Einleitung
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Einleitung
Einleitung 1. Zur Zielsetzung Das Hauptziel dieser Arbeit ist die analytische Darstellung der Gotteslehre bei dem niederländischen orthodox-reformierten Theologen Gisbertus Voetius (1589–1676), primarius theologiae professor der Universität Utrecht in ihren Anfangsjahrzehnten. Dabei liegt der Schwerpunkt auf der Frage, inwiefern Voetius das Verhältnis zwischen Gottes notwendigem Wesen und der Kontingenz der geschöpflichen Wirklichkeit von der Gotteslehre her konsistent denken kann. Diese Thematik ist nicht einfach von außen herangetragen, sondern zieht sich gleichsam wie ein roter Faden durch die wichtigsten und umfangreichsten Quellentexte bei Voetius, die insbesondere auf die sogenannten mitteilbaren bzw. operativen Eigenschaften des göttlichen Wissens, Willens, Rechts und Vermögens eingehen. Im Hintergrund dieser Fragestellung steht die Kontroverse mit Remonstranten, Sozinianern, contrareformatorischen Theologen und teilweise auch cartesianischen Denkern, die orthodox-reformierten Theologen wie Voetius vorwarfen, ihre Gottes- und Dekretenlehre ließe keinen Raum für die Kontingenz und Freiheit des menschlichen Willens und Handelns. Da die Theologie Voetius‟ trotz seiner großen Bedeutung vergleichsweise wenig erforscht und Voetius außer seines Namens nach kaum bekannt ist, bietet diese Arbeit in einem ersten Teil eine Darstellung zu seinem Leben und Werk im Kontext seiner Zeit.1 Zugleich dient dieser Teil der historischen Einordnung seiner Theologie, darunter seine Gotteslehre. Dabei entsteht ein allgemeines SCHWEIZER, Die protestantischen Centraldogmen, II, 815, nennt explizit und exklusiv Voetius, wenn er von der Blüte der scholastischen Orthodoxie in den Niederlanden berichtet. DORNER, Geschichte der protestantischen Theologie, 430, rechnet Voetius zusammen mit Johannes Maccovius, Samuel Maresius, Johannes Hoornbeeck und Johannes à Mark zu den „bedeutendsten reformierten Scholastikern“. GASS, Geschichte der protestantischen Dogmatik, I, 454, sieht in Voetius‟ Theologie den anderweitig unerreichten Höhepunkt der reformierten Scholastik in den Niederlanden. BIZER, Historische Einleitung, LXI–LXIII, würdigt Voetius als „den berühmteste[n] Vertreter“ der niederländischen Orthodoxie (LXI) und „de[n] gelehrteste[n] Theologen seiner Zeit“ (LXII): „Voet ist zweifellos der Höhepunkt der reformierten aristotelischen Scholastiker, vergleichbar nur mit ähnlichen Gestalten des späten Mittelalters, mit denen er die Methode wie die praktischen Interessen teilte […]“ (LXIII). Vgl. jedoch ebd., LXII: „In barbarischem Latein trifft er endlose Definitionen und Distinktionen und packt einen unendlichen Stoff und eine ebenso unendliche Polemik in seine Ausführungen hinein.“ WEBER, Grundlagen der Dogmatik, I, 141, schließlich charakterisiert Voetius als den „bedeutendste[n] Geist“ der orthodox-reformierten Dogmatiker, der „dem Charakter und der Größe nach mit Johann Gerhard vergleichbar“ sei. Vgl. zur Bedeutung Gerhards STEIGER, Der Kirchenvater der lutherischen Orthodoxie. 1 14 Einleitung Bild seines Theologieverständnisses, welches in einem zweiten Teil weitergeführt und auf Voetius‟ Theologiebegriff im engeren Sinn zugespitzt wird. Dieser zweite Teil ist bewusst kurz gehalten und nicht als eine eigenständige Untersuchung zu Voetius‟ Theologiebegriff gedacht, sondern vielmehr als Hinführung zu seiner Gotteslehre, welche im dritten Teil entfaltet wird. So ergibt sich als Titel dieser Untersuchung: „Gisbertus Voetius (1589–1676). Sein Theologieverständnis und seine Gotteslehre“. Der Titel könnte unter Umständen so missverstanden werden, als würde der Versuch unternommen, Voetius‟ Theologieverständnis und Gotteslehre erschöpfend darzustellen. Dies wird in der vorliegenden Arbeit jedoch nicht geleistet, auch nicht, was die Gotteslehre betrifft. Die unprätentiösen Betitelungen des zweiten bzw. dritten Teils mit „Zum Theologiebegriff“ und „Zur Gotteslehre“ sind also kein Zufall. So werden etwa das Verhältnis der Theologie zur Philosophie oder die Trinitätslehre bei Voetius nur gestreift.2 Eine umfassende Darstellung des Theologiebegriffs und der Gotteslehre wäre angesichts der Fülle und des Genres des Quellenmaterials von der Zielsetzung dieser Arbeit her nicht möglich. Andererseits wurden alle bekannten relevanten Quellen, soweit zugänglich, gesichtet und ausgewertet. Außerdem korrespondieren die Schwerpunkte in der Darstellung im Allgemeinen mit der Quantität des Quellenmaterials. Daher können die wichtigsten Gesichtspunkte insbesondere der Gotteslehre, und zum guten Teil auch des Theologieverständnisses, dennoch erörtert werden. Zumindest die Basiselemente der Gotteslehre und auch des Theologieverständnisses werden in den drei Teilen zusammengenommen eingehend behandelt. Eine weitere Einschränkung ist darin zu sehen, dass Voetius‟ ständige Bezugnahme auf Autoren der gesamten damaligen Theologie- und Philosophiegeschichte nur teilweise ausgewertet werden konnte.3 Der Schwerpunkt liegt dabei in dieser Untersuchung auf Voetius‟ Beziehung zu Autoren der mittelalterlichen Scholastik einerseits und der zeitgenössischen Barockscholastik andererseits, was sich auch in der traditionsgeschichtlichen Einordnung im Schlusskapitel niederschlägt. Diese Vorgehensweise scheint im Hinblick auf Voetius‟ Einbettung in den scholastischen Diskurs sinnvoll und korrespondiert auch vergleichsweise gut mit der jeweiligen Anzahl seiner Verweise. Eine Konzentration auf Zitate der Kirchenväter, wie sie etwa Eginhard Meijering in einer 2 Hierin sind GOUDRIAAN, Philosophische Gotteserkenntnis, und GOUDRIAAN, Reformed Orthodoxy and Philosophy, sowie GOUDRIAAN, Die Bedeutung der Trinitätslehre nach Gisbert Voetius, ergiebiger. 3 Eine von mir erstellte Datenbank der von Voetius in den hier ausgewerteten Quellen erwähnten Autoren zählt allein in den Disputationen zur Gotteslehre mehr als 800 verschiedene Namen. Vgl. hierzu unten, Kap. 4.2.2. Glücklicherweise ist der zweiteilige Auktionskatalog (siehe Abkürzungsverzeichnis), der einen beträchtlichen Teil der umfassenden Gelehrtenbibliothek Voetius‟ auflistet, erhalten geblieben; vgl. BREYMAYER, Auktionskataloge deutscher Pietistenbibliotheken, 150–154. Vgl. außerdem den Catalogus variorum librorum instructissimae bibliothecae, [London 1678]. Zur bisherigen Forschung 15 Arbeit zu Franz Turrettin (1623–1687) vorgenommen hat, wäre indes ebenfalls fruchtbar.4 Indem diese Arbeit die Gotteslehre und auch den Theologiebegriff bei Voetius behandelt, will sie zugleich zur Erforschung der reformierten Scholastik beitragen. Immerhin ist Voetius gewiss einer der bedeutendsten Vertreter der reformierten Scholastik, wobei die Gotteslehre einen zentralen locus betrifft.5 2. Zur bisherigen Forschung Trotz eines beeindruckend Zuwachses an guten Arbeiten zur reformierten Orthodoxie in den letzten 25 Jahren, gilt nach wie vor, was Wilhelm Neuser 1980 im Blick auf ihre Erforschung formuliert hat: Sie „gleicht immer noch einer Landkarte, mit vielen weißen Flecken; die unerforschten Gebiete überwiegen“.6 Wie Richard Muller im Vorwort zum 2. Band seiner Post-Reformed Reformatical Dogmatics (2. Aufl.) anmerkt, besteht unter anderem ein Nachholbedarf an Monographien zu individuellen Theologen der reformierten Orthodoxie.7 Die vorliegende Einzelstudie zu Gisbertus Voetius, einem der einflussreichsten reformierten Theologen des 17. Jahrhunderts, dessen Namen noch heute in den Niederlanden weithin bekannt ist, will einen Teil der genannten Lücken schließen. Man könnte sagen, dass sich die Voetiusforschung insgesamt gesehen noch in den Anfängen befindet.8 Voetius‟ Leben ist vergleichsweise gut erforscht. Neben Arnoldus Dukers dreibändiger Biographie, die trotz geringer Berücksichtigung der Theologie Voetius‟ noch immer das einschlägigste biographische Werk ist,9 sind vor allem seit dem 400. Geburtstag verschiedene ergänzende Beiträge erschienen, deren wichtigster Ertrag insbesondere in den ersten Teil Siehe MEIJERING, Reformierte Scholastik, und vgl. die ähnliche Vorgehensweise in MEIJERING, Melanchthon and Patristic Thought; MEIJERING, Von den Kirchenvätern zu Karl Barth. Eine entsprechende Behandlung wäre mir schon aus dem Grund, dass ich die Patristik weit weniger gut als die mittelalterliche Scholastik kenne, nicht möglich. 5 Vgl. oben, Anm. 1. P LATT, Reformed Thought and Scholasticism, 240, bezeichnet zu Recht den De Deo locus als „the realm of traditional scholastic philosophical theology“. Vgl. GRÜNDLER, Die Gotteslehre Girolami Zanchis, 24: „Nach dem bisher Gesagten scheint es denn, daß der Schlüssel zum Verständnis der Theologie Zanchis in seiner Gotteslehre zu suchen ist.“ 6 NEUSER, Dogma und Bekenntnis in der Reformation, 307. So auch im Hinblick auf die Erforschung der christlichen Ethik im frühen Calvinismus STROHM, Ethik im frühen Calvinismus, 2. 7 MULLER, PRRD, 15: „[D]espite the length of the present study, I am more aware than ever of the need for the study of individual thinkers, of the varieties of doctrinal formulation among the Reformed orthodox, and of the issues debated between the Reformed orthodox and their various opponents.“ 8 Bezeichnend ist der Titel des Konferenzbands anlässlich seines 400. Geburtstags: VAN OORT u.a., De onbekende Voetius. Vgl. insgesamt die Bibliographien bei NAUTA, Voetius, 448f.; WENNEKER, Voetius (aktualisiert in der Webausgabe bei www.bautz.de/bbkl). Vgl. außerdem den Forschungsüberblick bei DE GROOT, Gisbertus Voetius, und bei BECK, Gisbertus Voetius, 205–210. 