FÜR MEHR EUROPA

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FÜR MEHR EUROPA
FÜR MEHR EUROPA –
gegen Renationalisierung
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D e u t s c h l a n D s ä lt e s t e b u n D e s w e i t e b ü r g e r i n i t i at i v e
zur Förderung des staatsbürgerlichen Engagements, des Ehrenamts
und der Zivilcourage (gegründet 1957)
Deutsch
lanD
Für mehr Europa –
gegen Renationalisierung
Begleittexte zur Kampagne
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Inhalt
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Vorwort
Cornelie Sonntag-Wolgast
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Wir brauchen mehr Europa - zur Gesamtproblematik des Aufrufs der Aktion
Gemeinsinn
Carl-Christoph Schweitzer
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Das europäische Projekt in der Krise
Heinrich AugustWinkler
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Was hat uns die Europäische Union bisher gebracht?
Klaus Hänsch
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Europa – Eine wirtschaftspolitische Führungsaufgabe
Ulrich Blum
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Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten – Fiktion, Wunsch oder
Wirklichkeit?
Carl-Christoph Schweitzer
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Auch die Medien sind herausgefordert: Mehr Demokratie wagen!
Helmut Herles
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Für ein Europa der Bürger – Europa muss demokratischer und die Demokratie
muss europäischer werden!
Gerald Häfner
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Europa ist mehr als der Euro
Alexander Graf Lambsdorff
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Zitate und Meinungen
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Europa in Kürze
- Wie funktioniert Europa bislang?
- Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV
- Wie können sich europäische Bürger einmischen?
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Statistische Daten
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Vorwort
Dr. Cornelie SonntagWolgast
Die ehemalige Parlamentarische Staatssekretärin war
von 2006 bis Ende 2012
Vorsitzende der Aktion
Gemeinsinn e.V.
„M ehr e uropa – gegen r enationalisierung “.
Ist diese Forderung am Platze? Gerade jetzt, da sich die
Lage in den Anrainer-Staaten des Mittelmeers zuspitzt;
da der Euro in der Krise steckt; da viele Menschen
tiefes Unbehagen packt über das Tempo, mit dem der
Bundestag über „Rettungsschirme“ und „Fiskalpakte“
abzustimmen hat? Wir sagen: Ja, gerade jetzt ist es notwendig, für ein starkes, einheitliches Europa zu werben. Für einen Kontinent, der die Vielfalt seiner Traditionen und kulturellen Eigenheiten wahrt und dennoch
die Kraft hat zur Bildung einer echten politischen
Union. Für eine Haltung, die sich den Tendenzen zum
Verzicht auf bereits erworbene gemeinschaftsrechtliche
Regelungen entgegenstellt.
Seit ihrer Gründung vor 55 Jahren hat sich die Aktion
Gemeinsinn, Deutschlands erste überparteiliche Bürgerinitiative, als Motor zivilen Engagements verstanden. Wir fordern etwas vom
Staat und vom Parlament, aber wir ermuntern zugleich all diejenigen, die diese
Forderung unterstützen, ihren eigenen Beitrag zu leisten. Und jetzt ist es dringlich,
europäischen Gemeinsinn zu zeigen! Deutlich zu machen, wie stark das vereinte
Europa unser Leben positiv beeinflusst hat! Die Spannbreite reicht von ganz praktischen Erleichterungen wie der Reisefreiheit über die wirtschaftliche Stärkung, die
der Euro unserem export-orientierten Land beschert hat, bis hin zu einer langen
Phase des Friedens, wie wir sie kaum jemals zuvor erleben durften.
Wir sind froh und dankbar dafür, dass namhafte Persönlichkeiten aus Politik, Wirtschaft, Wissenschaft und Religion als Erstunterzeichner den Fünf-Punkte-Katalog
unserer Anzeige unterstützen. Dass es nicht leicht war, einen Konsens zu einer
derart komplexen Thematik zu erzielen, sei hier nicht verschwiegen. Den knappen
Text der Anzeige ergänzen wir in der vorliegenden Broschüre mit Antworten auf die
wichtigsten Fragen, die die Bürgerinnen und Bürger stellen. Wir setzen uns natürlich auch mit der Kritik an der Europäischen Union auseinander. Wer mehr über
ihre Entstehung und Entwicklung weiß, gewinnt Verständnis – und fasst Vertrauen! Denn trotz aller Probleme und Zweifel: Die Idee vom geeinten Europa ist und
bleibt ein Glücksfall der Nachkriegsgeschichte. Es lohnt sich, für sie zu kämpfen.
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Wir brauchen mehr Europa – zur Gesamtproblematik des Aufrufs der Aktion Gemeinsinn
Das Europa der EU (1951/52 aus 6 Mitgliedsstaaten
bestehend, inzwischen aus 27!) steht an einem Scheideweg, den man nach 60 Jahren Integrationsbemühungen
durchaus als historisch bezeichnen kann. Wenigstens
darin sind sich die maßgeblichen Experten aus Wissenschaft und Politik einig.
Die Aktion Gemeinsinn ist als Verfasser der vorliegenden Testimonialanzeige zusammen mit ihren Erstunterzeichnern der Auffassung, dass es für die EU heute nur
ein unumstößliches Entweder-Oder gibt. Die EuroProf. em. Dr. Carlkrise kann unseres Erachtens nur überwunden werden
Christoph Schweitzer
durch mutige weitere Integrationsschritte in RichPolitikwissenschaftler,
Universität Bonn, war 1957 tung „Mehr Europa“, d.h. durch noch weiter gehende
Übertragungen von einzelstaatlichen Hoheitsrechten
Initiator der Aktion Gemeinsinn und ist heute ihr in Richtung auf eine echte politische Union, nicht aber
Ehrenvorsitzender.
durch Rückübertragungen solcher Hoheitsrechte weg
von der EU und hin zu alten, durch die Geschichte
überholten nationalstaatlichen Strukturen. Letztere Alternative scheint leider immer
stärker auch in Deutschland in den Mittelpunkt öffentlicher Diskurse zu rücken – in
erster Linie aus Angst vor Einbußen an gesamtstaatlichem und persönlichem Wohlstand. Solche Tendenzen bezeichnen wir in unserem Aufruf als „Renationalisierung“.
Dieser Terminus hat nichts gemein mit einem Nationalismus früherer Jahrhunderte,
der in Europa zu so vielen Kriegen geführt hat.
Ein solches „Mehr Europa“ hatte schon am Ende des vorigen Jahrhunderts ein
hochkarätig besetzter sog. „Verfassungskonvent“ angepeilt und dann 2004 mit dem
Endprodukt eines Verfassungsentwurfes herbeizuführen versucht. Die Umsetzung
in eine EU-Verfassung wäre die richtige Antwort auf die Frage nach der Weiterentwicklung der Integration im Rahmen der EU gewesen. Dieser von den Staatsführungen schon angenommene Versuch scheiterte jedoch überraschend knapp mehrheitlich an Volksabstimmungen ausgerechnet in Frankreich und den Niederlanden.
Schon damals hätte den Politikern in allen EU-Mitgliedsstaaten klar sein müssen,
dass ohne eine vertraglich im Einzelnen abgesicherte gemeinsame Wirtschafts- und
Finanzpolitik der Euro als Gemeinschaftswährung gar nicht hätte eingeführt werden
dürfen. Jetzt soll dieser Geburtsfehler des Euro-Systems vor allem durch den sog.
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Fiskalpakt und einen dauerhaften Krisenfonds, den Europäischen Stabilitätsmechanismus (ESM), juristisch und politisch “geheilt“ werden (siehe hierzu Ulrich Blum:
Europa – eine wirtschaftspolitische Führungsaufgabe). Auch nach sechzig Jahren der
Integrationsentwicklung ist ein anzupeilendes ENDZIEL (Bundesstaat, Staatenbund
oder eine Mischform etc.) immer noch nicht im Konsens formuliert worden.
Die Aktion Gemeinsinn geht davon aus, dass eine Politik des „Mehr Europa“ auf jeden Fall gerade in dieser Zeit einer wahren Herkulesaufgabe gleichkommt, der wir
uns aber nicht entziehen können. Diese Aufgabe kann aus unserer Sicht nur dann
erfolgreich bewältigt werden, wenn das demokratisch gewählte Europäische Parlament noch mehr Kontrollkompetenzen gegenüber den verschiedenen EU-Exekutiven erhält, nämlich
• gegenüber dem allen anderen europäischen Instanzen übergeordneten, vor allem
aber völlig an unserem Europäischen Parlament vorbei operierenden Europäischen
Rat der Staats- und Regierungschefs
• gegenüber dem von Anfang an bestehenden „Rat der Europäischen Union“ (Ministerrat, von seinen Funktionen her teilweise mit unserem Bundesrat zu vergleichen),
in dem die Regierungen der einzelnen Mitgliedsländer jeweils mit ihren Fachministern vertreten sind. Er ist zusammen mit dem Europäischen Parlament das Legislativorgan der EU und gleichzeitig auch nach Art. 16 Lissabon-Vertrag exekutiv tätig.
• gegenüber der eigentlich als europäische Regierung ebenfalls von Anfang an
bestehenden EU-Kommission mit dem bis heute noch nicht beseitigten demokratietheoretischen „Makel“, dass sie (von wenigen Ausnahmen abgesehen) alleine das Initiativrecht für die europäische Gesetzgebung besitzt. (Erst seit wenigen Jahren muss
das Europäische Parlament wenigstens der Ernennung der von den Mitgliedsstaaten
vorgeschlagenen Kommissionsmitglieder zustimmen und kann die Kommission darüber hinaus durch ein qualifiziertes Misstrauensvotum theoretisch auch abwählen.)
Ein Meilenstein in der europäischen Integrationsgeschichte war der am 25. Mai 2005
von allen Mitgliedsstaaten unterschriebene sog. „Lissabon-Vertrag“, der den EU-Vertrag und den EG-Vertrag ersetzt und eine „neue institutionelle Architektur“ der Europäischen Union herbeigeführt hat (vgl. „Vertrag von Lissabon“, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, S. 21f, mit Register S. 414f). Dieses vorläufig letzte
europäische Vertragsmonstrum umfasst insgesamt 356 Druckseiten. Hinzu kommen
zur Gesamtbewertung aus deutscher Sicht noch 24 Buchseiten mit neu angepassten
deutschen Rechtsbestimmungen einschließlich entsprechender Grundgesetzpassagen,
die nicht zuletzt die erheblich erweiterten Mitwirkungsrechte von Bundestag und
Bundesrat in der europäischen Integrationsgesetzgebung neu definieren. Wie aber können sich die “Unionsbürger/-innen“ in diesem Gesetzeslabyrinth zurechtfinden?
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Damit sind wir wieder bei der zentralen Forderung der Aktion Gemeinsinn nach
mehr Kompetenzen für das Europäische Parlament als einem noch stärkeren Motor
für den weiteren europäischen Integrationsprozess. Zwar sind durch den LissabonVertrag auch die Mitentscheidungsrechte des Europäischen Parlaments erheblich
erweitert worden – etwa bei der Gestaltung der Außen- und Sicherheitspolitik der
Union. Der oben angesprochene „Grundmakel“ eines nur ganz geringen eigenen
legislativen Initiativrechts und einer immer noch sehr mangelhaften Kontrolle der
EU-Exekutiven bleibt aber bestehen.
Neue und alte Probleme in diesem Gesamtzusammenhang hängen nun aber auch
mit dem sehr zwiespältig zu bewertenden Urteil unseres Bundesverfassungsgerichts
(BVG) vom 30. Juni 2009 zum Lissabon-Vertrag zusammen. Aus Sicht des Verfassers dieses Beitrags hätte das BVG in seinem Urteil auch das Europäische Parlament
zumindest indirekt stärken müssen – und nicht nur die Rechte des Deutschen Bundestags. Letztlich hat das Urteil das genaue Gegenteil im Hinblick auf das Europäische Parlament bewirkt, vor allem weil das oberste deutsche Verfassungsgericht die
Legitimität des von uns Unionsbürgern frei gewählten Europäischen Parlaments in
Brüssel als ein echtes Parlament überhaupt in Zweifel gezogen hat. Für eine solche
Beurteilung war unser nationales Gericht strictu sensu nicht zuständig. Auch konnte
die Begründung dieses Teils des Urteils durch eine Berufung auf ein Primat des bei
uns in Deutschland (aber z.B. nicht in den USA oder Großbritannien) vorherrschenden Typus des Verhältniswahlrechts nicht überzeugen. Auf jeden Fall hat das Gericht
nach Ansicht des Verfassers im Hinblick auf den europäischen Integrationsprozess
mit diesem Teil seiner Rechtsprechung letztlich „Renationalisierungstendenzen“ im
oben genannten Sinne Vorschub geleistet.
