Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag

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Leseprobe - Wilhelm Fink Verlag
Lillge · Breitenwischer · Glasenapp · Paefgen (Hg.)
DIE NEUE AMERIKANISCHE FERNSEHSERIE
Claudia Lillge · Dustin Breitenwischer
Jörn Glasenapp · Elisabeth K. Paefgen (Hg.)
DIE NEUE
AMERIKANISCHE
FERNSEHSERIE
Von Twin Peaks bis Mad Men
Wilhelm Fink
Umschlagabbildung:
© Roberto Chessa
(www.stilfreund.de)
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Einbandgestaltung: Evelyn Ziegler, München
Printed in Germany
Herstellung: Ferdinand Schöningh GmbH & Co. KG, Paderborn
ISBN 978-3-7705-5690-8
INHALT
CLAUDIA LILLGE, DUSTIN BREITENWISCHER, JÖRN GLASENAPP
ELISABETH K. PAEFGEN
Große Fernseherzählungen und ihre Lektüren
UND
7
FAMILIEN/BANDE
19
HANS RICHARD BRITTNACHER
Glanz und Elend der Mafia: THE SOPRANOS
als Sittengemälde aus New Jersey
45
CLAUDIA LILLGE
Jenseits des Serienprinzips: SIX FEET UNDER
83
JÖRN GLASENAPP
Das Erbe Capras: Amerikanische Träume in GILMORE GIRLS
HEIMAT/SCHUTZ
105
THOMAS MORSCH
24: Der permanente Ausnahmezustand
131
LUKAS FÖRSTER
„A different kind of cop“: THE SHIELD
151
ELISABETH K. PAEFGEN
„There are no second acts in American lives“: THE WIRE
MACHT/ANSPRUCH
181
DUSTIN BREITENWISCHER
„…tell him something pretty…“: DEADWOOD und die Verräumung
großer Erwartungen
209
CLAUDIA MAASS UND MARCUS SCHOTTE
„Pull a rabbit out of your hat“: Überwältigungsstrategien
in der Anwaltsserie BOSTON LEGAL
6
229
INHALT
MELANIE LÖRKE
„What’s next?“ THE WEST WING als positive Gegenwelt
KÖRPER/WELTEN
255
GEORGIANA BANITA
Queer optimism? Ästhetik und Politik des Versagens in THE L WORD
281
LISA GOTTO
Scars ’n’ Screens: NIP/TUCK
UN/FERTIGES
303
ELISABETH K. PAEFGEN
Sad Men and Women: MAD MEN als Studie in Traurigkeiten
PROLOG/EPILOG
331
DAGMAR VON HOFF
Serialität des Unheimlichen: David Lynchs TWIN PEAKS
349
Über die Autorinnen und Autoren
CLAUDIA LILLGE, DUSTIN BREITENWISCHER,
JÖRN GLASENAPP UND ELISABETH K. PAEFGEN
GROSSE FERNSEHERZÄHLUNGEN UND IHRE LEKTÜREN
Das Bekenntnis, ‚seriensüchtig‘ oder gar ein ‚Serienjunkie‘ zu sein, das man von
literatur- und medienaffinen Rezipienten heutzutage häufig vernimmt, gilt nicht
nur in den USA, sondern auch in Europa schon längst als Indiz für anspruchsvolle
Unterhaltung und anregenden Kulturgenuss. Sogenannte ‚Qualitätsfernsehserien‘
oder auch ‚Autorenserien‘ machen mittlerweile selbst diejenigen süchtig,1 die dem
Fernsehen gegenüber stets als immun galten.2 Die Ursachen dieses Booms sind –
dies ist in der einschlägigen Forschung häufig betont worden – einerseits auf Seiten
der Produktion, andererseits auf Seiten der spezifischen Rezeptionsmöglichkeiten
zu finden. Denn speziell jüngeren Serienformaten US-amerikanischer Provenienz
gesteht man zu, dass durch sie neue, inspirierende Formen des audio-visuellen Erzählens entstanden sind, die im Hinblick auf ihre epische Gestaltung und narrative
1 Zum Begriff der ‚Qualitätsserie‘ vgl. die für diesen Sammelband als grundlegend betrachtete
Definition von Jane Feuer: „The judgement of quality is always situated. That is to say,
somebody makes the judgement from some aesthetic or political or moral position. […]
Reception theory teaches us that there can never be a judgement of quality in an absolute
sense but that there are always judgements of quality relative to one’s interpretative community of reading formation. That is why the term quality TV has to be used descriptively if one
wants to understand how it operates discursively.“ (Jane Feuer: „HBO and the Concept of
Quality TV“, in: Janet McCabe und Kim Akass (Hrsg.): Quality TV: Contemporary American Television and Beyond, London und New York 2007, S. 145-157, hier: S. 145-146) Den
in Analogie zum Autorenkino der 1960er Jahre verwendeten Begriff ‚Autorenserie‘ klärt
Christoph Dreher. Dieser erläutert, dass bei Autorenserien diejenigen, welche die Show ‚erfunden‘ haben, wichtiger werden als die Regisseure, deren Arbeit eher darin bestehe, einem
„eingespielten Team von Schauspielern, Filmarbeitern und dem Creator interessiert dabei“
zuzusehen, „wie sie eine weitere Folge dieses in sich so vielfältigen und dennoch homogenen
Riesenwerks flüssig und inspiriert und mit sehr viel Spaß realisier[e]n. […] Die Chefautoren, die Creators, haben das erste und das letzte Wort, sie sind omnipräsent, während die
Regisseure, zumeist von Folge zu Folge wechselnd, die Umsetzung der Stoffe unter aufmerksamer Beobachtung durch die Creators besorgen.“ (Christoph Dreher: „Autorenserien: Die Neuerfindung des Fernsehens“, in: ders. (Hrsg.): Autorenserien: Die Neuerfindung
des Fernsehens. Auteur Series: The Re-invention of Television, Stuttgart 2010, S. 23-61, hier:
S. 47).
2 Vgl. zum Beispiel das von Richard Kämmerlings geführte Schriftstellergespräch: „Das Fernsehen schaut uns an“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (8.10.2012), http://www.faz.net/
aktuell/feuilleton/buecher/2.1719/schriftstellergespraech-das-fernsehen-schaut-unsan-1612560.html [Zuletzt aufgerufen am 15.8.2013] sowie ders.: „THE WIRE: Ein Balzac
für unsere Zeit“, in: Frankfurter Allgemeine Zeitung (14.5.2010), http://www.faz.net/aktuell/feuilleton/buecher/the-wire-ein-balzac-fuer-unsere-zeit-1581949.html [Zuletzt aufgerufen am 15.8.2013].
8
CLAUDIA LILLGE, DUSTIN BREITENWISCHER, JÖRN GLASENAPP UND ELISABETH K. PAEFGEN
Komplexität kaum noch mit herkömmlichen Serien- oder Kinoformaten verglichen werden können.3 Die Rezeptionsweisen, die sich im Zeitalter der DVD-Box
und des Downloads vom Programmdiktat der Sender gelöst haben, erinnern – auch
dies haben Studien zum besonderen Nutzungsverhalten von Serien auf breiter Basis belegt – dabei eher an Praktiken literarischer Lesekultur.4 DVDs bzw. Internetzugang und ein Computer reichen, um Stunden, Tage und Wochen damit zu verbringen, Serien zu schauen und wiederzuschauen.5 Schließlich erlaubt die auf
DVD oder per Download verfügbare Serie – vor allem auch aufgrund einer gestiegenen Präsenz mobiler Medien – jederzeit Zugriff und, wiederum ähnlich wie das
Buch, Möglichkeiten flexibler Nutzung.6
Aber nicht nur die medialen Bedingungen sind für die spezifischen Rezeptionspraktiken von Autorenserien entscheidend. Fernsehen, dessen Rezeption von seinen
Kritikern wie beispielsweise Neil Postman so gern als voraussetzungslos profiliert
wird,7 verlangt plötzlich nach einem gewissen und nicht gerade geringen Grad an
3 Dazu unter anderem Jason Mittell: „Many of these writers embrace the broader challenges
and possibilities for creativity in long-form series, as extended character depth, ongoing
plotting, and episodic variations are simply unavailable options within a two-hour film.“
(Jason Mittell: „Narrative Complexity in Contemporary American Television“, in: The Velvet Light Trap (2006), H. 58, S. 29-40, hier: S. 31).
4 „Die Serie wird“, so spitzt es Diedrich Diederichsen zu, „erst in der DVD-Vermarktung und
der damit verbundenen Ablösung von mitunter weit auseinander liegenden Sendeterminen
zum Gegenstand einer spezifischen Rezeption, zu der die Möglichkeit gehört, diese zu intensivieren und sich von Spannung und anderen Faktoren so fesseln zu lassen, dass man wie
bei einem faszinierenden Buch nicht mehr aufhört. In Ansätzen vermischt sich so die Asozialität und der Eskapismus klassisch kunstreligiöser Hingabe genussreich gerade mit dem
Gefühl eines gesteigerten Verstehens dieser einerseits kondensierten, andererseits aber ausladend ausgeführten sozialen Wirklichkeit der Gegenwart. Diese Rezeptionsform des Verschlingens mit ihrer tendenziell suchtartigen Verlaufsform ist aber auch ein klassischer Zug
popularisierten Lesens. Erst als Bücher zu Massenartikeln wurden, entstand auch massenkulturelles und an unmittelbarem Genuss orientiertes Leseverhalten, auf das die frühe Kulturindustrie unter anderem durch die Einführung des Fortsetzungsromans reagierte […].
Im Fortsetzungsroman begegnet die Flucht vor dem Zeitmanagement des Alltags und seiner
Kontrollinstanzen (unter der Bank lesen, bei der Arbeit verstohlen schmökern) der neuen
Abhängigkeit von der Kontrolle durch den Dealer der Fortsetzung.“ (Diedrich Diederichsen: „In bewegten Bildern blättern: Die Videothek von Babylon“, in: Dreher: Autorenserien,
S. 167-197, hier: S. 173 und 175).
5 Zudem wird in Anlage und Konzeption der Serie von Beginn an von einer „rewatchability“
ausgegangen. Vgl. Mittell: „Narrative Complexity in Contemporary American Televison“,
S. 31. Dies wiederum führt dazu, dass der Rezeptionsprozess der Serien in der (wiederholten) Lektüre von (Lieblings-)Romanen nahezu eine Entsprechung findet.
