sich z. B. darauf geeinigt haben, die Vorbereitung von Klassenarbeiten und Tests (eine von sieben Trainingsspiralen) als Basistraining an einem Projekttag im Jahrgang durchzuführen. Dann wüssten die Lehrerinnen und Lehrer aller Fächer, dass ein Konsens erarbeitet worden ist über Regelmäßigkeit und Rechtzeitigkeit der Vorbereitung, über die Funktion des Nachfragens bei Lehrerinnen und Lehrern oder Mitschülerinnen und Mitschülern, den Sinn des Abfragens etc. Sie können darauf verweisen und zur Routinebildung beitragen, die wiederum erheblich befördert wird, wenn alle die gleiche Routine einfordern. Sie müssen aber auch ihre fachspezifischen Besonderheiten (wie z. B. Methoden des Vokabellernens im Fremdsprachenunterricht) einbringen und mit den überfachlichen Methoden verzahnen. 33303.book Seite 79 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 79 Also wird zeitlich versetzt zu den Basistrainings, aber in nicht allzu großem Abstand z. B. die Teilkonferenz Englisch der Lehrerinnen und Lehrer tagen, die in den fünften Klassen unterrichten, und sich auf ein jahrgangsstufenbezogenes fachliches Kompetenzprofil verständigen. Vor allem wird natürlich kurz nach dem Training eine Klassenarbeit vorbereitet und geschrieben. Teamarbeit unter Lehrerinnen und Lehrern, die beruflich in der Regel noch immer als Einzelkämpfer sozialisiert sind, hat (auf Lehrerseite) zwei – durchaus erwünschte – „Neben“effekte. Sie kann helfen zu verhindern, dass einzelne Lehrerinnen und Lehrer nach den Trainings, insbesondere dem Methodentraining, sozusagen einen noch feiner ziselierten und methodisch „aufgerüsteten“ Frontalunterricht gestalten. Sie kann auch dazu betragen, dass Lehrerinnen und Lehrer sich etwas weniger belastet fühlen; denn das Team gibt einerseits den Einzelnen Sicherheit. (Die oben als Beispiel genannte Klassenarbeit ist vermutlich nicht nur in den Parallelklassen gemeinsam geplant, sondern auch kreuzweise korrigiert worden.) Andererseits entfaltet sich in der gemeinsamen Arbeit oft mehr Kreativität, sodass das lähmende Gefühl des ewig Gleichen gemindert wird. Und wenn schließlich nicht jeder und jede in jeder Unterrichtsreihe das Rad neu erfinden muss, weil die Lernspiralen gemeinsam entwickelt werden, dann ist das nicht nur ein Element von Qualitätssicherung, sondern auch von Entlastung. 4.2 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) Ein so umfassender Entwicklungsprozess wie die Unterrichtsentwicklung erfordert Steuerungsmechanismen, die bis heute in Schulen nicht selbstverständlich vorhanden sind. Für die Bewältigung der komplexen Aufgaben hat sich bereits im Projekt "Schule & Co." die Einrichtung schulischer Steuergruppen bewährt7; denn Schulleitungen allein wären – insbesondere in Schulen ohne formelle erweiterte Schulleitung oder an Aufgaben gebundene Funktionsstellen – überfordert mit der längerfristig notwendigen aufwändigen Steuerungsarbeit. Steuergruppen stehen quer zur Hierarchie einer Schule und können breite Wirksamkeit in die Kapillaren des Kollegiums hinein entfalten. Sie haben sich als wesentliches Strukturelement bei der Übernahme von mehr Eigenverantwortung für die Entwicklung der eigenen Schule erwiesen8 und leisten einen Beitrag zur Demokratisierung von Schule. Deshalb wurden sie im Projekt "Selbststän7 8 zwei erwünschte „Neben“effekte der Teamarbeit Vgl. Bastian, J./Rolff, H.-G. (2002), S. 10 f. Vgl. Horster, L./Rolff, H.-G., Unterrichtsentwicklung. Grundlagen, Praxis, Steuerungsprozesse, Weinheim 2001, S. 201 f. Warum Steuergruppen? Keine neue Hierarchiestufe! 33303.book Seite 80 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 80 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Auftraggeberin: Lehrerkonferenz (oder Schulkonferenz) Zusammensetzung Aufgaben dige Schule" für alle Projektschulen als Teilnahmebedingung gesetzt. Sie sind Ausdruck veränderter Partizipation und Mitwirkung an der Schulentwicklung, sie sind jedoch keine neuen Mitwirkungsorgane. Die Steuergruppe wird von der Lehrerkonferenz (in manchen Schulen auch der Schulkonferenz) legitimiert und bekommt von dort im Laufe des Prozesses die entsprechenden Aufträge. Eigene Entscheidungen kann die Steuergruppe nur im Rahmen solcher legitimierter Aufträge treffen.9 Sie bereitet Entscheidungen der Gremien vor und organisiert die angemessene Umsetzung getroffener Entscheidungen. Sie ist also ein „ExekutivOrgan“, dem die Rolle eines „Quasi-Kabinetts“ zukommt.10 Sie besteht je nach Größe der Schule aus drei bis sieben Mitgliedern. Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter ist gesetztes Mitglied der Steuergruppe. Die anderen Mitglieder der Steuergruppe werden von der Schule bestimmt. Bei diesem Auswahlprozess kommen die schuleigenen Traditionen und Kulturen zum Tragen. Es hat sich im Projekt gezeigt, dass „formale Kriterien der Repräsentativität […] eine untergeordnete Rolle“ spielen.“ „Die dominierenden Auswahlkriterien für die Mitgliedschaft in einer schulischen Steuergruppe waren mit 80 % Interesse an der Tätigkeit und mit 65 % eine positive Einstellung zum Projekt.“11 Allerdings hat sich im Rahmen der Evaluation auch gezeigt: „Eine ‚geschickte Rekrutierung’ bildet […] eine wichtige Bedingung für die Akzeptanz und den Erfolg von Steuergruppen.“12 Den Berufskollegs wird wegen ihrer besonderen Struktur empfohlen, Steuergruppen auf der Ebene der Abteilungen oder Bildungsgänge einzurichten.13 Aufgaben der schulischen Steuergruppen sind: Zielklärung und -konkretisierung der schulischen (Unterrichts-) Entwicklung; z Entwicklung zu einem arbeitsfähigen Team und Unterstützung des Teambildungsprozesses im Kollegium; z Planung und Koordinierung einer Umsetzungsstrategie sowie Herstellung von Verbindlichkeit und Sicherstellung der schulinternen Evaluation; z 9 Herrmann, J., „Steuern oder Moderieren? Zu Problemen der Arbeit schulischer Steuergruppen“ in: PÄDAGOGIK, Heft 3, 2006, S. 26–29 10 Löw, G., „Erfahrungen einer Steuergruppe“ in: PÄDAGOGIK, Heft 7/8, 2000, S. 23 11 Institut für Schulentwicklungsforschung, Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung, Entwicklung ist messbar. Zwischenbericht der wissenschaftlichen Begleitforschung zum Projekt "Selbstständige Schule", Troisdorf, 2006, S. 64 12 Hoppe, C., Tätigkeiten und Qualifizierung schulischer Steuergruppen. Konzept und erste Evaluationsergebnisse im Projekt "Selbstständige Schule", unveröffentlicht, Kap. 6 13 Vgl. „Empfehlungen zum Zustandekommen einer schulischen Steuergruppe“ unter http://www.selbststaendige-schule.nrw.de 33303.book Seite 81 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 81 Sicherstellung des Informationsflusses innerhalb des Kollegiums und der gesamten Schule und Dokumentation der Entwicklungen; z Moderation des Entwicklungsprozesses und Umgang mit Konflikten und Widerständen. z Die Anforderungen an die schulischen Steuergruppen verändern sich mit dem Schulentwicklungsprozess. Nach einer Anfangsphase, in der es darum geht, in der Schule einen breiten Konsens und eine breite Unterstützung für das gemeinsame Entwicklungsziel herzustellen, geht es um die Erprobung neuer Konzepte, deren Adaption und Evaluation. Nicht zu unterschätzen ist die Aufgabe, für die Implementation von Prozessen zu sorgen und so innovative Entwicklungen nachhaltig zu gestalten. Nach aller Erfahrung ist es ein häufiger Mangel in Innovationsprozessen, dass keine ausreichenden Strukturen vorhanden sind, um langfristige Entwicklungen sicherzustellen. Die schulischen Steuergruppen sind ein wesentlicher Garant für genau diese dauerhafte Verankerung von Schulentwicklungsprozessen. Daraus erwächst ihnen die Aufgabe, die verschiedenen und häufig isoliert voneinander stattfindenden Entwicklungen einer Schule zu bündeln, zu priorisieren und auf ein gemeinsames strategisches Ziel hin auszurichten. Wenn davon die Rede ist, dass die Steuergruppe z. B. die Information und Kommunikation in der gesamten Schule sicherstellt, dann bedeutet dies auch, dass dabei nicht nur das Kollegium in den Blick genommen werden darf. Die Steuergruppe sorgt dafür, dass die Eltern und insbesondere die Schülerinnen und Schüler am Schulentwicklungsprozess partizipieren können. Es geht dabei nicht nur um die gewählten Vertreterinnen und Vertreter von Schülerinnen und Schülern sowie Eltern, sondern darum, dass in der Schule allmählich ein sehr viel umfassenderes Verständnis von Partizipation entsteht. Unter Umständen kann auch die Einbeziehung externer Partner bedeutsam werden. Fallstudien im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung haben gezeigt, dass sich Steuergruppen in einem konstanten Spannungsfeld zwischen Moderation und Steuerung bewegen, das nicht auflösbar ist und vielleicht auch nicht aufgelöst werden muss. „Sie steuern und sie moderieren, sie stiften einen engen Kommunikationsfluss und Transparenz und sie denken vor und agieren in gewisser Weise taktisch.“14 Sie haben „offenbar mit genau den Bedingungen zu ringen […], die letztlich ihr Potenzial ausmachen: keine formale Struktur, quer zur Hierarchie, ausgestattet mit auszuhandelnden, also zunächst unklaren Aufgaben und 14 Herrmann, J., „Ich glaube, wir sind im Denken selbstständiger geworden“ – Fallstudien zur Schulentwicklung im Modellvorhaben "Selbstständige Schule", unveröffentlicht, Kap. 2.4.3 Kommunikation auch mit Eltern und Schülern Spannungsfeld: Moderation und Steuerung 33303.book Seite 82 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 82 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Rechenschaftspflicht.“15 Aber die wissenschaftliche Begleitforschung kann in ihrem Zwischenbericht konstatieren: „Die schulischen Steuergruppen haben sich in den meisten Schulen als handlungsfähiger Akteur etabliert.“16 4.2.1 „Fahrplan“ zur Unterrichtsentwicklung Information und Kommunikation Entscheidungsfindung Die erste konkrete Aufgabe der Steuergruppe ist die sorgfältige Information und die Gestaltung des Entscheidungsprozesses in der Schule; denn das Einlassen auf einen solchen Prozess der systematischen und nach und nach die ganze Schule erfassenden Unterrichtsentwicklung wird die Kräfte in der Schule in erheblichem Maße und langfristig binden. Deshalb muss zunächst eine tragfähige Basis geschaffen werden. Untersuchungen zu Prozessen des Change Management in der Wirtschaft bestätigen, wie wichtig dieser Teil der Arbeit ist. Es gilt als erwiesen, dass ein großer Teil von Reorganisationsprozessen am Widerstand der Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter scheitert. Ein wichtiger Grund für Widerstand ist aber mangelnde Information. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter verweigern sich, wenn sie sich nicht „mitgenommen“ fühlen. Daraus hat man den Schluss gezogen, dass der Kommunikation des Neuen an die Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter besondere Aufmerksamkeit geschenkt werden muss, „um Vision, Veränderungsziele, -hintergründe, und -motive transparent zu machen oder – im besten Fall – mit den Mitarbeitern gemeinsam zu entwickeln.“17 Das ist in Schulen umso wichtiger, als das ökonomische Motiv für Veränderung, also das drohende Scheitern am Markt und damit verbundene Existenzangst, ebenso fehlt wie andere Anreizsysteme. Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter in Schulen sind Lehrerinnen und Lehrer, deren wichtigstes Motiv ihr berufliches Selbstverständnis oder – etwas pathetischer formuliert – der pädagogische Ethos ist. Und das gilt es bei Veränderungen zu bedenken. 15 Hoppe, C. (2006) Institut für Schulentwicklungsforschung, Arbeitsgruppe Bildungsforschung/Bildungsplanung (2006), S. 70 17 Böttcher, W./Brohm, M. (2004), S. 271 16 33303.book Seite 83 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 83 Fahrplan für schulische Steuergruppen Schnuppertag Absprache mit den TrainerInnen Elterninformation Informationsveranstaltung in der Schule Informationsveranstaltung der regionalen Steuergruppe Schülerinformation Entscheidung © Selbstständige Schule Abb. 13: Fahrplan für schulische Steuergruppen In Einzelschritten kann der Weg so beschrieben werden: 1. Im Projekt "Selbstständige Schule" nehmen Schulleiterin/Schulleiter, Sprecherin/Sprecher der schulischen Steuergruppe und ein weiteres Mitglied der Lehrerkonferenz (evtl. aus dem Lehrerrat) an der Informationsveranstaltung der regionalen Steuergruppe zur Unterrichtsentwicklung teil. (Zur regionalen Steuergruppe vgl. Kap. 6.1) 2. Sie informieren anschließend ihre Steuergruppe über das Angebot und die Bedingungen zur Annahme. Die schulische Steuergruppe entscheidet, ob die Schule bei der regionalen Steuergruppe Unterstützung für eine Informationsveranstaltung oder in besonderen Fällen direkt eine Orientierungsveranstaltung für die Schule beantragt. Die regionale Steuergruppe wird informiert. 3. Die Schule erhält von der regionalen Steuergruppe ein mit der Durchführung der Orientierungsveranstaltung beauftragtes Trainerteam benannt und trifft mit diesem die notwendigen Vorabsprachen (Inhalt, Organisation, Technik, Zeitpunkt). Diese Arbeitsphase ist besonders wichtig. In ihr muss die Passung der Trainings für die Einzelschule gewährleistet werden. Das stellt besonders hohe Anforderungen an die Trainerteams, die bereit und in der Lage sein müssen, auf die besonderen Bedingungen, Vorkenntnisse und Strukturen der einzelnen Schulen einzugehen, ohne dabei das Gesamtkonzept aus den Augen zu verlieren. Informationsveranstaltung in der Region Orientierungsveranstaltung in der Schule 33303.book Seite 84 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 84 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Beschlüsse der Mitwirkungsorgane 4. Die Schule führt als vollständiges Kollegium die Orientierungsveranstaltung mit dem Trainerteam durch. In großen Kollegien wird in parallelen Gruppen mit maximal 35 Teilnehmerinnen und Teilnehmern gearbeitet. 5. Die Lehrerkonferenz beschließt mit deutlicher Mehrheit (2/3) den Einstieg der Schule in die systematische Unterrichtsentwicklung. Die Steuergruppe bereitet die Konferenz vor. 6. Die schulische Steuergruppe informiert die Elternpflegschaft und Schülervertretung in „produktiven“ Sitzungen über Ziele und Vorgehensweisen des geplanten Vorhabens. 7. Die Schulkonferenz beschließt mit deutlicher Mehrheit den Einstieg in die systematische sowie nach und nach die ganze Schule erfassende Unterrichtsentwicklung. Die Steuergruppe bereitet die Konferenz vor. Trainingsbaustein 1 (MT) für Lehrerinnen und Lehrer Der nächste Aufgabenkomplex der Steuergruppe umfasst die Vorbereitung des ersten Trainingsbausteins (i. d. R. Methodentraining) für Lehrerinnen und Lehrer und – eng damit verknüpft – die Vorbereitung des ersten Sockeltrainings für Schülerinnen und Schüler (einer Jahrgangsstufe, eines Bildungsganges, einer Schule). Begleitaufgaben für die schulische Steuergruppe I Rückmeldung an regionale Steuergruppe Vorbereitung Baustein 1/2/3 für LehrerInnen Beratung durch TrainerInnen Durchführung Baustein 1/2/3 für Lehrer/innen Pflege im Fachunterricht Planung Baustein 1/2/3 für SchülerInnen Durchführung Baustein 1/2/3 für SchülerInnen © Selbstständige Schule Abb. 14: Begleitaufgaben für die schulische Steuergruppe I 33303.book Seite 85 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 85 Daraus ergibt sich eine Vielzahl von Teilaufgaben: Die schulische Steuergruppe trifft die notwendigen Absprachen mit dem zugewiesenen Trainerteam. Hier gilt das Gleiche wie für die Absprachen zur Orientierungsveranstaltung. z Die Steuergruppe erstellt einen ersten Implementationsplan. Oberste Maxime dabei ist, dass alle Schülerinnen und Schüler im Verlaufe des Bildungsgangs, den die Schule anbietet, systematische und nachhaltige Förderung ihrer Lernkompetenz erhalten. Folgende Fragen sollten bei der Planung berücksichtigt werden: – Soll – wie es an kleineren Grund- und Förderschulen sowie bei einzelnen Bildungsgängen der Berufskollegs sowieso geschieht – eventuell das ganze Kollegium gleichzeitig an der Fortbildung teilnehmen? Dann muss die Unterrichtsentwicklung nach dem Lehrertraining auch in allen Lerngruppen beginnen! – In welchen Klassen, Jahrgangsstufen oder Bildungsgängen soll mit der Unterrichtentwicklung begonnen werden (i. d. R. in den Klassen der Eingangsstufe bzw. in einem oder mehreren Bildungsgängen/ Fachbereichen)? Mindestens die Lehrerteams dieser Jahrgänge müssen dann qualifiziert werden! – Welche Kolleginnen und Kollegen bilden die Teams in diesen Klassen/Jahrgangsstufen und Bildungsgängen und nehmen gemeinsam an der Fortbildung teil? Das ist eine der schwierigsten und wichtigsten Aufgaben der Steuergruppe in diesem Bereich, die eine professionelle Herangehensweise erfordert, da es an den Schulen i. d. R. bisher keine stabile Teamkultur gibt. Um vom Zufall oder der persönlichen Sympathie als Auswahlkriterien wegzukommen, muss die Steuergruppe Mut entwickeln, geschickt mit Instrumenten wie z. B. der Potenzialanalyse umgehen, langfristiger angelegte Strategien verfolgen und sorgfältig mit allen Beteiligten kommunizieren. Nur so werden die Voraussetzungen dafür geschaffen, dass alle Mitglieder eines Kollegiums „mitgenommen“ werden und jede bzw. jeder die Chance bekommt, Mitglied eines aktiven, selbst bestimmt arbeitenden Teams zu werden. Da die meisten Lehrerinnen und Lehrer in verschiedenen Jahrgängen unterrichten, arbeiten sie – auch aus arbeitsökonomischen Gründen – in diesem Zusammenhang nur in einem Team eines Jahrgangs. z Die schulische Steuergruppe klärt mit den Stundenplanern die eventuell entstehenden Anforderungen an Unterrichtsverteilung bzw. Stundenplangestaltung (wenn zeitlich kompatibel mit Beginn der Trainings), in jedem Fall aber Stundenplangestaltung während der z Zusammenarbeit mit dem Trainerteam Implementationsplan Teambildung Auswirkungen auf den Stundenplan? 33303.book Seite 86 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 86 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Sockeltrainings. (5-Tage-Modell mit integrierter Praxiserfahrung an Grund- und Förderschulen, 2,5-Tage-Modell an Sek I/Sek II-Schulen). z Sie informiert Elternpflegschaften und Schülervertretungen über die anstehenden Lehrer- und Schülertrainings. z Sie bereitet die Trainingstage organisatorisch vor (z. B. Materialien, Räume, Verpflegung). Trainingsbaustein 1 (MT) für Schülerinnen und Schüler Umsetzung auf Schülerebene Detailarbeit für die Steuergruppe Am Ende des ersten Lehrertrainings planen die Teams den Umsetzungsprozess für ihre Lerngruppen und vereinbaren ihn mit der Steuergruppe. Sie unterstützt die trainierten Lehrerteams dabei, die Sockeltrainings für die Schülerinnen und Schüler vorzubereiten. Dazu müssen inhaltliche, methodische und organisatorische Festlegungen getroffen und Elternabende mit praktischen Übungen aus dem Konzept durchgeführt werden. Außerdem regt die Steuergruppe eine Selbstevaluation durch die Lehrerteams an – begleitet und unterstützt durch die schulischen Evaluationsberater und -beraterinnen. Nicht zuletzt kümmert sich die Steuergruppe auch um die Dokumentation; die Teams im nächsten Schuljahr sollen schließlich das Rad nicht neu erfinden müssen. Pflege im Fachunterricht Der nächste Schritt ist die Unterstützung der Lehrerinnen und Lehrer bei der Pflege des Gelernten im Fachunterricht. Ziel sind Vereinbarungen zur Weiterarbeit, an die sich alle Beteiligten gebunden fühlen. Die konkreten Arbeitsschritte für die Steuergruppe umfassen folgende Aufgaben: z z z z z z Die schulische Steuergruppe regt regelmäßige Absprachen der Lehrerteams an und koordiniert sie. Sie regt teaminterne Hospitationen im Rahmen der schulischen Möglichkeiten an und koordiniert sie. Auf Wunsch organisiert die Steuergruppe eine Beratung durch das Trainerteam. Sie evaluiert die geschaffenen Pflegestrukturen (nicht die Pflege im Fachunterricht, das ist allein Sache der Lehrerinnen und Lehrer!). Sie organisiert die Weitergabe von evaluierten und optimierten Materialien sowie Erfahrungen an die folgenden Teams der gleichen Jahrgangsstufe und berichtet an die schulischen Gremien. Sie achtet darauf, dass das nächste Lehrertraining erst in Angriff genommen wird, wenn die Umsetzung der bisherigen Planungen auf Schülerebene sicher erreicht ist. 33303.book Seite 87 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 87 z Sie meldet der regionalen Steuergruppe zurück, wie sich die Implementation der Unterrichtsentwicklung entwickelt hat, und trifft mit dem Trainerteam die notwendigen Absprachen für die nächsten Schritte (u. a. auch Terminvereinbarung für den nächsten Baustein). Im Zentrum der Bemühungen der Steuergruppe steht dabei, dass sie die Lehrerinnen und Lehrer dabei unterstützt, vom Einzelkämpfer zum Teamarbeiter zu werden. Dazu brauchen sie Sicherheit für die sich entwickelnden Kooperationsstrukturen – Sicherheit im Sinne von zuverlässigen Strukturen und Sicherheit im Sinne einer Zeitressource. Nur durch fest vereinbarte und kontinuierliche Zusammenarbeit kann eine Kultur des Vertrauens und der vorbehaltlosen Kooperation entstehen, die z. B. auch Hospitationen möglich macht. Trainingsbausteine 2 (TT), 3 (KT) und 4 (SegeL) für Lehrerinnen und Lehrer Trainingsbausteine 2 (TT) und 3 (KT) für Schülerinnen und Schüler Als nächster Aufgabenkomplex steht die Organisation der weiteren Trainingsbausteine an (Teambildung im Klassenraum, Kommunikationstraining für Lehrerinnen und Lehrer sowie für Schülerinnen und Schüler) sowie der Anwendungsbaustein für Lehrerinnen und Lehrer (Selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht). Die Bausteine bauen spiralförmig aufeinander auf, d. h. das im ersten Baustein Gelernte wird im zweiten Baustein wiederholt und integriert usw. Das gilt gleichermaßen für Lehrer- und Schülertrainings. Wie festigt man Kooperationsstrukturen? 