Natürlich müssen entscheidende (vor allem Budget-) Hoheitsrechte bei jedem
Mitgliedsparlament bleiben – sogar auch dann noch, wenn eines Tages in Europa ein
echter Bundesstaat entstehen sollte. In diesem Falle müsste wahrscheinlich sogar
das jeweilige nationale Staatsvolk zu einem Referendum über einen dann endgültig
„supranationalen Staat“ zur Abstimmung aufgerufen werden – in Deutschland nach
dem Grundgesetz (GG) Art. 146. In einigen anderen EU-Mitgliedsstaaten ist eine
solche verfassungsmäßige Vorgehensweise im Zusammenhang mit der europäischen
Integration schon zum Tragen gekommen. (Zu jetzt schon in der EU bestehenden
Möglichkeiten einer Bürgerbeteiligung siehe „Wie können sich europäische Bürger
einmischen?“)
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Das europäische Projekt in der Krise
Jede Krise hat ihre Vorgeschichte. Das gilt auch für die
Vertrauenskrise, in der sich das Projekt Europa seit geraumer Zeit befindet. Die Vorgeschichte führt zurück in
das Epochenjahr 1989/90, und sie hängt aufs engste mit
der Wiedervereinigung Deutschlands zusammen. Für
alle Bundesregierungen galt bis dahin die Maxime: Die
erstrebte europäische Währungsunion und die politische
Einigung Europas sollten gleichzeitig verwirklicht werden. Sie galten als die beiden Seiten einer Medaille.
Doch schon bald nach dem Fall der Berliner Mauer
wurde klar, dass sich dieses Junktim nicht mehr durchhalten ließ. Seit die deutsche Frage wieder auf der
Tagesordnung der internationalen Politik stand, drängte
der französische Staatspräsident François Mitterrand
darauf, die DM so rasch wie möglich in einer europäischen Währung aufgehen zu lassen. Für ihn war dies die einzige Möglichkeit, um zu
verhindern, dass einem wiedervereinigten Deutschland die Hegemonie in Europa
zufiel. Die Politische Union konnte demgegenüber warten – ganz abgesehen davon,
dass Paris sehr viel weniger Souveränitätsrechte auf Europa übertragen und dem Europäischen Parlament viel geringere Kompetenzen zugestehen wollte als Bonn.
Prof. em. Dr. Heinrich
August Winkler
Der Historiker lehrte an der
Humboldt Universität in
Berlin.
Bundeskanzler Helmut Kohl wollte seinerseits die deutsche Einheit nicht mit einem
deutsch-französischen Zerwürfnis belasten und willigte deshalb in getrennte Regierungskonferenzen ein: eine zur Vorbereitung der Währungs- und Wirtschaftsunion
und eine zur Schaffung der Politischen Union. Entsprechend wurden auf der Außenministerkonferenz von Dublin im April 1990 die Weichen gestellt. Ein Verzicht auf
das deutsche Junktim sollte dies nach Kohls Vorstellung nicht sein. Noch am
6. November 1991 erklärte der Kanzler im Bundestag, die Politische Union sei das
unerlässliche Gegenstück zur Wirtschafts- und Währungsunion. „Die jüngere Geschichte …lehrt uns, dass die Vorstellung, man könne eine Wirtschafts- und Währungsunion ohne politische Union auf die Dauer erhalten, abwegig ist.“ Doch der Vertrag
von Maastricht, der im Februar 1992 unterzeichnet wurde, blieb, was die Politische
Union betraf, weit hinter den ursprünglichen deutschen Forderungen zurück, und
zwar so sehr, dass man von einer Vertagung der Politischen Union sprechen musste.
Anders formuliert: Um die deutsche Frage im Einvernehmen mit Europa zu lösen,
war die europäische Frage weithin offen geblieben.
Die Schuldenkrise hat den Europäern die Einsicht aufgenötigt, dass die Entkoppelung von Währungsunion und Politischer Union ein Fehler war. Die große Mehrheit
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der Mitgliedsstaaten der EU, darunter alle Mitglieder der Eurozone, bekennt sich
mittlerweile zumindest grundsätzlich zu dem Ziel, die Währungsunion weiter zu
entwickeln, die meisten längerfristig auch zu einer Politischen Union. Wie die Politische Union konkret aussehen soll, ist dagegen nach wie vor offen.
Die Schuldenkrise erzwingt also einen breiten öffentlichen Diskurs über Ziel und
Zweck des europäischen Einigungsprozesses – die Finalitätsdebatte, die Europa seit
langem verdrängt hat. Die von der Bundesregierung anvisierte Weiterentwicklung
der Fiskalunion zur Politischen Union läuft auf einen qualitativen Integrationssprung
hinaus. Es ist die innere Logik des Einigungsprozesses, die für eine solche Perspektive spricht: Die Legitimations- und Vertrauenskrise, in die das europäische Projekt
geraten ist, kann nur überwunden werden, wenn es gelingt, eine überzeugende
Antwort auf die Gefahr einer Verselbständigung der Exekutivgewalten zu finden.
Nur wenn das Europäische Parlament die europäische Regierung mindestens ebenso
effektiv kontrolliert wie nationale Parlamente die nationalen Regierungen, ist eine
Übertragung der entscheidenden Hoheitsrechte im Bereich der Budgetbewilligung
auf die europäische Ebene gerechtfertigt.
Entsprechende Änderungen der nationalen Verfassungen sind unabdingbar. Für die
Bundesrepublik heißt das, dass eher früher als später der Punkt erreicht sein wird,
wo Artikel 146 GG ins Spiel kommt – jener Artikel, der vorsieht, dass das Grundgesetz seine Gültigkeit an dem Tag verliert, „an dem eine Verfassung in Kraft tritt, die
von dem ganzen deutschen Volke in freier Entscheidung beschlossen worden ist“. Bei der
Abstimmung muss klar sein, welche Folge ein Nein hätte: das Ausscheiden Deutschlands aus der erneuerten EU und aus der Währungsunion und der Rückfall in nationale Rivalitäten alten Stils.
Die europafreundlichen Parteien des Bundestages werden um das deutsche Ja zu
einem im europäischen Sinn überarbeiteten Grundgesetz kämpfen müssen. Erfolg
werden sie dabei nur dann haben, wenn sie die Bürgerinnen und Bürger davon überzeugen können, dass der Wachstums- und Beschäftigungspakt, der den Fiskalpakt
ergänzen wird, das Projekt einer Stabilitätsunion nicht gefährdet, sondern fördert.
Eine gemeinsame Schuldenhaftung wäre damit unter den gegenwärtigen Bedingungen nicht vereinbar. Vielmehr sind einschneidende Strukturreformen, ähnlich wie
die deutsche Agenda 2010, eine conditio sine qua non der Politischen Union. Diesen
Weg werden nicht alle Mitgliedsstaaten der EU und möglicherweise auch nicht alle
Unterzeichner des Fiskalpakts gehen wollen. Dem engeren Bund werden sie in diesem Fall nicht angehören können.
Es ist nicht nur die Schuldenkrise, die einen breiten öffentlichen Diskurs über die
Finalität des Einigungsprozesses verlangt. Auch außenpolitische Gründe sprechen
dafür, dieser Debatte nicht länger auszuweichen. Neben den großen Mächten der
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multipolaren Welt von heute – den USA, Russland, China, Indien und Brasilien –
nehmen sich auch die größeren unter den Mitgliedsstaaten der EU klein aus. Sie
sind längst keine klassischen, vollsouveränen Nationalstaaten mehr, sondern postklassische Nationalstaaten, die Teile ihrer Hoheitsrechte gemeinsam ausüben oder
auf supranationale Einrichtungen übertragen haben. Nur wenn Europa seine Kräfte
bündelt und in wichtigen außenpolitischen Fragen mit einer Stimme spricht, kann
es die gemeinsamen Interessen der Europäer in einer globalisierten Welt wirksam
vertreten. Dabei geht es sowohl um materielle als auch immaterielle Interessen.
Diese immateriellen Interessen sind die westlichen Werte, die Europa mit den anderen westlichen Demokratien, obenan den USA, teilt.
Das europäische Projekt ist eine historisch einzigartige Ausprägung der politischen
Kultur des Westens. Es steht für Einheit in der Vielfalt, für die Überwindung von
Nationalismen, für die Lernfähigkeit von Nationen, die erkannt haben, dass sie für
ihre Interessen und Überzeugungen nur gemeinsam wirkungsvoll eintreten können.
Zu ihrem Wertekompass gehören die unveräußerlichen Menschenrechte, die Herrschaft des Rechts, die Gewaltenteilung, die Volkssouveränität, die repräsentative
Demokratie, die freie Entfaltung der Persönlichkeit und das Bemühen um soziale Gerechtigkeit. Wenn ein geeintes Europa sich an diesem normativen Projekt orientiert,
hat es alle Aussichten, zu einem Modell für andere Teile der Welt zu werden.
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Was hat uns die Europäische Union bisher
gebracht?
Die Frage zeigt, dass die Europäische Union nicht um
ihrer selbst willen besteht. Sie ist ein Gebilde der Nationalstaaten und bedarf der nationalen Rechtfertigung.
Die Volksmeinung in allen Staaten der Union unterscheidet jedoch auch nach sechzig Jahren noch immer
zwischen “uns” und “den anderen”. Also muss die Frage,
was uns die Europäische Union bisher gebracht hat,
auch für Deutschland beantwortet werden. Nur darf
aus Aufrechnung nicht Abrechnung werden.
Der erste Teil der Antwort reduziert das in Europa
Geschaffene allein auf den materiellen Aspekt. Das ist
keineswegs nur krämerhaft, denn Deutschland “zahlt”
jährlich um die acht Milliarden Euro “netto” in die EU
– und kassiert aus dem Export in die 26 anderen EUStaaten Überschüsse in Höhe von rund 100 Milliarden
Euro. Es ist volkswirtschaftlich also ein “Nettoempfänger”. Übrigens geht die Hälfte des gesamten deutschen
Exports allein in die Länder der Eurozone. Gewiss, die
deutsche Wirtschaft exportiert weltweit und sie würde auch ohne Union und Euro
Überschüsse erzielen. Aber dass sie 60 Prozent ihrer Ausfuhren in einen Wirtschaftsraum ohne nationale Zollschranken, Kontingentierungen und Konditionierungen
richten kann, hat sich als ihr sicheres Standbein im globalen Wettbewerb erwiesen.
Prof. Dr. Klaus Hänsch
war von 1979 bis 2009
Mitglied des Europäischen
Parlaments und von 1994
bis 1997 dessen Präsident.
Er war 2002/3 Mitglied
des Präsidiums des EUVerfassungskonvents.
Freies Reisen, freier Warenverkehr, freie Wahl des Wohnsitzes und des Arbeitsplatzes
in der gesamten Union haben nicht nur die Freiheit des Marktes, sondern auch die
persönliche Freiheit der Deutschen erweitert. Das Europa der offenen Grenzen (das
nicht ein grenzenloses ist) hätten die modernen Verkehrs- und Kommunikationsmittel ohnehin erzwungen. Es hätte auch bi- oder multinational geschaffen werden
können, aber nicht so schnell, nicht so einfach und nicht durch gemeinsame Regeln
gesichert.
