SIEGFRIED LENZ: DEUTSCHSTUNDE

Transcription

SIEGFRIED LENZ: DEUTSCHSTUNDE
Ingrid Pöckl
SIEGFRIED
LENZ:
DEUTSCHSTUNDE
AUTOR UND SEINE WERKE
Siegfried Lenz wurde am 17.03.1926 in Lyck (Oberpreußen) geboren. Als
Dreizehnjähriger
wird
er
in
die
Hitlerjugend
aufgenommen
und
in
Wehrertüchtigungslagern ausgebildet. Mit 17 Jahren (1943) erläßt man dem jungen Lenz das
Abitur; er wird zur Marine eingezogen; nach viermonatiger Ausbildung erstes
Bordkommando auf der “Admiral Scheer”. Das Schiff wird versenkt, Lenz kann
sich retten und wird zur weiteren Ausbildung nach Dänemark gebracht. Er
desertiert, wird verfolgt, kann sich aber unerkannt durchbringen und gerät 1945
in englische Gefangenschaft. Dort wird er bald Dolmetscher einer amtlichen
Entlassungskommission. Noch 1945 entläßt man ihn nach Hamburg, wo er
Philosophie, Anglistik und Literaturwissenschaft studiert. Mit Schwarzhandel
bringt er sich durch. Schon während seines Studiums arbeitet Lenz für die
“Welt”, wird Nachrichten-, dann Feuilletonredakteur.
Seit 1951 lebt er als freier Schriftsteller. In den folgenden Jahren macht er viele
Reisen ins Ausland: 1968/69 hält er Vorträge in Australien und den USA.
Zwischen 1965 und anfang der 70er Jahre engagiert sich Lenz im Wahlkampf
für die SPD. Auf Einladung von Bundeskanzler Willy Brandt reist er,
zusammen mit Günter Grass, 1970 zur Unterzeichnung des deutschpolnischen Vertrages nach Warschau. Den “Demokratischen Sozialismus” und
die Aussöhnungspolitik mit dem Osten sieht er als das politische Pendant
seiner Literatur.
Siegfried Lenz arbeitet als Essayist und Kritiker für den Funk und mehrere
Zeitungen. Er lebt seit 1951 in Hamburg und auf der dänischen Insel Alsen.
1
Ingrid Pöckl
Preise: Rene-Schickele-Preis (1952); Stipendium des Hamburger LessingPreises (1953); Bremer Literaturpreis, der bereits Günter Grass zugesprochen,
auf politische (SPD-)Interventionen aber wieder aberkannt worden war (1961);
Gerhart-Hauptmann-Preis (1961); Ostdeutscher Literaturpreis (1961); GeorgMackensen-Literaturpreis (1961); Großer Kunstpreis des Landes NordrheinWestfalen (1966); Hamburger Lesepreis (1966); Literaturpreis der deutschen
Freimaurer, Lessing-Ring (1970); Kulturpreis der Stadt Goslar (1978);
Andreas-Gryphius-Preis (1979); Thomas-Mann-Preis der Stadt Lübeck (1984).
Werke: - Es waren Habichte in der Luft (1951), Roman
- Duell mit dem Schatten (1953), Roman
- So zärtlich war Suleyken (1955), Masurische Geschichten
- Der Mann im Strom (1957), Roman
- Jäger des Spotts (1958), Erzählung
- Brot und Spiele (1959), Roman
- Das Feuerschiff (1960), Erzählungen
- Stimmungen der See (1962), Erzählungen
- Der Spielverderber (1965)
- Das Vorbild (1973)
- Der Geist der Mirabelle (1975)
- Einstein überquert die Elbe bei Hamburg (1975)
- Heimatmuseum (1978)
- Der Verlust (1981)
Die beiden Hörspiele “Zeit der Schuldlosen” und “Zeit der Schuldigen” (beide
1962) wurden im Drama “ Die Zeit der Schuldlosen” (1963) zusammengefaßt.
1964 folgte das Drama “Das Gesicht”, 1968 “Nicht alle Förster sind fröhlich”
und 1970 “Die Augenbinde”.