33303.book Seite 88 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 88 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Trainingsbausteine für Lehrer- und Schülergruppen selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht Phase 4 Anwendungsbaustein: selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht Pflege und eigenständige Anwendung fachbezogen und in Vorhaben ca. 6 – 12 Monate Phase 3 Sockeltraining + Pflege Trainingsbaustein: eigenständige Anwendung im FU: Teamentwicklung ca. 6 – 12 Monate Phase 2 Sockeltraining + Pflege Trainingsbaustein: Kommunikation Methoden & Kommunikation & Team eigenständige Anwendung im FU: ca. 6 – 12 Monate Phase 1 Methoden & Kommunikation Sockeltraining Trainingsbaustein: eigenständige Anwendung im FU: Methoden Methoden Lehrergruppen Schülergruppen © Selbstständige Schule Abb. 15: Trainingsbausteine für Lehrer- und Schülergruppen Für die Steuergruppe entstehen folgende Begleitaufgaben: Begleitaufgaben für die schulische Steuergruppe II Rückmeldung an regionale Steuergruppe Vorbereitung Baustein „Selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht“ für Fach-/Klassenteams Beratung durch TrainerInnen Durchführung Baustein „Selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht“ Pflege im Fachunterricht und Schaffung geeigneter Lernszenarien © Selbstständige Schule Abb. 16: Begleitaufgaben für die schulische Steuergruppe II 33303.book Seite 89 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 89 Der Aufbau der Lehrer- und Schülertrainings unterscheidet sich dadurch, dass Lehrerinnen und Lehrer nach den drei Grundbausteinen noch einen zusätzlichen Anwendungsbaustein erhalten (in neuen Teamkonstellationen, d. h. in Fachteams), während Schülerinnen und Schüler das in den Basistrainings Gelernte direkt im Fachunterricht pflegen und anwenden. Hier hat die Steuergruppe eine zusätzliche Organisationsaufgabe zu lösen, vor allem wenn die Klassen- oder Jahrgangsteams großer Kollegien die drei Grundlagenbausteine in verschiedenen Trainingsgruppen durchlaufen haben. Der SegeL-Baustein ist mindestens zweigeteilt. In der Sekundarstufe I z. B. arbeitet die bisherige Trainingsgruppe i. d. R. zunächst an zwei Fortbildungstagen in Fachteams, die entsprechend der schuleigenen Lehrpläne fachliche Lernspiralen erstellen (vgl. Kap. 3.3.2). Nach einem kurzen Zeitraum, in dem das Erarbeitete erprobt wird, plant die Steuergruppe für dieselben Fachteams einen weiteren Zweitäger, an dem umfangreiche anspruchsvolle Vorhaben und Projekte gestaltet werden. Dabei werden sie noch einmal von den Trainerinnen und Trainern betreut. Erprobung, Auswertung und Weiterarbeit erfolgen dann in eigener Regie und Verantwortung. Hier kommt der Steuergruppe eine wichtige unterstützende Aufgabe zu. Selbst gesteuertes Lernen für Lehrer- und Schülergruppen Schülergruppen Lehrergruppen Grundlagen Pflege Anwendung selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht organisieren MT TT KT Trainingsbaustein Trainingsbaustein Trainingsbaustein MT TT KT Sockeltraining(s) Sockeltraining(s) Sockeltraining(s) Lernspiralen für den Fachunterricht (FU) erstellen Lernspiralen im FU Lernspiralen im FU Lernspiralen im FU neue Lehrerrolle: • Lernbegleiter • Schüler „loslassen“ • Reflexion & Bewertung im alltäglichen Unterricht: selbst gesteuertes Lernen Fachunterricht Vorhaben Freiarbeit Projektarbeit Wochenplan Facharbeit © Selbstständige Schule Abb. 17: Selbst gesteuertes Lernen für Schüler- und Lehrergruppen MT Methodentraining, KT Kommunikationstraining, TT Teamtraining Anwendungsbaustein SegeL für Lehrerinnen und Lehrer 33303.book Seite 90 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 90 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Schule ist Herrin des Verfahrens Wegen des Umfangs und der Komplexität der dargestellten Aufgaben muss jede einzelne Schule Herrin des Verfahrens bleiben und insbesondere den zeitlichen Rahmen nach der eigenen Einschätzung ihrer Möglichkeiten und Kapazitäten gestalten. Implementations- und Arbeitspläne mittelfristige Planung Auf die Steuergruppe kommen im Rahmen eines mittelfristigen Implementationsplans nach und nach und u. U. mehrmals folgende Aufgaben zu: Fortbildungen z Unterstützung der Lehrerteams z z Lernarrangements für selbstständiges Arbeiten z neue Kolleginnen und Kollegen z z Unterrichtsorganisation z Wird eine Schule (bzw. ein Bildungsgang) durch die Schritte 2–5 (vgl. Abb. 14) nicht insgesamt erfasst, so muss die schulische Steuergruppe bei dem Implementationsplan berücksichtigen, dass diese Schritte mehrfach wiederholt werden müssen, um alle Lehrerinnen und Lehrer der Schule zu erfassen. Sie unterstützt die Lehrerteams bei der Koordination der Pflege der angebahnten Kompetenzen im Fachunterricht. Sie unterstützt die Lehrerteams bei der Festlegung, welche Kompetenzen alle Schülerinnen und Schüler eines Jahrgangs am Ende des Schuljahres erreicht haben sollen und wie diese überprüft werden können. Sie sichert einen kumulativen Aufbau über die Jahrgänge ab. Die schulische Steuergruppe organisiert mit den Lehrerteams Orte und feste Zeiten für Lernarrangements, in denen die Schülerinnen und Schüler in den trainierten Lerngruppen selbstständiges Arbeiten praktizieren können. Sie kümmert sich darum, dass neue Lehrerinnen und Lehrer der Schule an entsprechenden Trainings (in der Region) teilnehmen können. Sie sorgt dafür, dass neue Schülerinnen und Schüler und deren Eltern beim Eintritt in die Schule ausführlich und möglichst praktisch über die Unterrichtsentwicklung informiert werden. Sie regt Diskussions- und Entscheidungsprozesse über notwendige Anpassungen in der Unterrichtsorganisation an (z. B.: Passt der 45Minuten-Rhythmus noch zum veränderten Unterricht?) Der Steuergruppe kommt also die zentrale Verantwortung für die Arbeitsund Implementationsprozesse und deren Anpassung an die Bedingungen der jeweiligen Schule zu. Eine solche Zuweisung muss zu zwei Fragen führen: Können das die Mitglieder der Steuergruppe neben ihren „normalen“ Aufgaben als Lehrerinnen und Lehrer leisten? Haben sie die nötige Kompetenz? 33303.book Seite 91 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die schulische Steuergruppe (Unterrichtsentwicklung und Organisationsentwicklung) | 91 Zur Frage der Entlastung seien die Thesen eines erfahrenen Schulleiters zitiert: Entlastung? „Steuergruppen können ihre quantitativ aufwändigen und qualitativ anspruchsvollen Aufgaben nur bei Teilentlastung von der Unterrichtsverpflichtung ausüben. z Steuergruppen brauchen die Verfügungsmacht über einen Entlastungstopf zwecks Förderung produktionswilliger Teams in Sachen Schulentwicklung.“18 z Die Frage nach der Kompetenz kann nur so beantwortet werden, dass die Mitglieder von Steuergruppen hochwertig qualifiziert werden müssen, damit sie erfolgreich arbeiten können. 4.2.2 Fortbildung für Steuergruppen Auch für die Mitglieder von Steuergruppen sind die Anforderungen an Rolle und Aufgaben in diesem Veränderungs- und Entwicklungsprozess völlig neu. Weder in der ersten noch in der zweiten Ausbildungsphase wurden ihnen die zur gesamtschulischen Steuerung notwendigen Kompetenzen vermittelt. Das Fortbildungssystem des Landes Nordrhein-Westfalen hat bisher ebenfalls keine entsprechenden Angebote gemacht. Erfahrungen mit der systematischen Qualifizierung schulischer Steuergruppen hat es erstmals im Projekt "Schule & Co." gegeben.19 Sie sind in Projekten in verschiedenen Bundesländern berücksichtigt worden und zur Basis der Qualifizierung der Steuergruppen im Projekt "Selbstständige Schule" gemacht worden. Die Fortbildung wurde in acht Bausteinen modularisiert, deren Reihenfolge jedoch für eine Sequenzierung nicht zwingend ist. Folgende Bausteine können für eine an der Unterrichtsentwicklung orientierte Qualifizierungsmaßnahme als Erfolg versprechend gelten20: 1. Aufgaben und Rolle der schulischen Steuergruppen im Prozess der Schulentwicklung (Einführung in Grundzüge, Formen und Prozesse von Unterrichtsentwicklung, Analyse des bisherigen Schulentwicklungsprozesses im 18 Löw, G. (2000), S. 24 Vgl. Herrmann, J. (2002) 20 Vgl. „Kurzbeschreibung der Qualifizierungsbausteine für die Arbeit der schulischen Steuergruppen“ unter www.selbststaendige-schule.nrw.de/Fortbildung/schulischeSteuergruppen 19 acht Bausteine 33303.book Seite 92 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 92 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern 2. 3. 4. 5. 6. 7. 8. Auswertung der Erfahrungen Sinne einer Stärken-Schwächen-Analyse, Auseinandersetzung mit der Rolle der Steuergruppe) Zielformulierung und Strategieentwicklung (Konkretisierung schulspezifischer Umsetzungsmöglichkeiten, Realisierbarkeit, Kriterien der Zielerreichung, Evaluation, Handlungsstrategie) Planungsgrundlagen und Projektmanagement (Zeitplanung, Gewichtung von Arbeitsschritten, Festlegung von Zuständigkeiten, Zielvereinbarungen, Gestaltung eines zuverlässigen Organisationsrahmens, Organisation von Unterstützungsmaßnahmen) Moderation und Präsentation (als Voraussetzung für gelingende Information, Transparenz und Entscheidungsfindung sowie für ein erfolgreiches Projektmanagement) Teamentwicklung (Steuergruppe als lernendes Team, Teambildungsprozesse als kollektive Lernprozesse in der Schule initiieren und organisieren) Information und Kommunikation (Informationsführung, Transparenz, Dokumentation) Konfliktmanagement (Umgang mit Rollenkonflikten, Antizipation von Konfliktpotenzialen, Strategien zur Konfliktlösung) Qualitätssicherung und Evaluation (Entwicklung eines gemeinsamen Verständnisses von Schulqualität moderieren, Evaluationskultur entwickeln, schulinterne Evaluation steuern) Durch die im Rahmen der wissenschaftlichen Begleitforschung entstandenen Diplomarbeiten21 wurde das beschriebene Rahmencurriculum für die Qualifizierung von schulischen Steuergruppen bestätigt. Zusammengenommen mit den Erfahrungen der beiden Beratungsunternehmen, die die meisten Steuergruppen im Projekt geschult haben, kann eine Empfehlung für Steuergruppenschulungen gegeben werden: Die ersten drei Bausteine sowie der fünfte und sechste sind konstitutiv. Die Bausteine 4 und 7 sollten als „Querschnittsthemen“ in alle anderen integriert werden. Baustein 8 muss eng mit dem Konzept der Evaluationsberatung verbunden werden und an systemische Verfahren interner Evaluation sowie die Qualitätsanalyse als externe Evaluation anknüpfen.22 21 Feldhoff, T., Maßnahmen der Qualifizierung schulischer Steuergruppen am Beispiel des Modellvorhabens "Selbstständige Schule NRW" (unveröffentlicht); Fitzen, S., Untersuchungen zu schulischen Steuergruppen am Beispiel des Modellvorhabens „Selbstständige Schule NRW“ (unveröffentlicht); beide Diplomarbeiten als Download oder unter www.begleitforschung-selbstständige-schule-nrw.de 33303.book Seite 93 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter | 93 Zwei zusätzliche Faktoren sind entscheidend, wenn die Umsetzung der Unterrichtsentwicklung mithilfe der Steuergruppe gelingen soll. Einerseits muss der Ausbilder bzw. die Ausbilderin für die schulischen Steuergruppen das Konzept der Unterrichtsentwicklung sehr gut kennen, um in den Qualifizierungsbausteinen nahe genug an den praktischen Problemen der Schulen zu sein. Idealerweise werden alle Bausteine am Exempel der laufenden Unterrichtsentwicklung der Schulen erarbeitet. Hier trägt die regionale Steuergruppe die Verantwortung bei der Auswahl der Ausbilder/innen. Andererseits müssen die Qualifizierungen zur Organisationsentwicklung für Steuergruppen und zur Unterrichtsentwicklung für Lehrerteams nicht nur inhaltlich abgestimmt, sondern auch zeitlich so gut wie möglich synchronisiert sein. Vor den beiden erstgenannten Bausteinen für Steuergruppen sollte deshalb noch kein Training zur Unterrichtsentwicklung beginnen, weil die Steuergruppe die Grundlage für ihre Steuerungstätigkeit noch nicht geklärt hat. 4.3 Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter Die Darstellung der umfangreichen Fortbildung und der vielfältigen Aufgaben einer Steuergruppe mag die Frage suggerieren, ob denn die Schulleiterin bzw. der Schulleiter mit der Unterrichtsentwicklung gar nichts mehr zu tun habe oder ob die Steuergruppe nun die heimliche Schulleitung sei. Es ist sicherlich nicht einfach, neue Steuerungsstrukturen im Sinne eines Ko-Managements zu etablieren und dabei die Aufgaben und Rollen von Schulleitung, Steuergruppe und Lehrerrat zu justieren.23 Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter wird weiterhin die Führungsverantwortung für den Gesamtprozess und das Ergebnis der Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung an der Schule zu tragen haben. Studien an erfolgreichen Schulen belegen, „that a head teacher with good leadership qualities has a positive effect on student results, even if only indirectly.“24 Im Projekt "Selbstständige Schule" werden Schulleiterinnen und Schulleiter darin bestärkt (und durch Fortbildung unterstützt), ihre Leitungs- und Führungsrolle deutlicher als oft in der Vergangenheit wahrzunehmen. Sie erhalten zudem erweiterte Kompetenzen als Dienstvorgesetzte der an der Schule tätigen Lehrerinnen und Lehrer. Das unterstreicht die Notwendig22 Vgl. Hoppe, C. (2006), Kap. 7 Der Abschlussbericht des Teilprojektes im Rahmen des Projekts "Selbstständige Schule" zur Arbeit der Lehrerräte wird in Kürze vorliegen: Selbstständigkeit und Partizipation. Ergebnisse des Teilprojektes, „Mitwirkung, Mitbestimmung, Mitgestaltung in Schulen“ 24 Bos, W./Schwippert, K. „The school and classroom level: Pedagogical concepts, integration, support, quality“ in: Döbert, H. et al. (2004), S. 351 23 Gelingensbedingungen Führungsverantwortung Dienstvorgesetzte 33303.book Seite 94 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 94 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern Mitglied der Steuergruppe aus der Praxis Verbindlichkeit herstellen fachliche Autorität und persönliche Überzeugungskraft keit eines angemessenen Zeitbudgets für Leitungsaufgaben. Bos weist darauf hin, dass deutsche Schulleiterinnen und Schulleiter oft deshalb in den Feldern der Schulentwicklung zu wenig aktiv seien, weil sie im internationalen Vergleich zu viel unterrichten müssten.25 Im Rahmen des vorgestellten Konzeptes ist die Schulleiterin bzw. der Schulleiter gesetztes Mitglied der Steuergruppe. Das erzeugt zweierlei Effekte. Sie/er nimmt an der Qualifizierung für die Steuergruppe im Schulentwicklungsmanagement teil und erwirbt damit die gleichen Kompetenzen zur Steuerung von Unterrichtsentwicklung wie die anderen Mitglieder. Zudem hat sie/er die Möglichkeit, die ihrer/seiner Aufgabe und Rolle entsprechenden Anteile direkt und in allen Phasen in die Arbeit der Steuergruppe einzubringen. Am Beispiel der so wichtigen Teambildung kann das verdeutlicht werden. Die Steuergruppe hat – nach intensiver Rücksprache mit den Kolleginnen und Kollegen – ein Tableau für die Zuordnung von Kernteams auf Klassen-, Jahrgangs- oder Bildungsgangebene erstellt. Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter war daran als Mitglied der Steuergruppe beteiligt. Kommt es bei der Umsetzung zu Konflikten, ist sie/er allerdings in ihrer/seiner Leitungsfunktion gefragt. Die Führungsverantwortung für Personalentwicklung kann sie/er nicht abgeben; sie kann ihr/ihm auch nicht abgenommen werden. Durch die Arbeit mit und in der Steuergruppe ist aber die Basis für ihre/seine Entscheidungen deutlich breiter geworden, die Kommunikation in das Kollegium vielfältiger. Für die Absicherung der Entwicklungen spielt die Schulleiterin bzw. der Schulleiter eine zentrale Rolle. Schulleiterinnen und Schulleiter sind diejenigen, die die Umsetzung beschlossener und im Schulprogramm verankerter Maßnahmen einfordern und für die enge Verknüpfung von Personalentwicklung mit den Zielen der Schulentwicklung sorgen können. Wenn sie als Personen klar erkennbar hinter den gemeinsam vereinbarten Zielen stehen und es als ihre Aufgabe sehen, aktiv für deren Verbindlichkeit einzutreten, steigen die Aussichten für das Gelingen des Schulentwicklungsprozesses. Dabei ist es sicherlich weniger entscheidend, dass sie formal die Einzigen sind, die zur Durchsetzung von Verabredungen berechtigt sind. Viel wichtiger ist es, dass ihre Berechtigung getragen wird von fachlicher Autorität und persönlicher Überzeugungskraft und Glaubwürdigkeit. Mitglieder der schulischen Steuergruppe nehmen an Trainings zur Unterrichtsentwicklung teil, um genau zu kennen, was sie steuernd begleiten sollen, und den Kolleginnen und Kollegen gegenüber authentisch handeln 25 www.selbststaendige-schule.nrw.de/service/News/Prof._Bos_Mythen_ueber_ Schulqualitaet, Stand Juli 2005 33303.book Seite 95 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter | 95 zu können. Genauso wird die Schulleiterin bzw. der Schulleiter ihre/seine Rolle und Aufgaben bei der Unterrichtsentwicklung nur dann aus- und erfüllen können, wenn sie/er selbst an den Trainings teilnimmt. Solange in Deutschland Schulleiterinnen und Schulleiter selbst als Lehrerinnen und Lehrer arbeiten, müssen sie sich den gleichen Anforderungen an ihren Unterricht stellen wie ihre Kolleginnen und Kollegen. Möglicherweise erfüllen sie ihre Rolle dann besonders gut, wenn sie nicht nur ihren Anteil am Entstehen einer Kultur selbst gesteuerten Lernens an der Schule leisten, sondern sogar eine Vorbildfunktion zu übernehmen bereit sind. Umgekehrt formuliert: An Schulen, an denen auch nach längerer Zeit keine stabilen Teamstrukturen festgestellt werden konnten, lag das nicht zuletzt daran, dass die Schulleiterin bzw. der Schulleiter große Teile ihrer/ seiner Zeit im Schulleitungszimmer verbrachte, während das Kollegium in Trainings involviert war. Solche Erfahrungen unterstreichen die Bedeutung des Schulleitungshandelns auch im Bereich der Unterrichtsentwicklung. Vorbild 4.3.1 Fortbildung für Schulleiterinnen und Schulleiter Für die neuen Aufgaben, die Schulleiterinnen und Schulleiter in den selbstständigen Schulen übernehmen, werden sie im Rahmen des Projektes nicht nur als gesetzte Mitglieder schulischer Steuergruppen im Schulentwicklungsmanagement fortgebildet, sondern auch in eigenen Fortbildungen für ihre spezifischen Leitungs- und Führungsaufgaben. Dazu gehören Fortbildungen im Dienstrecht zur Übernahme erweiterter Dienstvorgesetzteneigenschaften. Das Schulministerium hat ein Kompetenzprofil als Referenzrahmen erstellt. Auf dieser Grundlage hat die Projektleitung ein modular angelegtes Fortbildungskonzept (s. Anhang) entwickelt – mit dem Leitbild: „Leiterinnen und Leiter selbstständiger Schulen nehmen die Gesamtverantwortung für einen strategischen, strukturellen und kulturellen Wandel in der Schulentwicklung professionell wahr.“ Die vorgeschlagenen Module umfassen neun Themenfelder. Das erste Themenfeld „Leitungshandeln in ‚Lernenden Organisationen‘“ soll zur professionellen Selbstreflexion des eigenen Leitungshandelns befähigen und auch in den weiteren Themenfeldern als Folie zum Tragen kommen. Thematische Schwerpunkte sind die Prinzipien einer „lernenden Organisation“, Change Management, strategisches und operatives Management in einer „lernenden Organisation“. Das zweite Themenfeld zielt auf die Aufgabe und Rolle der Schulleiterinnen und Schulleiter im Prozess der Unterrichtsentwicklung und enthält Elemente wie „Unterrichtsentwicklung als zentraler Veränderungspro- Kompetenzprofil Leitungshandeln in lernenden Organisationen acht weitere Module 33303.book Seite 96 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 96 | Die Unterrichtsentwicklung der Schule steuern zess“, „Strategische Steuerung der Unterrichtsentwicklung“ und „Unterrichtsentwicklung als Bezugspunkt der Organisations- und Personalentwicklung“. Im dritten Modul widmen sich Schulleiterinnen und Schulleiter dem „Leitungshandeln im Viereck von erweiterter Schulleitung, schulischer Steuergruppe und Lehrerrat“, im vierten Modul den Fragen der „Personalentwicklung und Personalführung“. Das fünfte Themenfeld hat wieder ganz unmittelbar Bezug zur Unterrichtsentwicklung, geht es doch um „Arbeitsorganisation in Teams“. Dabei können Voraussetzungen gelingender Teamprozesse und Leitungsverantwortung und Steuerungsleistungen für die Teamentwicklung behandelt werden, aber Schulleiterinnen und Schulleiter können hier auch ihre eigene Rolle als Teammitglieder reflektieren. Im sechsten Modul werden Konflikte in Reformprozessen thematisiert, während im siebten Modul die Aufgabe und Rolle der Schulleiterin bzw. des Schulleiters im Bereich der Qualitätsentwicklung im Vordergrund steht. Als Einzelthemen werden hier vorgeschlagen: „Entwicklung eines gemeinsamen Qualitätsverständnisses“, „Leitungsverantwortung für die Qualitätsentwicklung und Evaluation von Unterricht“, „Entwicklung einer Evaluationskultur“ (vgl. Kap. 8.1 und 8.2). Die Themenfelder sieben und acht zielen auf „Wettbewerb vs. Konkurrenz in der regionalen Bildungslandschaft“ und „Ressourcenbewirtschaftung“. regionale Fortbildungsprogramme Stellvertreterinnen und Stellvertreter? Die Fortbildung wird von den regionalen Steuergruppen in Absprache mit den Schulleiterinnen und Schulleitern der Region bedarfsgerecht organisiert. Dafür zeigen die Schulleiterinnen und Schulleiter ihren individuellen Fortbildungsbedarf an, den sie mit einem Fragebogen zu ihrer eigenen Leitungspraxis26 eruieren können. Das Fortbildungsprogramm wird auf dieser Grundlage regional organisiert. Die regionalen Steuergruppen können in Absprache mit den Schulleiterinnen und Schulleitern dafür Moderatorinnen und Moderatoren der zuständigen Bezirksregierung anfordern oder externe Expertinnen und Experten beauftragen. Auf diese Weise sind 19 unterschiedliche Fortbildungsprogramme entstanden, die von unterschiedlichen Anbietern durchgeführt werden und im zeitlichen Umfang deutlich variieren. In einigen Regionen werden auch die stellvertretenden Schulleiterinnen und Schulleiter und erweiterte Schulleitungen eingebunden; mancherorts sind für diese Zielgruppe eigene Fortbildungen geplant.27 Das erscheint umso wichtiger, als die 26 „Indikatoren zur Selbsteinschätzung“ s. www.selbststaendige-schule.nrw.de/Fortbildung/SchulleiterInnen 27 Einen besonderen Weg ist z. B. die Region Dortmund zusammen mit der DAPF (Dortmunder Akademie für Pädagogische Führungskräfte, www.dapf.uni-dortmund.de) gegangen. 33303.book Seite 97 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die Schulleiterin bzw. der Schulleiter | 97 Stellvertreterinnen und Stellvertreter in der Regel nicht Mitglieder der schulischen Steuergruppen sind und deshalb auch nicht an deren Qualifizierung teilnehmen. Sie sind auch nicht die Zielgruppe der oben beschriebenen Fortbildung in neun Themenfeldern. Sie spielen aber häufig für die Implementation der Unterrichtsentwicklung als Stundenplanmacher und Organisatoren eine besonders wichtige Rolle. Da die meisten Programme noch nicht abgeschlossen sind, ist zum Zeitpunkt der Veröffentlichung dieses Buches weder eine vergleichende Bewertung noch eine Empfehlung möglich. 33303.book Seite 98 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 5 Keine Veränderung ohne Qualifikation! Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" Hier sei noch einmal eine interessante Erkenntnis aus Change Management-Prozessen in der Wirtschaft aufgegriffen. Betriebswirtschaftler sprechen von Human Resource Management. Folgt man z. B. dem „3W-Modell“ des Change Management, so bilden Wandlungsbedarf, Wandlungsbereitschaft und Wandlungsfähigkeit die Rahmenbedingungen für Veränderungsprozesse. Wenn die Wandlungsträger nicht aktiviert und befähigt werden, wird eine zentrale Gelingensbedingung für erfolgreichen Wandel nicht erfüllt.1 Mit dem in Schule üblichen Vokabular ausgedrückt heißt das: Wenn Lehrerinnen und Lehrer die entsprechende Qualifikation nicht aus ihrer Ausbildung mitbringen und/oder nicht angemessen fortgebildet werden, dann kann sich Schule nicht erfolgreich weiterentwickeln. Im Projekt "Selbstständige Schule" gibt es die Konzentration auf ein Unterstützungsangebot zur Unterrichtsentwicklung, das inzwischen an vielen Schulen erprobt ist. Um dieses Angebot geht es im Folgenden. Aus den Erfahrungen damit können aber andererseits Gelingensbedingungen für jegliche Form der Unterrichtsentwicklung abgeleitet werden. 5.1 Was ist eine Erfolg versprechende Fortbildung? Standards In den vorhergehenden Kapiteln wurden an unterschiedlichen Stellen Bedingungen beschrieben und erläutert, unter denen eine erfolgreiche Schul- und Unterrichtsentwicklung gelingen kann. Sie sollen in der folgenden Liste noch einmal zusammengestellt und an einigen Punkten ergänzt werden unter der Fragestellung, was eine gute, Erfolg versprechende Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer ausmacht. Erfolg meint hier, daran sei noch einmal erinnert, dass der Unterricht an der gesamten Schule (in der gesamten Region, vgl. Kap. 6) im Sinne des selbstständigen Lernens verbessert wird: z 1 Die Fortbildung zur Unterrichtsentwicklung für Lehrerinnen und Lehrer ist eingebettet in ein komplexes Fortbildungsprogramm für die einzelne Schule. Vgl. Böttcher, W./Brohm, M., S. 270 33303.book Seite 99 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Standards | 99 z z z z z z z z z z Die Schule entscheidet als Ganze über die Teilnahme an der Fortbildung, nachdem sie entsprechend informiert wurde („Orientierungsveranstaltung“). Die Fortbildung besteht aus vier Bausteinen, die als Gesamtprogramm in einer zeitlichen Reihung und Streckung (mindestens zwei Schuljahre) angeboten werden. Die Bausteine sind schulformspezifisch oder schulstufenspezifisch ausgestaltet und richten sich nur an Klassen-, Jahrgangsstufen- oder Bildungsgangteams. Die Bausteine sind aufeinander bezogen und als kumulativer Lernprozess erlebbar. Im Sinne von Lernprogression integriert der zweite Baustein Elemente des ersten und setzt die teamorientierte Anwendung im eigenen Unterricht voraus. Der dritte Baustein greift das Wesentliche aus den ersten beiden Bausteinen auf und verlangt erneut die teamorientierte Anwendung im eigenen Unterricht. Der vierte Baustein vernetzt die Elemente der ersten drei und nutzt sie für fachliche Aufgaben. Die Fortbildung ist einerseits handlungsorientiert und erfordert deshalb auch von den Teilnehmerinnen und Teilnehmern, sich in Handlungsteams zu formieren. Sie ist andererseits in angemessenem Umfang theoriegeleitet, um die notwendigen Reflexionsprozesse abzusichern. Die Durchführung der Fortbildung ist mit der schulischen Steuergruppe vorbereitet und abgestimmt und auf die schulindividuelle Situation angepasst. Das Fortbildungsangebot erstreckt sich nicht nur auf eine Lerngruppe der Schule, sondern ist so angelegt, dass perspektivisch alle Lehrerinnen und Lehrer einer Schule und neu Hinzukommende sich aktiv beteiligen. Die Fortbildung versetzt die teilnehmenden Teams in die Lage, nach jedem Training alle Inhalte eigenverantwortlich in Sockeltrainings und Pflegemaßnahmen für ihre Lerngruppen umzusetzen. In der Fortbildung werden Materialien eingesetzt, die exemplarisch zur Umsetzung in der Schule genutzt werden können. (Davon unberührt bleibt die Verantwortung jedes Teammitglieds für die angemessene Adaption des Gelernten für seine Lerngruppe und die Verantwortung der Schule für die Adaption des gesamten Konzeptes.) Der jeweils nächste Trainingsbaustein wird erst dann durchgeführt, wenn die innerschulische Umsetzung des vorhergehenden sichergestellt ist. Zu diesem Zweck kooperieren die Trainerinnen und Trainer mit den schulischen Steuergruppen. 