In der Bankenkrise von 2008 und der Schuldenkrise von 2010 ist der Traum von der
Selbstregulierung des Marktes zerstoben. Die weltweit außer Rand und Band geratenen Finanzmärkte können wir jedoch nur mit der Europäischen Union, nicht
ohne sie wieder einfangen. Nur sie hat globales Gewicht. In Europa hat Deutschland den wirtschaftlichen und politischen Einfluss einer Großmacht. Sein Einfluss in
der Welt resultiert aus seiner Rolle als Führungsmacht der Europäischen Union. Die
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Vorstellung, der Starke sei am mächtigsten allein, ist nicht bloß ein überhebliches
Diktum aus alter Zeit, es ist eine rückwärtsgewandte Illusion.
Vor den neuen globalen Herausforderungen haben die europäischen Nationalstaaten
einen substanziellen Teil ihrer Problemlösungsfähigkeit verloren. Deshalb verlagern
sie immer mehr Entscheidungen von großer wirtschaftlicher und gesellschaftlicher
Bedeutung in internationale Organisationen – nicht nur in die EU, sondern auch in
den Internationalen Währungsfonds (IWF), die Welthandelsorganisation (WHO),
die UNO oder auf die G7- bis G20-Gipfel. Das geht allerdings zu Lasten der nationalstaatlichen Demokratie.
Unter diesen Organisationen ist die EU die einzige, die den Bürgern über die nationalen Grenzen hinaus Mitentscheidung und Machtkontrolle durch ein direkt gewähltes Parlament bietet. Allein die EU gewichtet den Einfluss ihrer Mitgliedsstaaten auch nach der Zahl der Bevölkerung. Nur sie beteiligt in wichtigen Bereichen
ihrer Politik die nationalen Parlamente an der Willensbildung. Sie ist das bislang
einzige Projekt einer transstaatlichen Demokratie in der Welt und ein Teil der deutschen Demokratie.
Das Europäische Parlament hatte bei seiner ersten direkten Wahl im Jahr 1979 nur
einige Anhörungs- und Beratungsrechte, ein sehr begrenztes Mitentscheidungsrecht über die Ausgaben im EU-Haushalt und das Recht, die EU-Kommission per
Misstrauensvotum zu entlassen. Heute hingegen entscheidet es über fast alle EURichtlinien und -Verordnungen. Es wählt den Präsidenten der EU-Kommission entsprechend dem Ergebnis der Europawahl. Die EU-Kommission und die einzelnen
Kommissare bedürfen für ihre Amtsführung des Vertrauens des Parlaments. An der
Ausarbeitung von EU-Vertragsänderungen ist es beteiligt. Internationale Verträge
treten erst nach seiner Zustimmung in Kraft. Innerhalb einer Politikergeneration ist
aus dem Beratungsorgan ein Entscheidungsorgan geworden.
Im Kompetenzgefüge der gewählten Vertretung von fast 500 Millionen Europäern
gibt es zwar immer noch Lücken und Leerstellen. Sie müssen und können gefüllt
werden. Aber eine Kopie irgendeines der nationalen Parlamente der Mitgliedsstaaten kann und darf das Europäische Parlament nicht werden. Es schränkt die Demokratie in Deutschland nicht ein, schon gar nicht setzt es sich an ihre Stelle. Es erweitert sie vielmehr.
Nach den beiden großen Kriegen des 20. Jahrhunderts brauchten alle Völker Europas dauerhaften Frieden, gesicherte Freiheit und schnellen Wiederaufbau durch die
Einigung Europas, am meisten das deutsche Volk. Die Vision wäre ohne Organisation schnell zur Illusion verkommen. Sechs Völker im freien Teil Europas wählten den
Weg der Zusammenarbeit, Verflechtung und Versöhnung. Dafür gaben sie nationale
Souveränitätsrechte auf – nur Deutschland nicht, weil es fünf Jahre nach dem Krieg
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keine mehr hatte. Es bekam sie vielmehr durch die Mitwirkung im Kreis der freien
und demokratischen Völker Europas zurück. Das ist eine alte Geschichte, vergessen
sollten “wir” sie nicht.
Geschichte prägt. Geographie tut es auch. Die dunklen Kapitel der Geschichte
Deutschlands in Europa sind durch sechzig Jahre Demokratie, Rechtsstaatlichkeit
und Verlässlichkeit relativiert. Die Geographie sieht Deutschland nach wie vor im
Zentrum Europas. Die Wiedervereinigung wäre auch ohne die Europäische Union geschehen, aber sie hätte neue Verwerfungen im Machtgefüge der europäischen
Staaten hervorgerufen. In der EU ist Deutschlands Größe und Macht in der Mitte
Europas für unsere Nachbarn erträglich – und sie macht es “uns” leichter, mit ihr
umzugehen.
Was uns die Europäische Union bisher gebracht hat, lässt sich nur zu einem kleineren, wenngleich nicht unbedeutenden Teil in Euro und Cent ausdrücken. Den
größeren Gewinn stellen jedoch Vertrauen, Stabilität, Einfluss und Lebensgefühl
dar. Das ist harte politische Währung. Finanziell hat uns Europa bislang nicht wirklich etwas gekostet. Einen Souveränitätspreis haben wir erst mit der Aufgabe der
D-Mark gezahlt. Wenn wir ihn nun, in der ersten ernsten Belastungsprobe, wieder
zurückfordern sollten, würden wir Europa zwar nicht zerstören, aber alles, was wir
in den vergangenen sechzig Jahren gemeinsam mit anderen aufgebaut haben. Die
Rechnung, die wir dafür zu begleichen hätten, wird nicht in Euro und Cent ausgestellt, sondern in politischer Währung und sie wäre unerträglich hoch. Müssen wir
die Europäische Union erst verlieren, damit wir einschätzen können, was sie uns
gebracht hat? Es geht darum, dieser verheerenden Torheit zu wehren.
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Europa – Eine wirtschaftspolitische Führungsaufgabe
Die Idee EUROPA, aus der Asche des Zweiten Weltkriegs heraus geboren, ist es wert, mit aller Kraft und
mit Engagement am Leben erhalten zu werden. Derzeit
wird jedoch alles getan, die Idee Europa zu Grabe zu
tragen. Dabei ist die europäische Bevölkerung für die
Europäische Einigung. Und gerade auch Deutschland,
das mit dem Verzicht auf die DM einen wesentlichen
Teil seiner nationalen Identität aufgegeben hat, steht
zur Union und zum Euro.
Aber es muss scharf getrennt werden zwischen Europa
und dem Euro: Die Gleichung, dass Europa auseinander
bricht, wenn der Euro scheitert, ist eine demagogische
Verkürzung. Europa ist mit Sicherheit mehr als der Euro.
Die Staaten Europas haben auch schon friedlich zusammengelebt, als es den Euro noch nicht gab, und die
Länder, die dem Euro nicht beitraten, sind nicht durch
kriegerische Handlungen in Erscheinung getreten.
Wenn heute die Rufe der Kritiker immer lauter werden, wenn der normale Bürger
verunsichert ist, sich getäuscht fühlt, dann haben die nationalen und europäischen
Eliten in Politik und Wirtschaft versagt.
Prof. Dr. Dr. h.c. Ulrich
Blum
ist seit 2004 Lehrstuhlinhaber für Wirtschaftspolitik
und Wirtschaftsforschung
an der Universität HalleWittenberg.
Große Ideen werden durch die Politik befördert und gestaltet, können aber durch
die Politik auch zerstört werden in dem Versuch, Führungs- und Verantwortungszuordnungen zu vermeiden, um Konflikten mit den Wählern oder anderen Interessensgruppen auszuweichen.
Eine Renationalisierung von Wirtschaft und Politik sollte verhindert werden, auch
ein Euro-Zusammenbruch, denn dies Debakel würde alle treffen. Dies wird aber
nur gelingen, wenn der Ordnungsruf der Bürger alle Verantwortlichen erreicht und
diese Europa nicht weiter als Eliteprojekt sehen, bei dem der Bürger weitgehend
Beobachter ist. Dabei ist nicht auszuschließen, dass der Irrtum, zu bereitwillig zu
viele Länder in den Euro eingeladen zu haben, zur Disposition gestellt und gegebenenfalls revidiert werden muss. Glaubhafte Politik muss dem Wähler in die Augen
sehen können und Alternativen aufzeigen. Ohne Alternative wird man zum Opfer
externer Erpressung. Nur über die Schaffung, Analysierung und Bewertung verschiedener Handlungsoptionen kann es gelingen, eine Krise zu beherrschen.
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Es fehlen zunehmend Ehrlichkeit, Verlässlichkeit, Beständigkeit, Transparenz. Stete
Regelüberschreitungen oder -brüche machen deutlich, dass der Rubikon wohl schon
überschritten ist und die Rückkehr hinter die rote Linie Führungsfähigkeit und
Verantwortung notwendig macht, die derzeit personell nicht sichtbar ist, die aber
hoffentlich vom deutschen Verfassungsgericht gefordert wird. Die Rückkehr der
Ordnung, sprich: des Denkens und Handelns in Ordnungskategorien, wird zentrale
Voraussetzung sein, damit das Projekt nicht scheitert. Die Bürger Europas wollen
Europa! Solidarität hat aber einen Preis, vor allem Kosten müssen verantwortet
und kalkulierbar bleiben – beides fehlt. Und es wird auch klar, dass Parlamente die
Kompetenz haben müssen, das, was sie beschließen und gegenüber dem Bürger verantworten müssen, verstehen zu können.
Ziel der Europäischen Währungsunion war es, über das gemeinsame Geld eine
strukturelle Konvergenz zu erzwingen und damit die politische Einigung herbeizuführen, den europäischen Einigungsprozess also „noch irreversibler“ zu machen.
Denn die Währungsunion legte die drei entscheidenden Schockabsorber der Außenwirtschaft lahm, nämlich unterschiedliche Währungskurse, unterschiedliche Zinsen
und vor allen Dingen auch unterschiedliche Preise, und verstärkte die Preistransparenz. Divergente ökonomische Entwicklungen mussten damit vor allen Dingen über
die lokale Preisbildung und staatliches Ausgabenpolitik ausgeglichen werden. Vor
einer Entwicklung, die heute Wohlstand und europäische Harmonie bedroht, hatten
Ökonomen kurz vor der Einführung des Euro in ihrem Aufruf „Der Euro kommt zu
früh“ gewarnt, weil wichtige Regeln als unter Krisenbedingungen nicht durchsetzbar erschienen und manche auch „ökonomische Gesetzmäßigkeiten“ sprengten.
Nachdem die Politik Regeln wie die No-Bailout-Clause, dass also ein Land nicht für
die Schulden anderer Länder einstehen muss, sukzessiv erodierte, zerstörte sie die
letzten disziplinierenden Rahmenbedingungen der Währungsunion und lud internationale Spekulanten geradezu ein zu testen, wie weit der Zusammenhalt Europas
reicht. An die Finanz- und Schuldenkrise beginnt sich eine Verfassungskrise anzuschließen, beide drohen zu einer Vertrauenskrise zu eskalieren. Die steten – aber bis
heute vergeblichen – Durchhalteparolen haben ökonomisches und politisches Kapital zerschlagen, ohne zu helfen.
Immer wieder wird Deutschlands besondere Verantwortung betont – und seine
Pflicht zur Solidarität, sprich: zur Übernahme der Schulden anderer, weil es doch
vorgeblich vom Euro profitiert: Das gilt gegenwärtig, für die Vergangenheit war dies
anders. Es bedurfte rund zehn Jahre harter Anpassungsmaßnahmen, diesen Status
zu erringen. Tatsächlich ging die DM zu teuer in den Euro: Die Hochzinspolitik der
Deutschen Bundesbank zur Abwehr der Inflation im Rahmen der Ausgabenprogramme zur Finanzierung der Deutschen Einheit führten zu einer Aufwertung; tatsächlich aber war Deutschland mit der Einheit schwächer geworden, hätte die DM
um rund 10% abwerten müssen, sie wertete diese aber um rund 20% auf. Dieser
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Nachteil musste durch Lohnmäßigung und Sozialreformen im Sinne einer „inneren
Abwertung“ abgebaut werden, und dies war erst kurz vor der Weltwährungskrise
abgeschlossen. Genau dies ist es, was von den Peripherieländern derzeit gefordert
wird. Und dies kann erwartet und geleistet werden.