9 DUKER, Voetius, und vgl. hierzu DE GROOT, Gisbertus Voetius; DE GROOT, Voetius‟ biografie. 4 16 Einleitung dieser Arbeit eingeflossen ist.10 Auch die Kontroverse mit dem Cartesianismus gewann insbesondere in den letzten Jahrzehnten das Interesse der Descartesforschung, die vermehrt Descartes im Kontext seiner Zeit zu verstehen sucht.11 Besonders wichtig ist Han van Rulers Studie The Crisis of Causality, die zwar ganz der philosophischen Auseinandersetzung Voetius‟ mit dem Cartesianer Henricus Regius (1598–1679) und Descartes selbst gewidmet ist, dabei jedoch zugleich auch neues Licht auf Voetius‟ Vorsehungslehre wirft.12 Die Erforschung der Theologie des Utrechter Gelehrten ist derzeit noch recht fragmentarisch. Der Schwerpunkt lag dabei bisher auf denjenigen Teilbereichen, die Voetius selbst der theologia practica im engeren Sinn zuordnet,13 also kirchenrechtliche Fragen,14 worunter bei Voetius auch die Missionstheologie fällt,15 Fragen zum Sabbatgebot16 sowie Fragen zu seinem Verhältnis zur Nadere Reformatie und zum Pietismus.17 Vor einigen Jahren erschien eine kritische Ausgabe und annotierte niederländische Übersetzung zu Voetius‟ ΤΑ ΑΣΚΗΤΙΚΑ sive Exercitia pietatis (1664), einem der bedeutendsten Werke zur reformierten Spiritualität.18 Dogmatische Themen wurden jedoch bisher zumeist nur vereinzelt in Aufsätzen und Beiträgen zu Sammelbänden behandelt.19 Erstmals im Jahre 1995 10 CRAMER, De Theologische Faculteit te Utrecht; DE GROOT, Gijsbert Voetius; NAUTA, Voetius; VAN OORT u.a., De onbekende Voetius; VAN ‟T SPIJKER, Gisbertus Voetius; BEEKE, Gisbertus Voetius; VAN ASSELT, Gisbertus Voetius, gereformeerd scholasticus; GOUDRIAAN, Reformed Orthodoxy and Philosophy, 7–14. Vgl. für eine Liste der noch bekannten Korrespondenz Voetius‟ BOS/BROEYER, Epistolarium voetianum I, bes. 209–215; BOS, Epistolarium voetianum II, bes. 73. Populäre, häufig unzuverlässige Darstellungen sind STEENBLOK, Gisbertus Voetius, und ROODBEEN, Gisbertus Voetius. Siehe für weitere Literatur unten, Kap. 1. 11 DIBON, L‟Enseignement Philosophique; THIJSSEN-SCHOUTE, Nederlands cartesianisme; MCGAHAGAN, Cartesianism in the Netherlands; VERBEEK, La Querelle d‟Utrecht; VERBEEK, Descartes and the Dutch; VAN RULER, The Crisis of Causality; GOUDRIAAN, Philosophische Gotteserkenntnis, 171– 280; BAC, De philosophia christiana. Siehe für weitere Literatur unten, Kap. 2. 12 VAN RULER, The Crisis of Causality; vgl. VAN RULER, New Philosophy to Old Standards. Siehe unten, Kap. 2.3 und 2.6. 13 Siehe zur theologia practica bei Voetius unten, Kap. 5.4. 14 BOUWMAN, Voetius over het gezag der synoden; CONRING, Kirche und Staat; NOBBS, Theocracy and Toleration. Vgl. unten, Kap. 4.2.4. 15 VAN ANDEL, De zendingsleer; JONGENEEL, The Missiology of Gisbertus Voetius. Vgl. unten, Kap. 1.3.2. 16 VISSER, De Geschiedenis van den Sabbatsstrijd; STEENBLOK, Voetius en de Sabbat. Vgl. unten, Kap. 1.3.3. 17 Vgl. den Forschungsüberblick in Kap. 4.4.1 und 4.4.2. 18 VOETIUS, ΤΑ ΑΣΚΗΤΙΚΑ, mit DE NIET, Inleiding, und DE NIET, De kerkvaders in Voetius‟ TA ΑΣΚΗΤΙΚΑ. Vgl. außerdem zu Voetius‟ Pastoraltheologie insgesamt VAN PELT, Pastoraat in trinitarisch perspectief, 160–184; VAN PELT, Hoeden tot het heil. Diese Liste ist in keiner Hinsicht vollständig; vgl. für weitere Titel unten, Teil I. 19 Eine wichtige Ausnahme ist BARTH, Atheismus und Orthodoxie, wo Voetius‟ Disputationen De atheismo ausführlich behandelt werden. Siehe ansonsten GRAAFLAND, De zekerheid van het geloof, 153–156 (Soteriologie); GRAAFLAND, Nadere Reformatie, 224–256 (Abendmahl); GRAAFLAND, Van Calvijn tot Barth, 223–231 (Erwählungslehre); GRAAFLAND, Schriftleer en Schriftverstaan, 35–40 (Scripturologie); VAN ASSELT, Voetius en Coccejus (Soteriologie); LOONSTRA, De leer van God en Zur bisherigen Forschung 17 wurde mit De scholastieke Voetius ein ganzer Band dogmatischen Fragen gewidmet, wobei ausgewählte Disputationen zur Gotteslehre, Christologie und Soteriologie übersetzt und kommentiert wurden.20 Einen weiteren Meilenstein bedeutet Aza Goudriaans Studie Reformed Orthodoxy and Philosophy (2006), die wichtige Beiträge zur Verhältnisbestimmung von Theologie und Philosophie, zur Schöpfungslehre, Vorsehungslehre, Anthropologie sowie zum göttlichen und menschlichen Recht bei Voetius erhält und dabei einen Vergleich mit Voetius‟ Nachfolger Petrus von Mastricht (1630–1706) und dem sogenannten cartesianischen Theologen Anthonius Driessen (1648–1748) anstellt.21 Obwohl diese wegweisende Studie erst nach Abschluss der Forschungen zur vorliegenden Arbeit erschien, wurde in der redaktionellen Schlussphase angestrebt, die wichtigsten Ergebnisse zu berücksichtigen. Angesichts der Forschungslage stellt sich eine monographische Behandlung der Gotteslehre bei Voetius mit Berücksichtigung seines Theologiebegriffs als Desiderat dar.22 Dasselbe gilt für seine Schöpfungslehre inklusive AnthropoloChristus in de Nadere Reformatie, 105–127 (Gotteslehre und Christologie; vgl. die kritische Besprechung bei DE REUVER, Wat is het eigene van de Nadere Reformatie?); BECK, Gisbertus Voetius (Gotteslehre). Erforscht ist auch in Ansätzen Voetius‟ Beziehung zu Augustin (VAN OORT, De jonge Voetius en Augustinus; VAN OORT, Augustinus, Voetius und die Anfänge; VAN OORT, Augustine‟s Influence), zu Luther und Calvin (OP ‟T HOF, Voetius‟ evaluatie van de Reformatie), zu Melanchthon (BECK, Rezeption Melanchthons), zu den Brüdern Willem und Eeuwout Teellinck (OP ‟T HOF, Voetius en de gebroeders Willem en Eeuwout Teellinck), zu Remonstranten, Sozinianern und Täufern (DE GROOT, Heterodoxie, Häresie und Toleranz), zu Jacob Böhme ( VAN OORT, Gisbertus Voetius) und zu den Rosenkreuzlern und zu anderen Häretikern (SNOEK, De Rozenkruisers in Nederland, bes. 112–117). Außerdem gibt es Beiträge zu Voetius‟ Verhältnis mit dem Judentum ( VAN CAMPEN, Voetius en Coccejus over de Joden; VAN CAMPEN, Gans Israël) und dem Islam (VAN ASSELT, De islam; VAN AMERSFOORT/VAN ASSELT, Liever Turks dan Paaps?). Die Theologie Johannes Coccejus‟ ist noch immer besser erforscht als die des Voetius; vgl. nur SCHRENK, Gottesreich und Bund; FAULENBACH, Weg und Ziel; VAN ASSELT, Amicitia Dei; VAN ASSELT, Johannes Coccejus; VAN ASSELT, Federal Theology of Cocceius. 20 VAN ASSELT/DEKKER, De scholastieke Voetius. Für diese Arbeit sind insbesondere wichtig die Beiträge von BECK/DEKKER, Gods kennis en wil, und VAN DEN BRINK, Gods almacht. 21 GOUDRIAAN, Reformed Orthodoxy and Philosophy. Vgl. vom selben Autor GOUDRIAAN, Die Rezeption des cartesianischen Gottesgedankens; GOUDRIAAN, Jacobus Revius; und oben, Anm. 2. 22 Der Religionsphilosoph Paul Helm hat in Reaktion auf die Aufsätze von VOS, Scholasticism and Reformation, und BECK, Gisbertus Voetius, worin eine Verwandtschaft der Gotteslehre bei Gomarus bzw. Voetius mit spezifisch scotischen Konzepten wie dem der synchronen Kontingenz, der Stadienbzw. Momentenlehre und der Schlüsselrolle des göttlichen Willens verteidigt wird, zur Vorsicht gemahnt (HELM, Synchronic Contingency). Diskussionspunkt sind dabei für Helm nicht nur historische, sondern auch philosophische Fragen, wie etwa die Frage nach dem Verhältnis zwischen modalen Operatoren und einem Determinismus bzw. Indeterminismus. In historischer Hinsicht stellt Helm in Frage, ob es diesbezüglich relevante Unterschiede zwischen Thomas und Duns Scotus gibt. In der sich anschließenden Diskussion (BECK/VOS, Conceptual Patterns Related to Reformed Scholasticism; HELM, Synchronic Contingency Again) konnte kein Konsens erreicht werden, obwohl die Diskussion wohl einige Missverständnisse aufklären konnte. Die vorliegende Arbeit kann als eine Entfaltung der – zugegebenermaßen extrapolierenden – Skizze zu Voetius‟ Gotteslehre im genannten Artikel gelesen werden. Abgesehen von einigen verstreuten Hinweisen in Fußnoten wird hier jedoch die Diskussion mit Helm nicht explizit weitergeführt. Es sei dem Leser überlassen zu beurteilen, inwieweit ich hier berechtigten Anfragen Helms Rechnung trage. 18 Einleitung gie, seine Christologie und seine Soteriologie. Aufgrund der entscheidenden Bedeutung der Gotteslehre für das Ganze der Dogmatik scheint es sinnvoll, an dieser Stelle zu beginnen.23 Eine solche monographische Studie sollte berücksichtigen, dass mit der Namensbekanntheit, die Voetius genießt, ein weit verbreitetes ‚Voetiusbild„ verbunden ist. So gilt der Utrechter Theologe spätestens seitdem Descartes in seiner Epistola ad Dinetum, abgedruckt in der zweiten Ausgabe seiner Meditationes de prima philosophia (1642) und alsbald vom Remonstranten Jakobus Batelier (1593–1672) in die Volkssprache übersetzt, ausführlich Voetius‟ Charakter angriff, in weiten Kreisen als reaktionärer „Remonstrantenfresser“.24 Bekannt ist auch, dass Voetius zeitlebens in Konflikte mit verschiedenen Parteien verwickelt war, darunter Remonstranten, Cartesianer, Coccejaner und römisch-katholische Theologen, was heute gerne als unnötige Polemik gewertet wird. Voetius gilt als scholastischer Supralapsarier, ja, als Hyper-Calvinist, für den Gottes Dekrete absolut unveränderlich seien und alles, was sich in der Zeit abspielt, von Ewigkeit her fixierten. Unter den Händen des aristotelischen Scholastikers sei die reformierte Theologie zu einem Denksystem erstarrt. Obwohl diese Charakterisierungen zum Teil auch zutreffende Elemente beinhalten, handelt es sich doch im Ganzen um eine eher grobe Karikatur. Daher ist es erforderlich, in einer Arbeit zu Voetius‟ Theologie diejenigen Elemente, die sich einer solchen Karikatur sperren, zu unterstreichen. Dabei erweist sich seine Theologie in ökumenischer Perspektive, in Abwandlung der bekannten Formulierung Arnold A. van Rulers, „als Moment in der Tradition der catholica“.25 Vgl. oben, Anm. 5. Aus demselben Grund hat RICHARD MULLER zur Erforschung der reformierten Orthodoxie insgesamt in PRRD, I-IV, bei den Prolegomena, der Schriftlehre im Hinblick auf das principium cognoscendi theologiae und der Gotteslehre im Hinblick auf das principium essendi theologiae angesetzt. 