33303.book Seite 100 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 100 | Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" 5.2 Besonderheiten der Schulstufen Kinder und Jugendliche bilden ihre Lernkompetenz dann am besten aus, wenn alle Bildungseinrichtungen, die sie besuchen, in diesem Sinne kooperieren (vgl. Kap. 6). Allerdings geschieht das in unterschiedlichen Altersstufen auf unterschiedliche Art und Weise. Die Entwicklung der Lernkompetenz beginnt idealerweise nicht erst in der Schule. Vorschulische Bildungseinrichtungen müssen deshalb mit eingebunden werden. Im Projektzusammenhang wurden z. B. Programme zur Sprachförderung in Kindertagesstätten angeboten. Lernkompetenz wird dann in der Grundschule und aufbauend bis zum Ende der Sekundarstufe II weiterentwickelt. Es gibt inzwischen schulformspezifische Ausprägungen des Fortbildungsprogramms: Primarstufe z Sek. I z Sek. II z Berufskollegs z Förderschulen z ein Konzept für die Primarstufe, das grundlegende Kompetenzen entwickelt, ein Konzept für die Sekundarstufe I, das auf dem Primarstufenkonzept aufbaut, aber auch einen eigenen Beginn ermöglicht, wenn die „zuliefernden“ Grundschulen nicht alle an der gemeinsamen Arbeit in der Bildungsregion beteiligt sind, zwei – das Sekundarstufe I-Konzept ergänzende – Trainingsmodule „Wissenschaftspropädeutisches Arbeiten“ für die gymnasialen Oberstufen, ein eigenes Konzept für die Berufskollegs, das die vier Trainingsbausteine für die Sekundarstufe I mit den Anforderungen der Lernfelddidaktik, des handlungsorientierten Unterrichts und der methodischdidaktischen Jahresplanung verknüpft2, ein eigenes Konzept für Förderschulen, in dem möglichst flexibel auf die völlig unterschiedlichen Anforderungen der verschiedenen Förderschwerpunkte eingegangen wird und trotzdem die besonderen Ansprüche der Schulform auf individuelle Förderung und zum Beispiel Förderplanung berücksichtigt werden. Alle fünf schulstufen- bzw. schulformbezogenen Konzepte sind dem langfristigen Ziel des selbst gesteuerten Lernens verbunden und leisten dazu ihren spezifischen Beitrag. 2 Vgl. Bezirksregierung Detmold, Hrsg., Unterrichtsentwicklung im Berufskolleg, Detmold 2003 33303.book Seite 101 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Aufbau des Fortbildungsprogramms | 101 5.3 Aufbau des Fortbildungsprogramms Bevor die eigentliche Fortbildung beginnen kann, gestaltet ein Trainerteam an jeder interessierten Schule eine so genannte Orientierungsveranstaltung, nach der die Lehrerinnen und Lehrer eine fundierte Entscheidung treffen können, ob das Angebot dem Bedarf ihrer Schülerinnen und Schüler entspricht und zu ihrer Schule passt. Es ist also wichtig, dass das gesamte Kollegium an dieser Veranstaltung teilnimmt. Orientierungsveranstaltung für Lehrerkollegien Orientierung für Lehrerkollegien Orientierungstag 1. Orientierungstag 2. Methodentraining 3. Kommunikationstraining 4. Teamentwicklung 5. selbst gesteuertes Lernen im Fachunterricht Methodentraining Kommunikationstraining selbst gesteuertes Lernen Teamentwicklung © Selbstständige Schule Abb. 18: Orientierung für Lehrerkollegien Das Kollegium soll ganz praktisch erfahren, was die Ziele und Inhalte des Konzepts sind. Dazu wird nicht schon vorweg ein Teil aus einem der Basisbausteine herausgebrochen und z. B. ein Element des Methodentrainings vorgestellt, weil sonst dem Missverständnis Vorschub geleistet werden könnte, es gehe lediglich darum, den traditionellen Unterricht effizienter zu gestalten. Die Trainerinnen und Trainer führen deshalb mit den Kolleginnen und Kollegen u. a. eine Trainingsspirale durch, die erfahrbar macht, was mit selbst gesteuertem Lernen als langfristigem Ziel gemeint ist. Die Lehrerinnen und Lehrer nehmen dabei praktisch die Schülerrolle ein. Die auf die Orientierungsveranstaltung folgende Entscheidung für das Konzept darf sich nicht nur auf eine knappe Mehrheit stützen. Das hat die Erfahrung gezeigt und soll an einem Bespiel erläutert werden. Eine Schule Entscheidung 33303.book Seite 102 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 102 | Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" Unterrichtsausfall? möchte auf einige Jahre hinaus immer „nur“ das jeweilige Jahrgangsteam 5 schulen lassen. Da scheint es nahezuliegen, dass die Lehrerinnen und Lehrer, die schwerpunktmäßig in der Erprobungs- oder Orientierungs- oder Beobachtungsstufe unterrichten, maßgeblich bestimmen, ob sie die Fortbildung wollen oder nicht. Der anfallende Vertretungsunterricht wird aber alle Kolleginnen und Kollegen treffen, auch diejenigen, die zunächst nicht an den Fortbildungen teilnehmen. Zudem muss durch ein hohes Quorum gesichert sein, dass nach und nach immer weitere Teams einsteigen werden, damit allmählich von einem gesamtschulischen Prozess gesprochen werden kann. Eine solide Mehrheit (ca. 2/3) schon zu Beginn ist ein Garant dafür, dass die Reform keine Episode in der Geschichte der Schule bleibt. Schließlich geht es um einen mittelfristig angelegten Veränderungsprozess, der mit hoher Priorität die Energien über einige Jahre bindet, da sonst das Erreichte nicht nachhaltig abgesichert werden kann. Auf der Grundlage des positiven Beschlusses der Lehrerkonferenz müssen die Mitglieder der Schulkonferenz gewonnen werden. An vielen Schulen hat sich das als der leichtere Teil des Überzeugungsprozesses herausgestellt. Der Schulkonferenzbeschluss gewährleistet, dass Eltern sich von vorneherein der Konsequenzen bewusst sind, die ein solch aufwändiger Veränderungsprozess mit sich bringt, und diese bereit sind mitzutragen: Unterrichtsausfall in dem Umfang und in den Grenzen, die alle Mitglieder der Schule gemeinsam verantworten können, und „Zurückfahren“ anderer Projekte für einen Übergangszeitraum. Es hat sich gezeigt, dass Eltern durchaus zu Zugeständnissen bereit sind, wenn sie dafür Qualitätsverbesserungen im Unterricht erwarten können und in die Entscheidung mit eingebunden werden. Das Thema Unterrichtsausfall hat eine zu hohe Bedeutung, als dass es nur in einem Nebensatz auftauchen sollte. Schülerinnen und Schüler haben einen Anspruch auf bestmögliche Nutzung ihrer Schulzeit – auch dadurch, dass der vorgeschriebene Unterricht tatsächlich stattfinden kann. Schulzeit beinhaltet allerdings neben dem Unterricht nach der Stundentafel, der ausschließlich von Lehrerinnen und Lehrern verantwortet wird, auch fest im Stundenplan ausgewiesene Wochenstunden, in denen die Schülerinnen und Schüler eigenverantwortlich arbeiten und eine Lehrkraft als Lernbegleiter erreichbar ist. Im Rahmen ihrer Gesamtarbeitszeit erteilen Lehrerinnen und Lehrer nicht nur Unterricht, sondern sie sollen auch Motor der ständigen Verbesserung und Weiterentwicklung sein. Dass sie das nur leisten können, wenn sie die Chance bekommen sich fortzubilden und Schulentwicklung zu ihrer Sache zu machen (Ownership), ist allgemein anerkannt. Dass eine systemische Fortbildung, die das gesamte Kollegium einbezieht, besondere Anforderungen (auch zeitlich) stellt, wird ebenso akzeptiert. Deshalb wird im Projekt "Selbstständige Schule" zurzeit ein so genanntes Lernzeitbudget erprobt. Nach der Maßgabe 33303.book Seite 103 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Aufbau des Fortbildungsprogramms | 103 „1 plus 1“ erhalten Schulen die Möglichkeit, pro Schulhalbjahr einen Unterrichtstag für solche mehrtägigen systemischen Fortbildungen in Anspruch zu nehmen, wenn sie einen unterrichtsfreien Tag investieren.3 Ohne solche oder vergleichbare verlässliche Regelungen wird ein systemisches Fortbildungs- und Schulentwicklungskonzept nicht realisierbar sein. Entsprechend dem eigenen Implementationsplan der Schule können nun die spiralförmig aufeinander aufbauenden Trainings in den drei Grundlagenbausteinen (Methoden, Kommunikation, Teambildung im Klassenraum) folgen (vgl. Kap. 4.2.1). In welcher zeitlichen Taktung das geschieht, ist wiederum in das Ermessen der Schule gestellt. Es gibt lediglich eine zeitliche Vorgabe: Frühestens nach sechs Monaten kann der jeweilige Folgebaustein angeboten werden. Diese Vorgabe geht auf die Erfahrung zurück, dass mindestens so viel Zeit nötig ist, damit die Anwendung im Unterricht das Gelernte festigt und hilft, neue Routinen auszubilden. Die in den Basisbausteinen für Lehrerinnen und Lehrer verwendeten Materialien orientieren sich an Fachthemen aus den Lehrplänen der Schulstufen und – wo nötig – Schulformen, in denen die Lehrerinnen und Lehrer arbeiten und anschließend ihre Schülerinnen und Schüler trainieren. Trotzdem wird es nicht zu vermeiden sein, dass die Materialien für die Sockeltrainings der Schülerinnen und Schüler an die Besonderheiten der jeweiligen Schule und der jeweiligen Lerngruppen angepasst werden müssen. Insofern sind die Lehrerinnen und Lehrer nie aus ihrer (gemeinsamen) Verantwortung für ihre Lerngruppe entlassen4, sie können aber von vorhandenen exemplarischen Materialien ausgehen und von ihrer eigenen Erfahrung im Training unmittelbar profitieren. Grundsätzlich gibt es bei der Durchführung der Trainings Unterschiede zwischen großen und kleinen Schulen. In Grund- und Förderschulen werden i. d. R. die kompletten Kollegien in sogenannten 5-Tage-Trainings für jeden der drei Grundlagenbausteine geschult. Nach Rückmeldung aller bisher Beteiligten ist für das selbstständige Lernen der Lehrerinnen und Lehrer im Team diese Organisationsvariante optimal, weil Teile aus Trainingsspiralen noch während der Trainings praktisch erprobt und reflektiert werden. An dieser Erprobung sind alle Kollegiumsmitglieder beteiligt. Sie bereiten Unterricht im Team vor und führen ihn – wenn möglich – mit gegenseitigen Hospitationen durch. Sie reflektieren ihn aber auch systematisch im gleichen Team, bevor sie Neues durch die Trainerinnen und Trainer lernen, um dies dann 3 4 Vgl. www.selbststaendige-schule.nrw.de/service/News/Lernzeitbudget, vgl. „Anlage zum Kooperationsvertrag“ vom 13.12.2006 (s. Anhang). Insbesondere gilt dies, wenn z. B. eine Sek. I-Schule gleichzeitig in allen Jahrgängen auf der Schülerebene beginnt, weil das gesamte Kollegium geschult wurde. Die in Trainings exemplarisch genutzten Fachtexte sind nicht jedem Jahrgang angemessen. Grundlagenbausteine 5-Tage-Trainings 33303.book Seite 104 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 104 | Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" zumindest teilweise sofort wieder zu erproben. Auch Skeptiker werden in diesem intensiven Lern- und Arbeitsprozess häufig überzeugt, weil sie sofort feststellen können, wie relevant der Ansatz für ihre Lerngruppe und ihre eigene Lehrerarbeit ist. Unterrichtsentwicklung auf Basis des 5-Tage-Trainings Training, Umsetzung und Reflexion als gemeinsamer Prozess 1. Tag 2. Tag 8.00 Uhr ganztägiges Lehrertraining Durchführung von Unterricht Trainingsspiralen Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag in Klassen-, Jahrgangs- o. Doppeljahrgangsteams 16.00 Uhr 3. Tag Durchführung von Unterricht 4. Tag 5. Tag Durchführung von Unterricht Durchführung von Unterricht Durchführung von Unterricht Hospitation Hospitation Hospitation Hospitation Reflexion und Auswertung in den Vorbereitungsteams Reflexion und Auswertung in den Vorbereitungsteams Reflexion und Auswertung in den Vorbereitungsteams Reflexion und Auswertung Lehrertraining Lehrertraining Lehrertraining Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag in Teams Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag in Teams Unterrichtsvorbereitung für den nächsten Tag in Teams Hospitation Weiterarbeit am Schulprogramm Präsentation der Ergebnisse Voraussetzung: Betreuung der SchülerInnen muss sichergestellt sein. © Selbstständige Schule Abb. 19: Unterrichtsentwicklung auf der Basis des 5-Tage-Trainings 2,5-Tage-Trainings Für die Schulen der Sek I und der Sek II werden i. d. R. die sogenannten 2,5-Tage-Trainings angeboten – entweder für das ganze Kollegium oder zuerst für Teams z. B. aus den Jahrgängen 5 und 6 oder aus der Oberstufe. Das gilt auch für Berufskollegs, in denen sich die Trainings an Bildungsgangteams wenden. Dieser Trainingstyp umfasst das Erarbeiten der Trainingsspiralen durch die Lehrerinnen und Lehrer, die sich dabei in der Schülerrolle erleben, und die systematische Reflexion dieser Erfahrung. Aufgrund der kompakten Programme kann in dieser Organisationsform den Teams nur ansatzweise Zeit gegeben werden, um den Transfer in ihre Alltagspraxis vorzubereiten. Die Planung des Unterrichts, die Reflexion seiner Durchführung und die Auswertung sind nicht in das Training integriert, sondern müssen später in der Schule organisiert werden. Dieses Modell scheint die einzig vertretbare Organisationsform in größeren Systemen zu sein, birgt aber die Gefahr in sich, dass die Umsetzung auf Schülerebene nicht stringent genug erfolgt. Wenn zwischen der Lernzeit im Lehrertraining und der Umsetzung im Unterricht zu viel Zeit verstreicht, 33303.book Seite 105 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Aufbau des Fortbildungsprogramms | 105 geht Dynamik verloren. Das Verbleiben in der „alten“ und damit „sicheren“ Lehrerrolle wird dann mit jeder Woche immer wahrscheinlicher. Unterrichtsentwicklung auf Basis des 2,5-Tage-Trainings Implementation der Bausteine 1/2/3 LehrerInnentraining Trainings in den Klassenteam Bausteinen 1 - 3: Jahrgangsteam Bildungsgangteam Methoden, Kommunikation, Teamentwicklung LehrerInneneinsatz Planung des Sockeltrainings in Bausteinen 1 - 3: Methoden, Kommunikation, Teamentwicklung Elterninformation Sockeltraining Material Durchführung Auswertung Evaluation Dokumentation Pflege & Ausbau im FU eigenständige Anwendung Pflege & Routine der eingeführten Methoden stetiger Ausbau des Methodenrepertoires Auswertung, Evaluation und Dokumentation Entwicklung von Material Verzahnung der verschiedenen Methoden Ausbau des selbst gesteuerten Lernens im Fachunterricht Wochenplanarbeit, Projektarbeit Auswertung, Evaluation und Dokumentation Leistungsbewertung © Selbstständige Schule Abb. 20: Unterrichtsentwicklung auf Basis des 2,5-Tage-Trainings Der (unabhängig vom Trainingsmodell) hinzukommende vierte Baustein im Lehrertraining unterscheidet sich deutlich von den Basisbausteinen. Dieser Anwendungsbaustein wendet sich an Fachkonferenzen oder -gruppen. Sie erarbeiten in Workshops zum selbst gesteuerten Lernen (SegeL) Lernspiralen für den Fachunterricht. Im Gegensatz zu den Trainings in den Basisbausteinen entstehen hier also Materialien, die unverändert und unmittelbar zum Einsatz im Fachunterricht kommen können. Im Sek I-Training können diese Workshops dreistufig angelegt werden und an drei Terminen stattfinden, zwischen denen jeweils Phasen für die praktische Umsetzung liegen. Im ersten Workshop planen die Lehrerinnen und Lehrer in jahrgangsbezogenen Fachteams Lernspiralen für anstehende Unterrichtssequenzen, die so angelegt sind, dass die Schülerinnen und Schüler die in ihren Basistrainings erreichten Kompetenzen einbringen können, dass sie aber zunehmend auch eigenständig Entscheidungen über Lernwege treffen müssen und diese reflektieren und bewerten können. Dabei spielt die Entwicklung einer neuen Aufgabenkultur eine wichtige Rolle (vgl. Kap. 3.4.2, Abschnitt „Veränderte didaktisch-methodische Kompetenzen“). Alle Lehrerinnen und Lehrer setzen dann die gemeinsamen Planungen in ihrem Fachunterricht um. Im zweiten Workshop Anwendungsbaustein für Lehrerinnen und Lehrer: SegeL 33303.book Seite 106 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 106 | Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" Tradition für Fachgruppen Seminartag: „Ein Jahr danach“ Nachschulungen reflektieren sie ihre Erfahrungen systematisch im Team und sprechen über Optimierungsmöglichkeiten. Im selben Workshop werden in den Fachteams offene Formen des Unterrichts konkret geplant, die dann wiederum anschließend erprobt werden. Nach dieser Praxisphase werden im dritten Workshop wiederum die Erfahrungen bearbeitet und die systematische Auseinandersetzung mit der Lehrerrolle angeboten. Kern der theoretischen Arbeit in diesen drei Workshops sind aktuelle Erkenntnisse zur Konstruktion und Organisation von Lernprozessen. Außerdem wird intensiv an den Anforderungen gearbeitet, die verschiedene Transfertypen erfordern und „multiple Intelligenzen“ ermöglichen. Das gemäß den PISA-Ergebnissen vernachlässigte Problem komplexer und bedeutungsvoller Aufgaben wird angegangen. Ein mit Schulen ebenfalls erprobtes Modell verringert den Zeiteinsatz und fasst die drei Schritte in zwei Trainingseinheiten zusammen, die allerdings nur eine dazwischen liegende Erprobungsphase im Fachunterricht einschließen. Werden solche Workshops an einer Schule nicht nur einmalig durchgeführt, sondern zu einer Tradition für Fachgruppen, so kann das zu zweierlei positiven Effekten führen. Die fachlich-inhaltliche Zusammenarbeit in den Fachgruppen, die oft mehr mit Organisatorischem und weniger mit inhaltlichen Diskussionen beschäftigt waren und keine systematische Zusammenarbeit organisierten, wird (wieder)belebt. Das ist ein wichtiger Faktor für die Qualitätsentwicklung an einer Schule. Außerdem entsteht so Entlastung für Kolleginnen und Kollegen, die allmählich auf einen Fundus von gemeinsam entwickelten, ausprobierten, verbesserten Materialien zurückgreifen können. Diese helfen, die Kernanforderungen der schuleigenen Lehrpläne zu erreichen. Nach Abschluss der Grundlagentrainings und der Workshops wird zwischen der Schule und dem Trainerteam ein weiterer Seminartag „Ein Jahr danach“ vereinbart. An diesem Tag steht das Trainerteam der Schule zur Reflexion und Spiegelung der Weiterarbeit an Lernspiralen und Formen der Anwendung bei Schülerinnen und Schülern zur Verfügung. Mittel- und längerfristig kommt auf die Steuergruppe die Aufgabe zu, für neu eingestellte oder durch Versetzung an die Schule gekommene Lehrerinnen und Lehrer „Nachschulungen“ zu organisieren. Nur wenn auch sie in den drei Grundlagenbausteinen trainiert sind, haben sie die Chance, sich in trainierte Teams zu integrieren. Für das System bedeutet es, dass die Unterrichtsentwicklung nicht zum Eigentum einer einzigen Lehrergeneration wird. 33303.book Seite 107 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Trainerinnen und Trainer | 107 5.4 Trainerinnen und Trainer Wer sind die Trainerinnen und Trainer, die das vorgestellte Konzept der Unterrichtsentwicklung an Schulen erfolgreich vermitteln können? Sie sind in erster Linie Lehrerinnen und Lehrer – und sollen das auch bleiben. „Trainerfunktionäre“ würden i. d. R. bald nicht mehr so authentisch, glaubwürdig und überzeugend arbeiten können wie praktizierende Lehrerinnen und Lehrer, die das Konzept ständig im eigenen Unterricht erproben, umsetzen und weiterentwickeln. Sie arbeiten grundsätzlich als Tandems, da auf diese Weise die Vorzüge der Teamarbeit genutzt und demonstriert werden. Mindestens ein Tandempartner stammt aus der Schulform, in der trainiert wird; der oder die zweite kann eventuell Erfahrungen aus seinem schulischen Hintergrund beisteuern und so den Blick über den Tellerrand ermöglichen. Solche Tandems sind nicht selten dauerhafte (Arbeits-)Partnerschaften, aber wechselnde Zusammensetzungen sind möglich und oft sogar wünschenswert. Sie werden sorgfältig aus- und weitergebildet. Die Auswahl interessierter Lehrerinnen und Lehrer für die Ausbildung erfolgt in einem an Assessments orientierten Verfahren. Sie sollten: z z z z z z selbstbewusst auftreten, eine positive Ausstrahlung haben, kritikfähig sein; eigene reflektierte Berufserfahrung als Lehrerin oder Lehrer haben; bereit sein, die Lernerrolle anzunehmen und eigenes Lernen zu reflektieren – in der Ausbildung wie auch im späteren Einsatz als Trainerin oder Trainer; bereit sein, das Konzept in ihrem eigenen Unterricht umzusetzen und ihre Erfahrungen weiterzugeben; teamfähig sein; bereit sein, sich im eigenen Kollegium eine/n Teampartner/in zu suchen und diese/n nach Möglichkeit anzuleiten. Weitere Voraussetzung für die Teilnahme an der Trainerausbildung ist das Einverständnis und die Unterstützung der jeweiligen Schulleitungen. Um dies zu ermöglichen, sollte ein Informationstag oder -nachmittag für Schulleitungen angeboten werden. Dabei wird den Schulleiterinnen und Schulleitern u. a. deutlich gemacht, dass die zukünftigen Trainerinnen und Trainer aus ihrer Schule im eigenen Kollegium keine Fortbildungen durchführen dürfen; die Schule aber, weil sie eine Trainerin oder einen Trainer stellt, bei Wunsch vorrangigen Anspruch auf die Durchführung von Trainings durch andere Trainerinnen und Trainer hat. Die Schule profitiert von den Trainerinnen und Trainern im eigenen Haus auf andere Keine „Trainerfunktionäre“! Auswahl 33303.book Seite 108 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 108 | Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" Ausbildung Weise: Sie hat ständig während des Prozesses kompetente Beraterinnen und Berater zur Hand. Die Ausbildung selbst umfasst 1,5 bis 2 Jahre; allerdings sind erste Einsätze der neuen Trainerinnen und Trainer bereits nach einem Jahr denkbar. Es gibt inzwischen fünf verschiedene Ausbildungscurricula – so wie es fünf unterschiedliche Trainingsangebote für die Schulformen gibt: für Grundschulen, für Förderschulen, für die Sekundarstufe I, für die Sekundarstufe II, für Berufskollegs. Exemplarisch soll hier die Ausbildung für die Sekundarstufe I dargestellt werden, wie sie zurzeit im Regierungsbezirk Detmold in Nordrhein-Westfalen durchgeführt wird. Die Zeitabläufe sind beispielhaft zu verstehen. Zeit Thema Zielgruppe September Suche nach potenziellen Trainerinnen und Trainern Lehrerinnen und Lehrer der Sek I und II November (mehrere Veranstaltungen möglich) (1 Nachmittag) Informations- und Arbeitsnachmittage als beidseitige Entscheidungsgrundlage für die Teilnahme an der TrainerInnenausbildung Lehrerinnen und Lehrer der Sek I und Sek II Dezember (1 Nachmittag) Informationsveranstaltung für SL der Auszubildenden Schulleiterinnen und Schulleiter der interessierten Trainerinnen und Trainer Januar (2 Tage) Orientierungsveranstaltung: Unterrichtsentwicklung – konkret auszubildende Trainerinnen und Trainer März (3 Tage) Erster Trainingsbaustein: Methodentraining I Mai (1 Tag) Reflexionstag zum Methodentraining I Juni (2 Tage) Zweiter Trainingsbaustein: Methodentraining II (PC) Erstes Schuljahr Zweites Schuljahr September (1 Tag) Rolle als Trainerin oder Trainer/ Moderationstechniken auszubildende Trainerinnen und Trainer 33303.book Seite 109 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Trainerinnen und Trainer | 109 Zeit Thema Oktober (3 Tage) Dritter Trainingsbaustein: Teamentwicklung im Klassenraum Dezember (1 Tag) Reflexionstag zum Teamentwicklungsbaustein Februar (2 Tage) Reflexionstag zur Orientierungsveranstaltung in Schulen und Umgang mit Widerständen März (3 Tage) Vierter Trainingsbaustein: Kommunikationstraining Mai (1 Tag) Reflexionstag zum Kommunikationstraining Zielgruppe Drittes Schuljahr September (1 Tag) Fünfter Trainingsbaustein: Von der Pflege der Lernkompetenz zur Entwicklung des selbst regulierten Lernens SegeL in Anwendung I Oktober (1 Tag) Fünfter Trainingsbaustein: Von der Pflege der Lernkompetenz zur Entwicklung des selbst regulierten Lernens SegeL in Anwendung II November (1 Tag) Fünfter Trainingsbaustein: Von der Pflege der Lernkompetenz zur Entwicklung des selbst regulierten Lernens SegeL in Anwendung II auszubildende Trainerinnen und Trainer Im Rahmen des Projektes "Selbstständige Schule" hat der Regierungsbezirk Detmold aufgrund seiner Vorerfahrungen aus "Schule & Co." und der stetigen Weiterentwicklungen die Aufgabe übertragen bekommen, Weiterbildungen für Trainerinnen und Trainer anderer Regierungsbezirke