Wichtiger ist es, vor allen Dingen Vertrauen in die Märkte zu bringen, und dazu ist
auch eine Entscheidung notwendig, wer Teilnehmer im Euroclub bleibt und wer
nicht. Denn die privaten Haushalte besitzen genügend Mittel, die Nachfrageausfälle
zu kompensieren, die der Staat derzeit leisten muss, um nicht am langen Ende in der
Verschuldungsfalle zusammenzubrechen. Griechische Eliten bringen zunehmend ihr
Geld in Deutschland in Sicherheit. Wenn Griechenland zusammenbricht, dann sitzt
Deutschland nicht nur auf rund 170 Milliarden griechischen Außenständen, griechische Staatsbürger haben dann auch noch Milliardenansprüche. Dann hat der deutsche Steuerzahler nicht nur die griechischen Importe, er hat die griechische Kapitalflucht finanziert. Eine solche Politik ist mit dem Amtseid, Schaden vom Deutschen
Volk abzuwenden, nicht zu vereinbaren.
Europa darf nicht zerfallen! Gerade die wirtschaftliche Renationalisierung würde nationale wirtschaftliche Egoismen, oft Ursache vieler moderner politischer
Konflikte, befördern. Aber Europa darf auch nicht seinen Wertekonsens über Bord
werfen, dass nämlich nicht Lasten beliebig verschoben werden dürfen, sondern
zu verantworten sind. Eine Schuldenunion hätte katastrophale Folgen: Kollektive
Verantwortungslosigkeit, wirtschaftlicher Niedergang, und nationale Animositäten
würden sich verstärken, die – das ist die Tragik – bereits heute in Ansätzen zu beobachten sind.
Es muss eine politische, kulturelle und wirtschaftliche Ehre sein, zu Europa zu gehören, nicht eine geographische Zufälligkeit.
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Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten – Fiktion,Wunsch oder Wirklichkeit?
Schon der belgische Ministerpräsident Tindemans
hatte 1972 den Terminus eines Europas der „zwei
Geschwindigkeiten“ in seinem Verfassungsentwurf
für eine Umwandlung der damaligen Europäischen
Gemeinschaft (EG) in eine auch von ihm so genannte
„Europäische Union“ als probates Mittel zum Erreichen des Endziels der europäischen Integrationsbemühungen postuliert.
Prof. em. Dr. CarlChristoph Schweitzer
Neben seinem Lehrstuhl war
Carl-Christoph Schweitzer
von 1972 bis 1976 und
1980 Mitglied des Deutschen Bundestages und dort
im Auswärtigen Ausschuss.
Die Europäische Union heute – eine Mischung
aus supranationalen und intergouvernementalen Elementen
Eindeutig kann gegewärtig festgehalten werden:
Von Anbeginn des Integrationsprozesses war die institutionelle Struktur einer solchen „Union“ als eine
Mischung aus sog. „supranationalen“ und gleichzeitig
„intergouvernementalen“ Elementen angelegt worden.
Das ist auch bis zum vorläufig letzten großen Unionsvertrag von Lissabon so geblieben. Was ist mit diesen beiden Fachausdrücken gemeint?
Wir haben auf der einen Seite bereits einige den nationalen Ebenen übergeordnete (deshalb „supranational“) gesamteuropäische Politikbereiche, die nicht mehr
in letzter Instanz einer nationalen Kontrolle unterworfen sind (z.B. aus Bonn,
Paris, Madrid oder auch Zypern), sondern – auf der Abtretung von nationalen
Hoheitsrechten beruhend – von „Brüssel“ festgelegt werden. Unser Grundgesetz
hat von Anfang an (mit seinem damaligen Art. 24) solche Abtretungen an „zwischenstaatliche Einrichtungen“ ermöglicht bzw. vorgesehen. Dies ist im heute
gültigen Grundgesetztext in Art. 23 expressis verbis auf die „Europäische Union“
bezogen worden. Voraussetzung für den Verzicht auf einzelstaatliche Eigenständigkeit ist in der Bundesrepublik immer schon gewesen, dass unsere Verfassungsorgane – Bundestag und Bundesrat – solche Abtretungen in jedem Einzelfall mit
Zweidrittelmehrheit beschließen müssen. Ein solcher Fall ist gerade erst wieder
eingetreten mit der Verabschiedung des sog. Fiskalpakts durch unsere beiden
Legislativen.
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Die schrittweise Vergemeinschaftung einzelner Politikfelder
Auf diese Weise wurden nacheinander immer wieder die verschiedensten Politikfelder europäisch vergemeinschaftet. Mit der sog. Montanunion von 1952 wurde die
Förderung von Kohle und Stahl einer supranationalen europäischen Exekutive ebenso unterstellt wie die Atomindustrie einer weiteren europäischen Behörde – beide
in der ersten „Sechser-Staatengruppe“ Westeuropas.
Heute ist bei solchen Vergemeinschaftungen – analog zur Aufteilung von Kompetenzen zwischen Bund und Ländern nach dem Grundgesetz in Deutschland – auch
auf europäischer Ebene zu unterscheiden zwischen sog. ausschließlichen Zuständigkeiten der EU, z.B. in den Bereichen Zölle, Wettbewerbsregulierungen,
freies Niederlassungsrecht etc., und geteilten Zuständigkeiten zwischen der
Union und den weiterhin existierenden Nationalstaaten. Diese Zuständigkeiten
betreffen zum Beispiel den einheitlichen Binnenmarkt, die Landwirtschaft und
Fischerei, den Umwelt- und Verbraucherschutz, den Straßen-, Schienen- und
Luftverkehr, die Energiepolitik, zunehmend auch die Rechts- und Innenpolitik (in
den Verträgen definiert als „Raum der Freiheit, der Sicherheit und des Rechtes“),
Einzelbereiche der Forschung (vor allem in der Raumfahrt), die Entwicklungspolitik, Industriepolitik, Kulturpolitik und den Tourismus sowie schließlich auch
immer mehr Bereiche der Sozialpolitik, der allgemeinen und beruflichen Bildung
oder des Katastrophenschutzes.
Auf der anderen Seite bleiben aber dennoch bis heute grundsätzlich die Mitgliedsstaaten durch ihre Regierungen und nationalen Parlamente im Hinblick auf eine
Weiterentwicklung der Integration in der EU letztlich „Herren“ des intergouvernementalen (also zwischen den einzelnen Regierungen vereinbarten) Verfahrens.
In den letzten Jahren wurde dieser Tatbestand besonders deutlich an den in immer
kürzeren Abständen abgehaltenen Gipfeltreffen der Staats- und Regierungschefs
der EU, seit 1974 vertraglich Europäischer Rat genannt, neuerdings mit einem
eigenen Ratspräsidenten. (Dieser „Rat“ darf terminologisch nicht mit dem im
Kap. 1 schon angesprochenen“ Ministerrat“, in den Verträgen oft nur „Rat“ genannt,
verwechselt werden!)
Einen interessanten Mix zwischen supranationalen und intergouvernementalen Aspekten stellt schließlich schon seit einigen Jahren die ins Leben gerufene „Gemeinsame Außen- und Sicherheitspolitik“ (GASP) der EU dar. Immer noch nicht völlig
vergemeinschaftet sind die Bereiche der Wirtschafts- und Finanzpolitik, obwohl es
auf dem Papier schon viele Jahre eine Wirtschafts- und Währungsunion gibt. Dieses wichtige Faktum ist eine entscheidende Erklärung für das große Durcheinander
heute in der EU aus der Sicht des Durchschnittsunionsbürgers.
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Ein Europa der verschiedenen Geschwindigkeiten gibt es schon längst:
• Die Eurozone, – als wichtigstes Beispiel – besteht bislang aus 17 Mitgliedern
der insgesamt 27 EU-Staaten. Im neuesten Vertrag über die Arbeitsweise der EU
heißt es im Art. 136: „Im Hinblick auf das reibungslose Funktionieren der Wirtschaftsund Währungsunion erlässt der Rat (=Ministerrat, der Verf.) für die Mitgliedsstaaten,
deren Währung der Euro ist, Maßnahmen nach den einschlägigen Bestimmungen der
Verträge“. Dabei „sind nur die Mitglieder des Rates stimmberechtigt, die die Mitgliedsstaaten vertreten, deren Währung der Euro ist.“ Von Anfang an hatten Großbritannien
und Dänemark einen Beitritt zu diesem Eurosystem abgelehnt; Schweden tat dies
auf dem Wege eines Referendums dann später auch. Was Großbritannien betrifft, so
hat es sich bei aller strikten Ablehnung aber dann doch in einem Zusatzprotokoll des
Lissabon-Vertrages mit eigenen 10(!) Vorbehaltsartikeln letztlich typisch britisch die
Tür offen gelassen, eines Tages doch noch der Eurozone beizutreten – was allerdings
heute unwahrscheinlicher denn je erscheint.
• Die gemeinsame Sicherheits- und Verteidigungspolitik (Art. 42 des
EU-Vertrages in Verbindung mit dem Zusatzprotokoll Nr. 10) ermöglicht eine sog.
„Ständige Strukturierte Zusammenarbeit“ einzelner Mitgliedergruppen im Rahmen
der EU. (siehe auch nächste Seite)
• Dem Schengen-Abkommen von 1985 bzw. 1999, das gemeinsame Außengrenzen für EU-Mitglieder und damit gleichzeitig den Fortfall aller Binnengrenzen
im EU-Gesamtgebiet vorschreibt, traten 22 EU-Staaten bei sowie drei weitere
Nicht-EU-Mitglieder. „Schengen“ hat gerade erst wieder zu großen Kontroversen
geführt, weil einige Mitgliedsstaaten dieses Abkommen vorübergehend wieder für
sich aussetzen wollen. Großbritannien und Irland hatten im Übrigen bei diesem
Abkommen von Anfang an einen Sonderstatus für sich durchgesetzt.
• Großbritannien, Irland und Dänemark sind von Anfang an nicht in vollem Umfange der oben schon angedeuteten, in Ansätzen gemeinsamen Justiz- und
Innenpolitik beigetreten.
• Selbst der sog. Grundrechtekatalog, der im Lissabon-Vertrag sozusagen endgültig verankert werden konnte, gilt nicht in allen Mitgliedsstaaten. Er war als
einziges Vertragsgebilde übrig geblieben aus dem ursprünglichen Vorschlag für eine
erste gesamteuropäische Verfassung, unterzeichnet von den EU-Regierungen am
18.06.2004, dann aber gescheitert an den Volksabstimmungen in Frankreich und
den Niederlanden. Gegen diesen Grundrechtekatalog des Lissabon-Vertrages gaben
von Anfang an Tschechien, Polen und wiederum Großbritannien aus den verschiedensten Gründen Vorbehalte zu Protokoll.
20
• Die vertragliche Festlegung auf gemeinsame Unionssymbole (Flagge, Beethovenhymne, etc.) wird auch nicht von allen EU-Mitgliedern mitgetragen.
Daher das Fazit aus der Sicht der Aktion Gemeinsinn: Ein Europa der
verschiedenen Geschwindigkeiten ist auch weiterhin als ein mögliches,
unter Umständen sogar zwingendes Instrument zur Vollendung einer
echten, d.h. einer Politischen (Europäischen) Union anzusehen.
Bei diesem Votum stützt sich die Aktion Gemeinsinn auf die sozusagen „übergeordnete“ Bestimmung des EU-Vertrags, nämlich auf das Kapitel „Verstärkte Zusammenarbeit“ (Artikel 20), wonach sich jederzeit eine beliebige, aber mindestens aus 9
Staaten der 27 EU-Mitglieder bestehende Gruppe zu neuen Integrationsschritten
zusammenschließen kann, wenn es sich dabei um Politikbereiche „außerhalb der ausschließlichen Zuständigkeit der Union“ handelt. Hier heißt es wörtlich: „Der Beschluss
über die Ermächtigung zu einer Verstärkten Zusammenarbeit wird vom Rat als letztes
Mittel erlassen, wenn dieser feststellt, dass die mit dieser Zusammenarbeit angestrebten
Ziele von der Union in ihrer Gesamtheit nicht innerhalb eines vertretbaren Zeitraumes
verwirklicht werden können.“ Nach neuesten Informationen soll von dieser Möglichkeit demnächst wieder – unter Einschluss auch Deutschlands – im Hinblick auf die
Einführung einer sog. „Bankentransaktionssteuer“ Gebrauch gemacht werden.