24 Vgl. oben Kap. 2.3, und zum Voetiusbild VAN ASSELT, Gisbertus Voetius, gereformeerd scholasticus. 25 VAN RULER, Reformatorische opmerkingen in de ontmoeting met Rome, Kap. 1 (11–40): „De reformatie als moment in de traditie van de catholica“; vgl. VAN RULER, Theologisch werk, II, 78. Vgl. auch MISKOTTE, Geloof en kennis, 114: „Zo is het dan geen wonder, dat […] al spoedig naast de neoscholastieke theologie van de Vittorio, Melchior Canus, Suarez en Molina, geweldige systemen verschijnen, die van de nieuwe leer wetenschappelijke rekenschap geven. […] De Reformatie onderscheidt zich ook daarin van een sectarische beweging, dat zij een innerlijk-volledige dogmatiek, noch in kwantiteit noch in kwaliteit de mindere van de middeleeuwse systemen, heeft voortgebracht.“ Vgl. für weitere Zitate VOS, De kern van de klassieke gereformeerde theologie, 106–111, 122–125. Vgl. zur ökumenischen Dimension der reformierten Scholastik VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 34–38. 23 Methodologische Erwägungen 19 3. Methodologische Erwägungen Es ist hier nicht der Ort für eine ausführliche Diskussion der Methoden zur Geschichtsschreibung.26 Daher soll nur kurz erwähnt werden, dass die vorliegende Arbeit eine Interpretation des zu analysierenden Quellenmaterials in seinem weiteren historischen Kontext anstrebt, wobei einerseits die kontextuelle Einbettung in die jeweilige Zeit und andererseits der traditionsgeschichtliche Hintergrund berücksichtigt werden sollen. Der jeweilige linguistische Kontext fungiert dabei, in partieller Anlehnung an die Methode der geistesgeschichtlichen Schule von Cambridge, als heuristisches Instrument für eine, nicht a priori unmögliche, Annäherung an die Autorintention.27 Konkret bedeutet dieser Ansatz für die vorliegende Arbeit erstens, dass die textuellen Quellen zum Theologieverständnis und zur Gotteslehre bei Voetius nicht analysiert werden, ohne zuvor seine Person und sein Werk in den Kontext seiner Zeit eingeordnet zu haben (siehe Teil I). Dabei zeigt sich zweitens, dass das linguistische Vokabular der genannten Quellen der gesamteuropäischen akademischen Tradition der Universitäten angehört, die, bei allen inhaltlichen Divergenzen, eine einheitliche Methode und Sprache und so ein methodisches Kontinuum vom 13. bis ins 18. Jahrhundert aufweist.28 Drittens begegnet uns dieses zu berücksichtigende methodische Kontinuum konkret in der Gestalt der scholastischen Methode.29 Die mittels dieser – angesichts ihrer Distinktionen und Propositionenanalysen – hoch-technischen Methode verfassten Texte sind im pädagogisch-didaktischen Kontext der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen Universität anzusiedeln und entstammen der mündlichen Disputationspraxis. Den spezifischen Eigenarten dieses Textgenres gilt es jeweils Rechnung zu tragen.30 Die genannte jahrhundertelange Kontinuität der akademischen Universitätspädagogik mit ihrer Disputationstechnik und durchgängigen scholastischen Methode erfordert viertens, dass die ihr entstammenden Texte auf konzeptioneller Ebene analysiert werden. Bei verschiedenen Autoren gleich lautende Termini und Sätze können jeweils andere Begriffe und Propositionen ausdrücken. Die Eigenart solcher Texte bringt es mit sich, dass für den heutigen Leser täuschend ähnliche Sätze inhaltlich diametral verschiedene Positionen zum Ausdruck 26 Vgl. zu den Methoden der Geschichtschreibung SKINNER, Meaning and Understanding in the History of Ideas; MACKAY, Geschiedenis bij de bron; BEVIR, The Logic of the History of Ideas; BÖDEKER, Begriffsgeschichte, Diskursgeschichte, Metapherngeschichte; CLARK, History, Theory, Text. 27 Vgl. BEVIR, The Role of Contexts in Understanding and Explanation, für eine kritische Würdigung des Ansatzes der Schule von Cambridge (Quentin Skinner, John Pocock) mit ihrer Erforschung des linguistischen Kontexts als heuristisches Instrument zur Ideengeschichte. 28 Vgl. SCHMITT, Studies in Renaissance Philosophy and Science; SCHMITT u.a., The Cambridge History of Renaissance Philosophy; VOS, Scholasticism and Reformation; VOS, Gereformeerde scholastiek in Middeleeuws perspectief. 29 Vgl. hierzu Abschnitt 4. 30 Vgl. hierzu Abschnitt 5. 20 Einleitung bringen können. Die konzeptuelle Struktur kann eine jeweils andere sein und sollte daher berücksichtigt werden.31 In diesem Zusammenhang profitiert die jüngere Erforschung solcher Texte seit Lambertus M. de Rijk, Jan Pinborg und Norman Kretzmann vom „linguistic turn“, wie er von Ludwig Wittgenstein, Gilbert Ryle und John L. Austin initiiert wurde.32 Gemeint ist damit allerdings weniger der „lingustic turn“ in dem Sinne, wie er von Elizabeth Ann Clark als historiographische Methode empfohlen wird,33 sondern vielmehr eine mit objektiven Kriterien verfahrende Analyse semantischer und syntaktischer Textstrukturen, bei der sich Techniken wie die moderne Standardlogik und Modallogik als besonders hilfreich erweisen. Fünftens sind zur Erschließung der inhaltlichen Ebene scholastischer Texte Referenzen zu ‚Autoritäten„ genauso wenig aufschlussreich wie deren jeweiliges Sprachidiom. Wie Willemien Otten zu Recht bemerkt, stehen die auctoritates in der mittelalterlichen und frühneuzeitlichen auctoritas-Kultur der Scholastik nicht so sehr für das „lebende Zeugnis eines bemerkenswerten christlichen Vorgängers“.34 Vielmehr geht es bei den auctoritates um autoritative Texte, die in den eigenen Text eingefügt und jeweils vom eigenen konzeptuellen Denkrahmen her interpretiert werden.35 Die eventuelle Bejahung oder Verneinung der Positionen, die von den jeweils hinter diesen autoritativen Texten stehenden Autoren historisch vertreten wurden, befindet sich dabei nochmals auf einer anderen Ebene. So distanziert sich etwa Duns Scotus nachdrücklich von der arabisch-aristotelischen Kosmologie, was ihn jedoch nicht daran hindert, sich in seinen Texten ständig auf Aristoteles als den ‚Philosophus„ zu beziehen.36 Auch im Hinblick auf die Theologen der reformierten Orthodoxie wäre es trotz ihrer häufigen Bezugnahme auf Aristoteles wenig hilfreich, sie als ‚Aristoteliker„ zu verstehen. Mit dem gleichen Recht könnte die gesamte universitäre Kultur vom 13. bis 18. Jahrhundert – trotz der in den Jahren 1270 und 1277 erfolgten Verurteilung aristotelischer Thesen im weiten Sinn – als ‚aristotelisch„ bezeichnet Ein Beispiel hierfür ist die Verwendung der Unterscheidung einer scientia simplicis intelligentiae und einer scientia visionis im göttlichen Wissen, die Voetius terminologisch bei Thomas vorfindet, aber inhaltlich auf scotische Weise füllt, obwohl diese Terminologie nicht bei Scotus nachweisbar ist. Siehe hierzu oben, Kap. 8.2. 32 Vgl. DE RIJK, Logica Modernorum; P INBORG, Medieval Semantics; KRETZMANN u.a., The Cambridge History of Later Medieval Philosophy. Vgl. hierzu VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 7–9, 152–154. 33 CLARK, History, Theory, Text, bes. 156–185: „History, Theory, and Premodern Texts“. 34 OTTEN, Medieval Scholasticism, 288: „Prior to the scholastic age, when the notion of authority was invoked, it referred mostly to the living testimony of a noted Christian predecessor with whom the author saw himself linked in a continuous tradition.“ Ob der so charakterisierte Autoritätsbezug im scholastischen Zeitalter tatsächlich verloren ging, ist m.E. fraglich. Vgl. außerdem OTTEN/SALEMINK, Authority and Identity in the Transition From Monastic to Scholastic Theology. 35 Siehe zur mittelalterlichen Autoritätsidee DE RIJK, La philosophie au moyen âge, 87–96; VAN DER LECQ, Autoriteiten en tradities; VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 4–6, 528–539. 36 Vgl. HONNEFELDER, Die Kritik des Johannes Duns Scotus am kosmologischen Nezessitarismus der Araber; VOS, The Philosophy of John Duns Scotus, 518–522. 31 Methodologische Erwägungen 21 werden.37 Für Voetius und die meisten seiner Zeitgenossen bedeutete Aristoteles‟ Werk, wie Theo Verbeek bemerkt, „nicht mehr als die Artikulation des common sense“.38 Weitaus sinnvoller als die Deutung der reformierten Orthodoxie im Sinne eines ‚Aristotelianismus„ ist sechstens die Einordnung der Aussagen reformiertorthodoxer Theologen in die spätmittelalterlich-frühneuzeitlichen Deltalandschaft im universitären Kontext. Konkret geht es hierbei um die Einordnung in die drei Hauptströmungen dieser Deltalandschaft, nämlich den Thomismus, Scotismus und Nominalismus.39 Erst in der jüngeren Forschung der letzten beiden Jahrzehnte hat sich eine solche Arbeitsweise, die schon länger in der Reformationsforschung üblich war,40 auch hinsichtlich der reformierten Orthodoxie durchgesetzt.41 Siebtens sollte Beachtung finden, dass in den Texten mittelalterlicher und frühneuzeitlicher Autoren im Allgemeinen kein historisches Bewusstsein im modernen Sinn vorausgesetzt werden kann.42 Eine adäquate historische Interpretation der Texte solcher Autoren sollte nicht der Versuchung erliegen, die eigene Arbeitsweise in die der interpretierten Autoren zu projizieren. Die genannten sieben methodischen Gesichtspunkte lassen sich im Rahmen des geistesgeschichtlichen Ansatzes Skinners deuten, wonach Sätze als historische Akte einerseits in der weiteren Szene der jeweiligen erforschten Zeit und andererseits vor dem Hintergrund der Tradition, Kultur, und Geschichte, aus der sie 37 Vgl. zu den Verurteilungen FLASCH, Aufklärung im Mittelalter?; AERTSEN u.a., Nach der Verurteilung von 1277. Vgl. zum Aristotelianismus SCHMITT, Aristotle and the Renaissance. Vgl. außerdem unten, Anm. 52. 