Inhalt - Langenscheidt

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Inhalt
Inhalt
Die Thematik in Kürze
Die Menschheit überlebt im Atomzeitalter nur, weil sie die Mittel
gefunden hat, sich tausendfach zu vernichten. Die Frage, ob der
einzelne Wissenschaftler bei der Entwicklung immer neuer Waffensysteme noch eine seiner Verantwortung gerecht werdende Entscheidungsfreiheit hat, steht im Zentrum dieses Werkes.
Heute die Genforschung, vor 60 Jahren die Atombombe, im 17. Jahrhundert Galileis astronomische Beobachtungen – immer hatten und
haben die Erkenntnisse der Naturwissenschaftler Folgen für die
Menschheit, segensreiche oder fürchterliche. Wer in der Forschung
tätig ist, muss sich also genauestens Rechenschaft darüber ablegen,
was mit den Ergebnissen seiner Arbeit geschieht.
Aber was, wenn der einzelne Wissenschaftler gar nicht über seine Forschungsergebnisse verfügen kann? Was, wenn seine Tätigkeit überwacht und von anonymen Mächten kontrolliert wird? Und schließlich: Wenn sowieso entdeckt und erfunden wird, wofür die Zeit reif
ist, warum dann brisante Erfindungen verstecken und Ruhm, Erfolg
und Geld den anderen überlassen?
Um Antwort auf diese Fragen zu geben, hat Dürrenmatt den genialen
Physiker Möbius erfunden, der aus Verantwortung seine Entdeckungen
geheim halten will. Die Bilanz des dramatischen Versuchs ist ernüchternd: Der Einzelne vermag nichts gegen den Lauf der Geschichte.
Als das Stück entstand, verfügten die USA und die Sowjetunion bereits
über Waffenarsenale, die ausreichten, die Menschheit mehrfach auszulöschen. Die Atombombe, ein Gipfelpunkt menschlicher Denkleistung, ist zugleich ein Höhepunkt der Unvernunft. Gegen diese weltweit herrschende Irrationalität legt Dürrenmatts Stück Einspruch ein;
weil die Welt verrückt ist, sind die Vernünftigen im Irrenhaus.
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Die Handlung in Kürze
Der Physiker Möbius versteckt sich freiwillig im Irrenhaus, um so
zu verhindern, dass die von ihm entdeckte Weltformel (S. 69) zum
Schaden der Menschheit ausgebeutet wird. Doch ausgerechnet die
Chefärztin kopiert heimlich seine Aufzeichnungen und strebt nun
selbst zur Weltherrschaft.
In der psychiatrischen Anstalt Les Cerisiers irgendwo in der Schweiz
leben drei Physiker. Einer hält sich für Newton, der Zweite für Einstein, während Möbius, der Dritte im Bunde, angeblich mit König
Salomon in Kontakt steht.
Zwar tötet jeder der drei eine Krankenschwester, aber trotzdem sind
die Herren nicht verrückt. Im Gegenteil: Möbius hat eine geniale Entdeckung gemacht – das System aller möglichen Erfindungen (S. 69) –,
die »Newton« und »Einstein« im Auftrag zweier konkurrierender Geheimdienste in ihren Besitz bringen möchten.
In einer auf philosophischem Niveau geführten Auseinandersetzung
über das Verhältnis von Wissenschaft und Macht gelingt es Möbius
allerdings, die Agenten auf seine Seite zu bringen. Seine Forschungsergebnisse hätten todbringende Folgen für die gesamte Menschheit
und dürften deshalb nicht veröffentlicht werden. Alle drei beschließen, freiwillig den Rest ihres Lebens in der Anstalt zu verbringen, um
die Erde zu retten.
Anstelle des hier denkbaren versöhnlichen Schlusses gibt Dürrenmatt der Handlung seines Stücks eine überraschende Wende. Die
größenwahnsinnige Anstaltsleiterin hat das Inkognito der drei Männer seit Langem durchschaut, von Möbius’ Unterlagen Kopien angefertigt und bereits ein Unternehmen zur Verwertung seiner Entdeckungen aufgebaut.
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Die Handlung in Kürze
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Die literarische Gattung
Die literarische Gattung
Dürrenmatt nennt fast alle seine Bühnenstücke »Komödien« und
bekennt sich damit zu seinem literarischen Ahnherrn Aristophanes
(445–385 v. Chr.), bei dem dieser Dramentyp zu einer ersten
Blüte kommt. Die Komödie gehört zur Gattung des Dramas, das
sich dadurch auszeichnet, dass der Autor eine dynamische Handlung auf die Bühne bringt, die in Dialogen vorgetragen wird.
Die Komödie
Hintergrund
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lebt von der Komik, die durch den Kontrast des Gezeigten zum
allgemein Gewohnten zustande kommt,
desillusioniert, indem sie Schwächen entlarvt,
kann bei der Entlarvung tragische Züge gewinnen,
endet mit einem befreienden Lachen.
Typisch für Dürrenmatts Komödien ist die Einbeziehung tragischer
Elemente. So nennt er sein Erfolgsstück »Der Besuch der alten Dame« eine »tragische Komödie« – eine Bezeichnung, die auch auf »Die
Physiker« exakt zutrifft. Als Verfasser von Tragikomödien vor Dürrenmatt gelten u. a.: Lenz, Kleist, Wedekind, Sternheim, Ionesco.
Woher kommt Dürrenmatts Vorliebe für Komödien?