21
Auch die Medien sind herausgefordert:
Mehr Demokratie wagen!
Anmerkungen eines Journalisten zur europäischen Krise
Was Heinrich Heine einst zum Stand der deutschen
Dinge dichtete, gilt heute für die Europa- und vor
allem die Euro-Gefühle der politischen und publizistischen Klasse. Und für uns alle, das Publikum: Denk
ich an Europa in der Nacht, dann bin ich um den Schlaf
gebracht...
Dr. phil. Helmut Herles
Der Publizist war früher
Chefredakteur des GeneralAnzeigers Bonn und langjähriger F.A.Z.-Korrespondent in Bonn.
Aber ehe wir uns heißen Träumen hingeben, sollten
wir die Augen öffnen und an Heines Fortsetzung seiner Nachtgedanken denken: „Deutschland hat ewigen
Bestand, es ist ein kerngesundes Land.“ Sinngemäß und
erst recht könnte er dies heute über Europa sagen.
Denn Europa ist mehr als der Euro. Dem zuerst
in der EWG als Wirtschaftsgemeinschaft, dann in der
größeren Gemeinschaft der EG und nun in der politisch längst nicht vollendeten
Union der EU organisierten Teil Europas ist es gelungen, die Kriegsgeschichte
unseres Kontinents zu überwinden und Frieden zu stiften. Das ist die europäische
Hauptsache – die EU-Räson: Frieden in Freiheit und Recht.
Dies zu erkennen, dafür die Augen zu öffnen, ist die Herausforderung kritischer
Medien. Denn das aus dem Griechischen stammende Wort Kritik heißt Unterscheidung. (Aus Griechenland kommen eben nicht nur Staatsschulden oder die List des
Odysseus.) Kritisieren bedeutet deshalb: JA zu sagen, wo es angebracht und notwendig ist und der Wirklichkeit entspricht, ebenso kritisch NEIN zu rufen, wo es
angebracht, notwendig und der Wirklichkeit entsprechend ist. Aber zu viele Journalisten erschöpfen ihre Kritik in der Negation.
Ist es nicht naiv, angesichts der Euro-Krisen und ihres ungewissen Ausgangs diese
kritische Unterscheidung zu verlangen? Nein, dies ist eine Herausforderung der
Medien! Und es ist notwendig. Was der Bundespräsident von der Bundeskanzlerin verlangt, besser zu erklären und offen zu sagen, was eigentlich passiert,
ist ebenso Aufgabe der Medien (wie auch der Wissenschaft und aller öffentlich
wirkenden und wirksamen Menschen mit Meinung). Man kann Kassandra dementieren.
22
Denn auch das ist ein europäischer Grundgedanke: Jede These kann eine Antithese
hervorrufen, provozieren, um schließlich zu einer Synthese zu kommen. Deshalb
nun erst recht: Mehr statt weniger Europa, mehr statt weniger Europäisches Parlament, mehr statt weniger Europarecht, mehr statt weniger Demokratie in Europa
wagen! Das können Medien Menschen erläutern und anschaulich machen. Natürlich
nicht im „Häppchen“-Journalismus oder in den unsäglich sich selbst bespiegelnden
Talk-Shows, sondern in wirklichen Interviews mit mehr als drei Minuten, wie sie
zum Beispiel der Deutschlandfunk regelmäßig gerade auch mit Europaabgeordneten
sendet. Und endlich wieder eine Parlamentsberichterstattung, die ihren Namen verdient! Sowohl aus dem Bundestag, als auch aus dem Europaparlament. Die
Medien sollten dies nicht länger der Zeitschrift „Das Parlament“ oder dem Sender
Phoenix quasi allein überlassen. Das wären Schritte zu mehr Parlament und mehr
Demokratie in Europa. Die Medien dürfen sich nicht in der Spiegelung der Mächtigen in Regierungen und Parteien erschöpfen. Zum Glück haben sie wenigstens
endlich Macht und Missbrauch in der Wirtschafts- und Finanzwelt entdeckt. Aber es
fehlt weitgehend eine genaue Parlamentsberichterstattung.
Dabei hilft Sprachgenauigkeit. Falsches Sprechen und Schreiben von Politikern und
Publizisten entspricht falschen Gedanken und führt damit zu falschem Handeln. Am
Anfang ist das Wort! Deshalb sollten gerade im Internet-Zeitalter die eigentlichen
www-Fragen stets genau beantwortet werden: Wer, wo, wann, wie und warum!
Zwei Beispiele: „Das Vertrauen der Finanzmärkte wieder gewinnen...“ Falsch! „Politiker
und Publizisten müssten den Finanzmärkten ihr Misstrauen aussprechen ..., um ehrlicher Arbeit wieder ihren Rang zu geben.“ (Norbert Blüm)
Oder: „Die Rating-Agentur XYZ hat Deutschland herabgestuft.“ Falsch! Richtig müsste es heißen: „Die Rating-Agentur ist der Meinung, Deutschland sei in seiner Kreditwürdigkeit herabzustufen.“ Journalisten sollten auch und gerade hierbei genau unterscheiden. Das hilft ihnen und uns allen in Europa.
Dass dies geht, nämlich zugleich die Leser zu informieren und sogar gelegentlich zu
amüsieren, hat Ulrich Lüke im Wochenend-Magazin des Bonner General-Anzeiger
(14./15. Juli 2012) gezeigt: „Im Regen unter dem Schirm“. Da zerpflückt er schiefe
Bilder, wie den Rettungsschirm oder den Aküfi, den Abkürzungsfimmel unserer
Politsprache. Auch dies ist eine der Infektionskrankheiten in Europa. Aber auch gegen sie gibt es Medizin. Und sei es die Zuversicht des Dichters Hölderlin: „Wo aber
Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“
Dafür müssen und können die Medien noch viel mehr beitragen, nur so entsteht
eine europäische Öffentlichkeit.
23
Für ein Europa der Bürger – Europa muss
demokratischer und die Demokratie
muss europäischer werden!
Den Gemeinsinn zu stärken, an den Gemeinsinn zu
appellieren, wie es die Aktion Gemeinsinn seit 55 Jahren unermüdlich tut, ist heute mehr denn je essenziell.
Ohne diesen wird es in dieser auf Dauer immer enger
werdenden Welt nicht gehen. Er ist in einer zunehmend
fragmentierten, atomisierten Gesellschaft, die dem
Egoismus frönt und zu Eigensinn und Eigennutz erzieht, eine Notwendigkeit – wie das Licht, das Gemeinwohl und Gemeinwesen zum Leben erweckt und es vor
dem Verdorren schützt.
Gerald Häfner
ist Mitglied der Fraktion
der Grünen im Europäischen Parlament und war
dort Berichterstatter für die
Europäische Bürgerinitiative. Er ist Präsident von
„Democracy International“.
Besonders wichtig ist das in Bezug auf Europa. Viele
glauben, Europa, das seien die Institutionen und Akteure in Brüssel, in Straßburg und manchmal auch in
den Hauptstädten der Mitgliedsländer. Europa – das sei
eine Sache derer „da oben“. Was noch schlimmer ist:
Vielfach glauben die das selbst.
Dabei ist Europa unsere Sache. Ganz und gar. Oder, anders gesagt: Europa muss zu einer Angelegenheit der Bürger werden – oder es wird
auf Dauer nicht gelingen. Ein Europa der Eliten, ein Europa von oben nach unten,
ein Europa, in dem einige wenige das Sagen haben und sich die Vielen als Unterworfene unter einen fremden Willen fühlen, an dem sie mitzuwirken nicht die Chance
hatten, hat keine Zukunft.
Wie aber machen wir die Europäische Union zu einer Angelegenheit der Bürger?
Wie können wir dafür sorgen, dass die Menschen das Schicksal, die Politik und die
Entscheidungen Europas als ihre eigene Angelegenheit empfinden? Wie schaffen wir
mehr Europa in unserer Demokratie – und mehr Demokratie in unserem Europa?
Die Europäische Union begann als ein Elitenprojekt. Das konnte nach dem Ende
des zweiten Weltkriegs und auf den Trümmern furchtbarer Gewalt und Zerstörung
nicht anders sein. Die Europäische Union – vormals Europäische (Wirtschafts-)
Gemeinschaft – begann, methodisch, mit den Mitteln klassischer Außenpolitik: Staaten, vertreten durch ihre Kanzler, Präsidenten und Minister, schlossen miteinander
Verträge, die anschließend von den nationalen Parlamenten ratifiziert wurden. Das
24
ist heute im Kern nicht anders. Die Verträge von Amsterdam, Maastricht, Nizza,
Lissabon, die Europäische Finanzstabilitätsfazilität (ESFS) und der Europäische Stabilitätsmechanismus (ESM), der Fiskalpakt: Alles das sind Verträge zwischen Staaten,
ausgehandelt von deren Regierungen.
Das Aushandeln internationaler Verträge aber ist, verfassungsrechtlich gesehen,
der Arkanbereich (Geheimpolitik) der Exekutive. Die Parlamente und Bürger
kommen dabei erst ins Spiel, wenn alles schon feststeht. In der Außenpolitik ist
das, wie gesagt, anders kaum möglich. Da muss das hingenommen werden. Aber
Europa ist schon lange nicht mehr Außenpolitik. Europa ist und bestimmt ein(en)
erheblicher/n Teil unserer Innen-, Rechts-, Agrar-, Umwelt- Wirtschafts-, Handelsund zunehmend auch Fiskalpolitik – ausführlich und verbindlich. Die Auswirkungen
spüren wir alle.
Die Stimmung ist schlechter geworden gegenüber Europa. Umfragen zeigen: Das
liegt – zum Glück – nicht daran, dass unsere Bevölkerung mehrheitlich ein gemeinsames Europa ablehnen würde. Vielmehr gilt: Die Menschen wollen mehr gefragt,
mehr beteiligt werden. Sie akzeptieren es nicht mehr, wenn absolut entscheidende
Weichenstellungen ohne ausreichende Diskussion und Beteiligung von oben nach
unten durchgesetzt werden. Die Bürger wollen nicht zu bloßen Zuschauern degradiert werden. Sie sind kein Stimmvieh, sondern der Souverän. Und auf Dauer lässt
sich Politik ebenso wie Europa nur mit dem und durch den Souverän und nicht
gegen ihn oder über seinen Kopf hinweg machen.
Denn auf die Frage nach dem Souverän gibt es im Zeitalter der Demokratie nur
eine einzige Antwort: Wir alle. Die Bürgerinnen und Bürger. Wir sind der Souverän
– und: Wir sind Europa. Nicht diese(r) oder jene(r), sondern wir alle. Nur so wird
der Gemeinsinn politische Realität, wird er konstitutiv. Dieser Grundsatz findet sich
in allen Verfassungen des heutigen Europa wieder. Auch im Grundgesetz. Dort heißt
es: „Alle Staatsgewalt geht vom Volke aus“. Nur: die Bürger müssen das auch (er)leben.
Als Wirklichkeit – und nicht als ein leeres Versprechen.
In der Europäischen Union erleben sie es aktuell noch zu wenig. Die Bürger haben
bei deren Entscheidungen noch zu wenig mitzureden. Deshalb fühlen sie sich als
ferne, ohnmächtige Zuschauer von Entscheidungen, deren Zustandekommen für sie
oft im Dunklen bleibt, deren Ergebnis sie aber zu akzeptieren haben.
Um Europa aus der Demokratiekrise zu führen, um das Europa der Regierungen
in ein Europa der Bürgerinnen und Bürger zu verwandeln, muss man Europa von
den Menschen her denken – und vom Kopf auf die Füße stellen. Die Bürger müssen
erleben, dass die zukünftige Entwicklung Europas offen und kontrovers diskutiert
wird, dass sie auf diese Debatte Einfluss haben, dass sie sich dabei auch selbst betei-
25
ligen und Richtungsentscheidungen treffen können. Ohne starken und wirksamen
Einfluss der Bürgerinnen und Bürger kann das gemeinsame Europa nicht gelingen.
