Ein mittelalterlicher Gesundheitsratgeber

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Ein mittelalterlicher Gesundheitsratgeber
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Regimina duodecim mensium,
Cod. Sangallensis 759 p. 8 f.
Ein mittelalterlicher Gesundheitsratgeber
Zu den ältesten Bestandteilen der wissenschaftlichen Medizin gehörte die Diätetik. Gerade in den
Anfängen spielte die Verordnung einer den jeweiligen Umständen angepassten Krankendiät und
die Anwendung von physiotherapeutischen Maßnahmen wie Kompressen, Bädern und Massagen,
eine große Rolle. Daneben stellten die Ärzte dieser Zeit auch die Forderung auf, dass die Medizin
sich nicht auf die Behandlung von Krankheiten beschränken dürfe, sondern es als ihre vornehmliche und eigentliche Aufgabe betrachten müsse, gesunden Menschen die Gesundheit zu erhalten,
die in der Antike eine im Vergleich zu heute unverhältnismäßig hohe Wertschätzung genoss, und
zwar vor allem deswegen, weil bei dem relativ niedrigen Stand der damaligen Medizin der Prozentsatz der unheilbaren Krankheiten sehr viel größer war als heute und weil überhaupt jede schwere
Erkrankung in der Regel eine Verurteilung zu Schmerzen und Siechtum bedeutete. Die entscheidende Voraussetzung für die Einbeziehung des gesunden Menschen in die medizinische Betrachtung war jedoch mit der Erkenntnis gegeben, dass die Gesundheit des menschlichen Körpers von
natürlichen Faktoren wie Ernährung, Schlaf, körperlicher Belastung und Klima abhängig ist und
dass damit für den Arzt die Möglichkeit besteht, regulierend in das Körpergeschehen einzugreifen.
Der vorliegende Text entspricht inhaltlich ganz dieser medizinischen Tradition. Wer die aufgelisteten Anweisungen richtig befolgte, sollte in aller Regel keine Störung seines Wohlbefindens
befürchten und konnte somit auf Arzt und Medikament verzichten. 70 verschiedene Fassungen
dieser frühmittelalterlichen Monatsregeln sind bis heute dokumentiert, der vorliegende Text zählt
zu den frühesten Vertretern dieser Gattung.
1
5
10
Incipit tempus1 propter2 sanitatem corporis et cordis, quod observare debeat3.
Mense Martio bibat4, dulce usitet5, agrimen6 usitet, radices7 confectas8 manducare9, asso10 balneo usitare, sanguinem minuare11, solutionem12 non accipere13, quia
frigora generat ipsa solutio12.
Mense Aprili sanguinem minuare11, potionem14 bibere, carnes recentis manducare, sanguinem intercutaneum15 minuare,
calidum usitare, dolorem stomachi purgare16, unguentum calasticum17 usitare13, et
si sic factum fuerit, omnia membra sanare debent.
1 tempus, -oris n.: h. Kalender 2 propter (+ acc.): h.
für, hinsichtlich 3 debeat: h. und bei den folgenden
Verben ist als Subjekt homo zu denken: man muss,
man darf 4 bibat sc. dulce 5 usito 1 (+ acc. oder + abl.;
freq. v. utor 3): verwenden, essen
G8 6 agrimen,
-inis n. = acrimen: das Scharfe 7 radix, -icis f.: h. Rettich 8 conficio 3M, -feci, -fectum: h. einmachen, -legen
5
9 manduco 1: essen, kauen 10 assus 3: warm
11 sanguinem minuare = sanguinem minuere: zur Ader
lassen
G4 12 solutio, -onis f.: h. Abführmittel
13 accipere sc. debeat
nem
G11 14 potionem = solutio-
12
10 15 intercutaneus 3 = intercus, -utis: unter der Haut
befindlich
G1 16 purgo 1: h. durch ein(en) Abführ-
mittel, Einlauf mildern
17 unguentum calasticum
Heilsalbe, deren genaue Zusammensetzung bereits in
der Spätantike nicht mehr bekannt war (Isidor, „etymo-
logiae“ IV 12, 10)
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Mense Maio calidum bibat, calidum usitet, caput purget, quia calidum in praecordiis18 ponit19 frigidum. Licet in mense
Maio venam hepaticam20 incidere21 et potionem14 ad solvendum22 bibere, cataplasma23 in capite inponi, oculos turbulentos24 sanare, porriginem25 mundare26, urinam curare, olera27 frigida usitare, agrimen6 manducare.
Mense Iunio omni die mane ieiunus28 merum29 cum aqua bibere, cervissam30 non
bibere, non nisi puscam31 usitare, lactucas32 manducare, acetum33 bibere13.