6 Vgl. dazu unter anderem Aaron Barlow: The DVD Revolution: Movies, Culture, and Technology, London 2005 sowie Barbara Klinger: Beyond the Multiplex: Cinema, New Technologies,
and the Home, Berkeley, Los Angeles und London 2006.
7 Vgl. in diesem Zusammenhang vor allen Dingen Neil Postman: Wir amüsieren uns zu Tode:
Urteilsbildung im Zeitalter der Unterhaltungsindustrie, Frankfurt am Main 1998 sowie ders.:
Das Verschwinden der Kindheit, Frankfurt am Main 1999.
GROSSE FERNSEHERZÄHLUNGEN UND IHRE LEKTÜREN
9
medialer (Vor-)Bildung sowie dezidiert nach Lektürekompetenzen, denn die neuen
Serienformate ‚berieseln‘ den Zuschauer nicht einfach. Vielmehr verlangen sie nach
Ausdauer und Einlassung: „Vor allem die Serien des 21. Jahrhunderts halten es aus,
dass die Zuschauer manche Szenen und Sequenzen erst beim zweiten (oder dritten)
Sehen verstehen und fordern überhaupt ein vollständiges, aufmerksames und genaues Zuschauen ein.“8 Im Umkehrschluss beginnt der Rezipient, Erwartungen an
eine Serie heranzutragen: Charaktere dürfen nicht verflachen, Geschichten nicht
allzu geradlinig und vorhersehbar erzählt werden und Sprache und Handlungskomplexität müssen dem Konventionellen unbedingt trotzen. Das Überrascht-Werden
wird nachgerade zur conditio sine qua non der Lust am Sehen. Auf diese Weise wird
Fernsehen zum Auslöser ambivalenter ästhetischer Erfahrung: Der Zuschauer sehnt
sich nicht länger nach purem Eskapismus und Zeitvertreib, sondern nach einem ihn
hinfort tragenden Moment imaginärer Entgrenzung, das ihm diese Form fiktionalen Erzählens grundsätzlich, aber selbstredend nicht bedingungslos bieten kann.
Zur Vorraussetzung wird ihm das Sich-Einlassen oder das Sich-Versenken in das
Erzählte. Letzteres stellt sich dabei nicht selten als eine regelrechte Textarbeit dar:
Der ‚neue‘ Zuschauer dieser Serien ist der ‚alte‘ Leser des Romans.
Der vorliegende Sammelband ist als Fortführung und Vertiefung eines sich derzeit fortwährend erweiternden, interdisziplinär geführten Seriendiskurses konzipiert,9 dessen Hochkulturagenda sich, wie nicht übersehen werden kann, vornehmlich als Absage an den in der Kultur- und Kunstbranche etablierten Fernsehmodus des guilty pleasure versteht. Allerdings ist es nicht die Serie, die in diesem
Diskurs gegen den Roman verteidigt werden muss, sondern der Akt des Fernsehens
gegen die Romanlektüre. Fernsehen wird zur Kunst erhoben, damit es ohne
schlechtes Gewissen konsumiert werden kann. Und wenn der Roman und nicht
das herkömmliche Erzählfernsehen in Form von Qualitäts- oder Autorenserien
Konkurrenz bekommen hat, dann trifft das den wirkungsästhetischen Nagel eher
auf den Kopf als HBO mit seinem Slogan „It’s Not TV. It’s HBO“. Das Motto
müsste nunmehr treffender lauten: „It’s Not a Novel. It’s HBO“. Denn auf narrativer Ebene konkurrieren Sender wie HBO, NBC, FX Network, FOX oder AMC
nicht länger mit dem Fernsehen, sondern mit dem Roman.10 Zumindest adressie8 Elisabeth K. Paefgen: „‚Me an’ my lonesome‘: Subjektive Perspektiven in Fernsehserien des
21. Jahrhunderts“, in: Wiebke Amthor, Almut Hille und Susanne Scharnowski (Hrsg.):
Wilde Lektüren: Literatur und Leidenschaft. Festschrift für Hans Harald Brittnacher zum 60.
Geburtstag, Bielefeld 2012, S. 347-362, hier: S. 351.
9 Auf der Jahrestagung der American Studies Association (ASA) 2009 zum Thema „Practices of
Citizenship, Sustainability, and Belonging“ waren beispielsweise zwei Panels einzig der
HBO-Serie THE WIRE gewidmet.
10 Richard Kämmerlings geht in seiner schwärmenden Kritik der neuen Fernsehserien sogar so
weit, einen publikumsbedachten Appell an den Roman zu richten: „Es steht außer Frage,
dass es ein wachsendes Publikum für […] Serienerzählungen gibt – ein Publikum, das narrative Komplexität, Selbstreflexion, vertrackte Plots und symbolische Mehrfachcodierungen
schätzt. Die Literatur hat noch nicht verstanden, welche Herausforderung in dieser Entwicklung liegt. […] Wir sind Zeugen der Geburt einer Gattung.“ (Kämmerlings: „THE WIRE“)
10
CLAUDIA LILLGE, DUSTIN BREITENWISCHER, JÖRN GLASENAPP UND ELISABETH K. PAEFGEN
ren sie dezidiert seinen Leser – einen Leser, der idealiter hoch- und popkulturell
versiert ist und den mitunter außerordentlich weiten Anspielungshorizont, den
diese Serien eröffnen, in kulturell synchroner und diachroner Perspektive zu entschlüsseln vermag.
Eben jene konstatierte Nähe zum Roman lässt uns in diesem Sammelband, der
insgesamt 13 US-amerikanische Fernsehserien vorstellt, von ‚großen Erzählungen‘
sprechen.11 Die hier versammelten Beiträge sind als Interpretationen dieser Fernseherzählungen vor allem mit Blick auf die Leserinnen und Leser konzipiert, die eine
erste intensive Beschäftigung mit den Serien, ihren ‚Erfindern‘ (creators) sowie mit
den jeweils entworfenen Figurenkonstellationen, Konflikt- und Themenfeldern suchen. Unter Berücksichtigung der insbesondere in den letzten Jahren explodierenden Forschungsliteratur spürt dieser Band dem (postmodernen) Spiel mit Gattungs- und Genreverträgen (etwa mit dem Western, dem Krimi, dem Bildungs- und
Familienroman),12 den ästhetischen und kompositorischen Merkmalen sowie den
medialen Stilregistern der ausgewählten Serien nach, sprich: er interessiert sich für
eben jene Modi des Erzählens, die häufig als ‚neobarock‘ bezeichnet werden.13 Anders gewendet: Zu 13 ‚großen Fernseherzählungen‘ bietet er 13 großrahmige Lektüren.
Dass im vorliegenden Band ausschließlich US-amerikanische Serien behandelt
werden, ist für eine Publikation zu neuen und neuesten Fernsehserien keineswegs
ungewöhnlich, verdient aber eine Erklärung. Worin gründet sich die hier vorgestellte Auswahl? Das erste und entscheidende Kriterium sind die materiellen Produktionskontexte, in denen die Serien entstanden bzw. entstehen. Der in HollyNicholas Kulish 2006 in der New York Times veröffentlichter Artikel zu THE WIRE heißt
in Anlehnung an Bücher, die man der Spannung wegen nicht weglegen kann, „Television
You Can’t Put Down“ (in: The New York Times (10.9.2006), http://www.nytimes.com
/2006/09/10/opinion/10sun3.html [Zuletzt aufgerufen am 28.3.2012]).
11 Den Begriff der ‚großen Erzählung‘ verstehen wir demnach ausdrücklich nicht als Anspielung auf die von Jean-François Lyotard in der Diskussion um das Scheitern der Moderne
angeführten Legitimationserzählungen. Vgl. hierzu Jean-François Lyotard: Das postmoderne
Wissen: Ein Bericht, Wien 2012.
12 Zur postmodernen Erzählweise führt Mittell aus: „[T]hese shows are constructed without
fear of temporary confusion for viewers. […] In all of these programs the lack of explicit
storytelling cues and signposts creates moments of disorientation, asking viewers to engage
more actively to comprehend the story and rewarding regular viewers who have mastered
each program’s internal conventions of complex narration.“ (Mittell: „Narrative Complexity in Contemporary American Television“, S. 37) Weiter unten spricht Mittell in seinem
grundlegenden Aufsatz davon, dass die Zuschauer dieser Serien unfreiwillig und unbewusst
sogar zu „amateur narratologists“ werden müssen, um die Handlung zu verstehen und Genuss an dem Gezeigten zu haben (ebd., S. 38).
13 ‚Neobarock‘ werden die neuen Serienformate bezeichnet, weil sie so ausufernd erzählen, mit
zahlreichen narrativen Arabesken und Ausschmückungen und mit einem langen Atem für
Details. Vgl. dazu Angela Ndalianis: „Television and the Neo-Baroque“, in: Michael Hammond und Lucy Mazdon (Hrsg.): The Contemporary Television Series, Edinburgh 2005,
S. 83-101.
GROSSE FERNSEHERZÄHLUNGEN UND IHRE LEKTÜREN
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wood ansässigen Film- und Fernsehindustrie stehen Milliarden an Dollars zur
Verfügung; längst sind nicht mehr nur Kino-Blockbuster, sondern auch Fernsehserien millionenschwere Produktionen. Mal ist dies auf die hohen Gagen der Schauspieler zurückzuführen; ein andermal auf die aufwendig gestalteten Sets; und nicht
zuletzt auf das Engagement talentierter, im Film- und Fernsehgeschäft erfahrener
creators, writers und Regisseure.14 Serien der meisten anderen Nationalitäten kommen unter gänzlich anderen Produktionsbedingungen zustande, unter denen der
materielle Faktor nur einen, wenn auch freilich besonders relevanten Aspekt darstellt. Dies in Rechnung gestellt, fällt eine Vergleichbarkeit mit ihren amerikanischen Pendants schwer.
Trotz der Entscheidung, sich auf Produktionen aus den Vereinigten Staaten zu
beschränken, war die Bildung des Korpus der in diesem Band zu verhandelnden
Serien nicht einfach. Entschieden haben wir uns schließlich dafür, (fast) nur Serien
zu wählen, die erst im 21. Jahrhundert produziert wurden. Darüber hinaus sollten
– bis auf eine Ausnahme – die Shows abgeschlossen sein, sodass ein vollständiger
Überblick über das Erzählte der Analyse zugrunde liegt. Zustande gekommen ist
eine Sammlung, in der einerseits Fernseherzählungen verhandelt werden, die inzwischen schon einen fast legendären Status errungen haben, in die aber andererseits auch solche aufgenommen wurden, die (noch) unbekannter sind, auf die es
aber gleichwohl aufmerksam zu machen gilt.