Der Souverän muss sich einmischen, muss mitreden und -entscheiden können – für
eine bessere Politik im Interesse der Menschen.
Dieser Weg verlangt umfassende und tiefgreifende Reformen. Neben Veränderungen
am bestehenden Institutionengefüge bedarf es einer Stärkung direkter Beteiligungsmöglichkeiten.
Ein erster Schritt hierzu ist die Europäische Bürgerinitiative (ECI). Sie gibt den Bürgerinnen und Bürgern seit dem 1. April 2012 erstmalig die Möglichkeit, sich direkt
in die Politik der EU einzumischen und die politische Agenda mitzubestimmen. Eine
Million EU-Bürgerinnen und -Bürger können mit ihrer Unterschrift die Europäische Kommission auffordern, ihr Anliegen aufzugreifen, eine Lösung vorzuschlagen
und gegebenenfalls gesetzgeberisch tätig zu werden.
Die ECI ist nicht vom Himmel gefallen. Sie wurde von engagierten Initiativen wie
dem „Initiative and Referendum Institute Europe“ (IRIE) und der von mir gegründeten und viele Jahre geleiteten Bürgeraktion „Mehr Demokratie e.V.“ entwickelt und
dem Europäischen Verfassungskonvent vorgeschlagen. Dieser nahm sie nach intensiver Diskussion in seinen Verfassungsentwurf auf, von wo sie in den Vertrag von
Lissabon übernommen wurde. Fast 10 Jahre dauerte es, bis nach dem verspäteten
Inkrafttreten des Vertrages Parlament, Kommission und Rat endlich eine konkrete
Regelung verabschiedeten, durch die diese neue Möglichkeit für die Bürger verfügbar wurde. Als Berichterstatter des Europäischen Parlamentes konnte ich hierzu
entscheidende Beiträge leisten. Dabei zeigte sich, dass keineswegs offene Türen
einrennt, wer für mehr Beteiligung der Bürger in Europa eintritt. Im Gegenteil! Die
Widerstände waren eminent – und die jetzige Regelung ist ein Kompromiss zwischen dem bürger- und anwenderfreundlichen Vorschlag des Parlamentes und eher
ängstlichen und bürokratischen Vorstellungen in Rat und Kommission.
Wir müssen über nationale Grenzen hinweg miteinander kommunizieren, einander
verstehen und überzeugen lernen. Nur so wird das gemeinsame Europa erfahrbare
Wirklichkeit. ECIs sind notwendig transnational. Sie gehen von „unten“, von den
Bürgerinnen und Bürgern aus – und richten sich an deren Repräsentanten und
Institutionen „oben“. Sie öffnen einen neuen Kanal europäischer Politik, der bisher
verschlossen war. Künftig werden wir immer öfter beobachten, wie Bürger die Politiker auffordern, bestimmte Anliegen aufzugreifen. Wie sie Ideen und Vorschläge in
die Politik einbringen, die sonst ungehört blieben.
Die ECI ist ein erster wichtiger Schritt zur Schaffung einer europäischen Öffentlichkeit. Sie wird den europäischen Diskurs und damit die europäische Identifikation
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der Bürgerinnen und Bürger stärken. Und sie wird den demokratischen Charakter
der EU stärken. So kann sich allmählich eine europäische Zivilgesellschaft bilden.
Und mit ihr das Erlebnis: Europa – das ist nicht nur eine Sache der Staaten, der Regierungen, der Parlamente. Europa – das ist vor allem eine Sache der Bürger: Unsere Sache! Wir sind Europa!
Die ECI ist auf dem langen Weg zu einem umfassend demokratischen Europa, einem
„Europa der Bürger“ nur ein erster, wichtiger Schritt. Sie ist das erste Instrument
partizipativer Demokratie auf der Ebene der Europäischen Union – und das erste
transnationale Bürgerbeteiligungsinstrument weltweit. Das ist ein großer, historischer Durchbruch! Weitere werden und müssen folgen. So brauchen wir langfristig
nicht nur partizipative, sondern auch direkte Demokratie in Europa. Dem Initiativmuss das Abstimmungsrecht folgen. Nur wenn die Bürger sich nicht nur als Bittsteller, sondern auch als Souverän fühlen, der Entscheidungen trifft, werden sie Europa
ganz als ihre eigene Angelegenheit erleben.
Aber auch die Institutionen und ihr Verhältnis zueinander und zu den Bürgern müssen sich wandeln. So muss das Europäische Parlament langfristig mit allen Rechten
eines demokratischen Parlamentes ausgestattet werden – vom Initiativ- über das
Haushalts- bis zum Legislativrecht. In allen Fragen, in denen die EU unstreitig die
Gestaltungskompetenz hat, sollte dann das Europäische Parlament das letzte Wort
haben.
Ein erster, pragmatischer Ansatzpunkt ergäbe sich beim dringend reformbedürftigen Wahlrecht zum Europäischen Parlament. Bisher nämlich gilt auch bei EuropaWahlen: Nationale Parteien nutzen europäische Wahlen für nationale Themen,
Kampagnen und Ziele. Debatten europapolitischer Themen finden dagegen kaum
statt. Jedoch sollten bereits die Wahlen zum Europäischen Parlament eine starke
europäische Dimension haben und Richtungsentscheidungen über europapolitische
Alternativen bewirken. Es ist daher wichtig, die Europawahlen demokratischer und
europäischer zu gestalten.
Ein wichtiges Element wäre, eine gemeinsame europäische Liste einzuführen. Das
heißt, dass man die Parteien zwingt, neben den bislang schon vorhandenen nationalen Listen jeweils auch eine europäische Liste mit europäischen Kandidaten vorzuschlagen. Die Bürger hätten dann zwei Stimmen: eine für ihre nationalen Kandidaten und eine, bei der sie ihnen vertrauenswürdig erscheinende Kandidaten aus einer
europäischen Kandidatenliste auswählen. Dadurch würde sich der Charakter der
Europawahl mehr verändern, als viele glauben. Denn diese Änderung hätte viele
Nebeneffekte: Die Parteien wären gezwungen, sich – wie es die Grünen bereits
praktizieren – europäisch zu treffen, um über gemeinsame Programme, Inhalte,
Wahlplattformen und Kandidaten zu beschließen – und zu kommunizieren, was ihre
27
gemeinsamen europäischen bzw. europapolitischen Anliegen sind. Und die Bürger
könnten über europäische Themen, Programme und Kandidaten entscheiden – und,
wenn sie wollen, auch überzeugende Personen aus anderen Mitgliedsstaaten ins Europäische Parlament wählen.
Denkbar wäre auch, dass die Parteien erstmals gemeinsame Spitzenkandidaten
präsentieren und der Kandidat bzw. die Kandidatin des stärksten Bündnisses vom
Parlament zum Kommissionspräsidenten gewählt wird. So könnte der europäische
Charakter der Wahl ebenso gestärkt werden wie der Einfluss der Bürgerinnen und
Bürger auf die europäische Politik und die Legitimation der europäischen Kommission – wodurch das Verhältnis der Europäischen Institutionen in eine der Idee von
Gewaltenteilung und Demokratie näher kommende Balance gebracht würde.
Europa steht auf dem Boden einer langen, teils großartigen, teils schrecklichen
Geschichte. Wie es geworden ist, wissen wir. Wie es weitergeht, ist in unsere Hände gelegt. Europa muss seinen eigenen Weg finden – kulturell, politisch, ökonomisch. Das geht nur, wenn die Menschen sich gerade jetzt einbringen und Europa
zuwenden, wenn sie mitreden, wo es um die europäische Zukunft geht. Denn ohne
europäische Demokratie, ohne europaweite Diskussionen und ohne starken und
wirksamen Einfluss der Bürgerinnen und Bürger wird das gemeinsame Europa nicht
gelingen.
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Europa ist mehr als der Euro
Alexander Graf Lambsdorff
ist Vorsitzender der FDP im
Europäischen Parlament.
Europa steckt in der Krise: Die Märkte trauen unserer
Währung nicht, in einigen neuen Mitgliedsstaaten gibt
es bedenkliche autoritäre Tendenzen, im Süden gehen
die Menschen auf die Straße und protestieren gegen das
angebliche Spardiktat aus Brüssel und Berlin. Gleichzeitig wird die EU in Deutschland zunehmend unpopulär:
Laut Eurobarometer hält im Sommer 2012 lediglich
die Hälfte der Bundesbürger die EU-Mitgliedschaft der
Bundesrepublik für eine gute Sache. Doch ohne die
Bürgerinnen und Bürger wieder für Europa einnehmen
zu können wird es schwierig, die Krisen der EU nachhaltig zu lösen.
Wie lässt sich das Vertrauen zurückgewinnen? Müssen
wir Europa zurückdrehen und in nationale Handlungsmuster verfallen, wie es sich manch ein Eurokritiker
wünscht? Muss Europa von heute auf morgen in einen Bundesstaat umgewandelt
werden? Weder noch! Zwar sind institutionelle Reformen notwendig, doch muss
Europa nicht über Nacht neu erfunden werden, sondern vor allem besser verstanden werden. Die erste Erkenntnis ist so einfach wie wichtig: Europa ist mehr als der
Euro. Natürlich ist die Sorge um das Geld beunruhigend, doch Europa auf den Euro
zu reduzieren, das wäre so, als würde man bei den USA ausschließlich an den Dollar denken. Europa ist prall mit Leben gefüllt und sich das vor Augen zu führen ist
einfacher als gedacht.
Schon Schüler, die als Fünfzehn- oder Sechzehnjährige im Schüleraustausch andere
Länder kennen lernen, merken, dass zwischen Jugendlichen in Frankreich oder England und ihnen selbst so große Unterschiede nicht bestehen. Später werden sie als
junge Erwachsene gemeinsam mit Freunden dank InterRail und Billigfliegern erneut
genießen, was unser Kontinent an Vielfalt zu bieten hat. An Europas Universitäten
können sie dank Erasmus-Stipendien lernen, wie sich Gleichgesinnte Studium und
Forschung widmen und auch abseits des Campus Spaß am Feiern haben. Auch dass
wir uns vor Handyrechnungen aus dem Urlaub nicht mehr fürchten müssen, ist ein
Verdienst der Europäischen Union.
Doch schon zu Hause kann jeder Europa hautnah erleben. Der Gang zum Supermarkt reicht vollkommen aus, denn dort begegnet einem Europa bereits sehr praktisch an der Käsetheke. Wenn der französische Camembert, der griechische Feta
oder der italienische Pecorino nicht mehr kosten als die deutschen Produkte, dann
ist das „EU“. Und jeder deutsche Arbeitnehmer, der Maschinen, Autos oder andere
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Produkte herstellt, sollte wissen, dass unser größter Exportmarkt nach wie vor Europa ist, dass sein Job von offenen Grenzen und freiem Warenaustausch abhängt.
Wer Europa besser versteht, weiß auch, dass ein Ende des Euro das Projekt Europa
gefährden würde. Gerade mit Blick auf die Alternativen wird deutlich: Die deutsche
Volkswirtschaft wäre über Jahre in der Rezession, gäben wir heute den Euro auf, die
Arbeitslosigkeit ginge hoch, unsere Sozialsysteme wären kaum noch finanzierbar.
Nun mag man einwenden, die EU sei doch inzwischen unumkehrbar geworden.
Doch genauso, wie die Errungenschaften der EU inzwischen fast eine Selbstverständlichkeit sind, genauso schnell kann der Wind sich auch drehen, wie ein Beispiel
aus jüngster Zeit zeigt. Da erklärte der britische Premierminister öffentlich, dass
ein Euro-Austritt Griechenlands zur Einschränkung der Reisefreiheit für griechische
Bürger führen würde. Im Klartext: Der griechische Erasmus-Student könnte Oxford oder Cambridge als Studienorte von der Landkarte streichen, die griechische
Familie ihren London-Urlaub gleich wieder absagen.