38 VERBEEK, Descartes and the Dutch, 7: „He [= Voetius, ajb] and most of his contemporaries interpreted it [= Aristotle‟s work, ajb] as no more than the articulation of common sense.“ Vgl. MULLER, „Christian Aristotelianism“; BECK, Gisbertus Voetius, 207–209. 39 Vgl. VOS, De kern van de klassieke gereformeerde theologie; VOS, „Ab uno disce omnes“; VOS, Scholasticism and Reformation; MULLER, „Christian Aristotelianism“, 322f.: „[I]dentifcation of the modification and use of various // Thomist, Scotist, and nominalist approaches on specific issues […], and […] the recognition of highly eclectic tendencies generated by the impact of the Renaissance on philosophy, logic, and method […], will be far more fruitful for the understanding of Protestant orthodox and its scholasticism than the easy attachments of labels like ‚Aristotelianism„ to the materials of the late sixteenth and seventeenth centuries.“ 40 Vgl. beispielsweise OBERMAN, The Harvest of Medieval Theology; OBERMAN, Werden und Wertung der Reformation; OBERMAN, The Dawn of the Reformation; STEINMETZ, Calvin in Context; STEINMETZ, Luther in Context; MULLER, The Unaccommodated Calvin; BOLLIGER, Infiniti contemplatio. 41 Vgl. beispielsweise MULLER, Christ and the Decree; MULLER, After Calvin; MULLER, PostReformation Reformed Dogmatics, 4 Bde.; TRUEMAN/CLARK, Protestant Scholasticism; VAN ASSELT/DEKKER, Reformation and Scholasticism; VAN ASSELT, Federal Theology of Cocceius, und die oben in Anm. 39 genannten Aufsätze. Vgl. zum lutherischen Altprotestantismus KOLB, Luther‟s Heirs; KAUFMANN, Konfession und Kultur. 42 Vgl. MACKAY, Geschiedenis bij de bron, 31–138; vgl. zu Turrettin MEIJERING, Reformierte Scholastik, 15, 396–415, und vgl. auch MEIJERING, Die Geschichte der christlichen Theologie. 22 Einleitung stammen, zu interpretieren sind.43 In ihrer Konkretisierung und Anwendung auf die Erforschung der reformierten Orthodoxie begegnen uns diese sieben Gesichtspunkte insbesondere in den Werken Richard Mullers, Willem van Asselts, und Antonie Vos‟.44 Die vorliegende Arbeit knüpft bewusst an diese Forschungstradition an, ohne freilich ausschließen zu wollen, dass es auch andere fruchtbare Ansätze geben kann.45 In ihrer Einleitung zum Sammelband Reformation and Scholasticism (2001) fassen Willem van Asselt und Eef Dekker die methodischen Grundsätze der sogenannten „neuen“ Schule der Erforschung der reformierten Orthodoxie, in deren Kontext auch die vorliegende Arbeit entstanden ist, ungefähr folgendermaßen zusammen: 1. Der Terminus ‚Scholastik„ besagt eine wissenschaftliche Methode der Forschung und Lehre, die als solche weder einen bestimmten lehrmäßigen Inhalt impliziert noch die Vernunft zur Grundlage hat. 2. Neben wichtigen Differenzen besteht eine beachtliche inhaltliche Kontinuität zwischen den Hauptströmungen der Theologie im Mittelalter, der Reformation und der nach-reformatorischen Periode bis zur Aufklärung. 3. Die Bezeichnung scholastischer Theologie als ‚aristotelisch„ ist, wie in der Forschung im zunehmenden Maße deutlich wird, problematisch und sollte in diesem unspezifizierten Sinn besser vermieden werden. 4. Die Anwendung logischer Techniken wie etwa des Syllogismus ist, ob explizit oder implizit, unabdingbarer Bestandteil argumentativer Denkprozesse und kann darüber hinaus nur bei nachweisbaren historischen Komplikationen als Indiz für inhaltliche Abhängigkeiten von früheren Denkern gewertet werden. Als solche hat sie nichts mit einem ‚Aristotelianismus„ zu tun. 5. Die Polemik Martin Luthers und Johannes Calvins gegen die Scholastik sollte nicht als allgemeines hermeneutisches Prinzip zur Auswertung scholastischer Texte missverstanden werden. 6. Sinnvoll hingegen ist die Orientierung am Selbstverständnis der Scholastiker in Bezug auf die von ihnen verwendete scholastische Methode. SKINNER, Meaning and Understanding in the History of Ideas, und vgl. in Bezug auf die Puritanismusforschung TRUEMAN, Puritan Theology as Historical Event. Insbesondere für die Erforschung der frühen Neuzeit gilt Skinner, Mitherausgeber der Cambridge History of Renaissance Philosophy, als Autorität. 44 Vgl. zur methodischen Verantwortung DEKKER, Rijker dan Midas, 1–18; VAN ASSELT, Studie van de gereformeerde scholastiek; VAN ASSELT, Protestant Scholasticism; VOS, Klassiek hervormd; VOS, De kern van de klassieke gereformeerde theologie; VOS, „Ab uno disce omnes“; VOS, Scholasticism and Reformation; MULLER, Post-Reformation Reformed Dogmatics, I, 27–84; MULLER, After Calvin; VAN ASSELT, Scholasticism Protestant and Catholic; VOS, Gereformeerde scholastiek in Middeleeuws perspectief. 45 Wie MEIJERING, Reformierte Scholastik am Beispiel Franz Turrettins zeigt, ist etwa auch die Erforschung der Kirchenväterzitate fruchtbar für das Verständnis der reformierten Orthodoxie. Diese Arbeitsweise ließe sich allerdings auch in die genannte Forschungstradition einordnen. Auch die Arbeit von GOUDRIAAN, Reformed Orthodoxy and Philosophy, beeindruckt, ohne immer konsequent an diese Forschungstradition anzuknüpfen. 43 Methodologische Erwägungen 23 7. Weder ist es charakteristisch für die altprotestantische Scholastik, dicta probantia ohne Berücksichtigung des Kontexts in abstrakter Weise aus der Schrift herauszulösen, noch stehen mittelalterliche Scholastiker an sich der Schrift und biblischen Sprache fern. 8. Wie der christliche Glaube, so hat auch die christliche Theologie ihre eigene Lebensanschauung und ihren eigenen Denkrahmen und ist somit nicht mit einem philosophischen System zu identifizieren, auch wenn philosophische Denkmittel verwendet werden. 9. Die Konzepte des Willens und der Kontingenz sind historisch und systematisch gesehen in ihrer Eigenart Teil des christlichen Denkrahmens. 10. Aus der relativen Platzierung eines locus innerhalb eines dogmatischen Entwurfs lassen sich nicht ohne weiteres inhaltliche Folgerungen ziehen.46 Der entscheidende Vorteil dieses Ansatzes besteht in dem Bemühen, den Autoren der reformierten Orthodoxie unter Berücksichtigung ihres Selbstverständnisses und ihres historischen Kontextes gerecht werden zu wollen, ohne sie mit dem Maßstab einer einzelnen Autorität wie Calvin oder einer späteren theologischen Richtung wie der Neoorthodoxie messen zu wollen. Die genannten zehn Grundsätze entsprechen, wie auch diese Arbeit zumindest teilweise zeigen kann, der eigenen Einschätzung eines Theologen wie Voetius. So ist etwa Voetius, der für seine Bezugnahme auf Aristoteles gegenüber Descartes bekannt ist, nicht ohne weiteres autoritätsgläubig gegenüber Aristoteles – interessanterweise wirft er gerade den Cartesianern Autoritätsgläubigkeit vor.47 Die ältere Forschung hingegen scheint in weiten Teilen von einer Verfallstheorie bestimmt zu sein: Nach dem goldenen Zeitalter der (ersten Jahre der) Reformation falle die lutherische, und womöglich noch gravierender die reformierte Orthodoxie in den doch überwunden geglaubten „Geist der mittelalterliDies ist eine leicht modifizierte, freie Übertragung der zehn Thesen bei VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 39. Diese wiederum lehnen sich im Wesentlichen an MULLER, Calvin and the „Calvinists“ (1); MULLER, Calvin and the „Calvinists“ (2), an. Siehe auch die neuere Version in MULLER, After Calvin, 63–102. Vgl. ferner MULLER, PRRD, I, 27–84; IV, 382–420; VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding; VAN ASSELT, Studie van de gereformeerde scholastiek; VOS, Klassiek hervormd; VOS, De kern van de klassieke gereformeerde theologie; VOS, „Ab uno disce omnes“; TRUEMAN/CLARK, Protestant Scholasticism; VAN ASSELT/DEKKER, Reformation and Scholasticism; VOS, Scholasticism and Reformation; MULLER, The Problem of Protestant Scholasticism; MULLER, „Christian Aristotelianism“; VAN ASSELT, Protestant Scholasticism; BECK/VOS, Conceptual Patterns Related to Reformed Scholasticism; VAN ASSELT, Scholasticism Protestant and Catholic. Vgl. zur scholastischen Methode den folgenden Abschnitt. 47 Vgl. VOETIUS, Thersites, 187–193, hier 192: „[U]bi ego veram ac sanam philosophiam imprimis in Theologico-Philosophicis ex philosophorum Gentilium aut Mahumeticorum Aristotelis scil. et Averrois sensu ac consensu metior? In Naturalibus aquilae illi fuerunt in Theologicis noctuae. Itaque hic a plerisque hodiernis sectatoribus suis, facile deseruntur […] ut patet in quaestionibus, An mundus sit aeternus, an Deus cognoscat singularia, an agat ex necessitate naturae, an Intellectus agens sit corruptibilis, An futurorum contingentium sit determinata veritas, An Deus curet singularia, et sublunaria, An Intelligentiae moveant orbes coelestes etc.“ SD III, 755: „Nihil minus convenit Philosophiae Peripateticae, et nihil magis Pythagorico-Platonicae quam traditio. Notum est decantatum illud Pythagoraeorum ἀτσὸρ ἔυα. Omnia examinabat Aristoteles, tanquam Philosophus […] nullis praedecessoribus sui parcens […].“ Vgl. zur Auseinandersetzung mit Descartes unten, Kap. 2.3, bes. S. 69. 