Zu den ersteren gehört sicherlich David Chases THE SOPRANOS (1999-2007) –
eine Serie, die bei ihrer Erstausstrahlung in Amerika einen ‚kulturellen Tsunami‘
auslöste,15 um nach dem überraschenden Tod des Hauptdarstellers, James Gandol14 „So handelt es sich bei HBO nicht nur um den wohl reichsten Fernsehsender der Welt, sein
exklusives Bezahlfernsehen wird auch nur von einem oft als ‚elitär‘ bezeichneten Viertel der
amerikanischen Haushalte genutzt, die Network-Fernsehen empfangen. Als Abonnementfernsehen ist der Sender zudem auch nicht auf eine Finanzierung durch Werbung angewiesen und kann daher auf Werbeunterbrechungen seiner Programme verzichten sowie unabhängig von der staatlichen FCC-Behörde operieren, die für die Regulierung der amerikanischen Medienkanäle und ihrer Zensur verantwortlich zeichnet. Die daraus resultierende
‚kreative Exklusivität‘ des Senders und die Sonderstellung, die er als Pay-TV genießt, das
explizitere, im Fernsehen tabuisierte Inszenierung von Gewalt, Sex und Vulgärsprache ausstrahlen darf, wird von HBO auch in der Vermarktung seiner anspruchsvolleren und kontroversen Sendungen wiederholt betont. […] Inzwischen ist die qualitative ‚Monopolstellung‘ HBOs allerdings zu relativieren aufgrund von Basic cable-Sendern wie etwa FX und
AMC, die im Unterschied zu HBOs Premium cable-Programm kostenlos zu empfangen
sind und über geringere Budgets für ihre Produktionen verfügen, aber in den vergangenen
Jahren mit von der Kritik ebenso gefeierten und auch beim Publikum erfolgreichen Fernsehserien auf sich aufmerksam machen konnten.“ (Asokan Nirmalarajah: Gangster Melodrama: THE SOPRANOS und die Tradition des amerikanischen Gangsterfilms, Bielefeld 2012,
S. 99-100).
15 Sean O’Sullivan bezeichnet die Ausstrahlung der ersten Staffel der SOPRANOS im Januar
1999 als „cultural tsunami“ in der amerikanischen Fernsehgeschichte. Vgl. Sean O’Sullivan:
„Broken on Purpose: Poetry, Serial Televison, and the Season“, in: Storyworld, Jg. 2 (2010),
S. 59-77, hier: S. 68.
12
CLAUDIA LILLGE, DUSTIN BREITENWISCHER, JÖRN GLASENAPP UND ELISABETH K. PAEFGEN
fini, am 19. Juni 2013 sogar noch populärer zu werden. THE SOPRANOS knüpft
sowohl an das Genre des Mafiafilms an als auch an das der Familienserie und verbindet diese beiden Erzähltraditionen zu einem tödlich-komischen Ganzen. Zu
den bekannten Familienserien gehört sicherlich auch Alan Balls SIX FEET UNDER
(2001-2005), die in einem funeral home in Los Angeles spielt und in ihren fünf
Staffeln dem Thema Tod zu ‚neuer Sichtbarkeit‘ verhilft. Die Dynamik der Familie
Fisher, der dieses Bestattungsunternehmen gehört, ist eine ganz andere als die der
Familie(n) Sopranos, aber mit dysfunktionalen Familienkonstellationen und tödlichen Ausgängen haben die Fishers ebenso wie die Sopranos zu tun. Auch Amy
Sherman-Palladinos GILMORE GIRLS (2000-2007) ist zu der bereits so unendlich
oft bespielten Form der Familienserie zu zählen. Sie erfindet sie aber insofern neu,
als sie mit klar markiertem Rekurs auf die Konventionen der screwball comedy eine
Mutter-Tochter-Konstellation ins Zentrum der Erzählung rückt, die in einer geradezu idealen, aber leider fiktiven amerikanischen Kleinstadt namens Stars Hollow
spielt und uns neben den beiden Titelgestalten auch einige übrige Bewohner des
Städtchens in all ihrer screwiness nahebringt. Diese neuen Serien schalten sich nicht
nur in den breit geführten Diskurs der Familiennarrative mit ihren mannigfaltigen
Konfliktpotenzialen, Geheimnissen und Neurosen ein, sondern auch – und zwar
prominent – in den der Genderfrage, etwa wenn sie immer wieder ‚weibliche‘
Männer und ‚männliche‘ Frauen entwerfen und damit die Möglichkeit schaffen,
Rollenzuschreibungen neu zu verhandeln.
Von den Serien, die mit zum Teil dramatischen Interventionen zum Schutz des
Phantasmas ‚Heimat‘ auf die Terrorbedrohung des 21. Jahrhunderts reagieren, ist
Joel Surnows und Robert Cochrans 24 (2001-2010) sicherlich die bekannteste.
Charakteristisch für diese Serie ist, dass die Bewältigung von existentiellen Krisenszenarien in (einer als solchen behaupteten) Echtzeit präsentiert werden – also jeweils
in 24 Stunden/Episoden eines Tages. Die Serie diskutiert nicht zuletzt eine der Folgen terroristischer Bedrohungen besonders intensiv, nämlich die der Folter, und
stellt damit gleichzeitig einen bedeutenden Beitrag zu aktuellen politischen Fragen
demokratischer Systeme dar. Shawn Ryans THE SHIELD (2002-2008) hingegen zeigt
den (all-)täglichen Terror einer amerikanischen Großstadt am Beispiel eines fiktiven
Stadtteils in Los Angeles. Die Serie lässt sich zwar in das Genre der cop series einordnen; sie geht aber gleichzeitig weit über eine solche Zuschreibung und die mit ihr
verbundene Erwartungshaltung hinaus, indem sie einen Beitrag zur Diskussion über
die (Un-)Bewohnbarkeit (amerikanischer) Großstädte im 21. Jahrhundert leistet.
Das gleiche gilt noch präziser und spezifischer für David Simons THE WIRE (20022008) – eine Serie, die ihren Handlungs- und Drehort in Baltimore hat, einer Stadt
an der amerikanischen Ostküste, in der die Mehrheit der Bevölkerung afroamerikanischer Herkunft ist. Das spiegelt sich in der Show, die als einzige der Serien nach
2000 mit einem Ensemble arbeitet, das in der Mehrheit aus afroamerikanischen
(Laien-)Schauspielern besteht und die auch damit einen sehr sozial engagierten Beitrag zum Rassendiskurs schafft. All diese Serien zeigen keine – und erst recht keine
einfachen – Lösungen für die politischen, sozialen und gesellschaftlichen Konfliktlagen der Gegenwart auf, sondern diskutieren auf breiter Ebene und mit zum Teil er-
GROSSE FERNSEHERZÄHLUNGEN UND IHRE LEKTÜREN
13
staunlicher Sensibilität und Komplexität die Frage, wie und ob ein proklamierter
‚Schutz der Heimat‘ zu erreichen ist und welche Opfer er erfordert.
Auch David Milchs DEADWOOD (2004-2006) ist – wie THE SOPRANOS, SIX
FEET UNDER und THE WIRE – bei HBO erschienen. Die nur dreiteilig gebliebene
Show, die unter anderem mit drastischen Gewaltdarstellungen sowie vulgärsprachlichen Dialogen aufwartet, ist ein Beitrag zur ur-amerikanischen Tradition des
Western, bricht aber radikal mit diesem Genre und erzählt die historisch genauestens recherchierte und erschreckend gegenwartsnahe Geschichte einer frühen
Goldgräberstadt im heutigen US-Bundesstaat South Dakota bzw. von der autarken
Verfassung einer nach unbedingtem Profit strebenden Gemeinschaft. Um die
(amerikanische) Verfassung, ihre Gesetze, das Nichteinhalten derselben respektive
deren unterschiedliche Auslegungspraktiken geht es auch in David E. Kelleys BOSTON LEGAL (2004-2008), einer Anwaltsserie, die zwischen der grotesken Überzeichnung ihrer Figuren und der ernsthaften Auseinandersetzung mit den tödlichen Folgen schwankt, welche einige amerikanische Gesetze im tagtäglichen Alltag
immer wieder nach sich ziehen. Thomas Sorkins THE WEST WING (1999-2006) ist
es ebenfalls um Verfassungsfragen zu tun, wenn dem Zuschauer der fast utopische
Entwurf eines linksliberalen amerikanischen Präsidenten mitsamt seinem hochqualifizierten Mitarbeiterstab bei oft mühseligen, unendlich zähen und nicht selten
ergebnislosen Verhandlungen, Konferenzen und Beratungen präsentiert wird. Diese Serie hat – wie auch 24 – die tatsächliche amerikanische Politik beeinflusst.16
Machtkämpfe von zum Teil erbittertem Ausmaß bestimmen die Szenarien in der
Goldgräberstadt Deadwood ebenso wie die in der Bostoner Anwaltskanzlei und im
westlichen Flügel des Weißen Hauses; nicht immer sind die Machtansprüche
durchzusetzen, aber das Ringen darum verleiht diesen Serien ihren spannend-innervierenden Charakter.
Ilene Chaiken entwirft in THE L WORD (2004-2009) ein ganz anderes Bild von
Los Angeles, als wir es in THE SHIELD oder SIX FEET UNDER zu sehen bekommen.
In sechs Staffeln werden aber vor allem unterschiedlichste Formen der weiblichen
Sexualität diskutiert, wobei der Körperdiskurs, den die Show eröffnet, zahlreiche
Tabus berührt, die mit weiblicher Homosexualität oder Transsexualität immer
noch verbunden sind. Die Serie leistet folglich nicht zuletzt Aufklärungsarbeit, wie
es übrigens alle vorgestellten Serien mehr oder weniger tun. Ohne Frage gilt dies
auch und in besonderer Weise für Ryan Murphys NIP/TUCK (2003-2010) – eine
Show, in der zwei Schönheitschirurgen zunächst in Miami, später in Los Angeles
bei ihrer um stete Perfektionierung des menschlichen Körpers bemühten Arbeit
vorgestellt werden. Dass es nicht immer leicht ist, darüber zu urteilen, ob ein
schönheitschirurgischer Eingriff als sinnvoll oder als überflüssig zu bewerten ist,
demonstriert die Serie eindrucksvoll, wobei sie den Zuschauer immer wieder dazu
aufruft, seine Vorurteile zu überprüfen und sie (vielleicht auch) zu revidieren.