anzubieten. Sie dienen der Erreichung eines einheitlichen Standards in ganz NRW und wenden sich an Moderatorinnen und Moderatoren, die bisher nach verwandten Konzepten gearbeitet haben. Der Regierungsbezirk Köln kann auf eigene Ausbilderinnen und Ausbilder ebenfalls aus "Schule & Co"-Zeiten zurückgreifen, sodass in diesem Projekt nun landesweit ein Trainerpool von ca. 400 Trainerinnen und Trainern zur Verfügung steht, der in manchen Schulformen inzwischen auch schon Nicht- landesweiter Trainerpool 33303.book Seite 110 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 110 | Das Fortbildungsprogramm zur Unterrichtsentwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" Trainerarbeitskreise aus der Praxis: Feedback zu Trainings Projektschulen bedienen kann, für manche Schulformen aber noch nicht genügend Ressourcen vorhält. Um die in der Ausbildung erreichte Qualität zu erhalten, hat das Projekt angeregt, auch außerhalb des Regierungsbezirks Detmold (die dort bereits existierenden) Trainerarbeitskreise einzurichten, in denen Trainerinnen und Trainer sich austauschen, ihre Arbeit reflektieren und die Trainings gemeinsam weiterentwickeln können. Die organisierte Zusammenarbeit ist ein wichtiges Element der Qualitätssicherung und -entwicklung. So wird gewährleistet, dass sich die Trainings nicht „verselbstständigen“. Arbeiteten Trainerinnen und Trainer auf Dauer ohne Rückkoppelung mit anderen, so entstünden im Laufe der Zeit individuelle Versionen, die – ohne dass damit ein Werturteil gesprochen wäre – nicht mehr vergleichbar wären. Schulen wüssten dann nicht mehr, was sie „einkaufen“, wenn sie Trainings zur Unterrichtsentwicklung „bestellen“. Außerdem können in solche Arbeitskreise neue Erkenntnisse aus Wissenschaft, Bildungspolitik oder Praxis in die Trainings eingespeist werden; Veränderungen können hier erarbeitet werden. Zurzeit werden diese Arbeitskreise von den entsprechenden Dezernaten der Bezirksregierungen organisiert. Es ist vorstellbar, dass auch die Regionen hier mehr Verantwortung übernehmen. Welche Wirkung entfaltet werden kann, wenn gut ausgebildete, in eigener Unterrichtspraxis und in Trainings erfahrene und engagierte Trainerinnen und Trainer Kolleginnen und Kollegen (nicht der eigenen Schule) trainieren, zeigen einige Auszüge aus einem Feedback nach dem Training einer Lehrergruppe. Dabei darf bedacht werden, dass Lehrerinnen und Lehrer – so das gängige Klischee – keine unkritische Lerngruppe sind: „Reife“ Moderatoren – praxisnahe Arbeit – überzeugendes, authentisches Trainerteam – hohe fachliche Kompetenz – großer Teil der Methoden einsetzbar, aktivierend – professioneller, wertschätzender, angemessener Umgang – Warum kann in der Lehrerausbildung nicht so gearbeitet werden wie hier? – Reflexion und Ausprobieren der Methoden waren mir sehr wichtig. – Einnehmen der Schülerrolle verändert Perspektive der Lehrenden. – Gut, noch einmal direkt vor Augen geführt zu bekommen, dass die Lehrerrolle eine klare Vorbildfunktion hat. 5.5 Ausbilderinnen und Ausbilder Wer sind die Ausbilderinnen und Ausbilder, die solche Trainerausbildungen anbieten können? Auch sie sind in erster Linie Lehrerinnen und Lehrer – und sollen das auch bleiben. Sie sind aber auch seit Jahren erfahrene Trainerinnen und Trainer, die zu Beginn des Projektes "Schule & Co." ausgebildet wurden und 33303.book Seite 111 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Ausbilderinnen und Ausbilder | 111 seitdem als Team die Trainings ständig weiterentwickeln, an Standards arbeiten und die bereits ausgebildeten Trainerinnen und Trainer weiterbilden. Sie stehen also für die Qualitätsentwicklung und Qualitätssicherung der Trainings. Einen Ausbilder-Arbeitskreis gibt es in der Bezirksregierung Detmold. Auch in anderen Bezirken arbeiten Ausbilderinnen und Ausbilder. Das Projekt "Selbstständige Schule" empfiehlt die Schaffung einer landesweiten Institution zur Qualitätsentwicklung und -sicherung der Unterrichtsentwicklungs-Trainings. 33303.book Seite 112 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 6 Projektziel: regionale Bildungslandschaften Warum? Regionale Unterstützung und Steuerung Ein Arbeitsschwerpunkt des Projektes "Selbstständige Schule" ist die Entwicklung regionaler Bildungslandschaften. Ihr soll in der zweiten Projekthälfte bis 2008 besondere Aufmerksamkeit gewidmet werden.1 Ziele sind der Aufbau regionaler Beratungs- und Unterstützungsstrukturen, der Aufbau einer qualitativen Schulentwicklung in der Region, insbesondere durch die Kooperation von Verantwortlichen, die traditionell häufig nebeneinander agiert haben (von Land und Kommunen/Regionen, von Schulen gleicher und verschiedener Schulformen, von Schulen mit anderen Bildungs„akteuren“) und der Aufbau eines Systems der Qualitätsentwicklung, Qualitätssicherung und Rechenschaftslegung.2 Dieser Ansatz mag überraschend sein in einem Projekt, das sich der Gewinnung und Gestaltung von mehr Freiräumen für die Einzelschule widmet. Die Erklärung findet sich, wenn man einen Perspektivenwechsel vollzieht. „Der Region fällt immer dann eine Schlüsselrolle für die Gestaltung von Bildungschancen zu, wenn Kinder und Jugendliche konsequent in den Mittelpunkt der Aufmerksamkeit gerückt werden: Denn es sind dieselben Kinder und Jugendlichen, die in einem lokalen Gemeinwesen verschiedene Schulformen durchlaufen, Angebote außerschulischer Jugendarbeit in Anspruch nehmen, Ausbildungsstellen suchen, berufliche Ausbildungen beginnen und schließlich Arbeit aufnehmen. Von den Kindern und Jugendlichen her betrachtet, bedarf es für den Erfolg ihrer Bildungsbiografien unbedingt einer intensiven Kooperation und Abstimmung zwischen den unterschiedlichen für sie relevanten Bildungsakteuren. Unter diesen sind Schulen deshalb – und relativ unabhängig von Fragen ihrer Wirksamkeit – von besonderer Bedeutung, da nur sie alle Kinder und Jugendlichen in einer Region erreichen.“3 Jenseits der Diskussion um die Schwierigkeiten des Entstehens von regionalen Schul- und Bildungslandschaften4 lässt sich ganz konkret am Bei- 1 2 3 4 Vgl. „Anlage zum Kooperationsvertrag zwischen dem Land Nordrhein-Westfalen, vertreten durch das Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes NordrheinWestfalen und der Bertelsmann Stiftung vom 21. August 2001“, unterzeichnet am 13. Dezember 2005 (s. Anhang) Vgl. Projektleitung "Selbstständige Schule", Hrsg., Regionale Bildungslandschaften. Grundlagen einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft, Troisdorf 2004 Lohre, W., „Regionale Bildungslandschaften. Die Bedeutung regionaler Bildungslandschaften im Projekt ’Selbstständige Schule’“ in: Journal für Schulentwicklung, Heft 1, 2005, S. 33 Vgl. Fuchs, W., „Regionale Schulentwicklung – ein neuer Weg zur Bewältigung alter Herausforderungen? Ein Erfahrungsbericht“ in: Journal für Schulentwicklung, Heft 1, 2005, S. 38–48 33303.book Seite 113 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Regionale Unterstützung und Steuerung | 113 spiel der Unterrichtsentwicklung verdeutlichen, welche Vorteile die gemeinsame Entwicklung in der Region mit sich bringt. Wenn es gelingt, Vorteile: Beispiel Unterrichtsentwicklung dass Schülerinnen und Schüler in einer Region während der gesamten Zeit, in der sie unterrichtet werden, und von allen Lehrerinnen und Lehrern, die sie unterrichten, mit der Zielvorstellung eines selbstständigen Lerners bzw. einer selbstständigen Lernerin gefördert werden, z dass sich Schulen in einer Region auf einen gemeinsamen Grundkonsens verständigen, was die Entwicklung von Lernkompetenz bedeutet, und sich aktiv an der Erreichung dieses und anderer regionaler Ziele beteiligen, z dass auch andere „Anbieter“ von Bildung mit in diesen Grundkonsens eingebunden werden, z dann bedeutet das für die einzelnen Kinder bzw. Jugendlichen, dass sie effektiver lernen können, weil weniger Zeit und Energie dafür verloren gehen, die Verknüpfungen und Verbindungen an den Schwellen herzustellen oder sich gar völlig umzustellen beim Wechsel von der einen zur anderen der Stationen, die sie nacheinander oder gleichzeitig durchlaufen. Der Wechsel von einer Schulstufe in die nächste oder von einer Schulform in die andere ist nur dann ohne Nachteile möglich. Jeder kennt die Schwierigkeiten und Risiken, die mit dem Wechsel von der Primarstufe zur Sekundarstufe I und wiederum dem Übergang von der Sekundarstufe I insbesondere zur gymnasialen Oberstufe verbunden sind. Sie sind in einer Bildungsregion, in der die Schulen mit dem gleichen oder einem vergleichbaren Konzept von Unterrichtsentwicklung arbeiten, deutlich geringer. Ein zweiter Vorteil kommt hinzu: Die Kompetenzen der Schülerinnen und Schüler lassen sich umso besser entwickeln, je stärker und deutlicher erkennbar auch für sie selbst der Bezug zu außerschulischen Lebenswelten ist. Keine neue Erkenntnis – aber sie lässt sich durch Kooperation in der Region leichter umsetzen, zumal wenn innerschulische (Unterrichts-) Entwicklung sorgfältig mit Kooperationsprojekten verzahnt ist. (Wie z. B. die Zusammenarbeit mit Firmen und die Unterrichtsentwicklung sich gegenseitig befruchten können, wird in Kap. 6.4 dargestellt.) Dazu noch einmal Lohre: „Schulen müssen offen sein, Entwicklungen aus anderen gesellschaftlichen Systemen, aus den Lebenswelten der Kinder und Jugendlichen aufzunehmen. Der Unterricht muss deshalb in größerem Ausmaß die regionalen, wirtschaftlichen, natürlichen und sozialen Gegebenheiten der für Kinder und Jugendliche erfahrbaren Lebenswelt einbeziehen. Damit ist die auf einen verbesserten Unterricht ausgerichtete schulische Arbeit auch mit einer systematischen Orientierung nach außen verbunden. Die auf den Erwerb umfassender Lernkompetenz der Schülerinnen und Übergänge außerschulische Kooperationspartner 33303.book Seite 114 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 114 | Regionale Unterstützung und Steuerung Perspektivenwechsel Schüler ausgerichtete Schulentwicklung weist mit ihrer Entwicklung sozialer Kompetenzen über die Schule hinaus in den Tätigkeitsbereich außerschulischer Kinder- und Jugendarbeit, aber auch in den betrieblichen Bereich, da sie auch auf eine größere Selbstständigkeit, Berufsorientierung und Berufsfähigkeit der Schülerinnen und Schüler zielt.“5 Der Perspektivenwechsel, der in der einzelnen Schule vollzogen wird, wenn die Region ins Blickfeld rückt, bedeutet, dass der Blick sich nicht mehr nur auf die Kinder und Jugendlichen als Schülerinnen und Schüler dieser Schule richtet, sondern auf die Kinder und Jugendlichen, die ein mehrstufiges Bildungsangebot in der Region durchlaufen. Das soll stimmig sein. Die Frage heißt: „Was kann mein augenblicklicher Beitrag als Lehrerin oder Lehrer in meiner Schulform (-stufe) zur Erreichung des gemeinsamen Ziels für jedes einzelne Mitglied der mir anvertrauten Lerngruppe sein?“ Die regionale Bildungslandschaft ist dann kein Widerspruch mehr zur selbstständigen Schule, sondern es gilt: „Regionale Bildungslandschaften setzen Schulen voraus, die in hohem Maße selbstverantwortlich und in klarer Rechenschaftslegung gegenüber ihrem Auftraggeber Staat eine qualitätsorientierte Schulentwicklung betreiben.“6 So wie der Aufbau von Lernkompetenz bei Schülerinnen und Schülern und die dazugehörige Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer organisiert werden müssen, muss auch die Zusammenarbeit von Schulen zuerst in einer regionalen Schullandschaft und danach von Schulen und anderen Bildungs- und Betreuungsseinrichtungen in einer regionalen Bildungslandschaft organisiert werden. Entwicklung einer regionalen Bildungslandschaft Bildungslandschaft Schullandschaft Schule Entwicklungsphasen © Selbstständige Schule Abb. 21: Entwicklung einer regionalen Bildungslandschaft 5 6 Lohre, W. (2005), S. 34 Fuchs, W. (2005), S. 47 33303.book Seite 115 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Regionale Unterstützung und Steuerung | 115 Dazu wurden im Projekt "Selbstständige Schule" regionale Steuergruppen eingerichtet (vgl. Kap. 6.1).7 Sie sind mit ihren regionalen Bildungsbüros die Schaltstellen, die in Zusammenarbeit mit den Bezirksregierungen das Fortbildungsangebot für die Schulen organisieren. Wenn Schulen in einer Region nach einem abgestimmten Konzept arbeiten, können Kinder Kompetenzen, die sie in der Primarstufe oder sogar schon vom Vorschulbereich an ausgebildet haben, kontinuierlich weiterentwickeln, bis sie womöglich mit dem Abitur nach 12 oder 13 Jahren die Schule verlassen. Das Bild der Spirale, das für Trainingsarrangements und für Unterrichtsvorhaben gebraucht wird, um den systematischen Aufbau der angestrebten Kenntnisse und Fähigkeiten zu verdeutlichen, kann auch hier angewendet werden. Man könnte dann von einem Spiralcurriculum sprechen. Von der Einschulung an achten die Lehrerteams in jedem Jahr darauf, dass systematisch Grundlagenkompetenzen in den Bereichen Methoden, Kommunikation und Teamarbeit aufgebaut, im Fachunterricht durch entsprechende Anforderungen gepflegt und dadurch zur Routine gemacht und in immer größeren Freiräumen eigenverantwortlich angewendet werden. Selbstverständlich sind die Anforderungen in der Primarstufe andere als in der gymnasialen Oberstufe. Sie bauen aber im Sinne eines solchen Spiralcurriculums sowohl im Bereich der Grundlagen als auch bei der Pflege und Anwendung systematisch aufeinander auf. Zwei Beispiele mögen die Unterstützungsleistungen verdeutlichen, die von einer Region erbracht werden können. Im Kreis Herford wird inzwischen bereits in der vorschulischen Sprachförderung gezielt auf das in den Schulen angebotene Konzept zur Unterrichtsentwicklung Bezug genommen; entsprechende Anteile werden in die Aus- und Weiterbildung der Erzieherinnen und Erzieher einbezogen. In Workshops wird zudem Fachlehrerinnen und Fachlehrern schulübergreifend die Gelegenheit geboten, ihre Erfahrungen auszutauschen und gemeinsam Lernspiralen zu entwickeln. Wenn es in diesem Sinne gelingt, dass die „Konsistenz der Ausbildung, ihr organischer Aufbau über ein Schülerleben hinweg […] absolut im Mittelpunkt aller Anstrengungen […]“8 steht, dann ist die regionale Entwicklung ein echter Qualitätsentwicklungsschritt gegenüber der einzelschulischen Entwicklung. 7 8 Vgl. http://www.selbststaendige-schule.nrw.de/RegionaleBildungslandschaften/StrukturenDerRegionalenSteuergruppen Höfer, C. „Schulaufsicht auf dem Weg in eine regionale Bildungslandschaft“ in: Rolff, H.-G./Schmidt, H.-J., Hrsg., Brennpunkt Schulleitung und Schulaufsicht, Neuwied 2002, S. 24 Spiralcurriculum: Kindergarten bis Abitur aus der Praxis: Beispiele für regionale Unterstützung 33303.book Seite 116 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 116 | Regionale Unterstützung und Steuerung Regionale Bildungsverantwortung Schulpflicht KiTa Grundschule Sekundarstufe I Sek II außerschulische Bildungsaktivitäten 0 5 9 15 17 18 Bildungsverantwortung in der Region © Selbstständige Schule Abb. 22: Regionale Bildungsverantwortung 6.1 Ziel: die staatlichkommunale Verantwortungsgemeinschaft Aufgaben Die regionale Steuergruppe Auf der Grundlage der bestehenden Verantwortlichkeiten (Land für die inneren Schulangelegenheiten, Schulträger für die äußeren Schulangelegenheiten) zielt das Projekt "Selbstständige Schule" auf eine konsensorientierte Regionalisierung in einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft. Ein Schritt zur Verwirklichung dieses Ziels war die Einrichtung regionaler Steuergruppen in allen Modellregionen zu Beginn des Projektes. In ihnen sind die Schulaufsicht (untere und obere), der/die beteiligten Schulträger und die teilnehmenden Schulen mit je zwei Personen vertreten. Alle Mitglieder stehen vor der Herausforderung, insgesamt eine regionale Perspektive einzunehmen und über ihre Herkunftsinstitutionen hinaus zu denken, gleichzeitig aber in ihren Institutionen die Anliegen der Regionen mit den beteiligten Schulen zu verdeutlichen und die erforderlichen internen Abstimmungsprozesse zu initiieren. Dabei sollen perspektivisch die Aktivitäten, Ressourcen und Verantwortlichkeiten der hinter den regionalen Steuergruppenmitgliedern stehenden Institutionen zunehmend verschränkt werden. Mit dem Ziel, die Lern- und Ausbildungsbedingungen der Kinder und Jugendlichen einer Region bestmöglich zu gestalten, kümmert sich eine regionale Steuergruppe darum, 33303.book Seite 117 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Die regionale Steuergruppe | 117 z z z z z dass durch eine systematische Unterrichtsentwicklung gekoppelt mit einer entsprechenden Organisations- und Personalentwicklung an jeder beteiligen Schule die Lernprozesse und -ergebnisse aller Schülerinnen und Schüler verbessert werden können, dass die Einzelschule systematische und qualitativ hochwertige Unterstützung in den selbst bestimmten Entwicklungsschritten hin zu größerer Selbstständigkeit erhält, dass nicht nur die Zusammenarbeit von Schulen gleicher Schulform, sondern vor allem die gezielte Kooperation zwischen den Schulformen in der Region aufgebaut wird, dass mit dem Entstehen einer regionalen Schullandschaft in den beteiligten Institutionen ein Bewusstsein für die Region entsteht, dass durch gezielte Kooperation der Akteure der Schullandschaft mit weiteren für die Erziehung, Bildung und Ausbildung von Kindern und Jugendlichen mitverantwortlichen Institutionen eine regionale Bildungslandschaft entsteht. Eine regionale Steuergruppe ist keine zusätzliche Hierarchieebene. Sie kann Schulen gegenüber keine Weisungen erteilen wie die zuständige Schulaufsicht oder der Schulträger. Sie muss also für ihre Initiativen werben, durch Argumente überzeugen und Anreize schaffen, da sie keine formale Macht hat. Dies ermöglicht ihr aber gleichzeitig, die Balance zwischen der notwendigen Offenheit für die einzelnen Akteure in einer regional weit verzweigten Entwicklung und der notwendigen Verbindlichkeit zu halten. Dazu kann sie im Steuerungsprozess mit „Wenn-dann-Bedingungen“ arbeiten, die in der Regel in Kontraktform fixiert werden. Wie die Kooperationsvereinbarung des Projektes "Selbstständige Schule" sind Kontrakte auf allen Ebenen, also auch zwischen regionaler Steuergruppe und Schulen, ein bewährtes Mittel zur Sicherung von Verbindlichkeit und Selbstverbindlichkeit. Ein weiteres interessantes Instrument regionaler Steuerung sind sogenannte Schulgespräche (vgl. Kap. 6.3). Um den Prozess der Unterrichtsentwicklung an den Schulen zu unterstützen sorgt die regionale Steuergruppe dafür, dass genügend Trainerinnen und Trainer für alle Schulformen in der Region zur Verfügung stehen, z dass die Schulen ausreichend über das Angebot zur Unterrichtsentwicklung informiert werden, z dass die Zusammenarbeit zwischen Trainerteams und Einzelschule organisiert wird, z keine zusätzliche Hierarchieebene Steuerungsinstrumente Unterstützung der Unterrichtsentwicklung an den Schulen 33303.book Seite 118 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 118 | Regionale Unterstützung und Steuerung z z z z z z z z Blick in die Zukunft dass nach einer Implementationsphase in der Schule der jeweils nächste Trainingsbaustein abgerufen werden kann, dass die Trainerinnen und Trainer zur Qualitätsentwicklung und -sicherung kontinuierlich zusammenarbeiten (können), dass die Schulen auch langfristig auf Trainingsangebote zurückgreifen können, um neue Lehrerinnen und Lehrer immer wieder einbinden zu können, dass über ein Rückmeldeverfahren sichergestellt wird, dass die Schulen mit der Qualität der Trainings zufrieden sind, dass den Schulen regelmäßige Foren zur Verfügung stehen, in denen sie sich über die konkrete Praxis der Implementation austauschen und voneinander lernen können, dass während der Implementation entstehender zusätzlicher Beratungsbedarf der Schulen professionell bearbeitet wird, dass die anderen Fortbildungsmaßnahmen, also z. B. für Steuergruppen, Schulleiterinnen und Schulleiter oder Evaluationsberaterinnen und -berater, zum Fortbildungsangebot für Unterrichtsentwicklung passen und ebenfalls langfristig zugänglich sind, dass eine einmal erreichte Zusammenarbeit von Bildungsinstitutionen dauerhaft erhalten bleibt und nicht mehr an das Engagement von Einzelpersonen geknüpft ist. Die regionale Steuergruppe war ein wichtiges Gremium für die Startphase der intensiven staatlich-kommunalen Zusammenarbeit. Sie ist Ausdruck des governance- Ansatzes bei der Entstehung neuer Steuerungssysteme in politisch-gesellschaftlichen Zusammenhängen.9 Es hat sich jedoch im Verlauf der ersten Projekthälfte gezeigt, dass die komplexen Steuerungsaufgaben in den entstehenden regionalen Bildungslandschaften auf Dauer nicht von einem Gremium geleistet und verantwortet werden können, das als Kollegialgremium ohne klar ausgewiesene Entscheidungskompetenzen mit der Verpflichtung zu konsensualen Beschlüssen fungiert und dessen Mitglieder sozusagen „ehrenamtlich“ arbeiten. In der zweiten Projekthälfte (2006 bis 2008) geht es darum, in einigen weit entwickelten Projektregionen neue Formen staatlich-kommunaler Zusammenarbeit und damit neue Steuerungsmodelle auszuprobieren. Wie immer die Folgeorganisationen heißen mögen, sie werden den institutionellen Kern einer Verantwortungsgemeinschaft von Land und Kommune darstellen und auf Kontrakten zwischen Land und Kommune basieren. In diesen Verträgen wird eine klare Kompetenzzuweisung festgelegt, Zeit-, Personal- und sonstige Ressourcen werden vereinbart werden. 9 Vgl. Benz, A./Fürst, D./Kilper, H./Rehfeld, D., Regionalisierung. Theorie – Praxis – Perspektiven, Opladen 1999 33303.book Seite 119 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Das regionale Bildungsbüro | 119 6.2 Das regionale Bildungsbüro Die meisten der im Projektzusammenhang eingerichteten regionalen Bildungsbüros sind Institutionen im Sinne von Projektbüros, die die operative Umsetzung der in ihren Bildungsregionen durch die regionalen Steuergruppen getroffenen Entscheidungen gewährleisten. In ihnen arbeiten sowohl Mitarbeiter der Kreise und/oder Kommunen als auch abgeordnete Lehrkräfte. In einigen Regionen haben sich daraus bereits Institutionen entwickelt, die auch über das Projekt hinaus existieren werden, ohne dass bisher geklärt wäre, wer zukünftig die notwendigen Steuerungsentscheidungen treffen wird. Einige regionale Bildungsbüros arbeiten zunehmend nicht nur im operativen Geschäft, sondern sind auch auf der Steuerungsebene aktiv. Dabei handelt es sich entweder um staatlich-kommunale Einrichtungen, die aber noch ohne umfassende vertragliche Regelung arbeiten, oder um rein kommunale Einrichtungen, die eingegliedert sind in die kommunale Verwaltungsstruktur und auf der Basis von Kontrakten mit der Bezirksregierung agieren.10 Ein so aufgestelltes regionales Bildungsbüro kann z. B. die Aus- und Weiterbildung neuer Trainerteams für die Unterrichtsentwicklung sowie die Pflege der ausgebildeten Trainerinnen und Trainer und ihrer Ausbilderinnen und Ausbilder gestalten und steuern. Diese Initiative steht wie das in Kap. 6 genannte Beispiel der vorschulischen Sprachförderung und der Erzieherinnenausbildung und das in Kapitel 6.4 beschriebene KURS-Projekt nur exemplarisch dafür, wie bedeutsam eine mit regionaler Perspektive ausgestattete Institution wie das regionale Bildungsbüro für die Unterrichtsentwicklung in einer Bildungsregion sein kann. 6.3 Schulgespräche Auf dem Hintergrund zweier Erfahrungsfelder, den Schulprogrammdialogen zwischen Schulaufsicht, Schulleitungen und – so vorhanden – schulischen Steuergruppen sowie den Schulgesprächen im Projekt "Schule & Co.", werden im Projekt "Selbstständige Schule" Schulgespräche als neues Instrument eines bilateralen Kontaktes zwischen regionaler und schulischer Steuergruppe erprobt. 10 Solche regionalen Bildungsbüros arbeiten beispielsweise bereits im Kreis Herford und in der Stadt Dortmund; vgl. Curländer, L./Engelking, G.: „Regionale Bildungslandschaft Kreis Herford. Die Stärkung von Schulen im kommunalen und regionalen Umfeld – oder was ist eigentlich ‘Schule & Co.‘?