46 24 Einleitung chen Scholastik“ zurück und gehe nahezu bruchlos in den Rationalismus der Aufklärung über.48 Die theologia naturalis verabsolutiere sich hin zu einer selbstständigen Erkenntnisquelle, gleichsam als Vorportal zur Offenbarungstheologie.49 Calvin wird – nicht selten mit neoorthodoxer bzw. barthianischer Brille – gegen die ‚Calvinisten„ ausgespielt, als ob der so verstandene Calvin norma normans reformierter Theologie wäre.50 Eine Variante der Verfallstheorie ist die sogenannte negative Kontinuitätstheorie. Nach dieser wird zwar in Einzelfragen eine Kontinuität zwischen Reformatoren und orthodox reformierten Theologen beobachtet, jedoch gerade dort, wo beide problematisch seien, nämlich in ihrer Abhängigkeit von der mittelalterlichen Scholastik, etwa in Gestalt des Nominalismus.51 Entgegen solcher Verfallstheorien betonen die Vertreter der positiven Kontinuitätstheorie, zu denen sich der Autor dieser Arbeit zählt, eine nicht unbeachtliche inhaltliche Kontinuität zwischen Reformatoren wie Martin Luther, Philipp Melanchthon, Huldrych Zwingli, Martin Bucer, Johannes Calvin, Heinrich Bullinger, Wolfgang Musculus und Peter Martyr Vermigli mit reformiertVgl. nur THOLUCK, Die erste Hälfte des 17. Jahrhunderts; THOLUCK, Die zweite Hälfte des 17. Jahrhunderts; TROELTSCH, Vernunft und Offenbarung; WEBER, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus; BIZER, Die reformierte Orthodoxie; GRÜNDLER, Die Gotteslehre Girolami Zanchis, 24: In Zanchis Gotteslehre „stoßen wir beim Lesen auf jenen Geist der mittelalterlichen Philosophie, von dem sich Calvin befreit hatte.“ Ebd., 126: „In der Theologie Zanchis läßt somit der wiedererwachende Geist der mittelalterlichen Scholastik das reformatorische Denken an einem entscheidenden Punkt zurücktreten und leitet damit den Übergang zur Orthodoxie ein. In dem Maße, in dem unter dem Einfluß der thomistisch-aristotelischen Tradition die christozentrische Ausrichtung der Calvinischen Theologie einer kausalen Metaphysik im Denken seiner Nachfolger Platz machte, hörte die reformierte Theologie auf, Theologie der Offenbarung zu sein.“ Vgl. zur Verfallstheorie VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 29. 49 So zu Voetius B IZER, Die reformierte Orthodoxie, 314–326, 340; ähnlich, trotz anderweitiger Verdienste, BEKER/HASSELAAR, Wegen en kruispunten in de dogmatiek, I, 10–50. Vgl. WEBER, Reformation, Orthodoxie und Rationalismus, II, 106: „Theologische Besinnung wird das Versagen an den eigensten Anliegen der Orthodoxie beobachten und sich dadurch auf den Schaden im theologischen Denken weisen lassen. Das Anliegen ist einerseits die Ehre Gottes, der in souveräner Freiheit sich als Gott der Gerechtigkeit und zugleich der Barmherzigkeit kundmacht, andererseits die Heilsgewißheit, die im syllogismus practicus aus den Zeichen des Erwähltseins genommen wird. Beides ist geeint in der rationalen Konstruktion, die von der Objektivität des Dekrets herabsteigt zu den subjektiven Wirkungen in dem lebendigen Glauben oder umgekehrt von diesem zu jenem hinaufsteigt. Und eben in dieser rationalen Konstruktion des Prädestinatianismus wird beides fragwürdig, und das wird das Gericht über das Denken, das sie schafft.“ Vgl. hierzu BECK, Gisbertus Voetius, 214f., und zur Thematik insgesamt unten, Kap. 5.3.2. 50 Siehe etwa HALL, Calvin Against the Calvinists, und vgl. zu Witsius BAKKER, Miskende gratie, 13: „De hier opgestelde vergelijking zal laten zien, […], dat, na ongeveer 150 jaar gereformeerd protestantisme, van de Calvijnse inzet zo goed als geen steen op de ander gelaten werd.“ Ebd., 15: „Het moest hem of haar [= de lezer, ajb] maar van meet af aan duidelijk zijn, dat het m.i. helemaal fout is gegaan met de orthodoxie, om van de vrijzinnigheid maar te zwijgen.“ 51 So teilweise STREHLE, The Catholic Roots, und auch GRAAFLAND, Gereformeerde Scholastiek V, bes. 7. Nach GRAAFLAND, Van Calvijn tot Barth, und GRAAFLAND, Van Calvijn tot Comrie, besteht der Unterschied zwischen Calvin und den reformierten Theologen vor allem darin, dass letztere weiter gegangen sind als Calvin und Konsequenzen gezogen haben, die Calvin noch nicht ziehen wollte. Vgl. zur negativen Kontinuitätstheorie VAN ASSELT/DEKKER, Introduction. 48 Zur scholastischen Methode 25 orthodoxen Theologen einerseits und zwischen Theologen des Mittelalters wie Thomas von Aquin und insbesondere Duns Scotus, Thomas Bradwardine und Gregor von Rimini mit sowohl den genannten Reformatoren als auch, in stärkerem Maße, den Theologen der reformierten Orthodoxie anderseits.52 Diese doppelte inhaltliche Kontinuität wird vor allem dann sichtbar, wenn zwischen methodischen und inhaltlichen Veränderungen unterschieden wird. Außerdem wird sie, anders als bei der negativen Kontinuitätstheorie, nicht von vornherein als problematisch gewertet, sondern es wird vielmehr mit der Möglichkeit gerechnet, dass Reformation und altprotestantische Orthodoxie beide auf je eigene Weise in einer langen gemeinsamen Tradition der fides quaerens intellectum stehen. 4. Zur scholastischen Methode War bis hierher oft von ‚Orthodoxie„ und ‚Scholastik„ die Rede, so sollten eben diese Termini sollten nicht verwechselt werden. ‚Orthodoxie„ bedeutet in einem weiteren Sinn die bewusste Übereinstimmung mit einem konfessionellen Standard, im Falle der ‚reformierten Orthodoxie„ mit dem Standard reformierter Bekenntnisse. In einem engeren Sinn hat ‚Orthodoxie„ jedoch die Funktion eines Epochenbegriffs. So wird in der Forschung die Epoche von ca. 1565 (Aufkommen der wichtigsten Bekenntnisse und Verscheiden einiger wichtiger reformierter Theologen der zweiten Generation, darunter Calvin) bis ca. 1725 (Dekonfessionalisierung) innerhalb der reformierten Theologie als ‚reformierte Orthodoxie„ bezeichnet.53 In diesem Sinn wird auch in dieser Arbeit der AusVgl. VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 30–38. Siehe KRISTELLER, Renaissance Thought; KRISTELLER, Humanism; VOS, Scholasticism and Reformation, zur Kontinuität der scholastischen Methode bis ins 17. Jahrhundert, und FREEDMAN, Aristotle and the Content, sowie VERBEEK, Descartes and the Dutch, 7, zur Relativierung der Bezeichungen ‚aristotelisch„, ‚Aristotelianer„ oder ‚peripatetisch„ im 16. und 17. Jahrhundert, und MULLER, „Christian Aristotelianism“, zum philosophischen Eklektizismus in der reformierten Orthodoxie. Vgl. zu Scotus LEINSLE, Das Ding und die Methode, I, 63: „Mehr als vom thomanisch-aristotelischen […] Seinsbegriff ist für die Betrachtung der Schulmetaphysik des frühen 17. Jahrhunderts vom Seinsbegriff der skotistischen Tradition auszugehen.“ Wie Ludger Honnefelder richtig beobachtet, stellt Parthinius Minges bereits 1930 fest, dass der in der protestantischen Schulmetaphysik stark rezipierte Jesuit Franciscus Suárez „in wichtigen Fragen der Metaphysik mit Scotus übereinstimmt, selbst da, wo er ihn bekämpft“ (HONNEFELDER, Scientia transcendens, 205). Suárez ist jedoch „keineswegs der einzige Weg, auf dem mittelalterliches Gedankengut in die Metaphysik der Neuzeit einströmt“, wie etwa „das Weiterwirken des scotischen Lehrstücks von den disjunktiven Transzendentalien – das in dieser Form in den Disputationes metaphysicae fehlt – innerhalb der Schulmetaphysik des 17. Jahrhunderts deutlich macht“ (ebd., 202). Voetius wußte Suárez durchaus zu schätzen: „Ubi bene, nemo melius“ (SD V, 83; vgl. V, 469). Vgl. zu Suárez GOUDRIAAN, Philosophische Gotteserkenntnis, 13–167; DARGE, Suárez‟ transzendentale Seinsauslegung. Siehe unten, Synthese und Relevanz, Abschnitt 6. 53 Siehe MULLER, After Calvin, 3–21, 23–46, bes 4, 7, 36. Vgl. MULLER, PRRD, I, 33f., 60–84; VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 13f.; GOUDRIAAN, Reformed Orthodoxy and Philosophy, 3f., mit bedenkenswerten Bemerkungen zur Problematik eines Enddatums. 52 26 Einleitung druck ‚reformierte Orthodoxie„ verwendet, wobei bewusst das sich von nur einer Person herleitende Adjektiv ‚calvinistisch„ vermieden wird, da sich die reformierten Theologen der Orthodoxie selbst in der Regel als ‚reformiert„ und nicht als ‚calvinistisch„ bezeichneten.54 Hat der Terminus ‚Orthodoxie„ inhaltliche Konnotationen, so bezieht sich der Terminus ‚Scholastik„ auf eine wissenschaftliche Praxis oder Methode. Hilfreich ist in diesem Fall der Hinweis auf die etymologische Herleitung von ‚schola„ (‚Schule„). In den Worten des Mediävisten Lambertus M. de Rijk ist ‚Scholastik„ „ein Sammelname für jede wissenschaftliche Aktivität in Philosophie und Theologie, die einer bestimmten Methode folgt. Diese Methode ist dadurch charakterisiert, dass in Forschung wie Lehre ein festes System von Begriffen, Unterscheidungen, Propositionsanalysen, Argumentationstechniken und Disputiermethoden verwendet wird.“55 Es handelt sich hierbei um ein Instrumentarium, das jeder Student seit Gründung der Universitäten um etwa 1200 bis ins 18. Jahrhundert bereits in der Artesfakultät erlernte. Diese Methode wurde auch an den protestantischen Universitäten und Akademien verwendet. Zu Recht versteht daher etwa Richard Muller die reformierte Scholastik im Sinne einer wissenschaftlichen Methode.56 Im 17. Jahrhundert wird mindestens zwischen mittelalterlicher, spanischer, reformierter und lutherischer Scholastik unterschieden, wobei die drei letztgenannten auch als Barockscholastik bezeichnet werden können. Geläufig ist auch der Terminus Jesuitenscholastik statt spanischer Scholastik. Mithilfe einer im Wesentlichen einheitlichen Methode werden im sogenannten konfessionellen Zeitalter die verschiedensten theologischen Positionen verteidigt, jedoch innerDer Terminus ‚Calvinist„ bzw. ‚Calvinismus„ entstand als in der römisch-katholischen Kontroverstheologie verwendete polemische Bezeichnung der reformierten (und teilweise auch insgesamt evangelischen) Christenheit; siehe GANOCZY, Calvinismus, 900, und vgl. unten, Kap. 6.4, Anm. 86; Kap. 11.3, Anm. 52, und außerdem VOETIUS, Desperata causa papatus, 105f. (ich danke Dr. Aza Goudriaan für diesen Hinweis). Vgl. VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 13f., die allerdings den Hintergrund des Terminus ‚Calvinist„ in der Religionssoziologie sehen. 