16 Vgl. hierzu Thomas Morsch: „Repräsentation, Allegorie, Ekstase: Phantasien des Politischen in aktuellen Fernsehserien“, in: Dreher: Autorenserien, S. 199-250, hier: S. 205 und
235-237.
14
CLAUDIA LILLGE, DUSTIN BREITENWISCHER, JÖRN GLASENAPP UND ELISABETH K. PAEFGEN
Dass die beiden letzten in diesem Band behandelten Serien nicht den dargestellten Auswahlkriterien entsprechen, erklärt sich wie folgt: Zum einen sollte mit einem ersten vorsichtigen Blick in Matthew Weiners MAD MEN (2007-) das Wagnis
eingegangen werden, auch eine unabgeschlossene Serie in das Untersuchungskorpus einzubeziehen. Damit signalisieren die Herausgeber, dass eine Fortsetzung dieses Bandes folgen müsste und dass noch weitere Fernseherzählungen auf ihre
Besprechungen warten. Zum anderen galt es, mit David Lynchs TWIN PEAKS
(1990-1991) an einen der Anfänge zu erinnern, mit denen die neuen Fernsehnarrative in den frühen 1990er Jahren begonnen haben. Das heißt nicht, dass nicht
auch zeitlich früher entstandene Shows schon Wege des Erzählens beschritten haben, die für die gegenwärtigen Fernsehserien inzwischen selbstverständlich geworden sind. Aber wenn wir uns für TWIN PEAKS und zum Beispiel gegen die MARY
TYLOR MOOR SHOW (1970-1977) entschieden haben, dann auch deswegen, weil
die (internationale) Breitenwirkung der Serie von Lynch erheblich größer und
nachhaltiger gewesen ist.
Gemeinsam ist allen Serien, dass sie sich in aktuelle kulturelle und politische
Diskurse einschalten und als Beiträge zur krisengeschüttelten Lage Amerikas und
der westlichen Welt im gerade beginnenden 21. Jahrhundert verstanden werden
können. Doch bestehen auch formale Entsprechungen zwischen den verschiedenen Erzählungen. Alle Serien – mit Ausnahme von TWIN PEAKS – folgen einem
gewissen Realismuskonzept und arbeiten weder mit Mystery-Elementen, noch gehören sie Genres wie Science Fiction oder Fantasy an. Aus diesem Grund wurden
Serien wie LOST (2004-2010) oder BATTLESTAR GALACTICA (2004-2009) nicht berücksichtigt. Zwar sind die Realismusentwürfe in den einzelnen Serien sehr unterschiedlich, aber für alle ausgewählten Beispiele gilt, dass sie die Ereignisse ‚realitätsnah‘ zeigen und keine ‚geheimnisvollen Kräfte‘ in die jeweils erzählte Welt
implementieren.
Auf welch mannigfaltiges Interesse diese neuen TV-Erzählungen stoßen, kann
man auch an der diversifizierten Herausgebergruppe dieses Bandes ablesen: Sie besteht nicht nur aus Serien-Leserinnen und -lesern dreier unterschiedlicher Generationen, die sich zwischen ihrem 30. und 60. Lebensjahr befinden; sie vertritt auch
unterschiedliche philologische Disziplinen, die sowohl eine amerikanistische, komparatistische, germanistische und nicht zuletzt eine literaturdidaktische Perspektive
einschließen. Ein vergleichbares oder ein noch breiter gestreutes Publikum wünschen wir uns auch für diesen Band, bevor dann alle hoffentlich anfangen, die eine
oder andere oder gar alle Serien (wieder und wieder) zu schauen.
Abschließend danken wir den Autorinnen und Autoren für ihre Beiträge, Frau
Yasmin Hutchins für ihre wertvolle editorische Unterstützung sowie dem Wilhelm
Fink Verlag für die Drucklegung des Buches.
Paderborn, Berlin und Bamberg, im September 2013
GROSSE FERNSEHERZÄHLUNGEN UND IHRE LEKTÜREN
15
Literatur
Barlow, Aaron: The DVD Revolution: Movies, Culture, and Technology, London 2005.
Diederichsen, Diedrich: „In bewegten Bildern blättern: Die Videothek von Babylon“, in: Christoph Dreher (Hrsg.): Autorenserien: Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series: The Re-invention of Television, Stuttgart 2010, S. 167-197.
Dreher, Christoph: „Autorenserien: Die Neuerfindung des Fernsehens“, in: ders. (Hrsg.): Autorenserien: Die Neuerfindung des Fernsehens. Auteur Series: The Re-invention of Television, Stuttgart 2010, S. 23-61.
Feuer, Jane: „HBO and the Concept of Quality TV“, in: Janet McCabe und Kim Akass (Hrsg.):
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FAMILIEN/BANDE
HANS RICHARD BRITTNACHER
GLANZ UND ELEND DER MAFIA
The Sopranos als Sittengemälde aus New Jersey
DEUTSCHER TITEL: DIE SOPRANOS
SENDER: HBO (USA); ZDF, PREMIERE/Sky Atlantic (Deutschland)
EPISODEN: 86 in 6 Staffeln
AUSSTRAHLUNGSZEITRAUM USA: 10. Januar 1999 bis 10. Juli 2007
AUSSTRAHLUNGSZEITRAUM DEUTSCHLAND: 12. März 2000 bis 17. August 2002 (ZDF,
Staffeln 1-3); 15. Juni 2005 bis 6. Februar 2008 (PREMIERE/Sky Atlantic, Staffeln 4-6)
VERANTWORTLICHER AUTOR UND PRODUZENT: David Chase
HAUPTDARSTELLER: Lorraine Bracco (Dr. Jennifer Melfi), Dominic Chianese (Corrado
‚Uncle Junior‘ Soprano), Edie Falco (Carmela Soprano), James Gandolfini (Anthony
‚Tony‘ Soprano), Robert Iler (Anthony Jr. Soprano), Michael Imperioli (Christopher Moltisanti), Nancy Marchand (Livia Soprano), Drea de Matteo (Adriana La Cerva), JamieLynn Sigler (Meadow Soprano), Tony Sirico (Peter Paul ‚Paulie Whalnuts‘ Gualtieri), Aida
Turturro (Janice ‚Parvati‘ Soprano, später Bacalieri), Steven Van Zandt (Silvio ‚Sil‘ Dante)
1. „Following it has been like watching a movie that lasted for eight years“:
Das Phänomen THE SOPRANOS
In 86 Folgen erzählte THE SOPRANOS zwischen 1999 und 2007, synchron zum Altern der Zuschauer,1 einige Jahre aus der Geschichte einer Mafia-Familie in New
Jersey und revolutionierte dabei die Geschichte des Fernsehens. Der überwältigende Erfolg der Serie bei Zuschauern wie bei der Kritik inspirierte den Sender,2 der
das Wagnis eines neuen, dramatisch von bisherigen TV-Konventionen abweichenden Serienkonzepts eingegangen war, zu einem Werbeslogan, der zum eigenen Me1 Diesen Umstand spiegelt das im Titel verwendete Zitat von Geoffrey O’Brien zit. nach
Frank Kelleter: „Populärkultur und Kanonisierung: Wie(so) erinnern wir uns an Tony Soprano?“, in: Matthias Freise und Claudia Stockinger (Hrsg.): Wertung und Kanon, Heidelberg 2010, S. 55-76, hier: S. 68.
2 In Deutschland war die Serie jedoch nicht im Fernsehen, sondern nur auf DVD ein Erfolg
– was nicht nur an der ungeschickten Programmplatzierung des ZDF lag, sondern auch an
kulturellen Differenzen (fehlende Mafia-Tradition, geringeres Prestige der Psychoanalyse),
über die der Aufsatz von Michael Rohrwasser Auskunft gibt: „Der Mob auf der Couch:
Warum THE SOPRANOS in Deutschland erfolglos bleiben“, in: Jochen Vogt (Hrsg.): MedienMorde: Krimis international, München 2005, S. 145-160.
20
HANS RICHARD BRITTNACHER
dium auf Distanz ging: „It’s not TV, it’s HBO.“ Home Box Office, der als privater
Bezahlsender den konformistischen Druck, den Werbekunden auf Thematik und
Gestaltung von Fernsehprogrammen ausüben, weitgehend ignorieren kann, hatte
David Chase, der sich als Autor der Serie THE ROCKFORD FILES (1974-1980) einen
Namen als eigenwilliger creator und showrunner gemacht hatte, für die Konzeption
einer in der Gegenwart spielenden Mafia-Serie verpflichtet.3 Die einzelnen Episoden, mit teilweise bekannten, durchweg renommierten Darstellern besetzt, wurden
von namhaften Regisseuren (David Chase selbst, Peter Bogdanovich, Lee Tamahori, Timothy Van Patten, Mike Figgis, Steve Buscemi u. v. a.) mit beträchtlichem
finanziellen Aufwand an Originalschauplätzen gefilmt – was erheblich zum realistic
look der Serie beiträgt.4 Der Erfolg der SOPRANOS löste schließlich sogar einen
„HBO-aftereffect“ aus,5 der auch andere Pay-TV-Kanäle zu riskanteren Serienkonzepten animierte. Dass mit den SOPRANOS die Ära des Qualitäts-TV begann oder
zumindest ihren endgültigen Durchbruch erlebte, dürfte unstrittig sein, ob damit
jedoch einer Fernsehserie tatsächlich, wie eine fast berauschte Kritik rühmte, auf
dem Bildschirm gelang, was im 19. Jahrhundert das monumentale literarische
Werk von Dickens oder Balzac leistete,6 sei dahingestellt – aber schon am Ende
der ersten Staffel stand für die Kulturkritik der nicht leicht zu beeindruckenden
New York Times das Urteil fest: „the greatest work of American popular culture of
the last quarter century.“7 In ihren besten Zeiten wurden einzelne Episoden der
SOPRANOS von 18 Millionen Zuschauern gesehen, die Fernsehkritik überhäufte die
Serie mit Preisen und verlieh ihr insgesamt 18 Emmy-Awards und fünf Golden
Globes, von der Anzahl der Nominierungen ganz zu schweigen.
