Wo die Gurken Kult sind - VCS Verkehrs

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Wo die Gurken Kult sind - VCS Verkehrs
Den Spreewald südlich von Berlin kennt man vor allem wegen der Gurken. Auf
dem Gurkenradweg entdeckt man noch viel mehr: Kanäle, Dörfer, die sorbische
Sprache, die Tierwelt und den Braunkohlebau, der ganze Landstriche umpflügte.
Wo die Gurken Kult sind
Text und Fotos: Peter Krebs
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E
ine schöne kleine Kirche sei
das, bemerke ich zu der älteren Frau, die mit der leeren
Giesskanne in der Hand vom
Friedhof der Schlepziger Kirche
kommt, einem Fachwerkbau mit
einem schmucken Holzturm.
«Im Innern ist sie auch schön.
Haben Sie die Wolken an der Decke gesehen?»
«Ja. Die Decke wirkt sehr hell.»
«Die Wolken sind hell aber auch
dunkel, wie es so ist. Der Maler
verstand etwas.»
Sie wünscht einen schönen Tag,
hängt die Kanne neben die anderen und macht sich auf den Weg.
Schlepzig ist eines der anmutigsten Dörfer des Spreewaldes
in der Lausitz im Süden von
Brandenburg. Entlang der Strassen und des Kanals stehen niedrige Häuser aus Ziegelstein. In
einer restaurierten Fabrik mit
einem gepflegten Innenhof, dem
Brauhaus, wird seit neustem
Schnaps aus allen möglichen
Früchten hergestellt. Im Laden
gibt es Spreewälder Spezialitäten.
Leinöl gehört dazu, das wegen
des hohen Fettsäuregehalts äusserst gesund sein soll, aber auch
schnell bitter wird. Es senke den
Cholesterinspiegel, helfe wie eine
Gesichtscrème gegen Falten und
diene «zur vorbeugenden Magenstärkung bei Besäufnissen»,
steht auf einer Tafel. Die Ammen
aus dem Spreewald sollen einst in
Berlin besonders beliebt gewesen
sein, weil sie sich mit Kartoffeln
und in Leinöl getränktem Quark
VCS MAGAZIN / Juli 2012
REISEN
Velotour
Die Kanäle, Fliesse genannt, werden
heute vor allem touristisch genutzt.
Einzelne Höfe sind aber weiterhin nur
auf dem Wasserweg erreichbar.
ernährten, was sich positiv auf
das Wachstum der Kinder auswirkte. Natürlich fehlen die Gurken nicht. Es gibt sie in fast ebenso vielen Variationen wie das
Feuerwasser: als Gewürzgurken,
Senfgurken, Knoblauchgurken,
Königsgurken und als saure Gurken. Um das Gemüse, das sonst
in der Küche und im Sprachgebrauch keinen hohen Stellenwert
geniesst, wird im Spreewald ein
richtiger Kult betrieben. Die
Spreewälder Gurke geniesst, wie
der Meerrettich, europäischen
Markenschutz. Es gibt sogar ein
Gurkenmuseum und einen Gurkenradweg.
Wie alle Spreewälder Dörfer
besitzt Schlepzig einen Hafen.
Wobei das Wort etwas hoch gegriffen ist. Eigentlich ist es bloss
eine bescheidene Anlegestelle für
die flachen Boote mit Bänken und
Tischen, mit denen die Touristen zu einer Fahrt in die Kanäle
aufbrechen. Diese «Fliesse» sind
die Hauptattraktion des Spreewalds. Das ausgedehnte Labyrinth der Wasseradern entstand
nach der letzten Eiszeit zunächst
auf natürliche Weise durch die
Verästelungen der Spree. Im
6. Jahrhundert begannen die slawischen Sorben (Wenden) das
unwirtliche Gebiet zu besiedeln.
Sie rodeten den Wald, um kleine Wiesen und Äcker anzulegen. Sie bauten auch die Kanäle
aus, die ihnen als Transportwege
dienten. Die Sorben stammten
aus dem Stamm der Lusizer, die
der Lausitz den Namen gaben.
Im 12. Jahrhundert verloren sie
ihre politische Unabhängigkeit.