55 DE RIJK, La philosophie au moyen âge, 20f. (vgl. DE RIJK, Middeleeuwse wijsbegeerte, 111): „Personnellement j‟entends le term ‚scholastique„ comme un nom collectif désignant toute activité scientifique, surtout philosophique et théologique, qui suit une méthode déterminée. Cette méthode se caractérise par l‟emploi, tant pour la // recherche que pour l‟enseignement, d‟un système fixé de notions, de distinctions, d‟analyses des propositions, de techniques de raisonnement et de méthodes de disputation. A mon avis l‟aspect didactique du terme est dominant. On peut penser également à la dérivation du mot: scholastique = maître d’école; écolâtre; comme adjectif: ‚scholastique„, c.–à.–d. selon les règles didactiques.“ Vgl. ebd., 82–105, bes. 85. 56 MULLER, PRRD, I, 34–37, hier 34: „It is a theology designed to develop system on a highly technical level and in an extremely precise manner by means of the careful identification of topics, division of these topics into their basic parts, definition of the parts, and doctrinal or logical argumentation concerning the divisions and definitions.“ Ebd., 35: „The term ‚scholasticism,„ when applied to these efforts indicates primarily, therefore, a method and not a particular content.“ Vgl. MULLER, After Calvin, 25–46; LEINSLE, Einführung in die scholastische Theologie, 5–9; VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding, 3f.; VAN ASSELT/DEKKER, Introduction, 25f. 54 Zur scholastischen Methode 27 halb des größeren Raumes einer scientific community.57 Dabei ist die Gültigkeit zweier Axiomata der mittelalterlichen christlichen Theologie im Allgemeinen unumstritten: Erstens ist der Glaube Ausgangspunkt des Denkens, indem er auf ein tieferes Verständnis des Glaubensinhalts hindrängt (fides quaerens intellectum). Zweitens gilt logische Konsistenz bzw. Nichtwidersprüchlichkeit als notwendige, wenn auch nicht hinreichende Wahrheitsbedingung.58 Dies ist auch der Kontext des scholastischen Werks eines Gisbertus Voetius. In einer Disputation De theologia scholastica (1640) hat sich Voetius explizit zum Phänomen ‚Scholastik„ geäußert.59 Dort findet sich zunächst das methodische Verständnis: Im weiten Sinn besagt ‚Scholastik„ die „in den Schulen Europas geläufige Form und Methode der Theologie“, deren Name darauf zurückzuführen ist, dass sie „in den Schulen überliefert wird und ihre Eigenart und Methode (ratio ac methodus) eine andere ist als die derjenigen Theologie, die in den Kirchen verkündet wird“.60 Im strikten Sinn ist unter ‚Scholastik„ zu verstehen „[…] diejenige Form und Methode der Theologie, die zunächst übersichtlich in den vier Büchern der Sententiae zu finden ist und die Thomas von Aquin nach Lombardus in den drei Teilen seiner Summa theologiae dargelegt hat. Dazu zählen auch alle Kommentatoren der Sententiae unmittelbar danach, mit ihren Disputationen und Kommentaren zu Lombardus, und die jüngeren Scholastiker mit ihren Kommentaren zu Thomas. Schließlich zählen dazu alle Autoren von Anthologien und diejenigen, die Quodlibeta abhielten und sich weitere Quaestiones und Quodlibeta ausgedacht haben.“61 Voetius fügt jedoch sofort hinzu, dass die von ihm bevorzugte scholastische Theologie bzw. „der scholastische, das ist: der didaktische und apologetische (elencticus) Theologieprofessor“, sich „himmelweit“ von den scholastischen Kommentatoren der Sententiae unterscheidet.62 Wie die konkreten Kritikpunkte Voetius‟ an den Sentenzenkommentatoren im weiteren Verlauf der Disputation ausweisen, kritisiert Voetius nicht so sehr die scholastische Methode an sich, VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding, 10–12. Vgl. insgesamt LEINSLE, Einführung in die scholastische Theologie, und insbesondere zur spanischen Scholastik KNEBEL, Wille, Würfel und Wahrscheinlichkeit 58 Vgl. DE RIJK, La philosophie au moyen âge, 107–112; DEKKER, Rijker dan Midas, 8f. 59 SD I, 12–29. Ich folge hier im wesentlichen der Darstellung bei VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding. 60 SD I, 13: „Late [sumi potest vox Theologiae Scholasticae] pro formula ac methodo illa Theologiae, quae in scholis Europaeis […] obtinuit. Eam ita vocabant, tum quod in scholis traderetur et alia ejus ratio ac methodus esse, quam ejus quae in ecclesiis personaret: tum quod contra distincta esset a Theologia Ecclesiastica.“ 61 SD I, 13f.: „Stricte pro formula et methodo Theologiae, qualem synoptice libris quatuor sententiarum, et post eum Thomas tribus partibus summae suae Theologicae exhibuit et sic deinceps in disputationibus et commentariis ad Lombardum omnes sententiarii, et ad // Thomam recentiores scholastici; denique omnes eclogarii et quodlibetarii, qui seorsim quaestiones et quodlibeta fabricaverunt.“ Ein Quodlibet ist eine Disputation, bei der der Respondent eine aus dem Publikum frei („de quolibet“) aufgeworfene quaestio behandelt. Siehe DE RIJK, La philosophie au moyen âge, 128, und vgl. VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding, 23, Anm. 67. 62 SD I, 14: „Nam scholasticam Theologicam et scholasticum, hoc est didacticum et elencticum Theologiae Professorem […] putamus toto coelo a scholasticis sententiariis differre.“ 57 28 Einleitung sondern die konkrete inhaltliche Anwendung dieser Methode.63 So beanstandet er etwa, dass diese Scholastiker „all zu viele Fragen und Kontroversen erfinden und anhäufen“ wollen oder „unnütze, eitle, kuriose, gefährliche, absurde, ja, blasphemische Fragen“ behandeln.64 Ein weiterer Kritikpunkt ist, dass die Scholastiker „sich bemühen, die Glaubensmysterien aufgrund der Vernunft und dem natürlichen Licht zu beweisen, oder aufgrund der Philosophie und menschlicher philosophischer Autorität.“65 Für Voetius sind derartige Versuche somit kein Beispiel eines gesunden Gebrauchs der scholastischen Methode, wie er selbst sie praktizieren wollte. In diesem Sinne also empfiehlt er seinen Kollegen und Studenten die Verwendung der scholastischen Methode und, trotz aller Beanstandungen, auch das Studium der scholastischen Theologen verschiedener Epochen und Konfessionen.66 5. Verwendete Texte Für diese Arbeit wurde der größte Teil der bekannten Werke und Disputationen Voetius‟ eingesehen und, sofern relevant, ausgewertet. Die meisten dieser Werke kommen bereits im ersten Teil zur Sprache, wobei die für Voetius‟ Theologieverständnis und Gotteslehre wichtigsten Werke in Kap. 1.4.2, Kap. 2 und Kap. 4.2f. behandelt werden. Voetius hat kein dogmatisches System im eigentlichen Sinn verfasst. Stattdessen hat er ausgewählte Themen in besonderer Ausführlichkeit in seinem fünfbändigen Werk Selectae Disputationes (1648–1669) behandelt.67 Johannes Heinrich August Ebrards (1818–1888) hat diese fünf Bände in allzu überschwänglicher, in der Sache jedoch nicht unzutreffender Weise folgendermaßen charakterisiert: „In ihnen liegt das ausgearbeitetste System der reformirten Dogmatik und Moral vor, und wer eine reformirte Dogmatik schreiben will, der wird vor allem die allerdings nicht geringe Mühe nicht scheuen dürfen, diese 5 Quartanten durchzuarbeiten. […//…] Man hat aber die Mühe, die dogmatisch wichtigen Quästionen wie Perlen aus dem Dünger heraus- Dies ist auch die Einschätzung bei VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding, 22–25. SD I, 23: „1. Quod quaestionibus et controversiis nimis multis inveniendis et coacervandis unice intenti sunt. 2. Quod nonnunquam, et ex professo nimis langueant circa quaestiones inutiles, vanas, curiosas, periculosas, absurdas, immo et blasphemas.“ Vgl. oben, Kap. 11.3; 11.4. 65 SD I, 24: „Quod [scholastici] plerumque committant μεσάβαςιμ ἐιρ ἄλλξ γέμξρ: et mysteria fidei ex ratione et lumine naturali, aut ex Philosophia atque authoritate philosophica humana probare satagant.“ 66 SD I, 27–29. 67 In Kap. 4.2.2 wird dieses Werk näher erläutert. Eine Übersicht aller aufgenommenen Disputationen findet sich in Appendix 1. Appendix 2 bietet einen chronologischen Schlüssel zu diesen Disputationen. 63 64 Verwendete Texte 29 zusuchen. Aber diese Mühe wird dadurch reichlich belohnt, daß man eine so unglaublich scharfe Darstellung des reformirten Lehrbegriffs erhält, wie nirgends anders.