Wenn es nicht gelingt, die Menschen von den Vorzügen des vereinten Europas zu
überzeugen, stehen wir bei der nächsten Urlaubsreise vielleicht wieder selbst im
Stau an der Grenze. Jahre später versucht man erst gar nicht, im Ausland zu studieren. Im Abwertungswettbewerb machen sich unsere Währungen Konkurrenz, unsere Produkte werden jenseits der Grenze teuer und unerschwinglich. Politische Missverständnisse nehmen zu, in Europa blicken die Völker und ihre politische Führung
wieder auf das Trennende, nicht das Verbindende. Unser Kontinent schreitet voran,
zurück in den Normalzustand seiner geschichtlichen Existenz. Soweit darf es nicht
kommen. Wir müssen den Diskurs über Europa verändern. Weg von einer defensiven und allein auf den Euro ausgerichteten Debatte, hin zu einem positiven Diskurs,
der offensiv die Vorzüge Europas unterstreicht. Von hier aus muss mit Überzeugung
und Gestaltungswillen an den Schwierigkeiten der aktuellen Krise gearbeitet werden! Nur dann wird das Vertrauen zurückkehren, nur dann werden wir die Krisen
bewältigen.
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Zitate und Meinungen
zur Zukunft Europas:
Martin Schulz, Präsident des Europäischen Parlaments:
„Das Europäische Parlament ist die einzige direkt gewählte EU-Institution. Daraus leite ich eine
umfassende Zuständigkeit der Volksvertretung für die Politik in der EU ab – auch für die Bereiche, die
die Regierungschefs für sich reklamieren. Die nationalen Parlamente können immer nur eine von 27
Regierungen kontrollieren. Nur das Europäische Parlament kann alle 27 überwachen. … Wir begegnen
diesen Regierungen auf Augenhöhe, was uns von den nationalen Kammern unterscheidet. Deshalb ist
das Gewicht, das dieses Parlament hat, deutlich höher, als man in der Öffentlichkeit oft registriert.“
(General-Anzeiger Bonn, 11. 1. 2012, S. 4)
Dr. Klaus Hänsch, Präsident des Europäischen Parlaments a.D.:
„Immer mehr Staaten verlagern Entscheidungen von großer gesellschaftlicher Bedeutung in außerstaatliche Organisationen, etwa in die EU, auch in die Klimakonferenz, die Welthandelsorganisation, den
Internationalen Währungsfonds, die Weltbank, die Vereinten Nationen mit ihren Unterorganisationen,
(…). Unter den außerstaatlichen Organisationen, denen immer mehr Entscheidungskompetenzen zugewachsen sind, ist die Europäische Union die einzige, die den Bürgern Mitentscheidung und Machtkontrolle durch ein direkt gewähltes Parlament bietet, den Einfluss eines Staates auch nach der Zahl seiner
Bevölkerung gewichtet und sich für die Mitwirkung der nationalen Volksvertretungen auf der überstaatlichen Ebene öffnet. Die EU ist das weltweit einzige Projekt einer transstaatlichen Demokratie.“
(Frankfurter Allgemeine Zeitung, 27. 2. 2012, S. 7)
Helmut Schmidt, Altbundeskanzler:
„Man muss sein Herz über die Hürde werfen. Entweder setzen wir unsere Finanzkrise fort und kämpfen
als einzelne Staaten um unser nationales Schicksal, um unsere nationalen Vorteile und Nachteile – aber
mit schwindender Aussicht auf Erfolg. Oder wir finden zurück zum Konzept des fortschreitenden europäischen Verbundes.“ (3.7.2012 beim Gründungsjubiläum der Atlantik-Brücke in Berlin)
Peer Steinbrück, SPD:
„Im Rückblick auf über 60 Jahre Frieden und wirtschaftlichen Fortschritt haben wir Deutsche übrigens
einen besonderen Grund zur Dankbarkeit und eine außerordentliche Mitverantwortung für das Wohlergehen Europas.“ (am 18.10.2012 im Deutschen Bundestag)
Kenneth Rogoff, Ökonom, Harvard University:
„Europa befindet sich in einem Zwischenstadium, das Amerika im späten 18. Jahrhundert durchlebte.
Bevor die USA 1788 eine gemeinsame Verfassung bekamen, waren sie zwölf Jahre lang eine lose Konföderation. Das hat damals mehr schlecht als recht funktioniert. Genauso wie heute in Europa. Es ist mit
Staaten wie mit Menschen: Man kann den Status einer halben Heirat nicht lange aufrecht erhalten.
Entweder man traut sich oder lässt es bleiben.“ (in: Der Spiegel 8/2012, S. 81)
Zur demokratischen Legitimation der EU:
„Die wenigsten Bürger in Europa können nachvollziehen, was mit ihnen geschieht. Frankfurter Runde,
deutsch-französische Krisentreffen, G 20, IWF, Troika bestimmen über Frieden, Freiheit,Wohlstand –
31
wer hat die eigentlich gewählt? (…) Legitimierung durch Handeln war einfach, solange es allen immer
besser ging. In der Krise herrscht jedoch Not. „Die auf Integration, Solidarität und Demokratie ausgestellten Schecks der politisch herrschenden Klasse“ - so drückt das der Flensburger Uni-Professor Hauke
Brunkhorst aus - waren „nur durch Output-Legimitation gedeckt“. Mangels Deckung „müssen sie mit
lautem Knall platzen“. Plopp oder Knall: Um das zu verhindern, muss die Politik, wenn sie zukunftsfähig sein will, auf die Mittel der klassischen Demokratie zurückgreifen, von Leuten wie dem Soziologen
Brunkhorst „Input-Legitimation“ genannt. Der Input muss von den Bürgern ausgehen, von unten nach
oben, durch Wahlen, aber auch durch Diskussion; …“ (in: Der Spiegel 47/2011, S. 118 und 120:
„Der große Sprung nach vorn“ – Spiegelserie Europa II)
Dr. Angela Merkel, Bundeskanzlerin:
„... es muss also mehr demokratische Legitimation und Kontrolle geben, und dieses muss Hand in Hand
mit mehr Integration gehen. D.h., dort, wo die europäische Ebene gestärkt wird, muss auch das Europäische Parlament gestärkt werden.“ (Regierungserklärung am 18.10.2012 im Deutschen Bundestag)
Zur Kritik an der Führung der EU:
Martin Schulz:
„Das Führungsdefizit in Europa besteht nicht in einem Mangel an Personen, sondern in einem Mangel
an Botschaften.Wir machen zu wenig deutlich, dass es keine wirkliche Alternative zur europäischen
Einigung gibt. Entweder wir vertiefen die Integration und schaffen eine politische Union. Oder wir
zerlegen uns in unsere Einzelteile. Die Alternative zur europäischen Einigung ist das Abgleiten in die
Bedeutungslosigkeit.“ (General-Anzeiger Bonn, 11.1.2012, S. 4)
Dr. Klaus Hänsch:
„Immerhin: Das vielgescholtene „Monster“ in Brüssel – die EU-Kommission, das Europäische Parlament
oder der EU-Ministerrat – hat die Staatsschuldenberge nicht aufgehäuft. Die nationalen Regierungen
und Parlamente haben souverän selbst zur Schaufel gegriffen. Die Schuldenkrise hat erzwungen, wozu
zwei Jahrzehnte lang, allen Warnungen und Mahnungen zum Trotz, die Mehrzahl der Mitgliedsstaaten,
Deutschland vorneweg, nicht bereit war: die engere und verbindlichere Koordination der nationalen
Wirtschafts-, Finanz- und Haushaltspolitik – enger und verbindlicher, als es Frankreich, die EUKommission und das Europäische Parlament jemals vorhatten.“ (Frankfurter Allgemeine Zeitung,
27.2.2012, S. 7)
Dr. Wolfgang Schäuble, Bundesminister der Finanzen:
„Und so erinnert der Karlspreis daran, dass Europa eine große Vision, eine große Idee, ein großes Streben und Sehnen nach Freiheit, nach Sicherheit, nach Stabilität, nach Rechtsstaatlichkeit, nach Wohlstand und nach Solidarität ist. (…) Europa ist Vielfalt und Kultur, ist Freundschaft und Miteinander,
ist Nachhaltigkeit und Zukunft. Es ist doch kleinmütig, wenn wir Europa, wenn wir die europäische
Idee nur auf Finanzfragen – so wichtig die sind – reduzieren wollten.Was wäre es für ein Kleinmut,
wenn wir das europäische Projekt in Frage stellen wollten anstatt dass wir es einfach weiterdenken!
(…) Jean Monnet hat einmal gesagt, die europäische Einigung sei ein Beitrag für eine bessere Welt. Die
Präambel unseres Grundgesetzes formulierte schon 1949 den festen Willen, „als gleichberechtigtes Glied
in einem vereinten Europa dem Frieden der Welt zu dienen“. Das ist unsere Berufung und das muss
unser Anspruch, der Anspruch von uns Europäern an uns selbst sein.Wir müssen den Ehrgeiz haben,
mehr als die Verteidigung des Status quo zu wollen. Der Schlüssel für unsere Zukunft liegt in Europa.“
Ausschnitt aus der Karlspreisrede 2012
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Zur Währungsunion:
Kenneth Rogoff:
„Deshalb gibt es nur noch diese Alternative: Entweder der Euro zerbricht mit allen katastrophalen
Folgen, die ein solcher Schritt hätte. Oder die wichtigsten Mitglieder schaffen es, aus der Währungsgemeinschaft rasch eine echte politische Union zu formen. (…) Die Währungsunion braucht vor allem
eine Zentralregierung, inklusive eines Finanzministers. Der muss das Recht haben, in beträchtlichem
Umfang eigene Steuern zu erheben und das Geld auch auszugeben. Außerdem muss das nationale
Kleinklein bei der Bankenregulierung aufhören. Sie gehört ebenfalls ausschließlich auf die europäische
Ebene.“ (in: Der Spiegel 8/2012, S. 80f: „Deutschland ist Gewinner“)
Zur Verschuldungsproblematik:
Jean-Claude Juncker, Vorsitzender der Euro-Gruppe:
„ Weiß man in Berlin, dass 17 von 27 EU-Ländern weniger Schulden haben als Deutschland? Die
anderen verstehen nicht, dass es so dargestellt wird, als sei Deutschland der Tugendbold, der von kleinen
Sünderlein umzingelt wäre.“ (in: Die Zeit vom 19.4.2012: Europa, das war ich)
Zum „Ende des Euro“:
Martin Schulz:
„Das integrierte Europa würde einen schweren Schaden nehmen. Der Euro ist eines seiner größten Symbole,
das die Wirtschaftskraft dieses immer noch reichsten Kontinents in einer gemeinsamen Währung ausdrückt.
Das ist ein Willensakt, dessen Scheitern auch das Integrationskonzept scheitern lässt.Wenn wir im Binnenmarkt wieder nationale Währungen einführen würden, drohten außerdem bestimmte, heute noch stabile Teile
des Binnenmarktes zusammenzubrechen. Es würde zu massiven Auf- und Abwertungen kommen. In der Folge
drohten dann Marktabschottungen, die insbesondere die exportabhängige deutsche Wirtschaft treffen würden.“ (in: Frankfurter Allgemeine Zeitung vom 13.4.2012 Nr. 87, S.4: „Notfalls muss es krachen“)
Warum starke Länder schwachen helfen sollen:
Olli Rehn, EU-Währungskommissar:
„Zuerst müssen diese Länder ihre eigene Verantwortung übernehmen. Dann geht ihr Ruf nicht nur an
die deutsche Regierung, sondern an alle, die jetzt besser dastehen. Diese Regierungen dürfen nicht vergessen, wie stark sie vom Euro profitieren, durch stabile Exportmärkte und durch eine stabile Währung.