Nimmt man den Vorschlag der enthusiasmierten Filmkritik ernst und vergleicht
Äpfel mit Birnen, Literatur und Film, 19. und 20. Jahrhundert, die etablierte Ästhetik der alten Welt mit der präzedenzlosen Ästhetik des Fernsehens, und legt man
dabei, wie dies Diedrich Diederichsen in einem anregenden Rechenexperiment
vorschlägt, eine wahrnehmungsästhetische Gleichung zugrunde und korreliert die
Lektüre eines zweihundertseitigen Romans mit der Wahrnehmung eines neunzigminütigen Spielfilms, der im Speed-Tempo, wie es dem Film eigen ist, das Gleiche
erzählt, wofür ein Roman sich alle Zeit der Welt lassen kann, dann haben wir es in
den SOPRANOS mit dem fernsehästhetischen Gegenstück zu einem monumentalen
literarischen Werk von etwa 10.000 Seiten zu tun, also einem Mehrfachen von
3 Vgl. die Beiträge in Thomas Fahy (Hrsg.): Considering David Chase: Essays on THE ROCKFORD FILES, NORTHERN EXPOSURE and THE SOPRANOS, London 2008.
4 Vgl. Annekatrin Bock: „Family values: THE SOPRANOS und die neue Ära der Krimi- und
Familienserie“, in: Sascha Seiler (Hrsg.): Was bisher geschah: Serielles Erzählen im zeitgenössischen amerikanischen Fernsehen, Köln 2008, S. 160-171, hier: S. 163.
5 Gary R. Edgerton: „Introduction: A Brief History of HBO“, in: Gary R. Edgerton und Jeffrey P. Jones (Hrsg.): The Essential HBO Reader, Lexington 2008, S. 1-20, hier: S. 17.
6 Im deutschen Sprachraum etwa bei Michael Rutschky: „Schwarzer Familienroman“, in: taz
(10.1.2002), S. 15.
7 Zit. nach Kelleter: „Populärkultur und Kanonisierung“, S. 65.
THE SOPRANOS
21
dem, was noch Marcel Proust in seinem epochalen À la recherche de temps perdu
seinen Lesern zumutete.8
Die überwältigende Dichte an Informationen, die Subtilität der Personencharakteristik und die Opulenz der Inszenierung lässt in der Tat an die großen sozialen
Panoramen, wie sie die realistischen Romane des 19. Jahrhunderts entwickelt haben, denken. Den SOPRANOS war es gelungen, Besonderheiten der Medien Fernsehen, Film und Literatur zu einem neuen ästhetischen Format zu hybridisieren –
nämlich das eher betuliche Tempo der traditionellen Serie (serial) mit ihrer
spezifisch kosteneffizienten und eher puristischen Ästhetik, in der die Protagonisten als talking heads sich Woche für Woche immer wieder von neuem und wortreich darüber verständigen, dass Vater doch der Beste ist, mit der rasanten, sensationalistischen und elliptischen Erzählweise des Films zu verbinden, die der
Eindrucksmacht der Bilder vertraut, die bekanntlich mehr sagen als tausend Worte, und beides über mehrere Staffeln hinweg mit dem epischen Atem der Literatur
auszudifferenzieren und kompositorisch zu verdichten.9 So entstand im crossover
konträrer, aber auch komplementärer Ästhetiken ein neues Medium, in dem einerseits eine detailverliebte Erzählweise nicht nur psychologische Feinarbeit, sondern
sogar komplexe Narrationen erlaubte, und andererseits die Explizität der Bilder
und die spektakulären Effekte des Hollywood-Kinos für eine bislang ungekannte
ästhetische Intensität der Darstellung sorgten. An die Stelle der Erfüllung der
Struktur des serial, in der zwar the monster of the week wechselte, aber alles andere
sich gleich bleibt, war das Prinzip der series getreten, eine wendungsreiche Geschichte über Jahre hinweg zu erzählen und durch Vorausdeutungen und Analepsen jede einförmige Rezeption apriorisch zu unterbinden. Während im traditionellen serial die Abfolge der Einzelepisoden im Grunde beliebig ist, unterliegt sie in
den SOPRANOS dem Gesetz einer strengen Narration: „Hier wird nicht eine Geschichte immer wieder erzählt, hier wird eine Geschichte immer weiter erzählt.“10
Die Zahl der Protagonisten, deren Schicksal der Zuschauer zu beachten hat, liegt
nicht wie in traditionellen Serien bei drei oder vier, sondern bei 20. In einer Folge
wird nicht ein einzelner Handlungsbogen (story arch) verfolgt, sondern bis zu zehn.
Die Konflikte sind durchweg sachlich und moralisch so komplex, dass sich einfache Lösungen verbieten. Bei den Dialogzeilen handelt es sich nicht um die mehrfach einsetzbaren Textbausteine der üblichen Serienkonversation, sondern um
pointierte Gespräche, die präzise die Ideolekte von Polizisten, Politikern, Kleinfamilien oder Mobstern nachahmen, aber auch deren vulgäre Exzesse mit fernsehun8 Vgl. Diedrich Diederichsen: THE SOPRANOS, Zürich 2012, S. 65-66.
9 Vgl. dazu Asokan Nirmalarajah: Gangster Melodrama: THE SOPRANOS und die Tradition des
amerikanischen Gangsterfilms, Bielefeld 2012, S. 101. Der glänzenden Studie Nirmalarajahs,
die die Verhandlung der Begriffe race, gender und family in dieser Serie vor der großen Tradition des amerikanischen Films nuanciert und kenntnisreich untersucht, verdanke ich
zahlreiche Anregungen.
10 Ivo Ritzer: Fernsehen wider die Tabus: Sex, Gewalt, Zensur und die neuen US-Serien, Berlin
2011, S. 10.
22
HANS RICHARD BRITTNACHER
üblicher Explizität wiedergeben.11 An die Stelle einer um bienséance bemühten Ästhetik der Dezenz und des Unausdrücklichen treten der spektakuläre Tabubruch,
eine Schockästhetik der Gewalt und die Ostentationen nackter Haut und devianter
Sexualität.12 Ein Ende finden die jeweiligen Handlungsbögen nicht schon am
Schluss einer jeden Folge, sondern oft erst mit dem Ende einer Staffel – manche
auch erst in einer weiteren oder auch nie. Die Charaktere sind durchweg ambivalent – Vater ist immer noch der Beste, aber er ist auch ein rachsüchtiger und heimtückischer Rassist, Ehebrecher, Folterer und Mörder. Eine per definitionem über
Asozialität und Brutalität definierte Figur, der Gangster, wird sentimental, mitunter geradezu liebenswert gezeichnet. Erstmals in der Geschichte des Fernsehens
fungiert der Gangster damit als Identifikationsträger – nicht als romantischer Verlierer oder zu Unrecht Verfolgter, auch nicht als durch unglückliche Umstände auf
die schiefe Bahn geratene Gestalt, sondern als veritabler Psychopath, der dem Zuschauer als Reibungsfläche dient, um dessen moralisches Urteil zu testen oder zu
überdenken.13 Keine der Figuren der Serie darf für sich eine ungetrübte moralische
Integrität beanspruchen: „Selbst die Schlimmsten haben nette Momente, selbst die
Vorzeigbarsten, scheinbar Vernünftigen sind eigentlich komplett widerlich.“14 Sogar Ralphie Cifaretto, unter Tonys Gegenspielern vielleicht der abscheulichste, ein
sadistischer Schläger, der in „University“ (THE SOPRANOS, 3:06) seine schwangere
Geliebte totschlägt, empfiehlt sich in „Whoever Did This“ (THE SOPRANOS, 4:09),
als sein Sohn beim Bogenschießen fast tödlich verletzt wird, unserem Mitleid. Carmela, Tonys Ehefrau, müht sich nach Kräften, eine gute Mutter zu sein, aber hat
offenen Auges den Pakt mit dem Teufel unterzeichnet, wie der Therapeut, den sie
in „Second Opinion“ (THE SOPRANOS, 3:07) konsultiert, ihr auf den Kopf zusagt;
wenn es etwa um ein Referenzschreiben für ihre Tochter geht wie in „Full Leather
Jacket“ (THE SOPRANOS, 2:08), nützt sie ihre Macht als Frau eines Mafiabosses
kaum weniger schamlos als dieser aus. Allenfalls Dr. Melfi nähert sich dem Ideal
11 Vgl. Marc Leverette: „Cocksucker, Motherfucker, Tits“, in: Marc Leverette, Brian L. Ott
und Cara Louise Buckley (Hrsg.): It’s not TV: Watching HBO in the Post-Television Era, New
York 2008, S. 123-151, zudem aber auch Bock: „Family values“, S. 161-162.
12 Vgl. Paul Levinson: „Naked Bodies, Three Showings a Week, and No Commercials“, in:
David Lavery (Hrsg.): This Thing of Ours: Investigating THE SOPRANOS, New York und
Chichester 2002, S. 26-31. Auffälligerweise neigen gerade Tonys Gegenspieler Richie Aprile und Ralphie Cifaretto zu eher ungewöhnlichen sexuellen Praktiken, die sie pikanterweise
mit Tonys Schwester Janice ausleben, was ihrem Bruder zu einem für die beiden Gangster
peinlichen Informationsvorsprung verhilft. Gegen das Lob des Tabubruchs, das vor allem
auf die innovative Missachtung traditioneller Darstellungskonventionen abhebt, wäre freilich auch an Ritzers Vorbehalte zu erinnern, der hier vor allem eine neue Ästhetik eines
längst permissiv gewordenen Kapitalismus sieht: Das Besondere an Serien wie SOPRANOS,
DEADWOOD, ROME etc. sei nicht der Tabubruch, sondern die Berücksichtigung neuer ästhetischer Lizenzen, mit der ein – vielleicht noch gar nicht so später – Kapitalismus auch
„das Heterogene und Deviante gelten lässt, um effizient zu wirtschaften.“ (Ritzer: Fernsehen
wider die Tabus, S. 86).