“ in: Projektleitung "Selbstständige Schule", Hrsg., Regionale Bildungslandschaften. Grundlagen einer staatlich-kommunalen Verantwortungsgemeinschaft, Troisdorf 2004, S. 62–79 heute: operative Arbeit Blick in die Zukunft 33303.book Seite 120 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 120 | Regionale Unterstützung und Steuerung Ziel: zwei weitere Effekte zwei zentrale Funktionen Sie sind vorrangig ein Instrument zur Einschätzung des Entwicklungsstandes von Schulen im Projekt und ergänzen insofern andere Formen der Rechenschaftslegung. Dabei werden jedoch wichtige weitere Effekte erzielt. Die Mitglieder der regionalen Steuergruppe lernen sehr viel über Schulen, Schulformen usw. vor Ort. Dadurch entstehen Wissen, aber auch Verständnis und Wertschätzung für die Arbeit an den Schulen. Häufig wechselnde Gesprächsteams, die gemeinsame Planung und Vorbereitung sowie die aktiven Gesprächserfahrungen, die ausgewertet werden müssen, wirken sich teambildend für die regionale Steuergruppe aus. Vertreterinnen und Vertreter der Schulträger und der Schulaufsicht treten gemeinsam in den Schulen auf und demonstrieren die neue staatlichkommunale Verantwortungsgemeinschaft. Durch die regelmäßig wiederkehrenden Gespräche entstehen Beratungs- und Gesprächskultur sowie Vertrauen zwischen Schulen und regionaler Steuergruppe. Schulgespräche mit dem Schwerpunkt Unterrichtsentwicklung haben zwei zentrale Funktionen: Unterstützung der Entwicklung der Einzelschule und ihrer Einbettung in die Region durch Beratung, durch Weitergabe von Erfahrungen und Lösungen anderer Projektschulen sowie besonderer Informationen aus der regionalen Steuergruppe im Dialog, aber auch durch Kommunikation in formellem Rahmen mit unterschiedlichen Personengruppen aus den Schulen, z Erzeugung von Steuerungswissen, das als Grundlage zur Entwicklung der Bildungsregion dient, z. B. für die gezielte Schwerpunktsetzung bei Fortbildungsangeboten in der Region. z Wo sich regionale Steuergruppen entschieden haben, Schulgespräche zu erproben, haben sie zur Vorbereitung und als Grundlage für die spätere Auswertung Gesprächsleitfäden entwickelt, die erkennen lassen, dass dieses Instrument in sehr differenzierter Form Erkenntnisse über die Chancen, Probleme und Unterstützungsbedarfe auf dem Feld der Unterrichtsentwicklung generieren kann. 6.4 die Tradition KURS als Beispiel für einen Baustein der regionalen Bildungslandschaft Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft gibt es seit langem, sogenannte Lernpartnerschaften zwischen Firmen und Schulen seit einigen Jahren. Ob Betriebsbesichtigungen oder Schülerpraktika, ob Bewerbungstrainings oder Sponsoring im Sinne der finanziellen Unterstützung ein- 33303.book Seite 121 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 KURS als Beispiel für einen Baustein der regionalen Bildungslandschaft | 121 zelner Projekte – produzierende Firmen und Dienstleister haben sich auf vielfältige Weise für Schulen engagiert. In der Kooperation von Unternehmen der Region mit Schulen, wie sie im Rahmen des Projektes "Schule & Co" in den beiden Projektregionen Herford11 und Leverkusen12 entwickelt wurde und im Kreis Herford heute vom Regionalen Bildungsbüro Herford organisiert und gepflegt wird, geht es um mehr. Ziel der Kooperationen ist es, eine neue Qualität des Lernens im Fachunterricht zu unterstützen und diese Unterstützung nachhaltig zu gestalten. Die berufliche Wirklichkeit sowie praktische Handlungs- und -tätigkeitsfelder des kooperierenden Unternehmens werden in unterschiedliche Fächer und fächerübergreifende Lernarrangements eingebracht. Unterricht gewinnt dadurch zum einen eine größere Berufs- und Praxisnähe und dient insofern der Berufs- und Arbeitsweltorientierung, zum anderen befördern Inhalte und Arbeitsformen in der Kooperation mit externen Partnern handlungsorientiertes und selbst gesteuertes Lernen. Auf diese Weise unterstützt KURS die systematische Unterrichtsentwicklung und hilft die Bereitschaft und Fähigkeit zum lebenslangen Lernen herauszubilden. das Neue 6.4.1 Kooperationsvereinbarungen KURS ist Teil einer regionalen Bildungslandschaft und braucht zur Entstehung und Zukunftssicherung ein regionales Unterstützungssystem. Im Auftrag der regionalen Steuergruppe gewinnt und informiert das regionale Bildungsbüro Schulen und mögliche Kooperationspartner aus der Wirtschaft und stellt einen ersten Kontakt zwischen Geschäftsleitung auf der einen und Schulleitung und Steuergruppe auf der anderen Seite her. Diese ersten Schritte können wiederum mit Kooperationspartnern getan werden, z. B. der Initiative Wirtschaftsstandort Kreis Herford e. V. oder der örtlichen IHK. Detailkenntnisse der Situation der Firmen und der Schullandschaft in einer regionalen Koordinationsstelle sind eine wichtige Bedingung dafür, dass tragfähige Partnerschaften geknüpft werden. 11 Vgl.: www.regionales-bildungsbuero.de/index.php/site/schule_und_beruf/kooperation_ von_ unternehmen_der_region_mit_schule 12 Details vgl. Bürvenich, H./Madelung, P., „In Leverkusen kooperieren Schule und Wirtschaft erfolgreich. KURS in ‘Schule & Co.‘“ in: SchulVerwaltung NRW, März 2003, S. 90– 93 Kooperationspartner gewinnen 33303.book Seite 122 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 122 | Regionale Unterstützung und Steuerung Vereinbarungen aushandeln Kosten? Motivation von Schulen und Unternehmen Basis der entstehenden Partnerschaften zwischen jeweils einer weiterführenden Schule und einem Unternehmen im nahen Umfeld der Schule sind Kooperationsvereinbarungen. Sie legen Inhalte und Ziele der Partnerschaft fest und werden in einem mehrschrittigen Verfahren ausgehandelt. Sie sind sowohl auf die Bedürfnisse der Schule als auch auf die Möglichkeiten des Unternehmens zugeschnitten. Neben allgemeinen, für alle Partnerschaften in der Region identischen Teilen, in denen die Rechte und Pflichten der Kooperationspartner genannt und die Leistungen des Regionalen Bildungsbüros beschrieben werden, enthält jede Vereinbarung als Kernstück einen individuellen und jährlich neu zu überprüfenden Arbeitsplan. Jede Kooperationsvereinbarung ist damit ein Unikat. Im Arbeitsplan werden Vorhaben beschrieben, die die beiden Partner gemeinsam gestalten wollen und die, so die Evaluation ergibt, dass sie sich bewähren, zu Kooperationsroutinen werden sollen. Für die Akquise von Unternehmen ist es von nicht zu unterschätzender Bedeutung, dass weder den Unternehmen noch den Schulen externe Kosten für Beratungs- oder Unterstützungsleistungen entstehen. Da hier ein besonderes regionales Interesse vorliegt, werden die Kosten vom regionalen Bildungsbüro13 übernommen. Die Kooperationspartner bestimmen jeweils, welche Kosten sie in der direkten Kooperation und für eventuelle Öffentlichkeitsarbeit zu tragen bereit und in der Lage sind. Dass die Kooperation durch die Region vermittelt wird, ist besonders für Haupt- und Förderschulen bedeutsam. Bilaterale Anfragen von Förderschulen würden in der Regel nicht zum Erfolg führen. Auch für Hauptund Gesamtschulen ist die Offenheit von Betrieben oft begrenzt, wenn nicht regionale Akteure Unterstützung bieten. Die Motivation der Schulen, solche Lernpartnerschaften anzustreben, liegt auf der Hand. Sie sind sich der Notwendigkeit bewusst, ihren Schülerinnen und Schülern qualifizierte Grundkenntnisse über wirtschaftliche Zusammenhänge zu vermitteln, und sie sind sich der Tatsache bewusst, dass praxis- und lebensnaher Unterricht besonders effektiv ist. Was aber ist die Motivation der Unternehmen? Sicher auch, dass sie potenzielle Arbeitskräfte erreichen – aber ein billiges Scanning künftiger Mitarbeiter als Hauptbeweggrund zu sehen, wäre zu kurz gegriffen. Viele Unternehmen nennen als erste Gründe Imagepflege und damit verbunden Standortsicherung, viele sehen hier eine Möglichkeit volkswirtschaftliche Verantwortung zu übernehmen. Ein mittelständischer Unternehmer aus Leverkusen, der sich für KURS engagiert, hat deutlich gemacht, dass ein Betrieb mit seinen Materiallieferanten reden müsse und mit seinen Maschinenherstellern, aber eben auch mit den Menschen, die heute oder zukünftig dort arbeiten. Auf die Frage „Kostet es etwas?“ antwortete er: „Ja 13 Bzw. heute in Leverkusen vom KURS-Basisbüro 33303.book Seite 123 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 KURS als Beispiel für einen Baustein der regionalen Bildungslandschaft | 123 – aber auf lange Sicht ist es billiger.“ Unternehmen übernehmen deshalb Verantwortung für Bildung und Ausbildung der Schülerinnen und Schüler in einer regionalen Bildungslandschaft. 6.4.2 Kooperationsmanager oder -berater und Steuergruppen Schulische Steuergruppen als in Schulentwicklungsmanagement geschulte Teams haben eine zentrale Bedeutung für Kooperationsprojekte. KURS profitiert von diesen für Schulentwicklungsprozesse verantwortlichen Teams in verschiedenen Phasen des Vertragsabschlusses und der konkreten Zusammenarbeit. Steuergruppen haben gelernt, Projekte strategisch zu planen, und bringen dieses Wissen bereits in die ersten Vertragsverhandlungen mit ein. Die konkrete Durchführung des KURS-Projektes obliegt dann auf schulischer Seite sogenannten Kooperationsberaterinnen und -beratern. Ihre Kontaktleute in den Firmen sind Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die als KURS-Manager Kontakte zu allen Bereichen des Unternehmens, also z. B. Verwaltung, Ausbildung, Produktion, knüpfen und pflegen. Über diese beiden Personen werden sämtliche Prozesse gestaltet und organisiert. Damit aber nicht genau das passiert, was in der Vergangenheit oft geschehen ist, wenn der Lehrer, der zufällig jemanden in einer Firma kannte und ein gemeinsames Projekt aufgezogen hatte, versetzt oder pensioniert worden ist, nämlich das unrühmliche und bedauerliche Ende einer vorher guten Zusammenarbeit, muss die Steuergruppe die Verantwortung für die Nachhaltigkeit der Kooperationsaktivitäten übernehmen. Die eigentliche Schwierigkeit bei einer Zusammenarbeit zwischen Schule und Wirtschaft ist nicht das Aushandeln eines Vertrages, denn die Ideen sind meist vielfältig und die Motivation und der gute Wille sind vorhanden. Aber: the proof of the pudding is in the eating – oder: Gelingt es Kooperationsroutinen zu entwickeln? Nur wenn Zusammenarbeit relativ personenunabhängig zur Selbstverständlichkeit wird, kann man von einer systematischen Verbesserung sprechen. Ergebnisse bestehender Kooperationen in Herford und Leverkusen zeigen, dass dafür kompetente Steuergruppen und professionelle Schulleitungen Garanten werden können. Wie gelingt es, Routinen zu entwickeln? 33303.book Seite 124 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 124 | Regionale Unterstützung und Steuerung 6.4.3 KURS im Unterricht Formen der Kooperation Es gibt unterschiedliche Formen der Kooperation: Lernort Unternehmen z Experten im Unterricht z z z Fortbildung für Lehrerinnen und Lehrer Schulen als Dienstleister für Unternehmen z Evaluation z z Unterricht im Unternehmen (z. B. eintägige bis einjährige Schülerbetriebspraktika; Untersuchungen einzelner Schülerinnen oder Schüler als Basis für Facharbeiten, Unterricht in Metallkunde durch Auszubildende des ersten Ausbildungsjahres in der Ausbildungswerkstatt des Betriebes für Hauptschüler im Technikunterricht, Betriebserkundung für eine NaWi-Lerngruppe zum Umgang mit Galvanikschläuchen und Wasser) Unterrichtssequenzen unter Beteiligung von Experten aus dem Unternehmen in der Schule (z. B.: Ein Vertreter der Sparkasse stellt im Mathematikunterricht der 7. Klasse zum Thema Zinsrechnung passende Inhalte aus den Arbeitsbereichen des Bankgewerbes vor. Auszubildende stellen die technischen Details sicher, wenn im Englischunterricht eine Aufbauanleitung geschrieben wird.) Planspiele die Möglichkeit, Informationsmaterial aus dem Unternehmen im Unterricht zu verwenden die Fortbildung von Lehrerinnen und Lehrern (z. B. Lehrerbetriebspraktika, Teilnahme am Bildungsprogramm des Unternehmens) Dienstleistungen – evtl. auch bezahlte – für den Betrieb zu erbringen (z. B.: Einzelne Arbeiten der Schule werden für die Werbung genutzt. Eine Hauswirtschaftslerngruppe übernimmt das Catering für ein Betriebsfest.) die Evaluation der durchgeführten Aktivitäten am Ende des ersten Jahres der Partnerschaft Was in dieser Aufzählung auf den ersten Blick als Äußerlichkeit erscheinen mag – Verlagerung von Unterrichtsorten, andere Materialien –, entpuppt sich bei genauerem Hinsehen als Möglichkeit, Unterricht im Kern zu verbessern. Anwendungsfähiges Wissen – Praxisbezug Zu den sechs fundamentalen fachlichen und überfachlichen Bildungszielen, die Weinert formuliert (Vgl. Kapitel 2.2), gehört neben dem Erwerb intelligenten Wissens der Erwerb anwendungsfähigen Wissens. Wissen gut geordnet im Kopf gespeichert zu haben, bedeutet noch nicht, dass man es anwenden kann. Die Schule muss deshalb dafür sorgen, dass Schülerinnen und Schüler lernen, ihr Wissen in unterschiedlichen Anwendungssituationen nicht nur in der Zukunft nutzen zu können, sondern 33303.book Seite 125 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 KURS als Beispiel für einen Baustein der regionalen Bildungslandschaft | 125 auch aktuell bereits einzusetzen. Dafür bieten KURS-Projekte vielfältige Möglichkeiten. So erstellen z. B. Schülerinnen und Schüler der Stufe 11 eine Powerpoint-Präsentation über die Partnerfirma, die diese selbst nutzen kann. Die Stufe 8 einer Hauptschule untersucht im Physikunterricht Materialeigenschaften am Hauptprodukt ihrer Partnerfirma, der Wellpappe; sie erkundet die Statik und erprobt verschiedene Bearbeitungsmöglichkeiten. Den Umgang mit Tabellen lernen die Schülerinnen und Schüler im Projekt „Einkommen und soziale Sicherung“, wo es um Brutto- und Nettolöhne, das Kennenlernen der gesetzlichen Sozialversicherungen und das Berechnen von Beiträgen geht. Dabei üben sie auch Prozentrechnung und Textanalyse. Schülerinnen und Schüler der Stufe 12 einer Gesamtschule machen mithilfe ihres Partnerunternehmens, eines örtlichen Dienstleisters, im Chemieunterricht Gewässeruntersuchungen zur Überdüngung. Im Kunstunterricht der Stufe 10 eines Gymnasiums werden die Werbematerialien des Partnerunternehmens untersucht, die dieses zur Verfügung stellt. Anschließend findet eine Diskussion mit Experten aus der Werbeabteilung statt. Der viel zitierte Praxisbezug von Unterricht entsteht in Kooperationsprojekten auf unterschiedliche Art und Weise: Produkte, Probleme, Strukturen von und aus Unternehmen werden zum Unterrichtsgegenstand. Schülerinnen und Schüler erfahren dabei Inhalte in ihren authentischen Kontexten, was zu intensiven Lernerlebnissen führt. Ergebnisse aus dem Unterricht werden wiederum in das Unternehmen zurückgespiegelt. Im interessantesten Fall bewirken sie dort Veränderungen und das Unternehmen wird vom Geber zum Empfänger. Expertinnen und Experten Wird an einer Schule systematische Unterrichtsentwicklung betrieben mit dem Ziel, dass Schülerinnen und Schüler Lernkompetenzen erwerben, so ändert sich in diesem Prozess die Lehrerrolle. (vgl. Kap. 3.4.2) Neben hoher fachlicher Kompetenz müssen Lehrerinnen und Lehrer zunehmend über Kompetenzen als Moderatorinnen und Moderatoren und als Beraterinnen und Berater verfügen, um als Expertinnen und Experten für das Lernen agieren zu können. In Kooperationsprojekten haben sie die Chance, diese Rolle pointiert und für Schülerinnen und Schüler klar wahrnehmbar zu übernehmen, weil sie mit Expertinnen und Experten für das jeweilige Thema aus den Unternehmen zusammenarbeiten. Wenn der zuständige Vorstand eines Finanzdienstleisters den Schülerinnen und Schülern des Erdkunde-Leistungskurses eines Gymnasiums für eine Fragerunde zur Verfügung steht, nachdem sie – auch mithilfe des Unternehmens – zum Thema „Standortuntersuchung“ recherchiert haben, kann sich der Lehrer oder die Lehrerin auf die gezielte Beratung zu Planung, Organisation und Reflexion der Projektarbeit konzentrieren. Lehrerinnen und Lehrer in veränderten Rollen 33303.book Seite 126 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 126 | Regionale Unterstützung und Steuerung „Sind das wirklich unsere Schüler?“ Kooperation in verschiedenen Phasen ideale Möglichkeiten für SegeL Es braucht kaum weiter ausgeführt zu werden, welche Wirkung der Einsatz von Expertinnen und Experten aus Unternehmen auf Schülerinnen und Schüler hat, wenn es um die Bewertung von Bewerbungsmappen geht oder um die Simulation von Bewerbungsgesprächen, oder wie sich das kommunikative Verhalten von Schülerinnen und Schülern ändert, wenn sie im Rahmen eines Labortages ein fachliches Gespräch mit dem Entwicklungsleiter der Partnerfirma führen können. Von überfachlichen Kompetenzen zum selbst gesteuerten Lernen Systematische Unterrichtsentwicklung baut über den Erwerb von überfachlichen Qualifikationen in Basistrainings, deren Pflege und Verknüpfung im Fachunterricht und der zunehmend eigenständigen Anwendung in komplexen Aufgaben und Lernsituationen die Kompetenzen auf, die für selbst gesteuertes Lernen – lebenslang – gebraucht werden. Die Zusammenarbeit mit Firmen, die ihrerseits immer wieder öffentlich die Ausbildung von Schlüsselqualifikationen fordern, bewährt sich hier in verschiedenen Phasen dieses Prozesses. Wenn Schülerinnen und Schüler in Basistrainings erworbene Fähigkeiten wie z. B. Präsentationstechniken, Gesprächsführung, Interviewtechniken in realen Situationen außerhalb der Schule anwenden können, stärkt das die Motivation und trägt erheblich zur Erhöhung des Lernerfolges bei. Der schulische Hintergrund ist dann sozusagen das Auffangnetz: Erfolge und Misserfolge können reflektiert und zur Grundlage der weiteren Arbeit gemacht werden. Am anderen Ende des schulischen Lernprozesses, wenn es darum geht alle Kompetenzen zu verknüpfen und möglichst selbstständig komplexe Aufgaben und Probleme zu bewältigen, bieten Kooperationen mit Unternehmen ideale Möglichkeiten für Projekte, die zugleich anspruchsvoll und motivierend sind und in denen sich Schülerinnen und Schüler als möglichst selbstständig Lernende erproben und erfahren können. Ein gutes Beispiel dafür sind Facharbeiten, die von Schülerinnen und Schülern der Stufe 12 der gymnasialen Oberstufe gefordert werden. Sie können mithilfe von Partnerunternehmen oder sogar in diesen entstehen. Eine Arbeit mit dem Thema „Extraktion und Analyse von Koffein und seine neurologischen Wirkungen“ hätte eine Schülerin wegen der Kompliziertheit und Kostspieligkeit der Analysen nicht ohne die Mithilfe des Entwicklungslabors einer mittelständischen Chemiefirma machen können. Ein weiteres Beispiel sind Experimentaltage der Chemiekurse der Stufe 12 zum Thema „Korrosion: chemische Grundlagen und industrielle Auswirkung“ und der Stufe 13 zum Thema „Spezielle Synthesen aus dem Bereich der Aromatenchemie“, die in der Schule nicht möglich wären, weil die mehrstufigen Synthesen nur mit der Laborausrüstung einer Firma gemacht 33303.book Seite 127 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 KURS als Beispiel für einen Baustein der regionalen Bildungslandschaft | 127 werden können, oder wegen der Gefahrstoffverordnung, oder weil die Schule nicht an das entsprechende Zahlenmaterial käme.14 Umgekehrt profitieren Unternehmen in Partnerschaften mit Schulen, die systematische Unterrichtsentwicklung betreiben, auch ganz unmittelbar. Sie erfahren, dass ihre Hilfe z. B. bei Bewerbungstrainings keine isolierte Aktion ist, sondern Teil eines breiter angelegten Programms zur Entwicklung der kommunikativen Fähigkeiten von Jugendlichen, und damit Erfolg versprechender. In einem besonderen Fall bieten im Kreis Herford Englischlehrerinnen Mitarbeitern ihres Partnerbetriebes abendliche Sprachkurse. KURS ist mit Sicherheit ein interessantes Projekt auch an Schulen, die (noch) keine systematische Unterrichtsentwicklung betreiben. Es bereichert jegliche Vorhaben, die der Berufsorientierung und der Vorbereitung auf die Arbeitswelt dienen. Aber es zeigt sich, dass die Kooperationen umso fruchtbarer, effektiver und nachhaltiger sind, je weniger sie außerunterrichtliche Aktivitäten bleiben und je mehr sie in den Unterricht selbst integriert werden und ihn bereichern, verändern und weiterentwickeln. Mit anderen Worten: je weniger sie Sahnehäubchen und je mehr sie Hefeteig sind. Auch Unternehmen profitieren. 6.4.4 Nachhaltigkeit Es gibt mehrere Faktoren, die zur Nachhaltigkeit solcher Kooperationsprojekte beitragen. Neben den Kooperationsverträgen, die auch ohne Rechtsverbindlichkeit einen festen Rahmen schaffen und deren Unterzeichnung eine gute Möglichkeit zur medienwirksamen Öffentlichkeitsarbeit für Schulen und Betriebe bietet, ist das die Verankerung im Schulprogramm. Alle schulischen Gremien beraten darüber und stimmen ab. Auf diese Weise entsteht Verbindlichkeit für alle in der Schule und Vernetzung mit anderen Projekten der Schule z. B. im Übergang Schule–Beruf. Ein weiterer Garant für Nachhaltigkeit ist die feste Verankerung im Fachunterricht. Das Regionale Bildungsbüro Herford bietet deshalb für KURSBeraterinnen und -Berater sowie für Fachlehrerinnen und Fachlehrer Workshops zur Erstellung von Unterrichtsmaterialien unter Berücksichtigung neuer Formen des Lehrens und Lernens an. Die Anbindung an die Fachcurricula gewährleistet ebenfalls das Primat schulischer Interessen in den Kooperationen. 14 Die Projekte sind Beispiele für naturwissenschaftlichen Unterricht, der sich wirklich auf dem Weg befindet context-based zu werden und nicht nur das Gelernte an einem Beispiel aus der Praxis zu illustrieren. vier Faktoren gewährleisten Nachhaltigkeit 33303.book Seite 128 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 128 | Regionale Unterstützung und Steuerung Evaluation als Instrument der Qualitätssicherung und -verbesserung ist auch ein Instrument zur Schaffung von Nachhaltigkeit. In den Kooperationsverträgen wird vereinbart, dass die einzelnen Vorhaben in regelmäßigen Abständen von den Durchführenden evaluiert werden, um zu überprüfen, ob und mit welchen Veränderungen sie in den Folgejahren durchgeführt werden. Das verhindert, dass Unzufriedenheiten zu einem Prozess des Ausschleichens führen. Die Schaffung von Kooperationsroutinen ist wichtiges Ziel aller Vereinbarungen. Denn Schulentwicklung bedeutet letztlich, dass es nicht mehr vom Zufall des Lehrereinsatzes oder der Klassenzuweisung oder der Jahresplanung abhängt, ob eine Schülerin oder ein Schüler von bestimmen Projekten profitiert. KURS braucht nicht zuletzt ein regionales Unterstützungssystem, durch das Schulen und Unternehmen bei ihren Aktivitäten beraten und begleitet werden, durch das eine Vernetzung der Kooperationen hergestellt und der Erfahrungs- und Materialaustausch gefördert werden. 6.4.5 Unterrichtsentwicklung und beruflicher Erfolg aus der Sicht eines Unternehmens Im Rahmen des Jahreskongresses 2005 der Stiftung der Wirtschaft und des Schulministeriums in Nordrhein-Westfalen „Partner für Schule“ formulierte Matthias Landmesser von IBM Deutschland die „Anforderungen an die Bildung aus Sicht eines Unternehmens: Die Zukunft von Bildung ist Handeln“. Er belegte, dass nur ein schwacher Zusammenhang zwischen Schulnoten und beruflichem Erfolg nachweisbar ist, dass aber der Korrelationskoeffizient zwischen beruflichem Erfolg und außerschulischen Aktivitäten doppelt so hoch ist. Das Entstehen von sozialer Kompetenz, von Lernbereitschaft und der Bereitschaft, Verantwortung zu übernehmen, sei noch viel zu wenig in der Schule selbst verortet. Beruflicher Erfolg ist aber geknüpft an Handlungskompetenz – verstanden als eine Kombination aus Fachkompetenz plus den notwendigen Einstellungen und Kompetenzen, diese zur Entfaltung zu bringen. In dem Umfeld solcher Überlegungen sind KURS und Unterrichtsentwicklung gute Partner, die mithelfen, dass aus Wissen Verstehen und Handeln werden können. 33303.book Seite 129 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 7 Anschlussfähigkeit Unterrichtsentwicklung auf der Basis der Förderung überfachlicher Kompetenzen kann kein geschlossenes Konzept sein. Nur wenn es offen und anschlussfähig ist, entfaltet es seine Wirkung als Motor der Schulentwicklung. 