“68 Dieses Werk ist eine der wichtigsten Quellen für Voetius‟ Theologiebegriff (Teil 2) und die Hauptquelle für seine Gotteslehre (Teil 3). Im Hinblick auf den Theologiebegriff sind insbesondere wichtig die Disputationsreihen „De Atheismo“ (vier Teile, 1639)69 im ersten und „De modis cognoscendi Deum“ (sechs Teile, 1665)70 im fünften Band. Die einschlägigen Disputationen für die Gotteslehre sind im ersten Band „De unica et simplicissima Dei essentia“ (1637) 71, „De scientia Dei“ (1637)72, „De conditionata seu media in Deo scientia“ (vier Teile, 1643–1644)73, „De jure et justitia Dei“ (1639)74, „Appendix ad disputationem theologicam de jure et justitia Dei“ (zwei Teile, 1644) 75, „De potentia Dei deque possibili et impossibili“ (vier Teile, 1644)76 sowie „De necessitate et utilitate dogmatis de SS. Trinitate (zwei Teile, 1639)77. Außerdem finden sich im fünften Band „Problemata de Deo“ (neun Teile, 1652–1661)78 und „Notae et exercitationes ad Thomae part. I. qu. 27–44 de Personis Divinis“ (1653).79 Insgesamt sind dies 536 Seiten im ersten und letzten der fünf Quartbände. Dazu kommt eine große Zahl an Disputationen, die für Einzelaspekte der Gotteslehre oder des Theologiebegriffs wichtige Informationen enthalten und hier nicht aufgelistet werden können.80 Erwähnenswert sind außerdem einige weitere relevante Disputationen, die Voetius nicht in diese fünf Bände aufgenommen hat.81 68 EBRARD, Christliche Dogmatik, I, 73f. Unmittelbar an das Zitat schließt sich an: „Namentlich die Prädestinationslehre ist gerade bei Gisb. [Voetius] so haarscharf bestimmt, das jener ganze Determinismus, welchen Schweizer als reformirte Lehre darstellen möchte, hier in allen seinen nur möglichen Formen ausdrücklich verworfen wird, (wenn schon die absolute Prädestination selbst gelehrt wird).“ Ebrard wendet sich gegen SCHWEIZER, Glaubenslehre. 69 SD I, 114–225. 70 SD V, 455–525. 71 SD I, 226–245. 72 SD I, 246–264. 73 SD I, 264–339. 74 SD I, 339–364. 75 SD I, 364–402. 76 SD I, 402–434. 77 SD I, 466–511. 78 SD V, 48–136. 79 SD V, 136–147. 80 Die Stellenangaben in den Fußnoten lassen sich jeweils über Appendix 1 den entsprechenden Disputationen zuordnen. 81 Siehe insbesondere die in dieser Arbeit erstmals erwähnte und behandelte „Disputatio Philosophico-Theologica, continens Quaestiones duas, de Distinctione Attributorum divinorum, et Libertate Voluntatis“, Utrecht 1652 (Sub Praesidio D. Gisberti Voetii […] Publice ventilandas proponit Engelbertus Beeckman) (siehe unten, Kap. 7.7.2 und 12.3f.). Außerdem „Disputatio theologica de decretis in Deo conditionatis“, Utrecht 1643 (Sub praesidio Gisberti Voetiii [...] exhibet Matthias Nethenus); „Disputatio theologica de concursu determinante, an determinabili?“, Utrecht 1645–46 (Tres sectiones. Sub praesidio D. Gisberti Voetii [...] publice examinandum proponit M. Matthias Nethenus); „Disputa- 30 Einleitung Für eine systematische Kategorisierung dieser Dispositionen stellt der Syllabus problematum theologicorum (1643) ein wichtiges Hilfsmittel dar. Dort rubriziert Voetius einen umfangreichen Fragenkatalog zu dogmatischen Problemen mithilfe einer aufschlussreichen Feingliederung.82 Überraschend ergiebig für Voetius‟ Theologiebegriff und auch seine Gotteslehre ist die Catechisatie over den Heidelbergschen Catechismus (1653).83 Weitere wichtige Quellen, insbesondere für die Gotteslehre, sind die antiremonstrantischen Schriften Thersites heautontimorumenos (1635)84 und De termino vitae (1636)85. Dazu kommt die für den Theologiebegriff bedeutsame Diatriba de theologia, die 1647 in zwei Disputationen verteidigt und 1668 erneut veröffentlicht wurde.86 6. Zum Genre der Disputationen Die wichtigsten der in dieser Arbeit verwendeten Quellentexte sind allesamt Disputationen. Seit Entstehung der Universitäten ist die Disputation „eines der wichtigsten und einflussreichsten Kennzeichen der scholastischen Methode“.87 Dabei bezeichnet der Terminus ‚Disputation„ einerseits eine im akademischen Kontext nach festen Regeln stattfindende Diskussion und andererseits entweder deren schriftliche Wiedergabe (so im Mittelalter) oder die bereits vor der Diskussion veröffentlichten Thesen, die ein Respondent unter Vorsitz eines Professors zu verteidigen hatte (so an den Universitäten nach der Reformation).88 tio Theologica de eo quod Deus est“, Utrecht 1665 (Sub praesidio Gisberti Voetii, S.S. Theol. Doct. [...] Publice examini subjicit, Johannes Scriba Moersensis). 82 Siehe zum Syllabus unten, Kap. 4.3. Einschlägig sind für den Theologiebegriff „De Theologia“ (A1r–A2r); „De Summo Bono seu Beatitudine“ (A2r–A4r); „De principiis christianorum Dogmatum“ (A4r–C4v); und für die Gotteslehre „De Deo“ (D1r–D4r); „De Attributis Dei in genere“ mit „De Attributis Dei in specie et quidem primi generis“ und „De Attributis secundi generis“ (D4r–G3r); „De Trinitate Personarum et quidem in genere“ mit „De Trinitate personarum in specie“ (G3r–K1r); „De Decretis seu actionibus Dei immanentibus“ (K1r–K1v). 83 Siehe zur Catechisatie unten, Kap. 4.3. Wichtig sind für den Theologiebegriff „Van de Heylige Theologie“ 43–54); „Aenhanghsel van de Van de Heylige Theologie“ (43–54); „Aenhanghsel van de Natuerlicke Theologie“ (54f.); „Van de Christelijke Religie“ (55–60); und für die Gotteslehre „Van het eenigh Goddelick Wesen“ (275–291); „Van de Goddelicke Eygenschappen“ (292–309); „Van het Besluyt Godts“ (309–312). 84 Siehe hierzu unten, Kap. 1.4.2. 85 Siehe hierzu unten, Kap. 1.3.3. 86 VOETIUS, Diatribae de Theologia, 1–17. Siehe hierzu unten, Kap. 4.3. 87 KENNY, Medieval Philosophical Literature, 24f.: „Although scholars are unanimous in seeing the disputation as one of the most important and influential features of scholastic method, they are less // agreed about the presuppositions and antecedents of the institution.“ 88 VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding, 14–16, hier 14. Vgl. zum Genre der Disputationen VAN DER WOUDE, Nederlandse dissertaties; GERBER, Disputatio als Sprache des Glaubens; KENNY, Medieval Philosophical Literature; HÖDL, Disputatio; LAWN, The Rise and Decline of the ‚Quaestio Disputata„; MARTI, Disputation; POSTMA/VAN SLUIS, Auditorium Academiae Franekerensis, IX-XIX; DE NIET, Inleiding, xlii–xlvi; AHSMANN, Collegium und Kolleg; MÜLLER, Promotionen und Promotionswesen an Zum Genre der Disputationen 31 Die schriftliche Wiedergabe einer mittelalterlichen Disputation wird dabei mittels der sogenannten ‚Quaestio„-Technik erarbeitet. Zum vertieften Verständnis einer bestimmten Frage bzw. eines bestimmten Problems werden zunächst Einwände gegen den eigenen Standpunkt genannt, sodann eines oder mehrere Argumente zugunsten des eigenen Standpunkts. Darauf folgt eine Entfaltung der eigenen Antwort, in deren Licht schließlich die anfangs aufgezählten Einwände besprochen werden.89 Die protestantischen Universitäten und Akademien haben mit der scholastischen Methode die Disputation als wichtiges pädagogisches Hilfsmittel von der mittelalterlichen Universität übernommen. Anfangs bestanden die schriftlichen Disputationen ausschließlich aus einer Reihe von Thesen, die nicht mehr als einen Bogen, also acht Seiten, einnahmen, so etwa an der 1575 gegründeten Universität Leiden.90 Ab etwa 1600 wurden die Thesen erweitert und die mittelalterliche ‚Quaestio„-Technik lebte teilweise wieder auf.91 Besonders bei Voetius konnten die Disputationen auf diese Weise zu monographischem Umfang anwachsen.92 In seiner Exercitia et bibliotheca studiosi theologiae (1644) bespricht Voetius die Disputationen als wichtigste der (halb-)öffentlichen akademischen Übungen.93 Sie sind, so Voetius, hervorragend dazu geeignet, genaue und deutliche Begriffe für schwierige und dunkle Angelegenheiten zu entwickeln, weshalb sie mindestens im wöchentlichen Rhythmus organisiert werden sollten. 94 Die theologischen Disputationen sollten dabei schlicht und ohne rhetorischen Schmuck sein, dafür aber logisch aufgebaut und deutlich kommunizierend.95 deutschen Hochschulen der Frühmoderne; DE JONGE, Willem Godschalck à Focquenbourg (Focquenbroch); APPOLD, Orthodoxie als Konsensbildung. 89 Vgl. DE RIJK, La philosophie au moyen âge, 100f.; KENNY, Medieval Philosophical Literature, 25f. Bei theologischen Disputationen spielt bei den Argumenten zugunsten des eigenen Standpunkts zumeist ein Schriftzitat als Autorität par excellence oder ein anderer autoritativer Text wie ein Väterzitat eine besondere Rolle. 90 Siehe zu den Disputationen in Leiden AHSMANN, Collegium und Kolleg, bes. Kap. 4. 91 Insgesamt gesehen ist die quaestio disputata im 17. Jahrhundert eher eine Ausnahme; vgl. LAWN, The Rise and Decline of the ‚Quaestio Disputata„, 129–144. Siehe außerdem unten, Kap. 1.4.1. 92 Ein Beispiel hierfür ist die wesentliche Elemente der ‚Quaestio„-Technik aufgreifende vierteilige Disputationsreihe „De conditionata seu media in Deo scientia“ (SD I, 264–339), die in dieser Arbeit ausführlich erörtert wird; siehe Kap. 8.3.2–11. Besonders umfangreich ist die zehnteilige Disputationsreihe „De creatione“, die inklusive paralipomena, appendices und corollaria weit über 300 Seiten umfasst (SD I, 552–870). Siehe zu den Disputationen bei Voetius KERNKAMP, De Utrechtse Universiteit, I, 147f; VAN ASSELT/DEKKER, Inleiding, 16–22; DE NIET, Inleiding, xlii–xlvi. Vgl. unten, Kap. 1.4; 4.2.2. 93 VOETIUS, Exercitia et bibliotheca (1644), Kap. 9, 80–93. Die anderen Übungen sind declamationes, lectiones, collegia und examina. Vgl. DE NIET, Inleiding, xliii–xlv. Siehe zur Exercitia et bibliotheca unten, Kap. 4.2.1. 94 VOETIUS, Exercitia et bibliotheca (1644), 81: „Ut jam non dicam hac ratione ingeniis acroamaticis optime instillari distinctos, accuratos et evidentes conceptus de rebus difficilibus, obscuris aut intricatis.