Ihre Sprache und das Brauchtum
haben bis heute überlebt, wenn
auch nur bruchstückweise. Mit
dem Witaj-Projekt, das unter anderem die Zweisprachigkeit der
Kinder fördert, soll die Sprache
VCS MAGAZIN / Juli 2012
revitalisiert werden. Sichtbarstes
Zeichen sind die doppelten Ortsund Städtenamen. Schlepzig
heisst auf sorbisch Zloupisti; aus
Cottbus wird das fast zärtliche
Chóśebuz.
Im Lauf der Besiedlung entstand westlich von Chóśebuz in
einem 75 Kilometer langen und
16 Kilometer breiten Gebiet ein
Kanalsystem von über 1500 Kilometern. Knapp zwanzig Prozent
davon sind für die Touristenkähne und Paddelboote zugänglich.
Motoren sind nicht erlaubt. Die
Schiffer bewegen ihre Kähne
mit einer langen Ruderstange
aus Eschen- oder Erlenholz, dem
Rudel, stakend vorwärts. Die
Strömung ist schwach. Dafür ist
die Ruhe in den eine Zugstunde
südöstlich von Berlin gelegenen
Wäldern gross. In den ursprünglichsten Teilen des Unesco-Biosphärenreservats ist nur der Ruf
des Kuckucks zu hören sowie
das Ächzen der Schwarzerlen,
der Pappeln, Birken und der Buchen, die sich im Wind bewegen.
Er weht hier häufig und aus allen
Himmelsrichtungen. Regen ist
hingegen selten.
Bis weit ins 20. Jahrhundert
hinein waren viele Dörfer nur
auf den Fliessen erreichbar. Der
Strassenbau erwies sich auf dem
nassen und oft sandigen Untergrund als schwierig. Heute sind
bloss noch einzelne abgelegene
Höfe ohne Anschluss an den
Landverkehr. Hin und wieder
sieht man aber einen Kahn, der
einen Kühlschrank und Baumaterial befördert, oder eine durch
einen idyllischen Kanal stakende
Postbotin im gelben Hemd. Geblieben sind die lauschigen Orte
am Wasser mit den Gasthöfen
und Bauernschenken, die alle
eine Anlegestelle besitzen. Oft
sind es alte Wassermühlen. Der
Petkampsberg im Unterspreewald südlich von Schlepzig ist
so ein Gasthaus, wo man keine
Hektik zu kennen scheint und
die Welt noch in Ordnung ist.
Ich bin mit dem Fahrrad un-
terwegs und radle am Abend auf
dem Spreeradweg, der hier mit
dem Gurkenweg identisch ist,
von Schlepzig Richtung Lübben.
Auf einmal watschelt vor mir ein
Biberpaar im Gänsemarsch über
den Kiesweg und verschwindet
im Schilf. Dann taucht es im
Teich badend wieder auf, der
auch ein Vogelparadies ist. Bergpieper, Eisvögel sowie Waldwasserläufer fühlen sich in den Biotopen des Spreewalds wohl, wie
auch Störche.
Das Velo ist nebst dem Boot
zweifellos die beste Art, die Gegend kennen zu lernen. In den
letzten Jahren haben die Behörden ein schon fast verwirrend
dichtes Netz an meist gut beschilderten Radwegen geschaffen. Nebst eigens angelegten
Pisten und den Nebenstrassen
zählen Naturwege dazu. Sie führen manchmal über die Dämme,
welche die Siedlungen und die
landwirtschaftlich
genutzten
Flächen vor Hochwasser schützen. Manchmal sind es auch
recht sandige Waldwege, auf denen man ins Schwimmen kommt
und für einige Meter absteigen
muss. Ein paar Strecken sind
noch mit DDR-Betonplatten be-
legt, deren Fugen einen gehörig
durchschütteln.
Jedenfalls bekommt man auf
dem Velo einen guten Einblick in
den Spreewald, der ja nicht nur
aus Wald besteht. In Lübben­
au/Lubnjow leuchtet inmitten
eines Parks ein stattliches gelbes Schloss. Es blickt auf eine
turbulente Geschichte zurück.