7.1 Unterrichtsentwicklung und Neue Medien Parallel zur Weiterentwicklung des in diesem Buch beschriebenen Konzepts der Unterrichtsentwicklung wurde auch in Nordrhein-Westfalen die Entwicklung der Medienkompetenz über verschiedene Programme und die e-nitiative mit ihren regionalen e-teams in allen Schulformen vorangetrieben. Bereits im Vorläuferprojekt "Schule & Co." wurde in der Ausbildung von Trainerinnen und Trainern für die Unterrichtsentwicklung in der Sekundarstufe ein Methodenbaustein II erprobt. Dabei werden in verschiedenen Trainingsspiralen die Neuen Medien vor allem bei Rechercheaufgaben, Informationsbearbeitung und Präsentationen genutzt. Schnell wurde deutlich, dass auch bestimmte Arrangements im Kommunikationstraining und Teamtraining durch den Einsatz Neuer Medien unterstützt werden können. Dennoch war in der Regel eine systematische Einbindung in Lehrertrainings schwierig, weil die Ausstattungsbedingungen der Schulen zu unterschiedlich waren. Zusätzlich hätten die unterschiedlichen Qualifikationen der Lehrkräfte im Umgang mit Neuen Medien eine weitere hohe Adaptionsleistung der Schulen erfordert. Vor Ort ist es allerdings immer wieder auf Anforderung einer Schule möglich gemacht worden, dass Mitglieder des e-teams und Trainerinnen und Trainer für die Unterrichtsentwicklung auf differenzierte Unterstützungsanforderungen schulspezifische Antworten fanden, die miteinander und aufeinander abgestimmt waren. Ein anderer Ansatz, die Ausbildung von Lernkompetenz und Medienkompetenz zu integrieren, wird zurzeit im Regierungsbezirk Detmold verfolgt. Dort wird den Modellschulen in einer Modellregion im Herbst 2006 ein Set an Modulen angeboten, die die Schulen für bestimmte Jahrgänge oder Fächer anfordern können. Die Voraussetzung, dass die beteiligten Lerngruppen mindestens die drei Grundlagenbausteine erarbeitet haben, ist in allen Modellschulen dieser Region gegeben. (Einige haben bereits den SegeL-Baustein für Lehrerinnen und Lehrer erhalten.) Ziel dieses Vorgehens ist sowohl die Pflege der im Rahmen der Unterrichtsentwicklungsarbeit aufgebauten Methoden-, Kommunikations- und Methodenbaustein II Schwierigkeiten Zusammenarbeit mit e-teams neu: Set von Modulen 33303.book Seite 130 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 130 | Anschlussfähigkeit gemischte Trainerteams Teamkompetenzen durch die Nutzung neuer Medien als auch die Ergänzung und der Ausbau von Medienkompetenzen. Zur Vorbereitung wurden je eine Materialentwicklungsgruppe für die Primarstufe und die Sekundarstufe eingerichtet, die aus Mitgliedern von e-teams und Trainerinnen und Trainern für die Unterrichtsentwicklung besteht. Die Arbeitsgruppe „Primarstufe und neue Medien“ hat für die Jahrgänge 1 bis 4 jeweils eine Trainingsspirale konzipiert. Das Thema dieser Trainingsspiralen heißt: „Zielgerichtetes Gestalten von Texten unter zunehmender Nutzung von Formatierungsfunktionen eines Textverarbeitungsprogramms und die Einbindung von Grafiken“. Die entstandenen Trainingsspiralen wurden jeweils von den Entwicklern im eigenen Unterricht erprobt und dann den Schulen der Modellregion von den gemischten Trainerteams als schulinterne Lehrerfortbildung angeboten. 7.2 Alle sind zuständig! Unterrichtsentwicklung und Sprachförderung Die großen Untersuchungen wie PISA haben auch für Nordrhein-Westfalen deutlich herausgearbeitet, dass Schülerinnen und Schüler mit Migrationshintergrund besondere Schwierigkeiten haben, ihr Potenzial in schulische Leistungen umzusetzen. Da Sprache der Schlüssel zum schulischen Erfolg ist, muss dem sprachlichen Lernen vor allem für diese Zielgruppe eine viel größere Bedeutung beigemessen werden. Wie beim Lernen in Fachzusammenhängen zeigt sich, dass Schülerinnen und Schüler, die mit dem Konzept der Unterrichtsentwicklung systematisch an der Entwicklung ihrer Lernkompetenz arbeiten, ein bestimmtes Maß an sprachlichen Kompetenzen als Voraussetzung benötigen. Haben sie diese noch nicht und werden in Trainingsspiralen, Lernspiralen oder Phasen selbst gesteuerten Lernens sprachlich überfordert bzw. gar nicht oder nur teilweise erreicht, verlieren sie Entwicklungschancen und werden innerhalb ihrer Lerngruppe weiter benachteiligt. Neue Formen des Deutschlernens können weder einem Unterrichtsfach allein noch einem isolierten Förderangebot zugewiesen werden. Alle Fächer müssen ihren Beitrag leisten; auch im Rahmen der Unterrichtsentwicklung kann ein spezifischer Anteil erbracht werden. Dabei können Bestandteile des Konzepts gezielt genutzt werden, um sowohl im Mündlichen als auch im Schriftlichen die Sprachförderung zu unterstützen. Im Methodentraining für die Sekundarstufe I gibt es z. B. drei aufeinanderfolgende Trainingsspiralen zum Lesen. In diesem Feld der zielgruppenspezifischen Verbindung von Unterrichtsentwicklung und Sprachförderung gibt es seit längerem systematische 33303.book Seite 131 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Unterrichtsentwicklung und individuelle Förderung | 131 Entwicklungen und vielfältige Erfahrungen im Regierungsbezirk Köln und einer Reihe von Modellschulen.1 7.3 Unterrichtsentwicklung und individuelle Förderung Einer der größten Stressfaktoren im Schulalltag für Lehrerinnen und Lehrer ist der Zwang, mit immer inhomogeneren Lerngruppen arbeiten zu müssen, mit immer unterschiedlicheren Schülerinnen und Schülern – ohne dafür je wirklich ausgebildet worden zu sein, und das ihm Rahmen von Bedingungen, die dafür wenig geeignet erscheinen. Gleichzeitig zeigen erfolgreiche PISA-Nationen wie Schweden, dass die Individualisierung des Lernens in der Schule ein zukunftsweisender Weg ist. Diese Erfahrung wird gestützt von den Ergebnissen der Lehr- und Lernforschung, aber auch der Hirnforschung (vgl. Kap. 2.3). Im neuen Schulgesetz für Nordrhein-Westfalen wird ein Anspruch der Schülerinnen und Schüler auf individuelle Förderung definiert. Die beschriebenen Trainings müssen sich also auch daran messen lassen, inwieweit sie den Boden bereiten für die Individualisierung des Lernens und damit individuelle Förderung ermöglichen. Eine wesentliche Voraussetzung für individualisiertes Arbeiten sind auf Seiten der Schülerinnen und Schüler die Kompetenzen, deren Erwerb Ziel der Trainings ist. Nur die Schülerinnen und Schüler, die über das Methodenrepertoire des selbstständigen Lerners und dessen Motivation und Zielorientierung verfügen, sind auch in der Lage, außerhalb des gelenkten Unterrichts in der Großgruppe erfolgreich zu arbeiten. Dabei spielen die kommunikativen und sozialen Kompetenzen eine wichtige Rolle; „denn auch individualisiertes Lernen ist ein ko-konstruktiver Prozess, d. h. verkürzt gesagt, wir lernen durch andere.“2 Czerwanski zeigt an gelungenen Beispielen: „Bei der Durchführung individualisierten Unterrichts ist es entscheidend, Zieltransparenz zu schaffen und systematisch an den notwendigen Voraussetzungen der Schülerinnen und Schüler zu arbeiten. Dabei handelt es sich gerade um jene Kompetenzen, die bei der Planung von Lernprozessen oft vernachlässigt werden, weil sie als vorhanden vorausgesetzt werden. Der enge Zusammenhang zwischen diesen Kompetenzen und den Möglichkeiten der Individualisierung wird bisher zu wenig berücksichtigt.“3 1 2 3 Jaitner, T., „Sprachliches Lernen und Schulentwicklung“ in: KöBeS. Kölner Beiträge zur Sprachdidaktik, Reihe A, Heft 4, Duisburg, erscheint voraussichtlich im Sommer 2006 Czerwanski, A., „Voraussetzung für Individualisierung schaffen. Von der Haltung der Lehrenden bis zu den Kompetenzen der Lernenden“ in: PÄDAGOGIK Heft 1, Januar 2006, S. 11 Ebd., S. 14 PISA-Gewinner und Wissenschaftler weisen den Weg. Individualisiertes Lernen beruht auf Basiskompetenzen. 33303.book Seite 132 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 132 | Anschlussfähigkeit Lehrerinnen und Lehrer als Lernberater neue Rolle – neue Zeitbudgets nicht ohne diagnostische Kompetenz Aufgaben der Fächer Baumert: Leistungsheterogenität und Gleichheit der Ansprüche Auf Seiten der Lehrerinnen und Lehrer hat das eigenständigere und individuellere Arbeiten der Schülerinnen und Schüler entscheidend mit der Veränderung ihrer eigenen Rolle zu tun (vgl. Kap. 3.4) – und zwar in doppelter Hinsicht. Der Lehrer und die Lehrerin, die öfter im Alltag eine stärker begleitende und beratende Rolle einnehmen, fördern die Eigenständigkeit der Schülerinnen und Schüler. Umgekehrt ermöglicht die Eigenständigkeit der Schülerinnen und Schüler den Lehrerinnen und Lehrern, das Vertrauen zu entwickeln, dass die unterschiedlichsten Methoden wie z. B. Lernverträge und Förderpläne, Lerntagebücher und Portfolios4 greifen können, weil die notwendigen Voraussetzungen bei den Schülerinnen und Schülern geschaffen sind. Der Kreis schließt sich zur Eingangsbeobachtung dieses Abschnittes, wenn man die Feststellung trifft, dass selbstständiger arbeitende Schülerinnen und Schüler das Zeitbudget der Unterrichtenden entlasten und Freiräume schaffen für die Arbeit mit einzelnen Schülerinnen und Schülern und damit für jegliche Variante individueller Förderung. Neben ausreichend Zeit wird aber auch diagnostische Kompetenz gebraucht. Egal welche Form individuelle Förderplanung haben soll, der Ausgangspunkt für den weiteren Ausbau bereits erreichter Stärken muss genau so präzise bestimmt werden wie die noch zu bearbeitenden Schwächen. Dann ist es auch möglich, in gewissen Zeitabständen zu erheben, ob und wie weit individuelle Fördermaßnahmen Schwächen verringert und Stärken stabilisiert oder vergrößert haben. In diesem Zusammenhang sei noch einmal daran erinnert, was in Kap. 3.4.2 zur Diagnose fachlicher und überfachlicher Kompetenzen gesagt wurde. Auch für die individuelle Förderung gilt: Wenn es um fachliche Kompetenzen geht, ist die individuelle Förderung nicht im Rahmen des in diesem Buch beschriebenen Ansatzes möglich, sondern fällt in den Aufgabenbereich der einzelnen Fächer. Bei aller Leistungsheterogenität darf nicht vergessen werden, dass alle Schülerinnen und Schüler gleiche Ansprüche haben. Baumert fordert unter Hinweis auf die Bildungskommission: „Im Zusammenhang eines universellen Angebots von Lerngelegenheiten und der Logik des individuellen Kompetenzerwerbs zeigt sich, dass Ergebnisgleichheit kein sinnvolles Bildungsprogramm sein kann und dass der Umgang mit Heterogenität im Sinne von Akzeptanz und Förderung von Unterschiedlichkeit zum Kern der schulischen Arbeit gehört. Gleichheitsansprüche werden allerdings dann unabweisbar, wenn man die Frage aufwirft, ob die Schule ihre vornehmste Aufgabe, nämlich die Voraussetzungen für selbstständiges Weiterlernen und eine verantwortungsvolle gesellschaftliche Teilhabe für 4 Vgl. die anderen Artikel des PÄDAGOGIK-Heftes 1, 2006 mit dem Gesamtthema „Individualisierung“ 33303.book Seite 133 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Unterrichtsentwicklung, fachliche Fortbildung und standardorientierte Unterrichtsentwicklung | 133 die gesamte nachwachsende Generation zu sichern, auch tatsächlich erfüllt. Hier zählt Gleichheit – ausnahmslos.“5 7.4 Unterrichtsentwicklung, fachliche Fortbildung und standardorientierte Unterrichtsentwicklung Das vorliegende Konzept zur Unterrichtsentwicklung zielt auf die Entwicklung der Lernkompetenz der Schülerinnen und Schüler. Die in Trainingsspiralen vermittelten Teilkompetenzen lassen sich in vielen Unterrichtsfächern in Lernspiralen anwenden. Darüber hinaus sind fachspezifische Kompetenzen zu erlernen, wie sie z. B. in den Kernlehrplänen beschrieben sind und in Lernstandserhebungen und Abschlussprüfungen eingefordert werden. Dazu ist es sinnvoll, spezifische Fortbildungen für Jahrgangsteams von Fachlehrerinnen und Fachlehrern als Ergänzung der fachübergreifenden Unterrichtsentwicklung anzubieten. Dieses Vorgehen, das zurzeit in verschiedenen Regierungsbezirken Nordrhein-Westfalens vorbereitet wird, nutzt die im Modellvorhaben "Selbstständige Schule" entwickelten internen Lernstrukturen der Schulen. Die auf den vier Trainingsbausteinen zur Unterrichtsentwicklung aufbauenden ergänzenden Fachmodule werden von Arbeitsgruppen aus Fachmoderatoren und Unterrichtsentwicklungs-Trainern gemeinsam entwickelt und den Schulen angeboten, die einen gewissen Entwicklungsstand in der Unterrichtsentwicklung erreicht haben. Ähnlich wie bei den ergänzenden Bausteinen zur Vermittlung von Medienkompetenz, bietet sich für das Lehrertraining ein Moderatorenteam mit je einem Experten/einer Expertin aus beiden Bereichen an. Fachmodule, die ohne die Grundlagen aus der fachübergreifenden Unterrichtsentwicklung angeboten werden, erreichen – wie Fortbildungen in den vergangenen Jahrzehnten – maximal die Fachgruppe einer Schule. Wenn jedoch neue Impulse für die Kompetenzentwicklung nur von einer Fachgruppe aufgenommen werden, gibt es keinerlei Sicherheit dafür, dass Schülerinnen und Schüler einer Klasse in der Entwicklung ihrer Lernkompetenz auch in den anderen Fächern von anderen Lehrkräften gefordert und gefördert werden. Darüber hinaus können dadurch zwar Teamentwicklungsprozesse auf der Ebene der Fachlehrkräfte gefördert werden, aber nicht auf der für die Lernkompetenzentwicklung innerhalb einer Lerngruppe notwendigen Ebene der Klassen-, Jahrgangs- oder Bildungsgangteams. Selbst wenn eine Sekundarschule das Angebot der fachlichen Qualifizierung in den drei Fächern Deutsch, Mathematik und Englisch suchen und erhalten würde, wäre dann systematische Unterrichtsentwick5 Baumert, J. (2006), S. 43 Ein neuer Weg: Fachmodule bauen auf überfachliche Unterrichtsentwicklung auf. Interne Lernstrukturen der Schulen nutzen! Nachteile des traditionellen Weges 33303.book Seite 134 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 134 | Anschlussfähigkeit Fachliche Unterrichtsentwicklung ist nötig! Verhältnis zur „Standardorientierten UE“ lung als Schulentwicklung immer noch eine deutlich über diesen Ansatz der Entwicklung in drei Kernfächern hinausgehende Anforderung. Um jedes Missverständnis zu vermeiden, soll auch an dieser Stelle betont werden, dass fachliche Unterrichtsentwicklung dringend notwendig ist, allerdings als Ergänzung einer alle Lehrkräfte und alle Schülerinnen und Schüler erreichenden überfachlichen Unterrichtsentwicklung. Eine isoliert auf maximal drei Fächer angelegte Unterrichtsentwicklung wird keine die gesamte Schule nachhaltig in Bewegung setzende Schulentwicklung erzeugen. Warum sie die Fachleistungen der Schülerinnen und Schüler eher verbessern können soll als die Fachfortbildungsmaßnahmen der Vergangenheit, erschließt sich ebenfalls nicht zwangsläufig. Die Idee, einen Prozess der fachlichen Fortbildung zu beginnen und später in einem überfachlichen Ansatz aufgehen zu lassen, ist nicht Erfolg versprechend. Schulentwicklungsprozesse sind in der Sekundarstufe schon heute unter anderem deshalb schwierig, weil die Verengung auf das Selbstverständnis als Fachlehrerinnen und Fachlehrer bei vielen Lehrerinnen und Lehrern Veränderungsprozessen im Wege steht. Wenn dieses Selbstverständnis durch einen Schulentwicklungsprozess, der in drei Fächern beginnt, weiter verstärkt wird, wird der später folgende Versuch einer überfachlich orientierten Kompetenzentwicklung auf noch größere Schwierigkeiten stoßen. Vor allem der über die Fachteams hinausgehende Teamgedanke und – noch viel wichtiger für eine veränderte Lernkultur – die Arbeit an der eigenen Lehrerrolle werden durch ein zementiertes Fachlehrerdenken weniger befördert als behindert. Die Frage, welcher von zwei Ansätzen welchem folgen sollte, stellt sich auch, wenn es um das Verhältnis des hier beschriebenen Ansatzes der überfachlichen Entwicklung der Lernkompetenz und der „Standardorientierten Unterrichtsentwicklung (Sekundarstufe I)“ geht, wie sie im Landesinstitut für Schule NRW in Soest erarbeitet wurde. Der auf die Fächer Mathematik, Deutsch und Englisch gerichtete Ansatz stellt eine sinnvolle – auf den Grundlagentrainings des Konzepts zur überfachlichen Unterrichtsentwicklung aufbauende – Ergänzung um notwendige fachliche Kompetenzen dar. Beim Vergleich mit den Trainingsspiralen werden die vielen Schnittstellen in den Modulen zur Veränderung der Lehr- und Lernkultur, der Aufgabenkultur und einiger Förderstrategien schnell deutlich. Das Einbauen bestimmter Fortbildungsmodule der standardorientierten Unterrichtsentwicklung in das Implementationskonzept zur fachübergreifenden Unterrichtsentwicklung wird Schulen nicht schwerfallen, die ein innerschulisches System für das Lernen auf der Ebene der Lehrkräfte entwickelt und eingeführt haben. (vgl. Kap. 4.1 und 4.2.1) 33303.book Seite 135 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 8 Qualitätssicherung 8.1 Schulen evaluieren intern 8.1.1 Evaluationsberaterinnen und -berater Evaluation war eine Zeit lang in manchen Schulen ein Reizwort und wurde dementsprechend als Mode abgetan, die in der nächsten oder spätestens übernächsten Saison vorüber sein würde. Man müsse nur lange genug warten. Allerdings verbirgt sich hinter der Aufforderung an die Schulen, die eigene Arbeit selbst zu evaluieren und von anderen evaluieren zu lassen, ein kompletter Paradigmenwechsel in der Schulentwicklungsdiskussion, der nicht mehr so ohne Weiteres umkehrbar sein wird. In den letzten 20 bis 30 Jahren hat sich nämlich die Erkenntnis durchgesetzt, dass ein noch so guter Input (Lehrerausbildung, Lehrpläne, Ausstattung) offensichtlich nicht notwendigerweise gute Qualität in Schule hervorbringt. Qualität, so weiß man heute, ist eine Leistung der Einzelschule und muss im Kern vor Ort erzeugt werden. Die zunehmende Gestaltung der Schule in und durch die Schule selbst sowie die entsprechende Unterstützung von Seiten der Administration kann als Entwicklung von der Inputsteuerung hin zur Outputsteuerung bezeichnet werden. Gestaltungsfreiräume bedingen, dass in der Schule ein Verständigungsprozess stattfinden muss über die Ziele und die Art der gemeinsamen Arbeit. Dazu bedarf es einer angemessenen Organisation von kollegiumsinterner Kommunikation und von Verfahren einer permanenten Vergewisserung über die eigene Arbeit; denn Gestaltungsfreiräume bedingen auch Rechenschaftslegung. Wenn eine Schule sich in einen so aufwändigen Prozess der systematischen Weiterentwicklung der Qualität des Unterrichts wie den beschriebenen begibt, so wird sie ein Interesse daran haben, sich der Qualität der geleisteten Arbeit immer wieder zu vergewissern und das Erreichte abzusichern. Diesem Ziel dient Evaluation. Evaluation im dargestellten Sinne von Qualitätssicherung richtet sich sowohl auf die gesamtschulische und regionale Qualitätsentwicklung als auch auf die Systematisierung von Selbstreflexion als Teil des professionellen Selbstverständnisses einer jeden Lehrerin und eines jeden Lehrers. Diese systematische Reflexion ist aus zwei Gründen notwendig: Einerseits erfordert die Tätigkeit von Lehrerinnen und Lehrern ein beständiges Überprüfen und Hinterfragen der eigenen Voreinstellungen und Vorurteile – andererseits bedarf die Heterogenität der Schülerschaft einer offenen und entdeckenden Haltung, die immer wieder Neues aufzuspüren bestrebt ist. Von der Input- zur Outputsteuerung Evaluation als Qualitätssicherung Evaluation auf drei Ebenen 33303.book Seite 136 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 136 | Qualitätssicherung Wie entsteht Evaluationskultur? strategische Evaluationskompetenz methodische Evaluationskompetenz Erfahrungen haben allerdings gezeigt, dass die Etablierung einer Evaluationskultur in der Schule weder allein dadurch zustande kommt, dass man die Leitungs- und Steuerungsebenen einer Schule hinsichtlich ihrer speziellen Aufgaben und Rollen im Rahmen der Qualitätsentwicklung der Schule fortbildet und damit die strategische Evaluationskompetenz in der Schule sicherstellt, noch dadurch, dass man lediglich Personen in der Schule mit den notwendigen methodischen Kenntnissen zur Durchführung von Evaluationsvorhaben ausstattet. Vielmehr müssen verschiedene Maßnahmen ineinander greifen. Im Projekt "Selbstständige Schule" gibt es deshalb in den jeweiligen Fortbildungsangeboten für Steuergruppen und Schulleiterinnen und Schulleiter Module zur strategischen Evaluationskompetenz. Sie verfügen damit über das Wissen, warum und wozu Evaluation eingesetzt wird, verbunden mit der Fähigkeit, die übergeordneten Prozesse zu initiieren und zu steuern. Diese Prozesse müssen jedoch auch methodisch begleitet werden. Sogenannte Evaluationsberaterinnen und -berater stellen sicher, dass das methodische Know-how in der Schule vorhanden ist.1 Sie sind Dienstleister für die eigene Schule und arbeiten auf Anforderung. Sie beraten in allen Arbeitsschritten eines Evaluationszirkels: bei der Findung von Kriterien und Indikatoren für die gewünschte Fragestellung, bei der Methodenwahl und der Datenerhebung, bei der Analyse der Daten und Ergebnisse, bei der Interpretation von Ergebnissen. Sie unterstützen Lehrerinnen und Lehrer bei ihren Bemühungen, ihre eigene Arbeit zu evaluieren. Sie arbeiten nicht im Auftrag der Schulleitung, auch nicht im Auftrag der Steuergruppe, sondern ausschließlich im Auftrag des/r Einzelnen oder der Gruppe, die Genaueres über den Erfolg der eigenen Arbeit wissen möchten. Sie leisten also „Hilfe zur Selbsthilfe“. Wenn Evaluation an einer Schule von Schulleitung und Steuergruppe strategisch sinnvoll implementiert und von den Evaluationsberaterinnen und -beratern methodisch gut unterstützt wird, dann kann sie sich zu einem Instrument entwickeln, das der stetigen Verbesserung der schulischen Arbeit und im Kern des Unterrichts dient. Insofern ist sie dann auch integraler Bestandteil von Unterrichtsentwicklung. 8.1.2 SEIS Was ist SEIS? SEIS (Selbstevaluation in Schulen) ist ein Instrument, das die Bertelsmann Stiftung Schulen anbietet, die – ohne selbst aufwändig Instrumente zu entwickeln – wissen möchten, wo sie stehen.2 Sie können das tun, indem sie die Einschätzungen unterschiedlicher Gruppen in der Schule (Schülerin1 2 Zur Qualifizierung dieser Evaluationsberaterinnen und -berater vgl. Herrmann, J./ Höfer, C./Weisker, K. (2004) www.das-macht-schule.de 33303.book Seite 137 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schulen evaluieren intern | 137 nen und Schüler, Lehrerinnen und Lehrer, Eltern, Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter) zu identischen Fragekomplexen miteinander vergleichen, indem sie nach mehrmaligem Einsatz über einige Jahre hinweg ihre eigenen Ergebnisse im Sinne eines Längsschnitts zueinander in Beziehung setzen und so ihre Entwicklung ablesen, und sie können sich mit anderen Schulen unterschiedlicher Referenzgruppen vergleichen. Wichtig für die Schulen ist dabei zweierlei: Das Instrument hat sich in einem internationalen Praxistest bewährt, in Deutschland benutzen es zurzeit (Stand Juli 2006) ca. 1600 Schulen. Die einzelne Schule kann sich also eines bewährten Instruments bedienen. Ebenso bedeutsam ist, dass sie gewiss sein kann, Herrin ihrer Daten zu sein. Es geht nicht um Ranking, es geht nicht um Öffentlichkeit, sondern es geht darum, dass die Schule ihren eigenen Schulentwicklungsprozess einschätzen und planen kann. Um beurteilen zu können, ob SEIS den Prozess der Unterrichtsentwicklung im Kern von Schulentwicklung unterstützen kann, muss man das Qualitätsverständnis betrachten, das dem Instrument zugrunde liegt. Es wurde in einem internationalen Netzwerk mit Experten aus der Wissenschaft und aus der Schulpraxis erarbeitet und wird in fünf Dimensionen mit insgesamt 25 Kriterien beschrieben (vgl. Abb. 23). Während bei der ersten und der letzten dieser Dimensionen Ergebnisse im Blickfeld stehen, beziehen sich die drei mittleren Dimensionen auf die in der Schule ablaufenden Prozesse. Etwa 60 % der den Kriterien zugeordneten Indikatoren betreffen unmittelbar den Unterricht, sie ordnen sich schwerpunktmäßig den Dimensionen I und II zu. Im zugrunde liegenden Leitbild wird die Sach- und Fachkompetenz in ihrer Bedeutung hervorgehoben, ihr zur Seite werden aber andere Kompetenzen gestellt: „Die Qualitätsdimension Erfüllung des Bildungs- und Erziehungsauftrages beschränkt sich jedoch nicht nur auf fachliche Kompetenz, sondern legt ein weitaus umfassenderes Kompetenzmodell zugrunde. Neben der Fachkompetenz stehen Sozial-, Lern- und Methodenkompetenz ebenso wie Selbstkompetenz und praktische Kompetenz. Um lebenslang lernen zu können, müssen Schüler über anwendungsfähiges Wissen und Sachkenntnis verfügen, über ein Repertoire an Kommunikationsfähigkeiten und -fertigkeiten, Arbeits- und Lerntechniken sowie die Fähigkeit zur Reflexion des Gelernten und zur Selbsteinschätzung. Neben dem umfassenden Kompetenzmodell sind die Übergänge zwischen den verschiedenen Institutionen und damit die Vermeidung von Brüchen und Lücken in der Bildungsbiografie der Kinder und Jugendlichen ein fundamentaler Bestandteil dieser Qualitätsdimension, der durch zwei Kriterien abgebildet wird.