Siegfried
Lenz
ist
einer
der
profiliertesten
deutschen
Autoren
der
Nachkriegszeit.
In dem 1968 erschienenen Roman Deutschstunde, einem der größten
belletristischen Bucherfolge nach 1945, durch die Fernsehverfilmung (1972)
2
Ingrid Pöckl
einem Millionenpublikum bekannt geworden, haben die ethische Intention und
die erzählerische Gestalt ihren bisher gültigsten Ausdruck im Romanschaffen
von Siegfried Lenz gefunden.
ART DES WERKES
Roman: literarisches Werk erzählender Dichtung in Prosa, in dem oft das
Schicksal
von Menschen in der Auseinandersetzung mit der Umwelt oder der
Gesellschaft geschildert wird.
ORT UND ZEIT DES GESCHEHENS
Der ausgedehnten Erzählzeit steht ein begrenzter Erzählort gegenüber, extrem
eingeengt durch die Situation auf der Insel, auf der sich die Anstalt befindet,
und durch die eigentliche Schreibsituation in einem meist abgeschlossenem
Zimmer. Raumwechsel findet nur in der Erzählvergangenheit statt, während
die Erzählgegenwart auf kleinsten Raum beschränkt bleibt.
Der beherrschende Schauplatz des erinnerten Geschehens ist Rugbüll. Er ist
Brutstätte und Lebensraum des zutiefst provinziellen Nationalsozialismus. In
bedrängender Anschaulichkeit, trotz zum Teil erfundener Ortsnamen leicht
identifizierbar, gewinnt die Region im Norden Deutschlands Gestalt mit ihren
Stränden, Deichen und Warften. Nordfriesland dient dem Erzähler als Modell
für akut verengtes Leben.
Siggi Jepsen, der inzwischen Einundzwanzigjährige, erinnert sich an das Jahr
1943, als er 10 Jahre alt war. Während das eigentliche Handeln der
Vergangenheit angehört, steht die Gegenwart ganz im Zeichen der Reflexion
über das, was geschehen ist. Erst das wechselseitige Durchdringen beider
Zeitebenen ist imstande eine Zukunft aufzubauen.
3
Ingrid Pöckl
Die Erinnerungsarbeit ist ein schöpferischer Prozeß, der das Vergangene
nachschafft, mit dem Ziel, die Gegenwart zu verstehen und sich in ihr
zurechtzufinden. Aus den Fragen an das Gestern entwickeln sich Antworten
für das Morgen. Es geht darum das
Weiterleben durch erzählende
Bewältigung des Vergangenen lebenswert zu machen. In der Zeitstruktur
spiegelt sich auch die Orientierungsproblematik nach 1945.
AUFBAU
Die Situation in der Anstalt bildet den Erzählrahmen, auf den im Laufe des
Erinnerungsprozesses wiederholt zurückgeblendet wird. Von ihr nimmt die
Romanhandlung ihren Ausgang, die schließlich, weitgehend linear aufgebaut, zum
Anfang zurückkehrt.
Das Ganze wird in der Ich-Form erzählt.
INHALTSANGABE
Hauptgestalt des Romans ist der Junge Siggi Jepsen, der in der
Jugendstrafanstalt auf der Elbeinsel bei Hamburg von seinem Lehrer und
Jugenpsychologen dazu veranlaßt wird, in einer nachgeholten Strafarbeit mit
dem Titel “Die Freuden der Pflicht” sich die Erinnerungen an die NS-Zeit von
der Seele zu schreiben. Er erinnert sich auch an den Konflikt zwischen seinem
Vater, Jens Ole Jepsen, und dem Maler, Max Ludwig Nansen. Von den
damaligen Machthabern wird im Zuge der Kampagne gegen Entartete Kunst
ein
Malverbot
verhängt.
Siggis
Vater,
Rugbüller
Polizeiposten
und
Pflichtmensch, versucht mit bornierter Amtsautorität dieses in Berlin gegen
Nansen erlassene Malverbot durchzusetzen.