Der letzte Standesherr, Wilhelm
Friedrich Graf zu Lynar, war
1944 an den Vorbereitungen
zum missglückten Hitler-Attentat beteiligt und wurde vom
Nazi-Regime hingerichtet. Nach
dem Krieg diente das Schloss als
Krankenhaus. In der späteren
DDR-Zeit war es ein Computerausbildungszentrum. Nach der
Wende im Jahr 1989 erfolgte die
«Rückübertragung» an die Erben
der alten Eigentümerfamilie, die
ihr Schloss in ein Hotel umwandelten. Der Kaffee im Gartenres­
taurant ist übrigens erschwinglich.
Unweit des Schlosses befindet sich das kleine Dorf Lehde
mit dem Gurken- sowie einem
Freilandmuseum aus traditionellen Holzhäusern mit Kreuzgiebeln. Gleich daneben verzweigen
sich mehrere Kanäle: eine Was
In der Lausitz hat der Braunkohleabbau wie hier bei Cottbus ganze
Landschaften verändert.
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Velotour
serwegkreuzung ohne Rotlicht,
Abgase und Lärm. Das Hafengelände ist auch ein Biergarten.
Lehde gilt als der ursprünglichste Ort im Spreewald. Es ist vielleicht so etwas wie seine Seele.
Über mehrere gebogene Holzbrücken gelangen die Landratten
an kleinen Waldgärten vorbei
auf den malerischen Spazierund Veloweg, der zwischen zwei
Kanälen und durch eine Wald­
allee nach Leipe führt.
Aber Achtung: Auf dem Spree­
radweg lernt man auch eine weniger idyllische Seite der Niederlausitz kennen. Er führt kurz
nach Cottbus am Rand des riesigen Tagbaugebiets Cottbus-Nord
entlang. Gigantische Bagger
haben die Gegend seit 1978 in
eine Mondlandschaft verwandelt, um Braunkohle zu gewinnen. Die Maschinen laufen noch.
Im Jahr 2015 wird damit Schluss
sein. Dann wird die Landschaft
noch einmal umgestaltet, in eine
«Bergbau-Folgelandschaft». Aus
dem Riesenloch soll dann ein See
werden. Langsam. Die Flutung
soll erst 2030 beendet sein. Der
Prozess dauert auch deshalb so
lange, weil die einst feuchte Lausitz unter Wassermangel leidet.
Im Zuge des Bergbaus wurde der
Grundwasserspiegel massiv gesenkt.
Die Niederlausitz ist geprägt
vom Braunkohleabbau im offenen Gelände, der jeden Tag
hektarenweise Kulturland ver-
schlang. Allein um Cottbus
mussten 50 Ortschaften den
Baggern weichen. Nach der
Wende wurde die Mehrzahl der
Reviere stillgelegt. Fünf sind
aber noch in Betrieb. Die anderen werden zu Folgelandschaften
oder sind es schon, wie jenes von
Senftenberg weiter im Süden an
der Grenze zu Sachsen. Künstliche Seen spielen dabei eine zentrale Rolle. Sie werden teils touristisch genutzt, teils auch für
den Naturschutz. Auf dem Spreedamm lässt es sich gemütlich radeln. Die bemalte Holzdecke in
der Schlepziger Kirche. Auf dem Alten Markt im Zentrum von Cottbus.
Entdeckungsreisen per Rad
Anreise/Rückreise: Am besten mit
dem Nachtzug der Citynightline
nach Berlin HB (täglich ab Zürich/
Basel, mit Velo-Selbstverlad), von
hier direkte IR-Züge nach Cottbus
(mit Velo-Selbstverlad).
Route: Es stehen zahlreiche Routen zur Auswahl. Wer es eher gemütlich mag, kann eine mehrtägige
Rundtour (z.B. auf dem Gurkenweg) ab Cottbus unternehmen.
Fernradler wählen den Spreeradweg; er beginnt bei Ebersbach östlich von Dresden und endet nach
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420 km in Berlin; man kann auch
erst in Cottbus oder Spremberg
starten.
Bootsfahrten: Sie lassen sich an
zahlreichen Lande­stellen vor Ort
buchen.
Buchungen: Railtour Suisse führt
die «Grosse Spreewald-Tour» im
Angebot (7 Übernachtungen,
ca. 250 km): www.railtour.ch;
Tel. 031 378 01 01
Weitere Informationen:
www.verkehrsclub.ch/touren
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