“3 3 Ebel, C./Grieser, D./Mahlmann J., „Das gemeinsame Qualitätsverständnis als Ausgangspunkt für Schulentwicklung“ in: Stern, C. u. a., Hrsg., Bessere Qualität in allen Schulen. Praxisleitfaden zur Einführung des Selbstevaluationsinstrumentes SEIS in Schulen, Gütersloh 2006, S. 59 f. Qualitätsverständnis 33303.book Seite 138 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 138 | Qualitätssicherung Schulqualität in fünf Dimensionen Bildungs- und Erziehungsauftrag Lernen und Lehren Führung und Management Schulklima und Schulkultur Fach- und Sachkompetenz Lern- und Lehrstrategien Leitbild und Entwicklungsvorstellungen Schulklima Sozialkompetenz Ausgewogener Unterricht Entscheidungsfindung Beziehungen innerhalb der Schule Erfüllung der Bedürfnisse der SchülerInnen (Elternwahrnehmung) Lern- und Methodenkompetenz Bewertung von Schülerleistungen Kommunikation Beziehungen der Schule nach außen Zufriedenheit der LehrerInnen Operatives Management Förderung positiven Verhaltens Praktische Kompetenz Motivation und Unterstützung Unterstützungssystem für SchülerInnen Erfüllung der Anforderungen aufnehmender Schulen Planung, Implementierung und Evaluation Erfüllung der Anforderungen der Berufswelt Personalentwicklung Selbstkompetenz und Fähigkeit zu kreativem Denken Zufriedenheit Erfüllung der Bedürfnisse der SchülerInnen (Schülerwahrnehmung) ©©Selbstständige Bertelsmann Stiftung Schule Abb. 23: Schulqualität in fünf Dimensionen Die leeren Rechtecke symbolisieren die mögliche Ergänzung durch schulindividuelle oder regionenspezifische Fragestellungen. Es gibt demnach grundsätzliche Überschneidungspunkte zum beschriebenen Konzept der Unterrichtsentwicklung. SEIS kann in seiner standardisierten Form einer Schule in verschiedenen Phasen bezüglich Unterrichtsentwicklung dienlich sein. Bestimmte Fragestellungen der SEIS-Fragebögen können im Sinne einer Eingangserhebung genutzt werden, um einige Hinweise dafür zu bekommen, in welchen Bereichen am Unterricht gearbeitet werden muss. SEIS kann aber auch genutzt werden, wenn der Prozess der Unterrichtsentwicklung bereits begonnen hat oder schon weiter fortgeschritten ist, um mögliche Fortschritte datengestützt beschreiben zu können und konkrete Hinweise zur Optimierung der Umsetzungsarbeit zu erhalten. Sollten der einzelnen Schule die durch das Standardinstrument zu erhebenden Daten für ihre weitere Arbeit nicht detailliert oder passgenau genug sein, so hat sie die Möglichkeit, sie in einem gewissen Umfang durch schulindividuelle Fragestellungen zu ergänzen. (Das gilt auch für regionenspezifische Fragestellungen.) SEIS erzeugt Prozessdaten und erhebt keine Schülerleistungen, aber die Ergebnisse von SEIS können mit den der Schule vorliegenden Daten aus den jährlichen Lernstandserhebungen und in den Sekundarschulen ab 2007 auch mit den Ergebnissen aus den zentralen Abschlussprüfungen verknüpft werden. 33303.book Seite 139 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schulen werden extern evaluiert | 139 Es bleibt festzuhalten: SEIS gewährt einen Blick auf die Schule als Gesamtsystem im Sinne einer „Flächenbohrung“. Fragt man nach einzelnen Maßnahmen oder fragt der Einzelne nach der Wirksamkeit seiner Arbeit, dann muss Evaluation in dem Sinne betrieben werden, wie sie in Kap. 8.1.1 beschrieben wird, also im Sinne einer „Tiefenbohrung“. 8.2 SEIS als Flächenbohrung Schulen werden extern evaluiert 8.2.1 Lernstandserhebungen Im Herbst 2004 haben alle Schulen in NRW, auch die Projektschulen, erstmals Lernstandserhebungen durchgeführt, und die Bedenken in den Schulen waren groß. Lernstandserhebungen sind ein neues DiagnoseInstrument. Anschließend ist nun „Therapie“ gefragt. Schulen fühlen sich weitgehend allein gelassen bei der Frage, wie sie die Ergebnisse der Lernstandserhebungen interpretieren und daraus praktische Konsequenzen für den alltäglichen Unterricht ableiten und umsetzen können. Das in diesem Band dargestellte Programm zur Unterrichtsentwicklung bietet einen „ganzheitlichen“ Ansatz. In den folgenden Abschnitten werden Überlegungen aufgegriffen, die in Kap. 7.4 zum Thema „Anschlussfähigkeit“ erstmals auftauchen und hier noch einmal etwas ausführlicher dargelegt werden sollen. Bildungsstandards sind eine der deutschen Antworten auf den TIMSSPISA-Schock und trafen im Schuljahr 2004/05 in der Form von Lernstandserhebungen ganz konkret auf den Alltag von nordrhein-westfälischen Schulen. Mithilfe von Lernstandserhebungen soll u. a. evaluiert werden, ob die Bildungsstandards, die in den aktuellen Kernlehrplänen für die Grundschule und die Sekundarstufe I ihren Ausdruck finden, zu bestimmten Zeitpunkten der Schülerlaufbahn erreicht werden. Mit dieser Setzung vollzieht sich die erwähnte bildungspolitische Umsteuerung: Was ein(e) Schüler(in) lernt, orientiert sich in erster Linie nicht mehr an vorgegebenen Inhalten, sondern an zu erreichenden Ergebnissen. Diese Ergebnisse werden als Kompetenzen beschrieben und sind an bestehende Fächer angebunden.4 Auch die Bildungsstandards beziehen sich auf den Weinert’schen Kompetenzbegriff (vgl. Kap. 2.2). Klieme weist darauf hin, dass diese Definition inzwischen „in Deutschland zum Referenzzitat geworden“ sei, „auf das 4 PÄDAGOGIK, Heft 6, Juni 2004 mit dem Titel „Standardisierung konkret“ stellt die Kontroverse um Bildungsstandards dar. Bildungsstandards 33303.book Seite 140 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 140 | Qualitätssicherung KMK-Standards definieren Kompetenzen für Schulfächer. Unterrichtsentwicklung beginnt bei überfachlichen Kompetenzen. Was folgt auf die Diagnose? sich viele Bemühungen um Bildungsstandards und Kompetenzmodelle beziehen.“5 Die KMK hat daraus den Beschluss abgeleitet, mit ihren Standards Kompetenzen für bestimmte Schulfächer zu definieren. Dafür werden sowohl pragmatische Überlegungen (Anschlussfähigkeit an die Tradition der Lehrplanarbeit und die Ausbildungs- und Kompetenzstruktur der Lehrerinnen und Lehrer) als auch lernpsychologische Überlegungen angeführt, womit hier der Zweifel an der Transferierbarkeit von Schlüsselqualifikationen gemeint ist.6 Lernstandserhebungen sollen das Erreichen bestimmter Standards von fachlichen Kompetenzen überprüfen. Die im Projekt "Selbstständige Schule" angebotenen Trainings für Lehrerinnen und Lehrer und in der Folge für Schülerinnen und Schüler setzen dagegen bei den überfachlichen Kompetenzen an. Es ist bereits dargestellt worden, dass damit keineswegs der Vorschlag verbunden ist, überfachliche Kompetenzen außerhalb der traditionellen Schulfächer, Bereiche oder Lernsituationen zu lehren und zu lernen, also womöglich ein Fach „Lernen lernen“ zu etablieren. Die Entscheidung dafür, in den Trainings zuerst Grundlagen bei überfachlichen Kompetenzen zu legen, basiert vielmehr auf den erläuterten Erkenntnissen über Schulentwicklungsprozesse und (damit eng verbunden) lernpsychologischen Überlegungen, die sowohl Schülerinnen und Schüler als auch Lehrerinnen und Lehrer betreffen. Hier sei an die Vorteile der „professionellen Lerngemeinschaften“ von Lehrerinnen und Lehrern erinnert und die Effektivitätssteigerung des Lernens auf Seiten der Schülerinnen und Schüler, wenn Lernangebote erkennbarer und systematischer miteinander verknüpft werden. Diagnostizieren und „ganzheitlich therapieren“ Die Lernstandserhebungen in NRW werden in den drei Fächern Deutsch, Englisch und Mathematik durchgeführt. Sie sind Diagnose-Instrumente, die einen landesweiten Vergleich ermöglichen und dennoch den Schulen mit ihren eigenen Profilen gerecht werden sollen. VERA und LSE7 sollen den Schulen ein Werkzeug bieten, mithilfe dessen sie die Ergebnisse ihrer Arbeit einschätzen und sich im Vergleich zu anderen Schulen verorten können. Sie werden zwar als „Instrumente zur Verbesserung des Unterrichts und seiner Ergebnisse“8 bezeichnet. Über eine „Therapie“ ist jedoch damit nichts ausgesagt, wenn denn die Diagnose ergeben sollte, dass Maß- 5 6 7 Klieme, E., „Was sind Kompetenzen und wie lassen sie sich messen?“, im o. a. PÄDAGOGIK-Heft, S. 12 Vgl. Klieme, E. (06/2004) Vergleichsarbeiten in der Grundschule bzw. Lernstandserhebungen in Stufe 9 der weiterführenden Schulen 33303.book Seite 141 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schulen werden extern evaluiert | 141 nahmen einzuleiten sind.9 „Therapie“ meint hier den aktiven Umgang mit Daten und Erkenntnissen, die verbessernde Maßnahmen nahelegen. Die Tatsache, dass nur in drei Fächern getestet wird, wird in vielen Fällen vor allem zu Maßnahmen führen, die auf fachdidaktisch und fachmethodisch begründeten Verbesserungsvorschlägen für genau diese Fächer beruhen. Falls sich jedoch die Maßnahmen auch längerfristig ausschließlich auf diese drei Fächer beschränken, muss das als zu kurz gegriffen betrachtet werden. Falls jedes der drei Fächer zu grundsätzlich unterschiedlichen Therapiemaßnahmen greift, muss das als bedenklich, weil häufig kontraindiziert, betrachtet werden. In jedem Fall aber sollten die Maßnahmen nicht punktuell und kurzfristig konzipiert sein, sondern als grundständiges, systematisches, langfristiges Programm angelegt, das eine nachhaltige Entwicklung garantiert und jeden Schüler und jede Schülerin erreicht. Wenn sich bei den ab kommendem Schuljahr in den Stufen 3 oder 8 erhobenen Daten Erkenntnisse ergeben, die Veränderungen notwendig erscheinen lassen, muss das von den zukünftigen Jahrgängen 1 bzw. 5 an zu Folgen im Fachunterricht führen, also vom gesamten System aufgenommen werden. Scheinbar schnell greifende Maßnahmen sind auch deshalb fraglich, weil sich die Standards selbst noch in der Entwicklung befinden. Steinert und Klieme konstatieren: „Die Fundierung und Operationalisierung der Standards an fachdidaktisch begründeten und empirisch validierten Kompetenzmodellen steht noch aus, weil entsprechende Aufgabenpools und Testinstrumente z.T. erst entwickelt und an entsprechenden Stichproben überprüft werden müssen.“10 Damit sollte auch die Gelassenheit möglich sein, Bildungsstandards im Sinne Kliemes eher als „Instrument der Zielklärung und dann erst ein Diagnoseinstrument“ zu verstehen. „Sie fordern dazu heraus, sich innerhalb der Schule zu verständigen, worauf es 8 Burkard, C./Orth, G., „NRW entwickelt das System der Lernstandserhebung zu Beginn der Klassen 4 und 9 weiter“ in: SchulVerwaltung NRW Nr. 4/2004, S. 100. Dort heißt es an anderer Stelle: „Gemeinsam mit weiteren Ergebnissen schulinterner Evaluation (bspw. im Rahmen der Schulprogrammarbeit) stellen Lernstandserhebungen eine aussagekräftige Datengrundlage für die Schul- und Unterrichtsentwicklung dar.“ 9 Vgl. Steinert, B./Klieme, E., „Was kommt mit der Einführung der KMK-Bildungsstandards auf die Schulen zu?“ in: SchulVerwaltung NRW Nr. 2/2004, S. 39: „Zur Lösung der Probleme reicht es selbstverständlich nicht aus, Erwartungen an die Lernresultate zu formulieren und deren Einhaltung zu überprüfen. Die Ergebniserwartungen (= Bildungsstandards) müssen ergänzt werden um Maßnahmen der Schul- und Unterrichtsentwicklung und der Förderung von Schülerinnen und Schülern mit besonderem Unterstützungsbedarf.“ 10 Ebd., S. 41 systematisch und langfristig statt punktuell und kurzfristig! Entwicklungen brauchen Zeit. 33303.book Seite 142 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 142 | Qualitätssicherung VERA und LSE unterstützen UE. „Ganzheitlichkeit“ ankommt, was wir für alle Schüler sichern wollen, welche Kompetenzen wir in welchen Schritten fördern wollen.“11 Mit Gelassenheit sollten auch jene Schulen auf Lernstandserhebungen reagieren können, die sich bereits in einem systematischen Prozess der Unterrichtsentwicklung befinden. Lernstandserhebungen können ihnen helfen, das Erreichte zu überprüfen und evtl. Neujustierungen vorzunehmen. Sie könnten den Blick der Fachteams auf die Pflegemaßnahmen und die Anwendungsmöglichkeiten für selbstständiges Lernen in den drei beteiligten Fächern fokussieren. Vor der Einführung der Lernstandserhebungen waren Schulen bei der Unterrichtsentwicklung nur begrenzt in der Lage in eigener Regie zu evaluieren, wie weit und wie sicher die Schülerinnen und Schüler bestimmter Lerngruppen die in Sockeltrainings und Pflegemaßnahmen vermittelten Kompetenzen erreicht hatten. Wenn die Ergebnisse und konkreten Aufgabenstellungen aus diesem Blickwinkel analysiert werden, stehen heute Erkenntnisse zum Optimierungsbedarf in den Jahrgangsstufen vor den Lernstandserhebungen zur Verfügung. In jeder Aufgabe der Lernstandserhebungen werden nämlich auch Kompetenzen aus der überfachlichen Unterrichtsentwicklung gefordert. Das im Projekt angebotene Konzept von Unterrichtsentwicklung eignet sich als Antwort nicht nur für Schulen, die LSE und VERA zu der Erkenntnis gebracht hat, dass in vielen Bereichen Unterricht grundsätzlich verbessert werden muss, sondern es eignet sich auch für Schulen, die nach den Lernstandserhebungen differenzierte Aussagen über Stärken und Schwächen machen können, weil es ein Konzept ist, das an unterschiedlichen Punkten ansetzen kann, unterschiedliche Bereiche akzentuieren kann. Es ist anschlussfähig und adaptierbar – ohne dass dabei schulindividuell erfolgreiche Traditionen verlassen werden müssen. Gleichzeitig wird aber eine umfassende und systematische Unterrichtsentwicklung als Schulentwicklung ermöglicht. In diesem Sinne meint „Ganzheitlichkeit“ (fernab des Mythos) die Anschlussfähigkeit an schulindividuelle Wege und Profile, einen systematischen Prozess, z eine Entwicklung, die langfristig alle Schülerinnen und Schüler mit ihren jeweils individuellen Fähigkeiten erreicht und z einen Prozess der Reorganisation von Schule mit dem Ziel, die Lernund Arbeitsbedingungen von Schülerinnen und Schülern sowie Lehrerinnen und Lehrern bestmöglich zu gestalten. z z 11 Interview mit E. Klieme „Bildungsstandards: Motivation, Interesse, Wissen und Handlungsfähigkeit“ in: Neue Lernkultur. Netzwerkzeitung für die pädagogische Schulentwicklung 04/2004, S. 4 33303.book Seite 143 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schulen werden extern evaluiert | 143 Werden Lernstandserhebungen und Unterrichtsentwicklung so aufeinander bezogen, dann dürften auch die Befürchtungen von Rolff nicht mehr zutreffen, dass das passieren könnte, was Regelstandards12 möglicherweise induzieren: „Das Niveau wird erhöht, aber man tut nichts für die Schulen selber: für die Schulentwicklung, für die Unterstützung der Lehrkräfte und eine bessere Lehrerausbildung […]. Karl Kraus hat einmal gesagt: Das Niveau wird höher, aber die Schule nicht besser.“13 Karl Kraus möge widerlegt werden! 8.2.2 Kernlehrpläne und standardisierte Abschlussprüfungen Infolge der Verständigung der KMK auf bundesweite Bildungsstandards wurden in Nordrhein-Westfalen 2003 neue Lehrpläne für die Primarstufe und 2005 Kernlehrpläne für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch für alle Schulformen der Sekundarstufe I sowie ergänzend für das Gymnasium Französisch und Latein ab Klasse 5 in Kraft gesetzt. Sie folgen dem Paradigmenwechsel zur Orientierung an zu erreichenden Kompetenzen. Damit werden die Ergebnisse definiert, die im Unterricht erreicht werden müssen. In den Richtlinien der Grundschule werden fachliches und fachübergreifendes Lernen als wesentliche Voraussetzung für selbstständiges Lernen genannt.14 Ziele des Konzepts zur Unterrichtsentwicklung finden sich als Kernanforderung in den Richtlinien wieder: „Durch fachliches und fächerübergreifendes Lernen werden Schlüsselqualifikationen als grundlegende Kompetenzen und Einstellungen angebahnt [...]“15. Spezifische Schnittstellen sind zu erkennen, wenn man die Anforderungen für die Fächer Deutsch und Mathematik am Ende von Klasse 2 und die aller Fächer am Ende von Klasse 4 mit den Kompetenzen vergleicht, die in den Trainingsspiralen aufgebaut werden. Lehrerinnen und Lehrer sind aufgefordert, während der Grundschulzeit „[...] Wert auf eigenständiges und selbstverantwortliches Lernen“ zu legen. Dazu „[…] bietet der Unterricht sowohl Gelegenheit zum Lernen in angeleiteter Form als auch in offenen Lernformen, in denen Kinder selbst planen, entdecken […] und ihre Arbeiten bewerten. […] In diesen Zusammenhang gehören auch die Arbeit nach 12 Die von der KMK beschlossenen Bildungsstandards sind Regelstandards – man hat sich gegen Mindeststandards entschieden. Zur Diskussion um Standards als Durchschnittsoder Regelgröße bzw. als Minimalstandards vgl. auch Böttcher, W., „Was können Bildungsstandards und Kerncurricula bewirken“ in: Pädagogische Führung, 15. Jg., Heft 1, Februar 2004, S. 38–41 13 Rolff, H.-G., „Nationale Bildungsstandards“ in: Institut für Bildungsmedien e. V., Hrsg., Bildung und Ausbildung in Deutschland. Bildungspolitik, Lernforschung, Schulorganisation: Stand der aktuellen Diskussion. Eine Dokumentation zum „forum bildung“ didakta 2004, Frankfurt a. M. 2004, S. 15 14 Vgl. MSJK NRW (2003), S. 15 15 Ebd., S. 17 Kernlehrpläne Grundschule und UE 33303.book Seite 144 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 144 | Qualitätssicherung Kernlehrpläne Sek. I und UE einem Wochenplan, die Freie Arbeit sowie Formen der Projektarbeit. […] Indem bei der Arbeit an unterschiedlichen Aufgaben auch das Lernen zum Thema wird, gewinnen Schülerinnen und Schüler Verständnis für ihre Lernwege. Sie lernen Erfolg versprechende Methoden anzuwenden, sie erwerben und wenden Lernstrategien problemlösend an, sie erkennen den Sinn von Umwegen und lernen aus Fehlern. Das Lernen zu lernen und ein Leben lang lernfähig zu bleiben, ist für das Leben in der heutigen Gesellschaft von besonderer Bedeutung.“ 16 Auch die Kernlehrpläne für die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch in der Sekundarstufe I formulieren erwartete Kompetenzen am Ende der Jahrgangsstufen 6, 8 und 10. Die Anforderungen am Ende der Sekundarstufe I benennen zum Beispiel in Deutsch die entsprechenden Methoden und Arbeitstechniken sowie Lesetechniken und -strategien. Das im Kernlehrplan für die Förderung des selbstständigen Arbeitens im Deutschunterricht empfohlene Vorhaben steht in enger Verbindung mit den beschriebenen Verfahren. Damit ergeben sich auch mit den Kernlehrplänen der Sekundarstufe I Übereinstimmungen, die zum Teil sehr groß sind. Allerdings variiert der Grad der Übereinstimmung mit dem Konzept der Unterrichtsentwicklung in den Fächern stärker als in den Grundschullehrplänen. Die zu Beginn deutliche Diskrepanz zwischen dem kompetenzorientierten Ansatz der Unterrichtsentwicklung und den inhaltslastigen Lehrplänen ist heute aufgelöst. So erübrigen sich Diskussionen in Kollegien, bei denen immer wieder kritisch auf dieses Missverhältnis zu den verbindlichen „alten“ Lehrplänen hingewiesen wurde. Nach der Einführung der Lernstandserhebungen (vgl. Kap. 8.2.1) mit einem stärker diagnostischen Schwerpunkt werden in Nordrhein-Westfalen im Jahr 2007 erstmalig zentrale Abschlussprüfungen am Ende der Sekundarstufe I in allen Schulformen durchgeführt. Sie sind ein weiteres Qualitätssicherungsinstrument und betreffen die Fächer Deutsch, Mathematik und Englisch. Basis sind die neuen Kernlehrpläne. Der erste von zwei Teilen der schriftlichen Prüfung wird die vom Jahrgang 5 an aufgebauten Kompetenzen prüfen. Zukünftig werden die im achten Schuljahr durchgeführten Lernstandserhebungen der einzelnen Lehrkraft und der Schule insgesamt zurückmelden, inwieweit ihr die Vermittlung wichtiger Kompetenzen gelingt. Die zentralen Prüfungen werden zumindest in den drei beteiligten Fächern zu einem zweiten Zeitpunkt eine weitere Möglichkeit zur Feststellung der für den einzelnen Schüler bzw. die einzelne Schülerin erreichten Kompetenzen sein. 16 Ebd. 33303.book Seite 145 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schulen werden extern evaluiert | 145 Im Rahmen solcher Abschlussprüfungen wurde in Baden-Württemberg ein Weg gefunden, nicht nur fachliches Wissen, sondern auch z. B. Sozialverhalten und Arbeitsverhalten in die Abschlussnote einzubeziehen, indem eine Projektprüfung eingeführt wurde.17 Projektprüfung 8.2.3 Qualitätsanalyse bzw. Schulinspektion Interne Evaluation als Einzelmaßnahme oder als Systemcheck, Leistungstests und standardisierte Abschlussprüfungen – zukünftig werden all diese Maßnahmen auch noch ergänzt durch externe Evaluation in der Gestalt von regelmäßigen Qualitätsanalysen (so die neue Bezeichnung für Schulinspektionen in NRW). Zum einen konkretisiert sich hier die Pflicht der selbstständiger werdenden Schulen mit wachsenden Gestaltungsfreiräumen zu regelmäßiger Rechenschaftslegung auch gegenüber der Schulaufsicht und der (Schul)Öffentlichkeit – in Anlehnung an die Praxis in den meisten der bei PISA und IGLU erfolgreichen Staaten.18 Zum anderen können Qualitätsanalysen den Außenblick liefern, den sich öffentliche und private Unternehmen mit externen Beratern einkaufen. Fachleute, die der Einzelschule nicht verbunden sind, richten ihr Augenmerk auf den gesamten Prozess der schulischen Arbeit und erstellen einen Bericht, der die aus Leistungserhebungen gewonnenen Daten zu einem vollständigeren Bild von der Schule ergänzt. Es geht dabei ausdrücklich nicht um die Arbeit der einzelnen Lehrkraft, sondern um die Stärken und Schwächen der Schule als System. Wenn es gelingt, den organisatorischen Ablauf und die gesamte Durchführung so zu gestalten, dass die Schule den Eindruck gewinnt, dass critical friends ihnen helfen, die Wirksamkeit ihrer Arbeit besser einzuschätzen, dann kann die Qualitätsanalyse ein weiteres wichtiges Instrument für die Schulentwicklung sein, das der Schule hilft und ihr wertvolle Hinweise zur Verbesserung ihrer Arbeit gibt. In einer vergleichenden Studie zu erfolgreichen Schulsystemen stellt Döbert die Akzeptanz von Evaluation als wichtige Gelingensbedingung für bildungspolitische Veränderungen dar – ebenso wie ein gutes Unterstützungssystem: „Developing an understanding among teachers that evaluations serve primarily as a development system for their own classroom practice and not as a judgement system with punitive consequences appears to be a central theme 17 18 Vgl. www.schule-bw.de/schularten/hauptschule/abschlusspr Vgl. Döbert, H./Sroka, W., „Essential results of the comparative analysis and hypothetic correlations“ in: Döbert, H./Sroka, W., Features of Successful School Systems. A Comparison of Schooling in Six Countries, Münster 2004, S. 152: „System monitoring is a regularly applied means in successful school systems; in addition to student performance, the basic condition of learning, education biographies, motives, social competences, etc. are also taken into account. […]“ Zwei Gründe critical friends? 33303.book Seite 146 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 146 | Qualitätssicherung internationale Erfahrungen Qualitätstableau of the reference countries’19 educational policies, as does associating this endeavour with support systems that are used in a well-targeted manner and with specific time-frames for conducting evaluations.“20 Grundlage einer Qualitätsanalyse muss ein veröffentlichtes Verständnis von Qualität sein, eine Definition von „guter Schule“, die sich an beobachtbaren Kriterien festmacht. Unter Verweis auf die Arbeit der internationalen Inspektorenvereinigung21 konstatiert Fuchs: „Die wissenschaftliche Entwicklung der Kernkriterien von Schulqualität kann als abgeschlossen angesehen werden.