Der alte Jepsen observiert den Künstler und zerstört auch einen Teil seiner
Werke. Er will Siggi zu seinem Spießgesellen machen, doch dieser wird
4
Ingrid Pöckl
Freund und Verbündeter des Malers und rettet einige seiner Bilder vor dem
Zugriff des Polizisten-Vaters.
Siggi versteckt auch seinen Bruder Klaas, der eines Morgens auftaucht. Er ist
aus dem Gefangenenlazarett ausgebrochen, doch zu Hause kann er nicht
bleiben, da sein Vater und seine Mutter ihn verstoßen haben, weil er sich
selbst verstümmelt hat. Auch den Verlobten von Hilke, Siggis Schwester, kann
die Mutter nicht leiden, weil er ihrer Meinung nach ein Zigeuner ist. Jedesmal
wenn er auftaucht sperrt sie sich in ihrem Zimmer ein.
Der die Familie zerstörende Zwangscharakter des alten Jepsens überdauert
noch den Umschwung nach 1945. Obwohl das Malverbot längst aufgehoben
ist, verfolgt Ole Jepsen den Maler in seiner wahnhaften Verbitterung weiter. Er
fühlt sich unbeirrt in seiner alten Amtspflicht.
Dann wird Siggi bestraft; er wird als Bilderdieb verhaftet, obwohl er die Bilder
nur vor den NS-Verfolgern in Sicherheit gebracht hat. Am Ende wird er jedoch
wegen überdurchschnittlicher Leistungen entlassen.
So füllt Siggi Heft für Heft mit seinen Aufzeichnungen, nur manchmal
unterbricht der junge Schreiber die Geschichte seiner Jugend in Rugbüll, um
ein paar Neuigkeiten aus seinem gegenwärtigen Sträflingsleben einzuflechten.
CHARAKTERE
a) Siggi Jepsen
Siggi Jepsen, 1933 im Jahr der Machtergreifung durch die Nazis geboren,
erzählt seine eigene Geschichte. Er wird in Begegnungen und Erlebnissen,
mitunter aus Verstecken, durch Fenster und Schlüssellöcher zum Beobachter
und Zeugen seiner Zeit, die er von seinem 10. Lebensjahr an intensiv erlebt
und die er kurz vor seinem 21. Geburtstag erinnert und zu begreifen beginnt. In
der Strafarbeit behandelt er das gestellte Thema im Rückblick auf
Selbsterlebtes, indem er nicht die Freuden, sondern die Leiden und Opfer der
Pflicht darstellt. Erst jetzt überwindet er die Zwangsneurose, ständig angeblich
gefährdete Bilder in Sicherheit bringen zu müssen. Die Mühle, die er seinerzeit
5
Ingrid Pöckl
als Versteck gewählt hatte, ist längst abgebrannt. Es ist ihm auferlegt die
damals verbrannten Bilder als deren Sinndeutung nachzuschaffen. In dem
Maße, wie ihm dies gelingt, befreit er sich von den Obsessionen des
Vergangenen, indem er persönlich durchdringt. Reif wird Siggi, als er beginnt
die passive Rolle des Danebenstehenden aufzugeben. Ausdrücklich erkennt
der Anstaltswärter Joswig die vollzogene Reifung an.
[
Er legte mir die Hand auf die Schulter, tätschelte meine Schulter mit
nachsichtiger Anerkennung und sagte:”An deinen Worten merkt man, daß du
volljährig geworden bist.” Er gab mir offiziell Raucherlaubnis für den Rest des
Tages, knuffte mich zum Abschied leicht am Hinterkopf.]
Am Ende wird Siggi aus dem abgeschlossenem Erinnerungsraum, in dem er
sich in sich selbst versenkte, entlassen.
b) Polizeiposten Jepsen
Er ist der uniformierte Staatsbürger, pflichtbewußt, gehorsam bis zur
Selbstaufgabe, loyal bis zur Menschenverachtung. Befehl ist für ihn Befehl.
[ “Ich tu nur meine Pflicht.”] ist der Leitsatz seines Handelns.