13 Vgl. dazu Bock: „Family Values“, S. 162.
14 Diederichsen: THE SOPRANOS, S. 39.
THE SOPRANOS
23
moralischer Untadeligkeit an und gewinnt erhebliches Prestige, als sie in „Employee of the Month“ (THE SOPRANOS, 3:04) darauf verzichtet, Tony als Rächer ihrer
Vergewaltigung zu benutzen, aber sie verspielt ihren moralischen Kredit in der
Haltlosigkeit der Gegenübertragung und ihrer zunehmenden Abhängigkeit vom
Alkohol.15 Der Komplexitätszuwachs durch die Vielschichtigkeit der Handlungen,
durch die konsequente Verzweideutigung der Charaktere, durch die Integration
von Kontingenz – etwa im Zugeständnis an blinde Motive, die nicht wiederaufgegriffen werden, aber auch durch stand alone-Episoden – wird vervollständigt durch
eine sonst nur aus dem Autorenkino bekannte Selbstreferenzialität, die Lust, mit
der die Serie immer wieder Bilder aus der Literatur- und Filmgeschichte zitiert: Die
Inkunabeln des Gangster- und Mafia-Genres wie William A. Wellmans PUBLIC
ENEMY (1931), Mario Puzos Godfather (1969), Coppolas Verfilmungen (1972,
1974) und Martin Scorseses bereits zynische Demontage in GOODFELLAS (1990)
sind beständig präsent und sogar den Protagonisten bekannt, die kenntnisreich darüber sprechen und lustvoll etwa die Performance von Al Pacino in THE GODFATHER: PART III (1990) imitieren.16
Eine derart komplex angelegte Serie setzte auch die Bereitschaft des Publikums
zu einer Änderung seiner Sehgewohntheiten voraus: Wie im klassischen Drama
sorgt in den series eine verbindliche liaison des scènes für eine geschlossene ästhetische Verfugung – jede einzelne Szene ist wichtig. Da dies den auf Zerstreuung
angelegten Sehgewohnheiten des TV-Alltags eher zuwiderläuft, bietet sich die
Betrachtung der Serie über den ersten Konsum im Fernsehen hinaus als DVD
an – rewatchability ist im Konzept der SOPRANOS von vorneherein als Bedingung
einer geglückten ästhetischen Rezeption angelegt. Die Serie setzt auf die ästhetische
Kompetenz des Zuschauers, der bereit ist, in wiederholter Betrachtung die komplexen Sequenzen der Handlung als „amateur narratologist“ zu decodieren.17 Dieses
hermeneutische Engagement wird ihm mit einer von Mal zu Mal bereicherten ästhetischen Erfahrung vergolten. Zugleich erschließt das Recycling eigenproduzierter Serien auf DVD dem Sender zusätzliches Kapital und stimuliert so die Produktion weiterer Serien, deren Kosten durch die Abonnenten allein nicht abgedeckt
werden können.18
15 Eliot Kupferberg – der Regisseur Peter Bogdanovich, der auch in einigen Episoden der Serie
Regie führte, spielt Dr. Melfis supervisor, ‚a shrink’s shrink‘ – rät Dr. Melfi daher zum
12-Punkte-Programm der Anonymen Alkoholiker; die Erfolgsaussichten eines solchen Entzugs werden freilich durch einen anderen Protagonisten der Serie, Christopher Moltisanti,
nachhaltig dementiert.
16 Eine – vorläufige – Liste von rund 200 „intertextual Moments and Allusions in THE SOPRANOS“ findet sich in Lavery: This Thing of Ours, S. 235-253. Beim Casting der Serie wurde
darauf geachtet, vor allem aus Mafiafilmen bekannte Darsteller zu verpflichten.
17 Jason Mittell: „Narrative Complexity in Contemporary American Television“, in: Velvet
Light Trap (2006), H. 58, S. 29-40, hier: S. 38.
18 Auch anderweitig verdiente HBO über die Abonnenteneinnahmen hinaus an THE SOPRANOS: Allein das Recht, Wiederholungen der Serie auszustrahlen, ließ sich HBO mit 215
Millionen Dollar vergüten.
24
HANS RICHARD BRITTNACHER
Freilich ist es nicht die Kunst einer ästhetisch neuen mise-en-scène allein, die den
Siegeszug der Serie erklären kann, sondern auch die Thematik der Serie und ihre
Synchronie mit Problemen und Fragstellungen einer Gesellschaft, einer sozialen
Schicht und einer Generation. Vordergründig geht es um die Geschichte eines von
Panikattacken geplagten Mafiabosses, der die Hilfe einer Psychoanalytikerin in Anspruch nehmen muss, um sich seine Sorgen von der Seele zu reden. Dies war in den
therapeutisch bekanntlich intensiv versorgten Vereinigten Staaten auch schon Stoff
für leidlich amüsante Komödien19 – ihre besondere Bedeutung erwächst den SOPRANOS jedoch erst aus dem archetypischen Charakter, der dieser Konstellation zugeschrieben werden kann, und aus der Präzision, mit der diese Thematik nachgerade punktgenau im angeschlagenen Selbstverständnis der amerikanischen Kultur
der Jahrtausendwende landete und dort als Spiegel eines zutiefst verunsicherten
sozialen Mittelstandes unerhörte Resonanz fand – gerade wegen der dezidierten,
ästhetisch und intellektuell beglaubigten Ratlosigkeit, die auf den TV-üblichen
Zwangsoptimismus verzichtet. Der Zynismus der Serie betrifft, erstens, die Figur
des Helden, an dem der Befund der Invalidierung eines obsoleten Modells heteronormativer Männlichkeit in einer filmischen Anamnese erhoben wird, und, zweitens, den Mythos Mafia, drittens, deren homosoziales Patronagemodell als anachronistisches ästhetisches Konstrukt ironisch demontiert wird.
2. „Alle glücklichen Familien sind einander ähnlich, jede unglückliche Familie ist
unglücklich auf ihre Weise“: Der kranke Zyklop
THE SOPRANOS ist die Serie der Generation Prozac,20 Tony Soprano, der Held der
Serie, ihr typischer Vertreter: Er ist krank – weder terminal noch eingebildet, sondern ein dauerhaft moribunder Patient, der an sich selbst, seiner Familie, seinen
Lebensumständen leidet und trotz der zunehmend erhöhten Dosen an Tranquillizern langsam, aber sicher zugrunde geht.21 Seine Krankheit ist keiner jener physischen Defekte, die von den Teams um Dr. House oder Dr. Greene in den bekannten amerikanischen Arztserien erfolgreich bekämpft werden könnte; Tony Soprano
leidet unheilbar daran, nicht der Mann sein zu können, der er sein will – ein liebevoller Familienvater und unangefochtener Mafiaboss –, sondern der Mann sein zu
müssen, der er nicht sein darf – ein Gesetzesbrecher und verunsicherter Vater. Sein
Leben ist ein schleichender Verfall mit tückischen Phasen der Remission auf einer
19 ANALYZE THIS (Harold Ramis, 1999) mit Robert de Niro und Billy Christal; 2002 folgte
ANALYZE THAT (Harold Ramis).
20 Das Antidepressivum Prozac wurde Ende 1987 auf den Markt gebracht und verdrängte innerhalb von anderthalb Jahren nahezu alle anderen Antidepressiva.
21 Die Familienkonstellation von THE SOPRANOS bestätigt einmal mehr Tolstois berühmtes
Zitat, das diesem Abschnitt als Titel dient. Vgl. Lew Tolstoi: Anna Karenina, München
2009, S. 7. In „All Happy Family“ (THE SOPRANOS, 5:04) wird die Tolstoi-Referenz sogar
explizit.
THE SOPRANOS
25
in sechs Staffeln immer abschüssiger werdenden schiefen Ebene. Schon der Titelsong „Woke up This Morning“ der Band A 3 verrät die Botschaft vom erkrankten
Leader, wenn auch in Bildern und Worten, die dem markant zu widersprechen
scheinen: Die Kamera folgt im treibenden Rhythmus des Songs Tonys Fahrt in seinem großkotzigen off road-Chevrolet am Abend nach getaner Arbeit auf dem
Nachhauseweg von New York zu seiner Vorstadtvilla in New Jersey. Das organisierte Verbrechen ist nicht länger downtown zuhause, sondern hat sich im spießigen
suburb eingenistet.22 Mit dem Wechsel des Fokus von der ‚männlich‘ dominierten
Großstadtwelt zur eher ‚weiblich‘ definierten Privatsphäre der Vorstadtvilla deutet
sich zugleich der Wechsel vom Gangsterdrama zur Familiensoap an.23 Der Zuschauer sieht einen kräftigen, behaarten Unterarm mit schwerer goldener Uhr, eine
dicke Zigarre im Mund des Protagonisten und schließlich beim Aussteigen Tonys
wuchtigen Körper. Aber was der Refrain des Songs „Your mama always said you’d
be / The Chosen One“ über den Protagonisten zu verraten scheint, wird im Verlauf
der ersten Staffeln dramatisch revoziert – zum ‚Erwählten‘, zum Liebling der Mutter ist Tony nie erzogen worden.24 Die Pilotepisode „The Sopranos“ (THE SOPRANOS, 1:01) präsentiert in der ersten Szene, gleich im Anschluss an den Song, den
Helden in der fortan für ihn typischen Rolle: als Patienten. Im Wartezimmer von
Dr. Melfi, die er auf Anraten seines Hausarztes, Dr. Cusamano, aufsucht, betrachtet er nachdenklich, vielleicht auch ratlos die Statue einer nackten Amazone.25 Was
der Serie ihre Pointe verleiht – dass ein ganz dem Gedanken der italianità ergebener Macho, ein mächtiger Mann, eine auch in ihrer gewichtigen physischen Statur
imponierende Erscheinung,26 gesprächstherapeutische Hilfe in Anspruch nehmen
muss, bei der er möglicherweise ‚Geschäftsgeheimnisse‘ preisgibt, und dass es sich
bei der ärztlichen Instanz, deren Rat er sucht, auch noch um eine Frau handelt –
zeigt zugleich das zentrale Problem des Protagonisten, der bei aller Autorität, sogar
virilem Charisma, doch offenbar ein Problem mit Frauen hat. Die starke Präsenz
weiblicher Figuren in dieser Serie und die Verlagerung der Handlung vom urbanen
22
23
24
25
Vgl. Rohrwasser: „Der Mob auf der Couch“, S. 145.
Vgl. Nirmalarajah: Gangster Melodrama, S. 53.
Vgl. Diederichsen: THE SOPRANOS, S. 28
Zu den vielfältigen Interpretationen gerade dieser Einstellung vgl. Elisabeth K. Paefgen:
„Schöne Bilder vom Verfall: Zur Inszenierung von wiederkehrenden Orten und Räumen in
THE SOPRANOS“, in: Uwe Durst (Hrsg.): Wie die SOPRANOS gemacht sind (im Erscheinen).