Der Verlust einer durchschaubaren und akzeptierten Weltordnung
mit ihren Werten und Mythen macht die Darstellung der heutigen
Welt in der Tragödie unmöglich. Das sagt zumindest Dürrenmatt:
»
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Die Tragödie setzt Schuld, Not, Maß und Übersicht voraus. In
der Wurstelei unseres Jahrhunderts, in diesem Kehraus der weißen Rasse, gibt es keine Schuldigen und auch keine Verantwortlichen mehr.1
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Die literarische Gattung
Dürrenmatts Diagnose unserer Zeit ist finster
Für Dürrenmatt ist der Lauf der Welt nicht mehr kausal erklärbar,
sondern nur noch paradox als eine Kette von Zufällen und »Pannen«
(zu »Die Panne«, vgl. S. 20f. dieses Bandes). Das Paradoxe ist aber
nicht einfach das Sinnlose; vielmehr erscheint im Paradox die Wahrheit. Wenn zum Beispiel der Friede vorläufig nur deshalb besteht, weil
es Wasserstoff- und Atombomben gibt2, dann ist dieses Paradox ein Teil
der Wahrheit über das (Über-)Leben in der zweiten Hälfte des
20. Jahrhunderts.
Gefahr des globalen Selbstmords – was soll denn daran
lustig sein und Stoff für Komödien liefern?
Wer verzweifelt, verliert den Kopf; wer Komödien schreibt [und liest
oder anschaut, H.-M. M.], braucht ihn. 3
Dürrenmatt will sich und uns vor der Verzweiflung bewahren, ohne
allerdings billigen Trost zu spenden. Wir sollen in die Lage versetzt
werden, die Welt in ihrem Widersinn zu erkennen und auszuhalten.
Das Nachdenken über die Wahrheit stellt sich wie von selbst ein,
wenn die objektive Realität ins Komische gesteigert wird. Die dazu
notwendige Distanz, aber auch das Interesse der Zuschauer – Dürrenmatt spricht von der Komödie als Mausefalle 4 –, stellt die Komödie durch den originellen Einfall und den unglaublichen Zufall her.
1
2
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4
Theaterprobleme (s. S. 62), S. 62
F. Dürrenmatt: Vom Sinn der Dichtung in unserer Zeit; zit. nach Ritter (s. S. 62), S. 144;
F. Dürrenmatt: Der Rest ist Dank; ebd., S. 138;
Theaterprobleme (s. S. 62), S. 72
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Hintergrund
Dürrenmatt sieht die Menschheit bedroht durch die gigantischen
Potenziale an Massenvernichtungswaffen und die Bevölkerungsexplosion. Er glaubt, der Einzelne habe keinen Entscheidungsspielraum
mehr im rasanten Betrieb der Massengesellschaft und irre durchs
Leben wie durch ein Labyrinth.
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Thematisch verwandte Stücke
Thematisch verwandte Stücke
Die Thematik der gesellschaftlichen Verantwortung des Wissenschaftlers wird in zahlreichen literarischen Werken bearbeitet.
So haben Bertolt Brecht und Heinar Kipphardt, tief beeindruckt
von Entwicklung und Wirkung der Atombombe, die historischen
Forschergestalten Galileo Galilei und J. R. Oppenheimer in den
Friedrich Dürrenmatt:
»Die Physiker«
Hintergrund
(1962)
Hauptfigur
der geniale Physiker Möbius (vom Autor erfunden)
Story
der Physiker täuscht im Irrenhaus Wahnsinn
vor, um die Welt vor seinem gefährlichen Wissen zu bewahren; der Geheimhaltungsversuch
ist schon vor Beginn der Komödie gescheitert
Ausgang
schlimmstmögliche Wendung (S. 91): Gefangener
einer irren Irrenärztin, die sich das Wissen des
Physikers angeeignet hat und es zum Schaden
der Menschheit ausbeutet
Folgen
Bedrohung der ganzen Welt; Möbius’ Opfer ist
sinnlos: Einzelne müssen scheitern; Forscher
im Bereich der Spitzentechnologie sind in keinem politischen System mehr frei; eine volksnahe Wissenschaft ist Illusion
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Thematisch verwandte Stücke
Bertolt Brecht:
»Leben des Galilei«
(zwischen 1939 und 1956)
Heinar Kipphardt:
»In der Sache J. Robert
Oppenheimer« (1964)
Galilei, der geniale Mathematiker und Naturwissenschaftler
der geniale amerikanische Physiker Oppenheimer
Galilei soll als Einzelner gegen
die Kirche und die mit ihr verbündeten gesellschaftlich Mächtigen eine neue Wissenschaft
und eine gerechtere Gesellschaft
durchsetzen
Konflikt: loyal gegenüber der
Regierung oder der Menschheit? Angst vor Missbrauch der
Wissenschaft durch Regierung
und Militär
Galilei gibt seinen Versuch aus
Feigheit auf; Gefangener seiner kirchengläubigen Tochter;
Selbstverurteilung Galileis
Urteil der Kommission: Oppenheimer als Sicherheitsrisiko; keine Einführung humaner
Prinzipien in die Forschung
die neue Wissenschaft setzt sich
zwar durch, aber naturwissenschaftlicher und gesellschaftlicher Fortschritt werden getrennt; durch Galileis Schuld
führt die Naturwissenschaft zu
vielen Katastrophen (Atombombe); die Gesellschaftsordnung
bleibt ungerecht
Selbstverurteilung Oppenheimers: die militärische Nutzung
war ein Verrat an der Wissenschaft, deshalb Übergang zu
friedlicher Forschung; aber: die
atomare Bedrohung bleibt, solange nicht alle Physiker so
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Hintergrund
Mittelpunkt ihrer Physiker-Dramen gestellt. Der Vergleich mit
Dürrenmatts Komödie zeigt, wie unterschiedlich eine ähnliche
Thematik durch die politischen und dramentheoretischen Grundannahmen des jeweiligen Autors gestaltet werden kann.