[...ich frage nicht, was einer gewinnt dabei, wenn einer seine Pflicht tut, ob es
einem nützt oder so. Wo kämen wir hin, wenn wir uns bei allem fragten: und
was kommt danach? Seine Pflicht, die kann man doch nicht nach Laune tun...]
Über
Generationen
eingeschliffen,
ist
das
preußische
Vermächtnis,
aufopferungsvoll seine Pflicht zu tun, zum Kadavergehorsam verkommen, der
den unaufhaltsamen Anstieg des deutschen Faschismus erst ermöglichte.
Vielsagend heißt es: [ Die Hände meines Vaters hingen schlaff und bereit an
der Hosennaht, zwei gehorsame Wesen.]
Für den Polizeiposten ist das verhängte Malverbot unumstößliches Gesetz,
dessen Einhaltung er, ungeachtet persönlicher Beziehungen, zu überwachen
hat. Ein eigenes Urteil ist im Dienstreglement nicht vorgesehen. Die
eingebleute Pflichtausübung überdauert noch den Zusammenbruch des
Faschismus. Auch nach 1945 fährt der Polizeiposten fort, den Bildern
nachzustellen.
6
Ingrid Pöckl
Der Polizeiposten ist der Typus des deutschen Kleinbürgers mit dem starken
Bedürfnis, seine Leitbilder in einer Sphäre zu suchen, die seine eigene enge
Welt übersteigen.
c) Der Maler
Er ist der Gegenspieler des Polizeiposten. Der Maler wohnt draußen auf
Bleekenwarf. Schon der abseits gelegene Ort enthebt den genialen Künstler
allem Provinziellen.
Deutlich erkennbar ist in der fiktiven Gestalt der 1867 im nordschleswigschen
Nolde als Hansen geborene Emil Nolde, der expressionistische Maler, der in
Paris, München und Berlin als bedeutender Künstler hervorgetreten und
anerkannt war, 1913 eine Reise nach Neu-Guinea unternommen hatte und
sich 1927 mit seiner Frau in Seebüll ansiedelte, wo er auf der leeren Warft ein
Haus baute. Im Jahr 1914 erhielt er Berufsverbot. Zugleich wurden 54
eingesandte Bilder beschlagnahmt. Nolde galt fortan als entartet. Während des
allerdings sehr großzügig überwachten Malverbots entstanden Aquarelle auf
Japanpapier. Nolde starb 1956.
Die beiden Vornamen im Roman verweisen auf die Maler Max Beckmann und
auf Ernst Ludwig Kirchner. Die Anspielung auf die beiden herausragenden
Expressionisten hebt die allgemeine Situation der Kunst im Faschismus um so
deutlicher hervor.
Nansen setzt gegen den blinden staatsbürgerlichen Gehorsam das eigene
kritische Urteil: [ ...es kotzt mich an, wenn ihr von Pflicht redet. Wenn ihr von
Pflicht redet, müssen sich andere auf was gefaßt machen.]
[...wenn du glaubst, daß man seine Pflicht tun muß, dann sage ich dir das
Gegenteil: man muß etwas tun, das gegen die Pflicht verstößt. Pflicht, das ist
für mich nur blinde Anmaßung.]
Allein entscheidend ist das Gewissen des einzelnen für sein Tun. Wahre
Pflicht
ist
der
innere
Auftrag,
seiner
Bestimmung
treu
zu
bleiben,
weiterzumalen trotz des Malverbots. Jede Abweichung bedeutet Verrat am
eigenen Selbst. In seiner Kunst wie in seinem Handeln im Alltag dient Nansen
7
Ingrid Pöckl
dem Leben. Er war es, der seinen Jugendfreund Jens Ole Jepsen vor dem
Ertrinken rettete, er ist es auch, der dessen desertierten Sohn Klaas
vorübergehend bei sich aufnimmt.
GEHALT
Die Deutschstunde ist eigentlich ein moderner Bildungsroman, der jedoch
weniger auf der geschichtlich-gesellschaftlichen Ebene als vielmehr auf der
Ebene des widerspiegelnden und verarbeitenden Einzelbewußtseins spielt. Die Geschichte hat
den einzelnen an sich selbst zurückverwiesen. Nur von ihm, von seiner
Bereitschaft zu kritischer Wachsamkeit, kann eine humane Zukunft ihren
Ausgang nehmen.