“ 95 VOETIUS, Exercitia et bibliotheca (1644), 81: „Pressae ut sint, acroamaticae et logicae, absque verborum ambagibus et rhetoricationibus praecipit apud nos communis scholarum consuetudo: quam 32 Einleitung Interessant ist, dass sich Voetius explizit zur Frage der Autorschaft der Disputationen äußert: Die gewöhnlichen Disputationen, wie sie sich etwa in den Selectae Disputationes finden, sind in der Regel vom Vorsitzenden, also von Voetius selbst, und in Ausnahmefällen „von einem gebildeten Respondenten“ verfasst.96 Selbst wenn der Respondent schriftstellerisch aktiv war, bleibt in Voetius‟ Augen der Praeses verantwortlich für den Inhalt.97 So hat Voetius eine derartige Disputation bzw. mehrteilige Disputationsreihe als sein eigenes Werk in die Disputationes selectae aufgenommen.98 Außer dieser Disputationsreihe wurden alle übrigen dort aufgenommenen Disputationen vermutlich direkt vom Praeses verfasst. Insgesamt können die in die fünf Bände der Disputationes selectae aufgenommenen ursprünglichen Disputationen somit als genuines Werk Voetius‟ behandelt werden. Das gilt a fortiori von diesen fünf Bänden selbst, worin die aufgenommenen Disputationen in den meisten Fällen nochmals redigiert wurden.99 In dieselbe Richtung weisen auch immer wiederkehrende stilistische Eigenheiten sowie verschiedene Hinweise auf eigene Werke und seine Söhne oder Freunde, jeweils in der ersten Person Singular.100 ego arbitror imprimis in rebus divinis esse laudatissimam: ubi etiam vera dicere periculosum est.“ Vgl. zur Argumentationstechnick SD IV, 1–16. 96 VOETIUS, Exercitia et bibliotheca (1644), 84: „[…] commentatio aliqua Theologica a praeside (nonnumquam et ab erudito Respondente) conscripta“. Aus dem Kontext, der den akademischen Übungen insgesamt gewidmet ist, ergiebt sich, dass Voetius hier disputationes exercitii causa im Blick hat. Disputationes de gradu hingegen waren in der Regel vom Promovenden verfasst, wobei jedoch der Praeses zugleich ‚auctor intellectualis„ war. Siehe VAN DER WOUDE, Nederlandse dissertaties; POSTMA/VAN SLUIS, Auditorium Academiae Franekerensis, IX-XIX; AHSMANN, Collegium und Kolleg; DE JONGE, Willem Godschalck à Focquenbourg (Focquenbroch). Selbst in der besonders komplexen Situation an der Universität Wittenberg zwischen 1570 und 1710 gilt, dass in jedem Fall „der Praeses eine rechtliche Verantwortung für die Disputationsthesen trägt“; siehe APPOLD, Orthodoxie als Konsensbildung, 77–84, hier 84. Ein Beispiel für eine vom Respondenten verfassten Disputation bzw. Disputationsreihe in Voetius‟ Selectae Disputationes ist wiederum „De conditionata seu media in Deo scientia“ (Autor et respondens: Matthias Nethenus; SD I, 264–339). 97 Vgl. SD V, 513: „Sed forte quis excipiet contra allegatam hanc disputationem Heereboordi, esse eam conscriptam a Respondente, uti hoc innuere videntur literae A et R (hoc est, autor et Respondens) subjectae nomini Respondentis in dedicatione. Et cautelam salutarem in titulo et frontispicio disputationis insertam, Exercitii Gratia. Ad hoc Respondemus: Quidquid de eo sit, nihilominus praestandam Heereboordo hanc disputationem: quod disputationi illi a Respondente scriptae et a se perlectae et typis descriptae, publicum suum praesidium omnino donaverit.“ 98 Siehe oben, Anm. 96. 99 Wo dies nicht geschah, erfolgt ein entsprechender Hinweis wie in SD III, 1194: „Exhibeo contra morem meum, primam hujus disputationis partem quae est de Sortibus, absque ulla per δετσέπψρ υπξμσίδαρ emendatione, accuratione, additione.“ 100 Siehe u.a. SD I, 144, 156, 160, 170, 253, 257, 384; II, 124, 459, 545; V, 74, 90, 126f., 477. Derartige Verweise finden sich bereits in den ursprünglichen Disputationen, wie ein Vergleich mit den vierteiligen Disputationsreihen „De Atheismo“ (Resp.: GUALTERUS DE BRUYN; 1639) und „De potentia Dei deque possibili et impossibili“ (Resp.: JOHANNES CARRE, 1644) sowie den Disputationen „De unica et simplicissima Dei essentia“ (Resp.: JOHANNES ALMELOVEEN; 1637) und „De scientia Dei“ (Resp.: ENOCHUS POTTEY; 1637) ergibt. Ich habe hierfür die in der „Andover-Harvard Theological Library“ (Cambridge, Mass.) vorhandenen Exemplare verwendet (Signatur: R.B.R. 602.2 V876.4 dsd 1637). Zum Aufbau der Untersuchung 33 7. Zum Aufbau der Untersuchung Diese Arbeit umfasst drei Teile und ist, abgesehen von Einleitung und Schluss, in insgesamt zwölf Kapitel gegliedert. Der erste Teil stellt Voetius‟ Leben und Werk im Kontext seiner Zeit dar und bereitet dabei die beiden übrigen Teile vor. Bereits in der skizzenhaften Darstellung seiner Biographie im ersten Kapitel begegnen wir zwei wichtigen Auseinandersetzungen, in die Voetius verwickelt war, nämlich die Auseinandersetzung mit dem Remonstrantismus und mit Jansenius. Weitere wichtige Schwerpunkte dieses Kapitels bilden Voetius‟ Ausbildungsgang und sein Wirken als Theologieprofessor und Pfarrer. Die im zweiten Kapitel geschilderte Auseinandersetzung mit dem Cartesianismus ist in verschiedener Hinsicht relevant für Voetius‟ Theologieverständnis und Gotteslehre. Ebenfalls relevant sind die Auseinandersetzungen mit dem Coccejanismus, mit Maresius und dem Magistrat sowie, in geringerem Ausmaße, mit dem Labadismus (Kap. 3). Im den ersten Teil abschließenden vierten Kapitel werden Voetius‟ Hauptwerke und einige weitere Werke besprochen. Sodann wird der Versuch unternommen, anhand eines Überblicks zur Forschung der Nadere Reformatie Voetius‟ Rolle innerhalb dieser Reformbewegung zu bestimmen und auf deren Verhältnis zum Pietismus einzugehen. Der zweite Teil arbeitet einige wichtige Aspekte des Theologiebegriffs bei Voetius heraus und ist somit den Prolegomena und insbesondere der Frage nach der Gotteserkenntnis gewidmet. Im fünften Kapitel wird vor allem das Verhältnis zwischen natürlicher und übernatürlicher Theologie bestimmt und die Eigenart der Theologie als scientia practica erörtert. Das sechste Kapitel hebt die Gottesgemeinschaft als Horizont der Theologie hervor. Dem eigentlichen Kern dieser Arbeit ist der dritte Teil gewidmet, in dem die Grundlinien der Gotteslehre bei Voetius entfaltet werden, wobei die Trinitätslehre jedoch nur gestreift werden kann. Das einleitende siebte Kapitel erörtert zunächst die Frage, inwiefern Gott mit menschlicher Sprache benannt und Eigenschaften auf ihn prädiziert werden können. Daran schließt sich eine Behandlung der Eigennamen Gottes sowie der Unterscheidung und Einteilung der göttlichen Eigenschaften an. Abschließend werden die regulativen Eigenschaften entsprechend der Quellenlage vergleichsweise bündig besprochen. Da die ausführlichsten Disputationen innerhalb Voetius‟ Gotteslehre den operativen Eigenschaften gewidmet sind, können diese gründlich behandelt werden. Das gilt insbesondere für Gottes Wissen, da Voetius sich in detaillierter Weise zur heute wieder viel diskutierten Kontroverse um das jesuitische Konzept der scientia media geäußert hat, welches von Arminius und den Remonstranten übernommen wurde (Kap. 8). Im Rahmen der sich anschließenden Darlegungen zu Gottes Willen werden die Frage des Verhältnisses von Gottes gutem Willen zum Bösen sowie die Frage, inwiefern Voetius‟ Betonung des göttlichen Willens zum Determinismus führt, erörtert (Kap. 9). Gottes Recht und Gerechtigkeit werden als Dispositionen des göttlichen Willens in einem 34 Einleitung eigenen Kapitel thematisiert (Kap. 10). Daran schließen sich Fragen zum den göttlichen Willen ausführenden Vermögen bzw. Gottes Macht an (Kap. 11). Die Dekretenlehre schließlich kommt im zwölften Kapitel zur Sprache, wobei zugleich im Sinne einer Gegenprobe entfaltet wird, inwiefern Voetius bei Betonung des göttlichen Dekrets und des concursus divinus eine Freiheitsdimension des menschlichen Willens wahren kann. Im Schlusskapitel der Arbeit wird eine teilweise extrapolierende Synthese einiger wichtiger Aspekte des Theologieverständnisses und insbesondere der Gotteslehre bei Voetius gewagt. Außerdem wird eine traditionsgeschichtliche Einordnung der Gotteslehre versucht und werden, im Sinne eines Ausblicks, einige kurze Überlegungen zur Relevanz der Gotteslehre bei Voetius angestellt. Ergiebiger im Hinblick auf eine Zusammenfassung der wichtigsten Ergebnisse dieser Arbeit ist jedoch die fortlaufende Lektüre der beiden Resümees im ersten und der Zusammenfassungen der einzelnen Kapitel im zweiten und dritten Teil. Die einzelnen Teile und auch die einzelnen Kapitel sind so konzipiert, dass sie nicht nur im Gesamtzusammenhang, sondern – so weit als möglich – auch für sich gelesen werden können. Abschließend noch einige Anmerkungen zu den lateinischen Zitaten in den Fußnoten. Offensichtliche Druckfehler sind stillschweigend verbessert und die meisten Abkürzungen werden aufgelöst. Die barocken Ausschmückungen des Druckers wie etwa typographische Besonderheiten, Ligaturen oder auch die vielfältigen Akzente werden in Übereinstimmung mit gängiger Praxis nicht übernommen. Die Interpunktion wird jedoch beibehalten. Wo nicht anders angegeben, entstammen alle Hervorhebungen dem Original. Eine Harmonisierung der unterschiedlichen Schreibweise des Lateinischen in den verschiedensten Quellen wird nicht angestrebt. Auch die Angaben zu Teilen, Büchern, Abschnitten, Distinctiones, Quaestiones usw. werden nicht bei allen Quellen nach einem uniformen System vorgenommen. Vielmehr wird von Fall zu Fall nach einer sinnvollen Lösung gesucht, die einerseits so viel wie möglich den üblichen Gepflogenheiten Rechnung trägt und andererseits eine rasche Identifizierung der jeweils zitierten Stelle, je nach Situation in nur einer oder aber mehreren Ausgaben, ermöglicht. Die Zahlen zwischen Klammern beziehen sich dabei konsequent auf die Seiten- bzw. Spaltenangaben der jeweiligen von mir benutzten Ausgabe, die leicht über das Abkürzungs- oder Literaturverzeichnis identifiziert werden kann.101 Sofern nicht anders angegeben, stammen alle Übersetzungen von mir. 101 Man beachte, dass sich das Abkürzungsverzeichnis lediglich als Ergänzung zum entsprechenden Verzeichnis in der RGG4 versteht.