26 Der Charme des Zyklopen, des „Fettsacks in der midlife-crisis“ (Rutschky: „Schwarzer Familienroman“), war deutschen Zuschauerinnen offenbar weniger evident als in Amerika.
Vgl. dazu Rohrwasser: „Der Mob auf der Couch“, S. 149. Zum auffallend übergewichtigen
Erscheinungsbild der Männer in dieser Serie, einer nicht selten pathologischen Adipositas,
etwa bei Salvatore ‚Big Pussy‘ Bompensiero, bei Bobby ‚Bacala‘ Bacalieri, bei dem FBI
Agenten Skip Lipari, bei Jimmy Altieri und bei Vita Spatafore vgl. Avi Santo: „‚Fat Fuck!
Why Don’t You Take a Look in the Mirror?‘: Weight, Body Image, and Masculinity in THE
SOPRANOS“, in: Lavery: This Thing of Ours, S. 72-94.
26
HANS RICHARD BRITTNACHER
Ghetto downtown ins tendenziell ‚weiblich‘ definierte häusliche Milieu suburb,27
bilden auch die beiden wichtigsten Indizien, die es der feministischen Kritik erlaubt haben, von der Effeminierung eines traditionell ‚männlich‘ codierten Gangsterszenarios zu sprechen: THE SOPRANOS seien „real woman’s television.“28
Rasch führt das von Dr. Melfi mit sparsamen Worten gelenkte Gespräch ins verletzliche Herz ihres schwergewichtigen Patienten: Im Rückblick sehen wir ihn dort,
wohin ein Kranker gehört und wo wir ihn in weiteren 85 Episoden immer wieder
sehen werden: im Bett, trotz seines schweren Körpers verletzlich, mit depressivem
Ausdruck zur Decke starrend. Gleichzeitig erzählt seine Stimme aus dem Off, was
er seiner Therapeutin anvertraut: Er habe das Gefühl, zu spät gekommen zu sein:
„The best is over.“ Was immer er auch tue, es sei letztlich bedeutungslos. Sein Vater
habe noch seine Leute, seine Gang, seinen Stolz und seine Werte gehabt – für ihn
jedoch sei nichts von alledem geblieben. Tony Soprano ist ein veritabler fin de siècle-Gangster29 – nicht nur in der wortwörtlichen Bedeutung, da die erste Episode
1999, unmittelbar vor dem Millenniumswechsel, ausgestrahlt wurde, sondern
auch im übertragenen Sinne, da Tony eben jene typischen Schwermutssymptome
artikuliert, wie sie auch die elegischen Jünglinge der Wiener Moderne hundert Jahre zuvor formuliert haben – zum Teil bis in die Wortwahl hinein. Dass es sich bei
seinen „feelings of loss“ nicht nur um die private Befindlichkeit eines übersensiblen
Zeitgenossen handele, sondern um eine für viele Angehörige seiner Generation zutreffende Diagnose, wird ihm von der Therapeutin bestätigt: „Many Americans feel
that way.“ Zugleich hat sich Tony mit seiner Klage auch im Kontext der Mafiaästhetik als einen Nachgeborenen definiert: Er ist kein Corleone wie die Mafiosi in
den Romanen Mario Puzos oder in Coppolas Filmen, das heißt kein siciliano col
cuore di leone, mit einem Löwenherz also, sondern ein kraft- und ratloser Spätling,
dessen Namen, die hohe weibliche Singstimme, ihren Träger verspottet. Was auf
der einen Seite das burn out-Syndrom eines erfolgreichen businessman charakterisiert, erweist sich gleichzeitig als Wachwechsel populärkultureller Schablonen: „In
den SOPRANOS sind Coppolas Filme gestorben und kehren als Legenden zurück.“30
Auch die zweite Szene des Rückblicks zeigt Tony in der Rolle des Invaliden, als
er im Bademantel die morgendliche Zeitung vor dem Tor seines Anwesens aufsammelt: eine beredte Pantomime und zugleich eine Metonymie der Serie, die von nun
27 Dem entspricht auch, dass in dieser Serie Massenkultur vor allem den Männern, Hochkultur hingegen eher den Frauen zugesprochen wird. Man denke einerseits an Christophers
Filmprojekte, andererseits an Dr. Melfis Kinobesuche, an Meadows Studium an der Columbia University bzw. an den – wenn auch verunglückten – Filmclub, den Carmela mit anderen Gangsterfrauen zu institutionalisieren sucht. Vgl. Nirmalarajah: Gangster Melodrama,
S. 111.
28 Zit. nach ebd., S. 9.
29 Vgl. Ingrid Walker: „Family Values and Feudal Codes: The Social Politics of America’s Finde-Siecle-Gangster“, in: Alain W. Silver und James Ursini (Hrsg.): Gangster Film Reader,
New Jersey 2007, S. 380-405.
30 Lee Siegel: „Das Abstoßende kann sehr anziehend sein: Über Gewalt, Amerika und die SOPRANOS“, in: Merkur, Jg. 59 (2005), S. 477-490, hier: S. 479.
THE SOPRANOS
27
an in dutzenden Episoden wiederholt und aus dutzenden von Kameraperspektiven
variiert den mächtigen Amerikaner, den frontier hero und self-made man, als kranken Mann in Unterwäsche vorstellt, der lustlos und deprimiert zur Hauseinfahrt
schlurft, misstrauisch um sich blickend, ob man möglicherweise in dem vor dem
Grundstück parkenden Überwachungswagen der Polizei Notiz von seiner derangierten Erscheinung nimmt. Die Titelschlagzeile der Zeitung, die er aufhebt – es ist
der Star Ledger New Jerseys –, spricht passenderweise von der Besorgnis des amerikanischen Präsidenten Clinton angesichts der Kostenexplosion im Gesundheitswesen.
Die wirkungsästhetische Formel der tragischen Fallhöhe geht davon aus, dass
der Mächtige eher als der Schwache zum Helden der Tragödie taugt, weil er tiefer
stürzt: Deshalb sehen wir den kranken Tony auch in Szenen, in denen er seine
Macht genießt, in seinem geliebten homosozialen Milieu im Stripclub oder im
Hinterzimmer des Satriale’s,31 wo seine Crew beflissen ihren capo akklamiert, als
Neureichen, der in seinem Swimmingpool planscht und sich auf seiner Yacht mit
seiner russischen comare Irina vergnügt,32 als liebenden Vater, der mit seinem Sohn
Eis isst oder die Tochter Meadow beim Fußballspiel anfeuert, aber gleichzeitig einen begriffsstutzigen Barkeeper mit einem Telefonhörer blutig prügelt und einen
Schuldner mit dem Auto zur Strecke bringt. In anderen Szenen aber agiert Tony als
bereits angezählter Kämpfer, der nur die Zeit bis zum Gong überstehen will. Die
Aufsässigkeit der pubertierenden Tochter Meadow, die schlechten Noten des Sohnes Anthony Jr., die Frustrationen einer vernachlässigten Ehefrau, die sich mit den
Tröstungen der Religion und des Gemeindepfarrers Phil Intintola für die Seitensprünge des Ehemanns entschädigt, zeigen den mächtigen Mafiaboss als überfordertes Familienoberhaupt; auch in seiner Organisation gilt er nicht unwidersprochen als Boss, wie der aufsässige Neffe Christopher, sein zänkischer Onkel Corrado
‚Junior‘ Soprano oder seine falschen, auf Schwächezeichen lauernden Freunde zeigen.
Der Zwang zum Doppelleben zwingt Tony in unlösbare Konflikte zwischen
dem Bekenntnis zur Spießerwelt der middle class und seinen brutalen Handlungen
als Mobster: „If one family doesn’t kill him, the other will“, lautete die tagline auf
31 Zu der für die SOPRANOS so charakteristischen homosozialen, hard-boiled Sentimentalität,
die unversehens in brutale Tätlichkeiten umschlägt, vgl. die Ausführungen von Diederichsen: THE SOPRANOS, S. 14-15.
32 Die Yacht trägt den beziehungsreichen Namen „The Stugots“, was phonetisch dem neapolitanischen sto cazzo, also etwa: dieser Schwanz, entspricht. Vgl. dazu Fred L. Gardaphé:
„Fresh Garbage: The Gangster as Suburban Trickster“, in: Regina Barreca (Hrsg.): A Sitdown with the Sopranos, New York 2002, S. 89-111. – Alle capi bzw. „made men“, wie es im
Mafia-Jargon der SOPRANOS heißt, unterhalten neben der bürgerlichen Ehe mit Frauen, die
nach außen die Respektabilität ihrer Existenz zu bezeugen haben, auch Beziehungen zu einer oder auch mehreren Geliebten, den comari, die im inner circle des homosozialen Milieus
ihre Potenz beweisen sollen – das gilt selbst für den schwulen Vito Spatafore. Lediglich Silvio Dante ist als Betreiber des Stripladens Bada Bing offenbar für weibliche Reize unempfänglich geworden und lebt, soweit sich dies der Serie entnehmen lässt, eher monogam.