Zugleich ist die Deutschstunde aber auch ein Zeitroman, der einen
repräsentativen,
Geschichtsphase
subjektiv
heilloser
vermittelten
Querschnitt
Verstrickungen
gibt.
durch
Die
eine
kritischen
Geschichtsbefunde erhalten ihren Wert in Bezug auf das Subjekt, das sich
erinnernd zu verstehen beginnt.
Lenz ist kein Satiriker, der das Abweichende und Verkehrte verurteilt. Sein IchErzähler bezieht sich selbst in die kritische Zeitdarstellung mit ein, er ist ein
verstricktes Opfer und distanzierter Zeuge in einer Person. Erst, indem er sich
den kritischen Zuständen selbst aussetzt, wird er fähig, sie zu verstehen und
Klarheit über sich selbst zu gewinnen.
In der Struktur des Romans spiegelt sich der verhaltene Optimismus des
humanen Realisten, der den Menschen wieder eine Chance gibt, wenn sie
aufhören an Ideale und Programme zu glauben, wenn sie den Pedanten der
Pflicht ebenso mißtrauen, wie den Besserwissern und offen werden für die
Mitgestaltung einer Welt, in der alle in Freiheit und Frieden leben können. Eine
solche Offenheit erfordert nie ermüdende Wachsamkeit und den Widerstand
jedes einzelnen gegen die Mächtigen.
8
Ingrid Pöckl
Lenz deckt darüber hinaus die Wurzeln des Nationalsozialismus auf, der nur
auf einer Basis einer sklavisch ergebenen Führergefolgschaft gedeihen
konnte. In der Familie wird das als negativ angesehen, was als negativ von
oben verordnet ist. Das Fremde wie das Kranke widersprechen gleichermaßen
dem auserwählten gesunden deutschen Volkstum, dem anzugehören sich der
Kleinbürger schmeicheln darf. Völlig einig weiß sich das Ehepaar Jepsen
gegen alles Fremdländische und Zigeunerhafte, im Haß gegen das, was der
Führer als unwertes Leben verworfen hat. Als Eltern vertreten sie ihren
Kindern
gegenüber
die
Obrigkeit.
Das
Elternhaus
verkommt
zum
Strafgerichtshof, der prügelnde Vater zum Vollstrecker. Fragen, Zweifel und
Begründungen
des
eigenen
Handeln
sind
ausgeschlossen
in
einer
Gesellschaft der Geführten und Verführten. In Rugbüll spiegelt sich die
verbrecherische Macht der Nazis wieder. Der Polizeiposten, mehr Opfer als
Täter, macht auch die eigenen Kinder zu Opfern der allgemeinen
Menschenverachtung. Während er seinen ältesten Sohn Klaas pflichtgemäß
der
Gestapo
übergibt,
nachdem
dieser
versucht
hatte,
durch
Selbstverstümmelung dem Wehrdienst zu entgehen und unterzutauchen, treibt
er Siggi, den er als Spitzel mißbraucht, in die zwangsneurotische Vorstellung,
die gefährdeten Bilder in Sicherheit bringen zu müssen, indem er sie
entwendet und versteckt. Wie die Pflichtbesessenheit dauert auch die
Zwangsneurose über 1945 hinaus an und läßt Siggi zum Bilderdieb werden. In
aller
Breite
schildert
der
Roman
die
irrationale
Kälte
in
den
Familienbeziehungen der Jepsens, die Beschränktheit des heimatlichen
Dorflebens.