Weil keine Währungen innerhalb der Eurozone mehr abgewertet werden, verkaufen exportorientierte
Länder wie Deutschland jetzt dank des Euro deutlich mehr als vor dem Euro.“ (in: Süddeutsche Zeitung Nr. 16 vom 20.1.2012, S.7: „Dieses Jahr müssen wir die Krise lösen“)
Was kostet die EU:
Detlef Drewes, Korrespondent:
„Europa gibt es für 75 Cent am Tag. So viel kostet die EU im kommenden Jahr ihre Bürgerinnen und
Bürger. Rund 138 Milliarden Euro (plus 6,8 Prozent) will die Union ausgeben. Nur sechs Prozent
bleiben zur Deckung der Verwaltungskosten in Brüssel. Die übrigen 94 Prozent fließen als Subventionen
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zurück in die Mitgliedstaaten. (…) Die Einnahmen der Europäischen Union setzen sich im Wesentlichen aus drei Quellen zusammen. Alle Mitgliedstaaten zahlen 1.03 Prozent ihres Bruttoinlandsproduktes an Brüssel. Für Deutschland werden dies im Jahr 2013 rund 34 Milliarden Euro (25 Prozent
des EU-Etats) sein, von denen etwa 26 Milliarden als Subventionen wieder zurückfließen. Darüber
hinaus bekommt die EU Einnahmen aus Zöllen sowie einen bestimmten Anteil an der Mehrwertsteuer.“
(in: General-Anzeiger Bonn vom 26.4.2012, S. 2: „75 Cent für die EU“)
Weniger oder mehr Europa:
Günter Verheugen, EU-Kommissar a.D.:
„Mehr Europa, da wo wir es brauchen, weniger Europa, dort wo wir es können. Unbedingt mehr Demokratie. Jede weitere Verlagerung von substanziellen Hoheitsrechten nach Brüssel muss verbunden sein
mit einer tiefgreifenden Reform des politischen Systems. Die Vielfalt ist unsere große Stärke. Das macht
Europa so einmalig und liebenswert. (…) Weniger Nationalstaat da, wo er die Bedürfnisse der Bürger
im 21. Jahrhundert nicht mehr erfüllen kann. Zum Beispiel in der Außen- und Sicherheitspolitik, in
den grundlegenden Aspekten der Wirtschaftspolitik. Aber ich kann mir durchaus auch mehr nationale
Verantwortung vorstellen, eine Rückverlagerung von Brüssel in die Nationalstaaten. Etwa die Regeln
für kleine und mittlere Betriebe, das muss man nicht europäisch lösen.“ (in: General-Anzeiger Bonn
vom 11.7.2012, S. 4: „Der Wachstumspakt ist nicht viel wert“)
Zur Volksmeinung über die EU:
„So gibt es auch keine funktionierende Meinungsbildung im Volk über Europa, sondern nur eine dumpfe
Unzufriedenheit. 82 Prozent der Bevölkerung beurteilen das Euro-Krisenmanagement Angela Merkels
nach einer Umfrage des Meinungsforschungsinstituts YouGov als „eher schlecht“; zwei Drittel sprachen
sich gegen eine Hilfe für Griechenland oder andere Staaten aus.
Frieden, Freiheit und gutes Leben für alle Europäer: Das ist keine Idee für einen nationalen Meinungsmarkt.“ (in: Der Spiegel 47/2011, S. 123: „Der große Sprung nach vorn“ - Serie Europa (II)
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Europa in Kürze
Wie funktioniert die EU?
Im einzigartigen, weil sehr komplizierten institutionellen Gefüge der EU
• werden die grundsätzlichen politischen Prioritäten vom Europäischen Rat
vorgegeben, dem die EU-Staats- und Regierungschefs angehören. Sie treffen sich
in der Regel zweimal im Jahr, sind aber gerade in der Euro-Krise immer häufiger
zusammengetreten. An Sitzungen dieses Europäischen Rats, derzeit unter Leitung
des Ratspräsidenten Herman van Rompuy, nimmt der Präsident der Europäischen
Kommission teil und bislang, aber nur jeweils für eine kurze Zeit, auch der Präsident des EU-Parlaments, das ohnehin keine Kontrolle über diese „oberste“ Exekutive ausüben kann;
• vertreten in diesem Europäischen Parlament die nach einem „besonderen“
Mehrheitswahlrecht gewählten EU-Abgeordneten die europäischen Bürgerinnen
und Bürger aller Mitgliedsstaaten (seit dem Lissabon-Vertrag offiziell „Unionsbürger“ genannt);
• stellte von Anfang an (also seit den 50-er Jahren) die Europäische Kommission
die eigentliche europäische Regierung dar. Man nannte sie daher auch den „Motor
der europäischen Integration“. Ihre heute 27 Mitglieder (gemäß der Gesamtzahl der
Mitgliedsstaaten) werden von den nationalen Regierungen benannt, nachdem der
Europäische Rat dem Europäischen Parlament nach „Konsultationen“ zunächst den
Kommissionspräsidenten vorschlägt. In einer zweiten Stufe stellt dann der Ministerrat (siehe unten) zusammen mit dem Präsidentschaftskandidaten die endgültige
Gesamtliste der Kommissionsmitglieder auf. VOR deren endgültiger Ernennung
(dann durch den Ministerrat) müssen sich die benannten Kommissionsmitglieder
Anhörverfahren in den einzelnen Fachausschüssen des Europäischen Parlaments
stellen. Wenn hier einzelne Kandidaten „durchfallen“, könnte unter Umständen die
ganze Prozedur noch einmal von vorn anfangen müssen. Das ist bislang aber noch
nie der Fall gewesen – was zeigt, dass alle Institutionen der EU immer auf der Suche
nach einem Konsens sind. Theoretisch könnte die Kommission schließlich in ihrer
Gesamtheit im Verlauf ihrer Amtsausübung durch ein Misstrauensvotum des Europäischen Parlaments abgewählt werden. Auch dazu ist es de facto noch nie gekommen;
• vertreten die Regierungen der Mitgliedsländer die Interessen ihres jeweiligen
Mitgliedsstaates im Ministerrat (in den Vertragsdokumenten leider oft nur als
„Rat“ gekennzeichnet). Man kann dieses wichtige Entscheidungsorgan auch teilweise
mit dem Bundesrat im deutschen Verfassungssystem vergleichen. Den Vorsitz in die-
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sem „Rat“ übernimmt im Turnus jeweils ein Mitgliedsland. Dieser Rat kann jederzeit
als Ministerrat der verschiedenen Länderressortchefs der Mitgliedsstaaten zusammentreten, also als Rat der Außenminister, der Finanzminister usw.
Die in den Spiegelstrichen 2-4 genannten Institutionen teilen sich die Gesetzgebungsfunktion in der EU. Gemeinsam entwickeln sie im sog. „ordentlichen Gesetzgebungsverfahren“ die politischen Strategien und Rechtsvorschriften, die in der
gesamten EU Anwendung finden (vgl. Beitrag C.-C. Schweitzer). Bisher kann nur
die Kommission – aber noch immer nicht auch das Parlament(!) – neue Gesetze
vorschlagen (Initiativrecht). Danach beschäftigen sich Parlament und Rat mit diesen
Vorschlägen im Gesetzgebungsverfahren. Bei einer Nichteinigung „in letzter Runde“
können die Vorschläge auch endgültig durchfallen (siehe hier beigefügtes Schema).
Nach ihrer endgültigen Annahme in „Brüssel“ müssen dann Kommission und Mitgliedsstaaten diese Rechtsvorschriften umsetzen, sofern es sich dabei nicht um
„Empfehlungen“ etc. handelt. Die Kommission stellt außerdem sicher, dass diese
Vorschriften in den EU-Ländern ordnungsgemäß angewendet werden, wenn nicht,
dann kommen entsprechende Verbote von der Kommission – mit oder ohne Anrufung des Europäischen Gerichtshofs. (vgl. „Europa von A – Z“, hrsg. von der Bundeszentrale für politische Bildung, 53113 Bonn, Adenauerallee 86 – dort gegen eine
Gebühr je nach Auflagenhöhe abzurufen)
Siehe auch: Offizielle Website der EU. Dort finden Sie weitere Informationen.
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Das ordentliche Gesetzgebungsverfahren nach Art. 294 AEUV
Quelle: http://de.wikipedia.org/wiki/Datei:Mitentscheidungsverfahren_Art.251_EG-Vertrag.png
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Wie können sich europäische Bürger einmischen?
Hier einige Hinweise auf Mitwirkungsmöglichkeiten
Die Europäische Bürgerinitiative (ECI):
„Sieben Personen aus sieben Mitgliedsstaaten der EU reichen die Initiative bei der Kommission ein.
Die Kommission überprüft, ob die Initiative in den Kompetenzbereich der EU fällt und
nicht gegen die Grundwerte der EU verstößt. Danach wird die Initiative auf der Webseite
der Kommission registriert.
Die Initiatoren sammeln innerhalb von 12 Monaten eine Million Unterschriften in mindestens einem Viertel der EU-Mitgliedsstaaten (derzeit 7).
Nach erfolgreicher Überprüfung der Unterschriften durch die Mitgliedsstaaten können
die Initiatoren ihre Forderungen in einer öffentlichen Anhörung im Europaparlament
mit der Kommission diskutieren. Anschließend entscheidet die Kommission, ob sie einen
Gesetzesvorschlag dazu vorlegt.
Am Ende entscheiden Rat und Parlament darüber, wie das neue Gesetz endgültig ausgestaltet wird.“ (in: Die Europäische Bürgerinitiative, S. 15; Hrsg.: Fraktion der Grünen/
EFA im Europäischen Parlament, Brüssel) (siehe auch den Beitrag Häfner, MdEP)
Der Europäische Bürgerbeauftragte:
Beim Europäischen Bürgerbeauftragten, auch Ombudsmann genannt, kann sich jede
EU- Bürgerin und jeder EU-Bürger beschweren. Weitere Informationen finden Sie
unter www.ombudsman.europa.eu/home/de/general.htm
Der Europäische Petitionsausschuss:
Jeder EU-Bürger kann beim Petitionsausschuss des Europaparlaments Eingaben
machen, wenn er sich in seinen Rechten als Unionsbürger verletzt glaubt oder das
Europäische Parlament auffordern möchte, zu einem Thema von öffentlichem Interesse Stellung zu nehmen.
Weitere Informationen hierzu unter
http://www.europarl.de/view//parlament/Buergeranliegen/Petitionen_an_das_EP.html
Zuständige EU-Abgeordnete:
Wenden Sie sich an Ihre EU-Abgeordneten. Sie finden die Adressen unter
http://www.europarl.de/view/de/parlament/Deutsche_Abgeordnete.html
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Statistische Daten
Wahlbeteiligung in Deutschland bei den Wahlen zum Europäischen Parlament (bis 1990 nur Westdeutschland)
Datum der Europawahl
10.06.1979
17.06.1984
18.06.1989
12.06.1994
13.06.1999
13.06.2004
07.06.2009
Wahlberechtigte
42 751 940
44 465 989
45 773 179
60 473 927
60 786 904
61 682 394
61 682 394
Wahlbeteiligung %
65,7
56,8
62,3
60,0
45,2
43,0
43,3
Quelle: Statistisches Bundesamt W/31411100-OS0201
1) Wert der deutschen Ausfuhren in die EU im Verhältnis zu den deutschen Gesamtausfuhren 2011 anteilig weit an der Spitze mit insgesamt 59,1 %.
Quelle: Statistisches Bundesamt, 8.2.12
2) Deutscher Anteil am innergemeinschaftlichen Ausfuhrvolumen ebenfalls weit an
der Spitze mit 22,4 %.
Quelle per E-mail übermittelt von: „Eurostat „(Statistischen Amt der EU, Sitz Luxembourg) unter: ec.europa.eu@eurostat
Deutschland profitiert mithin wirtschaftlich als Exportland am stärksten von der
europäischen Integration, die den deutschen Steuerzahler jeweils im kommenden Jahr
75 Cent am Tag kostet.
Empfohlene Literatur zur Einführung
Europa von A bis Z, Werner Weidenfeld / Wolfgang Wessel (Hrsg.),
Bundeszentrale für politische Bildung, Bonn (2007)
Vertrag von Lissabon,
Bundeszentrale für politische Bildung, Schriftenreihe Bd. 1056 (2010)
Kontinent der Hoffnungen, Mein Europäisches Leben, Klaus Hänsch,
Dietz-Verlag (2010)
Dank an die Robert Bosch Stiftung für die Übernahme der Druckkosten
Layout: Kurt Riggert · Fotos: privat, Ekko von Schwichow (Winkler)
Druck: Köllen Druck + Verlag
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