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den Werbebroschüren von HBO. Einerseits will Tony in seiner Familie die traditionellen Wertmaßstäbe der amerikanischen Vorstadtfamilie durchsetzen und verbietet in „Nobody Knows Anything“ (THE SOPRANOS, 1:11) seiner Tochter, aufgeklärte Ansichten zur Legalisierung der Prostitution zu äußern: „Out there it’s the
1990’s but in this house is 1954. […] So now and forever. I don’t want to hear
anymore sex talks, okay?“ –, andererseits vertreibt er sich die Freizeit im Bada Bing,
dem Stripschuppen seines consigliere Silvio Dante, ordnet ungerührt Morde an
oder begeht sie gleich selbst. Was ihn in den Augen seiner Crew zum Boss prädestiniert, diskreditiert ihn als Vater und Ehemann. Wie wenig der Versuch, das friedliche familiäre Leben und das kriminelle business auseinanderzuhalten, gelingen
kann, wird in „College“ (THE SOPRANOS, 1:05) deutlich, als Tony mit seiner Tochter durch New England reist und Universitäten besucht. Die Frage der Tochter, ob
er in der Mafia sei, weist er zuerst entrüstet zurück, um dann eine nicht weiter nennenswerte Verwicklung in kriminelle Aktivitäten, wie sie im „waste management
consulting“ unvermeidlich seien, zuzugeben. Kaum aber hat er durch Zufall den
abtrünnigen Mafioso Fabio ‚Febby‘ Patchullio entdeckt, der im Zeugenschutzprogramm untergetaucht ist, heftet er sich an seine Fersen und nutzt die Zeit, in der
Meadow sich über die Leistungen eines Colleges informieren lässt, um den Verräter
mit einem Kabel zu erwürgen.33 Bekanntlich brach am Drehbuch dieser Episode
der Konflikt zwischen David Chase, dem Autor der Serie, und dem Sender HBO
auf. Der Sender befürchtete, durch die Darstellung Tonys als eines mit roher Gewalt lustvoll killenden Mafioso Zuschauer zu verprellen, Chase befürchtete das
Gleiche, sollte Tony auf die Befriedigung seiner Rache verzichten. Spätestens hier
wird deutlich, dass die durchgängige Ambivalenz der Charaktere der Schlüssel zum
Erfolg der SOPRANOS ist: „Beide haben recht. Er ist ein netter, inbrünstig hassender
Mann – wäre er eines von beidem nicht, würde er etwas verlieren.“34
Tony tut alles, um sich als Alpha-Mann Respekt zu verschaffen, mit Körperkraft
Probleme zu beseitigen, mit rüder Potenz seinen Mann zu stehen, das angeschlagene Image des Mannes im Amerika des ausgehenden zweiten Jahrtausends über die
Runden zu retten: Er liebt das Zusammensein mit seinen Kumpels bei Pasta und
Kartenspiel, stemmt im Keller seiner Villa Gewichte und stößt dabei unartikulierte
Ächzlaute aus – untermalt von Nick Lowes „The Beast in Me“ –35, sieht sich im
history channel bevorzugt Dokumentationen über starke Männer wie den Earl
Mountbatten oder den Feldmarschall Rommel an, schwärmt von Gary Cooper –
„That was an American. He wasn’t in touch with his feelings. He just did what he
had to do.“ (THE SOPRANOS, 1:01)36 – und greift interessiert dem Vorschlag Melfis
auf, sich bei ‚geschäftlichen‘ Problemen Rat in Sun Tzus Über die Kriegskunst zu
33 Vgl. Bock: „Family Values“, S. 168.
34 Diederichsen: THE SOPRANOS, S. 106.
35 Was die zufällig bei den Nachbarn dinierende Dr. Melfi, in Voyeurposition im Badezimmer
des Gastgebers, glauben (und wünschen?) lässt, der Qual eines Gefolterten zu lauschen.
36 Vgl. dazu Kai Spanke: „Was ist bloß aus Gary Cooper geworden? Über THE SOPRANOS und
DEADWOOD“, in: Merkur, Jg. 64 (2010), S. 634-639.
THE SOPRANOS
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suchen. Aber trotz seiner so ostentativ um die Restitution von ‚Männlichkeit‘ bemühten Haltung erleidet Tony im Pilotfilm zwei Panikattacken, er hyperventiliert,
verdreht die Augen und bricht zusammen; wegen Atemnot und Sehstörungen befürchtet er, an einem Gehirntumor zu leiden; während er zur Magnetresonanztomografie in eine Röhre geschoben wird, muss er sich dabei die Vorwürfe seiner eifersüchtigen Frau, später die Klagen seiner Mutter anhören. Er leidet aber nicht,
wie Männer seines Milieus nach der Konvention der Populärkultur bevorzugt zu
leiden haben, an im Kampf erlittenen physischen Wunden, sondern an einer tief in
seiner Seele verborgenen Verletzlichkeit, wie sie die Machokultur des Gangstertums eher empfindsamen Frauen attestiert.37 In der Therapie offenbart er die Verletzungen und Neurosen einer gequälten Seele, die Traumatisierungen der Kindheit und die double bind-Situationen seiner jetzigen bigotten Existenz, die ihn an
den Rand der Verzweiflung treiben, und beginnt schließlich in Gegenwart seiner
Therapeutin zu weinen. In dieser Szene hat die Serie ihr mise en abyme gefunden:
Der Zuschauer sieht einen Gangster, die bislang gegen Larmoyanz und Effeminierung „resistenteste männliche Kultfigur der amerikanischen Populärkultur“,38 in
Tränen aufgelöst vor einer Schachtel mit Kleenex-Tüchern. Überfordert durch sein
Doppelleben, deprimiert wegen des Anachronismus seiner Wertvorstellungen, angeschlagen in seiner ,Männlichkeit‘, wird Tony in „Isabella“ (THE SOPRANOS,
1:12), der vorletzten Episode der ersten Staffel, als sein Zustand immer desolater
wird, als er neben Prozac auch noch Lithium und Xanax schluckt und Halluzinationen hat, immer häufiger an Impotenz leidet und kaum noch das Bett verlassen
will, seinem Versagen durch die Anspielung auf den sagenhaften kretischen König
einen mythischen Charakter verleihen: Er, der glücklose Nachkömmling, sei der
Anti-Midas, dem sich alles, was er berühre, in Unrat verwandelt: „I’m not a husband to my wife. I’m not a father to my kids. I’m not a friend to my friends. I’m
nothing.“ Solange er seine Depression als von fremden Mächten verhängtes Schicksal begreift, muss er sich nicht eingestehen, dass die Zeit der Gary Coopers und der
Vito Corleones unwiderruflich vorbei ist, mehr noch, nie etwas anderes war als ein
kulturelles Konstrukt, eine über iterierende kulturelle Bilder vermittelte Phantasie.
,Paulie Walnuts‘ Gualtieri, von Christopher über die Führungsschwäche seines
capo informiert – „he’s sleeping all the time, he’s not taking care of himself“ –, sieht
dies jedoch weniger dramatisch und hält Schwermut für ein bei Führungskräften
verbreitetes Krisensymptom: „And Napoleon, he was a moody fuck too.“
Im Gespräch über seine italienischen Vorfahren und nach einem Einblick in die
Kindheit Tonys unter der Fuchtel der hartherzigen Mutter fällt schließlich – „there
is that d-word again“ – die Diagnose: „feelings of exhaustion and depression“. Die
medikamentöse Behandlung mit einem Mittel, das einer ganzen Generation seinen
Namen geben sollte: Prozac, soll die Gesprächstherapie unterstützen und den „sad
clown“, als den sich Tony empfindet, „laughin’ on the outside, crying on the in37 Vgl. grundlegend dazu Hermann Kappelhoff: Matrix der Gefühle: Das Kino, das Melodrama
und das Theater der Empfindsamkeit, Berlin 2004, S. 251.
38 Nirmalarajah: Gangster Melodrama, S. 54.
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side“, das Schultern der Doppelbelastung als Oberhaupt zweier ‚Familien‘ erleichtern.
In wenigen Sitzungen hat Dr. Melfi bloßgelegt, dass Tony als seinen zentralen
Widersacher keinen rivalisierenden Gangsterboss, sondern die eigene Mutter zu
fürchten hat. Der Vater, dessen patriarchales Modell Tony beschwört und zu retten
versucht, ist tot – lebendig hingegen ist seine Mutter, die erst dem Vater und jetzt
ihm das Leben vergällt. Die Wildenten, die seinen Pool als Aufenthaltsort gewählt
haben, führen dem Mafiaboss, der gerne ein fürsorglicher Patriarch wie Don Vito
Corleone aus Puzos Roman bzw. aus Coppolas Film wäre, das Ideal einer warmherzigen familiären Gemeinschaft vor Augen, in der die Mutter sich liebevoll um die
Aufzucht des Nachwuchses kümmert und zum Fliegen animiert. Ein Traum, den
er seiner Analytikerin erzählt, belehrt ihn jedoch über die brutale Wahrheit familiärer Ordnung: Ein Vogel kommt und raubt seinen Penis. Sein Feind ist nicht der
wegen seiner Autoritätseinbußen greinende Onkel, und sind auch nicht die im
Müllgewerbe mit ihm rivalisierenden Tschechen oder die benachbarte New Yorker
Mafia, sein wahrer Feind ist die kastrierende Mutter, Livia Soprano, ein Ungeheuer
von Shakespeareschem Format, das trostlose und verhärmte Gespenst soziopathischer Missbilligung alles Lebendigen, das ihm die eigene Vitalität raubt und seinem
Selbstverständnis als Mafia-Gangster die matriarchale Fundierung jener Werte von
italianità entzieht, die er gegenüber seinen Kindern und seinen Leuten zu vertreten
sucht. Wie Carmela, Tonys pragmatische Ehefrau, feststellt: „Your mother is the
one.“
Am Ende der Pilotfolge ist es noch nicht die Mutter, sondern Corrado ‚Junior‘
Soprano, der die tückische Saat ausstreut, gegen Tony, seinen Neffen und Livias
Sohn, etwas unternehmen zu müssen. Erstmals klingt hier der für die Mafia-Ästhetik so prägende Mythos des Atridenmordes an. Aber die eher mürrische als empörte Reaktion von Livia macht deutlich, dass nicht der sich schlau dünkende Onkel,
sondern sie, die verkommene Version meridionaler Mütterlichkeit, der wahre Gegenspieler ihres Sohnes ist. Auf einer Fotografie, die mit dem Personal der SOPRANOS Leonardo da Vincis „Abendmahl“ nachstellt, hat die amerikanische Fotografin
Ann Leibowitz Tony Soprano als Schmerzensmann an der Stelle Christi platziert,
während Livia die Position des Judas einnimmt. Am Ende der ersten Staffel ist die
Etablierung Livias als einer boshaften magna mater und des Mafiabosses als ihres
traumatisierten Sohnes perfekt – auch dies ein Novum im moralischen Code des
TV, der Müttern eher einen natürlichen Anspruch auf das Rollenklischee der Güte
zuweist.
Was die Pilotfolge andeutet, wird auf der mit zunehmender Beschleunigung auf
eine Katastrophe zusteuernden Entwicklung 85 Folgen lang variiert. Wir werden
Tony immer wieder im Krankenhaus sehen, in „Isabella“ (THE SOPRANOS, 1:12) als
Patient mit einem angeschossenen Ohr, in „Join the Club“ (THE SOPRANOS, 6:02)
mit einem Bauchschuss, nach einer Panikattacke ohnmächtig in den Airbag des
verunglückten Autos gedrückt, in den ersten Folgen der sechsten Staffel nacheinander im Koma, sogar klinisch tot nach Herzstillstand, kaum noch lebendig nach
der Reanimation, wie ein Lobotomisierter im Morgenmantel vor dem Kranken-