Rugbüller “Lebenskunde” bedeutet die Verkümmerung von Elternliebe,
Freundschaft, Nachbarschaft und die Verhinderung des Individuellen und
Lebendigen. Heimat in Rugbüll ist ein Schreckensort, wo der Kleinbürger von
Nazis Gnaden sein Unwesen treibt und alle Menschlichkeit verachtet. Lenz
begnügt sich jedoch nicht mit einem negativen Porträt der Provinz. In wenigen
Gestalten und Szenen offenbaren sich Spuren von Menschlichkeit, die nicht
nur als Kontrast gemeint sind, sondern in eine mögliche Zukunft weisen. Zum
9
Ingrid Pöckl
Beispiel die im Abseits von Rugbüll lebende Hilde Isenbüttel, die sich in ihrer
Zuwendung zum Mitmenschen nicht irreführen läßt. Auf dem Hof beschäftigt
sie einen belgischen Kriegsgefangenen, in den sie sich verliebt und von dem
die schließlich ein Kind erwartet. Als ihr Mann als Krüppel aus dem Krieg
zurückkehrt, nimmt sie sich seiner ohne zu zögern an.
[ Wir wollten weggehen und sahen im Weggehen Hilde Isenbüttel über den
Bahnsteig laufen, dorthin, wo der Gepäckwagen gestanden hatte. Was war
da? Was wollte sie? Das saß also ein Mann in Uniform auf der Erde, zu ihm
lief sie. Der Mann saß neben einer flachen,
Karre, mit Rädern. Er saß
aufrecht. Ihm fehlten jedoch beide Beine. Der Mann war barhäuptig, er hatte
aber noch ein junges Gesicht. Er sah ihr entgegen und packte sie fest am
Oberarm, als sie sich vor ihn hinkniete. Das ist doch Albrecht, sagte der Maler,
Albrecht Isenbüttel: er muß rausgekommen sein von da oben, von Leningrad.
Die Frau befreite sich aus dem Griff des Mannes und umarmte ihn plötzlich.
Dann stand sie auf und setzte ihn auf die Karre. Hilde Isenbüttel zog allein die
Karre über den Bahnsteig und der Mann saß steif aufrecht...]
Liebe und Fürsorge machen nicht Halt vor dem angeblich Fremden wie vor
dem Schwachen und Versehrten. Im Kontrast zu dem liebenden und
fürsorgenden einzelnen tritt die Unmenschlichkeit der Nazi-Ideologie mit ihrem
Fremdenhaß und ihrer Verherrlichung der Stärke um so greller hervor, vor
allem aber wird erkennbar, worauf eine künftige humane Gesellschaft zu
gründen wäre. Der Erzähler Lenz erweist sich einmal mehr als realistischer
Optimist, der angesichts menschenverachtender Beschränktheit die Hoffnung
auf Humanität aufrecht erhält.
EIGENE MEINUNG
Mir persönlich hat der Roman Deutschstunde sehr gut gefallen, weil er sich
ausgezeichnet mit dem Faschismus und seinen Folgen auseinander gesetzt
hat. Eine dieser Folgen, wie der Verlust des Menschseins, wurde ja immer
deutlich betont.
10
Ingrid Pöckl
Vor allem aber hat mich das Freund-Feind Schema, der Konflikt zwischen dem
Maler und dem Polizeiposten, der immer nur an seine auferlegte Pflicht
gedacht hat, fasziniert. Niemals hat er sich an die Freundschaft, die sie beide
einmal verband, erinnert. Die Besessenheit, mit der er das Malverbot
überwachte, war wirklich schon wahnsinnig. Und trotzdem war das Vertrauen
des Malers auf das Leben unverwüstlich. Das hat mir sehr imponiert. Denn um
sich dieser Beschränktheit und Borniertheit allein entgegenzustellen gehört
sicher eine Menge Mut dazu.
Ich finde, daß dieses Buch dazu auffordert, sich mit der Vergangenheit
auseinanderzusetzen und Wege zu deren Bewältigung aufzeigt. Dieser Roman
will Veränderungsbereitschaft in den Menschen hervorrufen und durch die
Erinnerung zum Widerstand gegen das Regime auffordern.
Quellen: - Deutschstunde (Siegfried Lenz, 1968)
- Deutsche Literaturgeschichte 2 (Wilhelm Bortenschlager)
- Geschichte der deutschen Literatur (Wilfried Barner)
-
Kritisches
Lexikon
Zimmermann)
11
der
Gegenwartsliteratur
(Harro