“22 In vielen deutschen Bundesländern gibt es entsprechende Entwicklungen – so auch in NRW.23 Zum Zeitpunkt der Redaktion dieses Textes (Juli 2006) wird die Definition der Unterrichtsqualität für Nordrhein-Westfalen an Hilbert Meyers „Zehn Merkmale guten Unterrichts“ orientiert: „klare Strukturierung – echte Lernzeit – lernförderliches Klima – inhaltliche Klarheit – sinnstiftendes Kommunizieren – Methodenvielfalt – individuelles Fördern – intelligentes Üben – transparente Leistungserwartungen – vorbereitete Umgebung“.24 Es kann nicht verwundern, dass diese zehn Merkmale eine hohe Affinität aufweisen zu den Definitionen, die als Grundlage des Konzepts zur Unterrichtsentwicklung in der Broschüre „Lehren und Lernen für die Zukunft – Guter Unterricht und seine Entwicklung im Projekt ‘Selbstständige Schule’“25 festgelegt sind. Das bedeutet, dass Schulen, die Unterrichtsentwicklung im Sinne dieses Konzepts systematisch betreiben, einer Qualitätsanalyse gespannt entgegensehen können. Die Teams der Qualitätsanalyse evaluieren sechs Qualitätsbereiche (Stand Juli 2006)26: z 19 Ergebnisse der Schule – Abschlüsse – Fachkompetenzen – Personale Kompetenzen – Schlüsselkompetenzen – Zufriedenheit der Beteiligten Kanada, Finnland, Frankreich, Schweden, Großbritannien, Niederlande Döbert, H./Sroka, W., (2004), S. 153 21 www.sici.org.uk 22 Fuchs, W., „Schulinspektion – Motor der Entwicklung selbstverantwortlicher Schulen“ in: SchulVerwaltung NRW, Nr. 5/2005, S. 135 23 Zum Stand der Schulinspektion in den einzelnen Bundesländern vgl. www.dbs.schule.de/zeigen.html?seite=2652 24 Meyer, H. (2004), S. 17 25 Vgl. Anm. 20 26 www.bildungsportal.nrw.de/BP/Schule/Qualitaetssicherung/Qualitaetsanalyse/ Das_Qualitaetstableau.doc, Stand 31.7.2006 20 33303.book Seite 147 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schulen werden extern evaluiert | 147 z z z z z Lehren und Lernen – Unterricht – Schulinternes Curriculum – Leistungskonzept – Leistungsanforderung und Leistungsbewertung – Unterricht – Fachliche und didaktische Gestaltung – Unterricht – Unterstützung eines aktiven Lernprozesses – Unterricht – Lernumgebung und Lernatmosphäre – Individuelle Förderung und Unterstützung – Schülerbetreuung Schulkultur – Lebensraum Schule – Soziales Klima – Ausstattung und Gestaltung des Schulgebäudes – Partizipation – Außerschulische Kooperation Führung und Schulmanagement – Führungsverantwortung der Schulleitung – Unterrichtsorganisation – Qualitätsentwicklung – Ressourcenverwaltung – Arbeitsbedingungen Professionalität der Lehrkräfte – Personaleinsatz – Weiterentwicklung beruflicher Kompetenzen – Kooperation der Lehrkräfte Ziele und Strategien der Qualitätsentwicklung – Schulprogramm – Schulinterne Evaluation – Umsetzungsplanung/Jahresarbeitsplan Wenn die Schulinspektion oder Qualitätsanalyse zu einem für die Einzelschule nutzbaren und in der Einzelschule akzeptierten Instrumentarium der Schulentwicklung werden soll, was in einer konkreten innerschulischen Handlungsplanung Ausdruck findet, dann müssen die in der Schule genutzten Instrumente der Selbstevaluation kompatibel sein mit der externen Evaluation. Umgekehrt steigen Nutzen und Akzeptanz, wenn die Qualitätsanalyse die ihr vorliegenden Ergebnisse und Erkenntnisse aus eigenverantworteten internen Evaluationsvorhaben nutzt und in die Gesamtbewertung einbezieht. Schulen, die auf eine elaborierte Praxis der Selbstevaluation zurückgreifen können, werden dem Team der Qualitätsanalyse mit ihrem Portfolio eigene Daten zur Verfügung stellen können, die extern überprüft oder im Sinne der Metaevaluation extern bewertet werden können. Wenn die Daten und Ergebnisse der schuleigenen Evaluationen z. B. zur Unterrichts- Selbstevaluation und Fremdevaluation 33303.book Seite 148 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 148 | Qualitätssicherung Qualitätstableau und UE entwicklung in überzeugenden Verfahren gewonnen sind, wird die Qualitätsanalyse sie sicherlich genauso in die Gesamtbewertung aufnehmen wie die Daten aus LSE und VERA und die Ergebnisse der zukünftigen Abschlussprüfungen in der Sekundarstufe I und der Sekundarstufe II. Im Zusammenhang mit der Qualitätsanalyse könnte den internen Evaluationsanstrengungen zukünftig auch eine verbindlichere Bedeutung zukommen. Das würde dann zu einer größeren Anforderung an die Evaluationsberaterinnen und -berater führen (vgl. Kap. 8.1.1). Für das Land Niedersachsen z. B. wurde die Vorentscheidung getroffen, dass die Ergebnisse der Selbstevaluation, die mit dem Instrument SEIS gewonnen werden, eingebunden werden in die externe Evaluation. Ein Abgleich des niedersächsischen Qualitätsrahmens mit dem Qualitätsverständnis von SEIS ergibt, dass beide zwar nicht deckungsgleich sind, die Schnittmenge aber außerordentlich groß ist, auch wenn die Anordnung der Dimensionen und Kriterien differiert.27 Niedersachsen hat außerdem für die SEIS-Fragebögen eine zusätzliche Dimension entwickelt, die für das Land bedeutsame Aspekte enthält. Erste Berichte nach einem knappen Jahr der Erfahrungen mit Schulinspektionen lassen auf positive Effekte einer inhaltlich abgestimmten internen und externen Evaluation hoffen, wenn die Schulen die Ergebnisse in eine konkrete Handlungsplanung münden lassen und wenn als wichtige Säule ein effizientes Unterstützungssystem hinzukommt, das den Schulen nach der differenzierten Diagnose bei der passgenauen Therapie hilft.28 Für Nordrhein-Westfalen ist dieser Diskussionsprozess zur Anpassung der Instrumente interner und externer Evaluation gerade in die Wege geleitet worden. Die Qualitätsanalyse befindet sich nach Pilotprojekten zurzeit in der Erprobungsphase und soll im Schuljahr 2006/07 eingeführt werden. Nach den vorliegenden Qualitätsrahmen werden die Fragen nach den Kompetenzen, die die vorgestellten Trainings bei den Schülerinnen und Schülern auszubilden helfen, in vielen Teilbereichen gestellt, wenn auch unter begrifflich unterschiedlich gefassten Überschriften. Gemäß dem nordrhein-westfälischen Tableau wird sowohl nach der fachlichen und didaktischen Gestaltung des Unterrichts als auch nach der Unterstützung eines aktiven Lernprozesses gefragt werden. Die Ergebnisse der schulischen Arbeit werden nicht nur in Abschlüssen und dem Erfolg bei zentralen Prüfungen und Wettbewerben ausgewiesen, sondern auch im erkennbaren Erwerb von so genannten personalen Kompetenzen und Schlüsselkompetenzen. 27 www.kooperation-das-macht-schule.niedersachsen.de/Handreichung%20Schnittstellen.pdf 28 Vgl. Homeier, W., „Schulinspektion konkret – am Beispiel des Theodor-Heuss-Gymnasiums in Wolfsburg“ in: SchulVerwaltung NRW Nr. 2/2006, S. 43–46 33303.book Seite 149 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Regionale und landesweite Qualitätssicherung der Trainings | 149 Interessant für die Bewertung des beschriebenen Ansatzes zur Unterrichtsentwicklung sind die ersten Erkenntnisse aus Inspektionen. Die dabei identifizierten Entwicklungsbedarfe sind offensichtlich in allen Bundesländern, die Inspektionen durchführen, gleich und entsprechen auch den Erfahrungen aus den zwei Pilotphasen der Qualitätsanalyse in Nordrhein-Westfalen: Lehrerkooperation, Diagnosekompetenz, z Differenzierung im Unterricht – individuelle Förderung, z selbst gesteuertes Lernen (Methodenkompetenz, Kooperation der Schülerinnen und Schüler, Präsentation der Lernergebnisse, Schülerhelfersysteme), z methodische Vielfalt des Unterrichts (Monokultur lehrerzentrierten Unterrichts). z z Mit den Trainings wird also den Schulen Hilfe angeboten in zentralen Bereichen, in denen sie die Qualität ihrer Arbeit verbessern müssen. 8.3 Regionale und landesweite Qualitätssicherung der Trainings Die Ergebnisse von SEIS können – in aggregierter Form, sodass die Einzelschule das Exklusivrecht auf ihre Daten nicht verliert – für eine regionale Bildungsberichterstattung genutzt werden und damit wichtige Daten für die Gestaltung und Steuerung der Bildungsregion liefern. So können sich z. B. Informationen ergeben, die das Angebot der Trainings qualitativ und quantitativ beeinflussen. Auch die Qualitätsanalyse könnte den regionalen Kontext zurückspiegeln. Auf regionaler Ebene allein wird aber die Sicherung der Qualität der Trainings nicht gewährleistet werden können. Qualitätssicherung schließt immer auch Qualitätsentwicklung ein, die sich an veränderten Anforderungen und an neuen wissenschaftlichen Erkenntnissen orientiert und auf Ergebnisse von Evaluation reagiert. Diese Arbeit wird nicht von regionalen Trainerarbeitskreisen geleistet werden können, zumal das Land die zentrale Verantwortung in diesem wichtigen Feld der Schulentwicklung behalten muss. Deshalb wird die Aufgabe, die für die im Projekt angebotenen Trainings zurzeit vorrangig von einem Ausbilderarbeitskreis im Regierungsbezirk Detmold wahrgenommen wird, zukünftig an einem landesweit tätigen Institut angesiedelt sein. Dort können dann auch umfangreichere Studien zur Evaluation der Trainings und ihrer Wirkungen angesiedelt werden. Eine solche Studie wird gegenwärtig z. B. vom Amt für Lehrerbildung in Hessen für in Ansatz und Intention verwandte Trainings nach dem Konzept von Klippert erstellt. Sie schließt methodisch an die Studie von Holtappels und Leffel- regionale Bildungsberichterstattung zentrale Verantwortung für Qualitätssicherung 33303.book Seite 150 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 150 | Qualitätssicherung verlässliche Rahmenbedingungen send am Ende des Projektes "Schule & Co." an und dokumentiert ausgesprochen positive Ergebnisse zur Kooperation von Schülerinnen und Schülern, zur Textarbeit und zum Präsentieren von Arbeitsergebnissen. Die Studie ist bis 2008 angelegt, um auch mittelfristige Effekte beschreiben zu können, aber als erstes Zwischenergebnis halten die Autoren fest: „Die ausgewählten Befunde verdeutlichen: Das Qualifizierungsprogramm ,Methodenkompetenz‘ führt bei Schülerinnen und Schülern offenbar nicht nur zu einer Verbesserung fachbezogener Lern- und Arbeitstechniken im engeren Sinn, sondern auch zu einer Erweiterung darüber hinaus gehender Kompetenzen, z. B. Selbstständigkeit im Unterricht oder Kooperation innerhalb der Schulklasse.“29 Qualitätssicherung für Fortbildung bedeutet auch, dass die Rahmenbedingungen verlässlich beschrieben sind. Dazu gehören finanzielle, aber auch zeitliche Ressourcen. Im Projekt "Selbstständige Schule" wird deshalb in der zweiten Hälfte ein Lernzeitbudget für Schulen erprobt, das diese eigenverantwortlich „bewirtschaften“. (vgl. Kap. 5.3) 29 Chroust, P./Kubina, C./Schader, B., „Methode und Inhalt gehören zusammen. Ausgewählte empirische Befunde aus dem Qualifizierungsprogramm zur ‚Erweiterung der Methodenkompetenz im Unterricht‘ in Hessen“, zur Veröffentlichung geplant im einem von P. Kalb herausgegebenen Sammelband zum Konzept von Klippert im BeltzVerlag, 2006; zum Design der Studie vgl. Chroust, P., „Von der Grundschule bis zur Staatsprüfung – Neue Wege zur Evaluation der Lehrerbildung in Hessen“ in: Hilligus, A. H., Rinkens, H.-D., Standards und Kompetenzen – neue Qualität in der Lehrerausbildung. Neue Ansätze und Erfahrungen in nationaler und internationaler Perspektive, Paderborner Beiträge zur Unterrichtsforschung und Lehrerbildung Bd. 11, Berlin 2006, S. 283–291 33303.book Seite 151 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 9 Schlussbemerkung Das Konzept der Unterrichtsentwicklung ist beschrieben. Es ist in sich stimmig, anschluss- und entwicklungsfähig – und es ist inzwischen erfahrungsgesättigt. Dennoch: Wer mit und in ihm arbeitet, erlebt, wie kompliziert die nachhaltige Umsetzung in der alltäglichen Praxis ist. Egal an welcher Stelle und auf welcher Ebene, es gibt tausend kleine Probleme und Fallen, in die man dabei tappen kann. Es gibt viele Dimensionen von Widerstand im Prozess, und erkennbare Ergebnisse stellen sich oft erst mittelfristig ein. Die hier vorliegende Beschreibung kann den Schulen helfen, trotz aller Widrigkeiten auf dem eingeschlagenen Lernweg bewusst weiterzugehen und immer wieder Zusammenhänge herzustellen und Impulse zu suchen, wenn die Entwicklung zu stocken droht. Problembewusstsein und vor allem das Wissen über die Stolpersteine im Detail bieten auch gleichzeitig die Chance dafür, an den Schwierigkeiten zu arbeiten und das Konzept zu verändern und an die Bedingungen der eigenen Schule anzupassen. Um sowohl den Ansprüchen des Konzepts als auch den Umsetzungserfahrungen gerecht zu werden, sollen einige der Problemfelder, der Fallen und Schwierigkeiten aufgezeigt werden. Dazu werden Lösungsansätze vorgestellt und um Tipps und Hinweise ergänzt. Ziel der Unterrichtsentwicklung ist die Entwicklung der Lernkompetenz aller Schülerinnen und Schüler einer Schule. Um eine Chance zu haben, dieses Ziel zu erreichen, müssen alle Lehrkräfte dieser Schule in festen Handlungsteams dauerhaft und systematisch an ihrer Lehrerrolle und damit an sich selbst arbeiten wollen. Es gibt fast kein Kollegium, in dem diese Voraussetzung für eine angemessene Umsetzung der Unterrichtsentwicklungs-Trainings in jeder Unterrichtsstunde von Anfang des Prozesses an gegeben ist. Entscheidungen in Schulen leiden an einer lange gepflegten Kultur der Unverbindlichkeit. Gerade Beschlüsse, die sich auf den eigenen Unterricht auswirken würden, werden unter Berufung auf die viel beschworene „Freiheit des Lehrers“ in der Praxis von Einzelnen nicht umgesetzt. Nach allen vorliegenden Erfahrungen können diese Hindernisse aus dem Weg geräumt werden, wenn es an einer Schule gelingt, dass Lehrerinnen und Lehrer sich selbst verpflichten, systematisch Neues zu lernen, und dass diese Lernprozesse begleitet und unterstützt werden. Auf diese Weise gewinnen sie Sicherheit in den neuen Rollen. In Schulen, die es besser schaffen als andere, die vielen „Einzelkämpfer“ zu Teamspielern zu machen, spielen schulische Steuergruppen und auch die Schulleitung eine herausgehobene Rolle. Steuergruppen können demokratisch legitimierte Garanten für Teamentwicklungsprozesse sein und Schulleitungen 33303.book Seite 152 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 152 | Schlussbemerkung Garanten für eine sich entwickelnde Kultur der Verbindlichkeit. Schulen, die mit ihrer Entwicklung zufrieden sind, haben für diese Lernprozesse der Lehrerinnen und Lehrer Raum und Zeit geschaffen: Sei es die Grundschule, in der Lehrerinnen und Lehrer zum Beispiel jeden Montag zwei Stunden nach Unterrichtsschluss in den unterschiedlichsten Teamkonstellationen zusammenarbeiten; sei es die Sekundarschule, in der Klassenteams gemeinsame Springstunden durchgesetzt haben. Sich Zeit und Raum für das eigene Lernen zu nehmen ist eine wesentliche Gelingensbedingung für Veränderungen. Schulische Steuergruppen sind in den ersten Jahren eines Unterrichtsentwicklungsprozesses nach Erfahrungen fast aller beteiligten Schulen wertvoll und nicht zu ersetzen. Häufig wird aber nach einigen Jahren ein Abnutzungseffekt erkennbar. Mitglieder müssen häufiger ersetzt werden als geplant, die Neuen müssen wieder qualifiziert werden. Störungen in der Teamentwicklung setzten ganze Steuergruppen außer Kraft. Wenn sich niemand um eine neue Steuergruppe kümmert, fallen die vielfältigen Aufgaben an die Schulleitung zurück. Steuergruppen, die nach fünf Jahren immer noch in unveränderter Zusammensetzung arbeiten, können zum vom Kollegium isolierten Club oder zur (heimlichen) erweiterten Schulleitung geworden sein und haben in beiden Fällen keine aktuelle Legitimation für ihre Tätigkeit mehr. Mit jedem Schulleitungswechsel gehen neue Fragen einher. So sinnvoll die Übernahme der Steuerung des Unterrichtsentwicklungsprozesses durch eine Steuergruppe für die Anfangsphase auch ist, die Konsolidierung des Prozesses bedingt bei laufender Veränderung der beteiligten Personen auf allen Ebenen neue Steuerungsarten. Der Prozess der Verbesserung des Unterrichts, der sich angesichts wissenschaftlicher Erkenntnisse und bildungspolitischer Anforderungen weiterentwickeln muss, ist eine Anforderung ohne zeitliches Ende. Es bedarf einer sich mitentwickelnden Struktur, die sowohl für Sicherheit im Prozess als auch für Verbindlichkeit sorgt. Könnte die Steuergruppe zur Stabsstelle werden, zur erweiterten Schulleitung oder ...? Neben diesen Schwierigkeiten der Implementation, die die ganze Schule betreffen, kristallisierte sich in der Vergangenheit eine besondere Problematik auf der Arbeitsebene zwischen Lehrerinnen und Lehrern und ihren Lerngruppen heraus. Immer wieder ist die Verkürzung eines umfassenden Konzepts der Unterrichtsentwicklung auf ein schon begrifflich begrenztes „Methodentraining“ anzutreffen. Ursache dafür scheint häufig die Unsicherheit oder gar Furcht vor der Veränderung der Lehrer- und Schülerrolle in einem weniger vom Lehrer bzw. der Lehrerin dominierten Unterricht zu sein. Da wird dann zwar ein überfachliches Methodentraining mit den Schülerinnen und Schülern durchgeführt, im Fachunterricht erleben sie aber anschließend Stunden, in denen sie wohl mehr 33303.book Seite 153 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Schlussbemerkung | 153 Methoden anwenden, allerdings alle die gleichen und zur gleichen Zeit, und zwar die, die die Lehrerin bzw. der Lehrer bestimmt hat. Im besten Fall verringert sich dadurch der hohe Sprechanteil der Lehrkraft, die Lehrerzentrierung im Unterrichtsgeschehen wird nicht verringert. Diese Verkürzung auf ein reines Methodentraining wird im Konzept durch den Begriff der Unterrichtsentwicklung zwar vermieden. Um diese Denkweise nicht aufkommen zu lassen oder um zu verhindern, dass sie sich durchsetzt, muss in den Schulen offensiv, beharrlich und vielleicht auch konfrontativ über das große Ziel des selbst gesteuerten Lernens als verbindliches Schulziel gestritten werden, damit jeder Lehrer und jede Lehrerin in seinen bzw. ihren Fächern einen Beitrag dazu liefert. Nur Lehrerinnen und Lehrer, die in der Unterrichtswoche sowohl Raum und Zeit für selbstständiges Arbeiten, als auch Aufgabenstellungen und angemessenes Material für ihre Lerngruppe eingeplant haben, geben ihren Schülerinnen und Schülern und sich selbst eine echte Chance, dieses Ziel der Schule zu erreichen. Eher ungewohnt ist es offensichtlich für viele Schulen, über Jahre hinweg an ein und derselben Zielstellung zu arbeiten. Verwunderlich ist das nicht, da alle Ebenen über der Einzelschule in den vergangenen Jahren viele Veränderungsanforderungen gleichzeitig oder in schneller Folge gestellt haben. Hier wird es ohne eine Entschleunigung, eine Priorisierung weniger zentraler Reformen und deren Synchronisierung keine Chance auf wirkliche Veränderung des schulischen Lernens geben. Nur dann können sich Schulen mit dem vorhandenen Lehrerpersonal auf die schwierigen Veränderungs- und Entwicklungsprozesse einlassen und Lernprozesse langfristig gezielt verändern. Dass es funktioniert, zeigen bereits heute viele Schulen, die seit einigen Jahren mit dem Konzept zur Unterrichtsentwicklung arbeiten. Mindestens so wichtig wie die Qualifizierung der im Dienst befindlichen Lehrerinnen und Lehrer ist es jedoch, schon in der Ausbildung neuer Lehrerinnen und Lehrer die entsprechenden Grundlagen für die Anleitung und Unterstützung des selbstständigen Lernens bei Schülerinnen und Schülern zu legen. Universitäten und Studienseminare müssen ihren Studierenden Kompetenzen im Sinne einer neuen Lehr- und Lernkultur vermitteln. Junge Lehrerinnen und Lehrer, die nicht an der Schul- und Unterrichtsentwicklung arbeiten können, sind nicht mehr zeitgemäß ausgebildet. Es kann zukünftig auch aus ökonomischen Gründen nicht zugelassen werden, dass Qualifikationen für entscheidende Qualitätsbereiche erst in der dritten Lehrerausbildungsphase erlernt werden. Neben der systematischen Arbeit an den geschilderten Umsetzungsproblemen im schulischen Alltag warten hier also weitere Aufgabenpakete, die ebenfalls aufgeschnürt werden wollen. Wenn man jedoch bedenkt, wie viele Schritte in den wenigen Jahren der Entwicklung in Schulen trotz aller Schwierig- 33303.book Seite 154 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 154 | Schlussbemerkung keiten erfolgreich gegangen wurden, kann es auch in kurzer Zeit gelingen, die Lehrerausbildung zu verbessern. Das ist das Ziel dieses Buches: Hilfen und Anregungen zu geben, damit auf allen Ebenen Energien gebündelt werden können, um eines zu erreichen: die Selbstständigkeit der Kinder und Jugendlichen. Das gelingt, wenn man Selbstständigkeit nicht nur einfordert, sondern auch systematisch und beharrlich ermöglicht. 10.fm Seite 155 Dienstag, 10. Oktober 2006 1:43 13 10 Anhang 10.1 Lehren und Lernen für die Zukunft Lehren und Lernen für die Zukunft Guter Unterricht und seine Entwicklung im Projekt "Selbstständige Schule" 33303.book Seite 156 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 156 | Anhang 2 Gliederung Vorwort Seite 3 1 Für das Leben lernen Seite 4 2 Was ist “guter“ Unterricht Seite 5 2.1 Bildungsziele der Schule Seite 5 2.2 Ansprüche der selbstständig Lernenden an den Unterricht Seite 6 2.3 Merkmale “guten“ Unterrichts Seite 8 2.3.1 Unterrichtsplanung Seite 8 2.3.2 Unterrichtsdurchführung Seite 9 2.3.3 Leistungsbewertung und Unterrichtsevaluation Seite 10 2.4 Anforderungen an die Lehrerinnen und Lehrer Seite 10 3 Unterrichtsentwicklung Seite 12 3.1 Unterrichtsentwicklung als zentrale Dimension der Schulentwicklung Seite 12 3.2 Merkmale einer gelingenden Unterrichtsentwicklung Seite 12 3.3 Steuerung und Leitung einer gelingenden Unterrichtsentwicklung Seite 13 Qualifizierungsprogramm als Voraussetzung für eine gelingende Unterrichtsentwicklung Seite 14 4 Fortbildung für Lehrrerinnen und Lehrer Seite 16 4.1 Trainings zur Unterrichtsentwicklung für Lehrerinnen und Lehrer Seite 16 Merkmale der “guten“ Fortbildung zur Unterrichtsentwicklung Seite 18 Literaturverzeichnis Seite 19 3.4 4.2 33303.book Seite 157 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 Lehren und Lernen für die Zukunft | 157 3 Die Verbesserung der Qualität schulischer Arbeit und insbesondere des Unterrichts ist das zentrale Ziel des Projektes "Selbstständige Schule", des gemeinsamen Modellvorhabens des nordrhein-westfälischen Schulministeriums und der Bertelsmann Stiftung. Wenn im Rahmen dieses Projektes von Unterrichtsqualität und Unterrichtsentwicklung gesprochen wird, muss dargelegt werden, was damit gemeint ist. Deshalb haben sich Vertreter des Schulministeriums, die Koordinatoren der Bezirksregierungen und Vertreterinnen und Vertreter der Bertelsmann Stiftung sowie der Projektleitung auf ein gemeinsames Verständnis der Qualität des Unterrichts und der Unterrichtsentwicklung und – zur Unterstützung dessen in einem wichtigen Sektor – auf ein Programm zur Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern verständigt, das auf die Vermittlung überfachlicher Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern gerichtet ist. Das gemeinsame Verständnis, das hier formuliert wird, berücksichtigt Ergebnisse neuerer Forschung zum Lehren und Lernen1, schulpolitische Grundlagen und Entscheidungen des Landes Nordrhein-Westfalen2 sowie Erkenntnisse über die Unterichtsentwicklung, insbesondere die Entwicklung überfachlicher Kompetenzen bei Schülerinnen und Schülern, und über die Qualifizierung von Lehrerinnen und Lehrern aus dem Projekt "Schule & Co."3 Kennzeichnend für das vorliegende Konzept sind die folgenden Funktionen: ● 1 Es beschreibt einen Referenzrahmen, an dem sich die beteiligten und interessierten Schulen und Regionen bei der Einschätzung ihres Arbeitsstan- Vgl. hierzu insbesondere: Helmke, A., Unterrichtsqualität – erfassen, bewerten, verbessern, Seelze 2003 2 Vgl. hierzu insbesondere: Bildungskommission NRW, Zukunft der Bildung – Schule der Zukunft, Neuwied 1995; Ministerium für Schule und Weiterbildung des Landes Nordrhein-Westfalen, "...und sie bewegt sich doch!“ Entwicklungskonzept "Stärkung der Schule“, Frechen 1997; die neueren Richtlinien für die Gesamtschule, die gymnasiale Oberstufe, die Bildungsgänge der Berufskollegs und die Grundschule in Nordrhein-Westfalen 3 Vgl. hierzu: Bastian, J. / Rolff, H.-G., Abschlussevaluation des Projektes “Schule & Co.“, Gütersloh 2002; Holtappels, H.G. / Leffelsend, S., Entwicklung überfachlicher Kompetenzen durch Schülertrainings und Unterrichtsentwicklung: Ergebnisse einer Schülerbefragung als Teil der Abschlussevaluation des Projektes “Schule & Co.“ – Forschungsbericht, Gütersloh 2003 33303.book Seite 158 Donnerstag, 5. Oktober 2006 11:11 11 158 | Anhang 4 des, bei ihren Entwicklungsvorhaben und ihrer Fortbildungsplanung im Rahmen der Schulprogrammarbeit orientieren können. 1 ● Es formuliert im Anschluss an Weinert ein Leitbild einer guten Lernkultur, ohne Realisierungsmöglichkeiten im Einzelnen auszudifferenzieren. ● Mit Bezug auf dieses Leitbild einer guten Lernkultur wurde zwischen den Projektträgern und den Koordinatoren der Bezirksregierungen vereinbart, in diesem Modellvorhaben dazu beizutragen, dass das selbstständige Lernen der Schülerinnen und Schüler in einer Vielfalt von Lehr- und Lernarrangements stärker in das Zentrum des Unterrichts gerückt wird. ● Das Konzept gibt Hinweise zur systematischen Unterrichtsentwicklung im – hier allerdings nur gestreiften – Kontext von Organisationsentwicklung und Personalentwicklung. ● Es zielt mit dem Angebot des Qualifizierungsprogramms für Lehrerinnen und Lehrer auf einen Teilbereich dessen, was selbstständiges Lernen voraussetzt, nämlich die Entwick