Mense Iulio nec minuatur sanguis11 de venis in illo tempore, nec potionem14 in ipso mense bibat, salviam34 et rutam35 usitet.
Mense Augusto nullum penitus36 caulem37
manducare, agrimen6 manducare, cervissam30 et medum38 non bibat.
Mense Septembri omnia, quae vis, accipere39 debeat, quia omnes escae40 in illo tempore pro fructu41 confectae sunt.
Mense Octobri racimum42 et mustum43
usitare13, quia corpora sanant et solutionem12 faciunt.
Mense Novembri et Decembri bonum est
studium habere44 venam hepaticam20 incidere21, in venis ventusam45 inponere, quia
in ipso tempore omnes umores sunt parati46.
Mense Ianuario nullum penitus36 sanguinem minuare11 nec potionem14 bibere debeat et electuarium47 accipere.
Mense Februario de pollice sanguinem
minuare11 debeat et oximel48 conbibiendum sit; quod facit49 ad choleram50 deducendam et phlegma51 per ventrem; et melancholico52, quod plus invenitur abundare53, expellit per ventrem; et causam in
capite circum54 solvit55 et, quae ex umore56
nascitur, aut caliginem57 aut choleram50
ipsam non permittit generare; vesicam58
curat et renes59; cibos bene accipere60 facit
et bene digerere61; in omnibus62 aptissimum est.
50
15
18 praecordia, -orum: Brustraum, Zwerchfell
19 pono 3, posui, positum: h. vertreiben 20 hepaticus 3 = hepatiarius 3: zur Leber gehörig 21 venam incidere: die Ader schlagen, zur Ader lassen 22 ad solvendum sc. ventrem
20 23 cataplasma, -atis f. (griech. κατάπλασμα):
(Zug-)pflaster, Breiumschlag 24 turbulentus 3 = turbidus 3: getrübt 25 porrigo, -inis f.: Kopfgrind 26 mundo 1: reinigen, säubern 27 olera, -um: Gemüse, Grünzeug 28 ieiunus 3: nüchtern
25 29 merum, -i: unvermischter Wein 30 cervissa, -ae
= cerevisia, -ae: Bier
Essiglimonade
31 pusca, -ae = posca, -ae:
32 lactuca, -ae: Lattich, Kopfsalat
33 acetum, -i: Essig
30 34 salvia, -ae: Salbei 35 ruta, -ae: Raute 36 penitus (adv.): überhaupt, völlig 37 caulis, -is m: Kohl
38 medus, -i: Met, Honigwein
35 39 accipio 3M, -cepi, -ceptum: h. zu sich nehmen
40 esca, -ae: Speise, Nahrungsmittel 41 fructus, -us m.:
Ertrag, Reife 42 racimus, -i: (Wein-)Traube, Traubensaft
43 mustum, -i: junger Wein, Sturm, Most
40 44 studium habere: sein Augenmerk auf etw. richten, sich mit etw. intensiv beschäftigen 45 ventusa, -ae
(ahd. vintôsa): Schröpfkopf 46 paratus 3: h. bereit zum
Aderlass
45 47 electuarium, -i: Latwerge, breiförmige Nahrung
48 oximel, -mellis n.: Essigmet
50 49 facio 3M, feci, factum: h. nützlich sein, dienen
50 cholera, -ae (griech. χολέρα): Galle, Brechdurchfall
51 phlegma, -atis n. (griech. ϕλέγμα): Schleim, Rotz
52 melancholicus 3 (griech. μέλας χόλος / melas
cholos = schwarze Galle): schwermütig 53 quod plus
invenitur abundare: was sich zu viel an schwarzer Galle in ihm befindet 54 circum (adv.): überall, ringsum
55 causam solvere: Schmerz, Krankheit vertreiben
56 umor, -oris m.: h. Rotz, Schleim
55 57 caligo, -inis f.: Augenschwäche, Schwindelgefühl 58 vesica, -ae: (Harn-)Blase 59 ren, renis m.:
Niere 60 accipere statt accipi
G8 61 digero 3,
-gessi, -gestum: verdauen 62 in omnibus = ad omnia:
in jeder Hinsicht, Beziehung
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4 f. radices confectas manducare: Das Einlegen und Haltbarmachen von Gemüse ist seit alters her bekannt. Dabei verwendete man zur Konservierung das so genannte Milchsäuregärungsverfahren, bei dem zuerst frisches Gemüse in einem irdenen Gefäß eingesalzen, gewürzt und mit
abgekochtem Wasser bedeckt wird; durch die Beifügung von Milchsäure, etwa in Form von Molke, kommt es unter luftdichtem Verschluss zur Gärung und damit zur Haltbarmachung des eingelegten Gemüses. Wie bei Columella (de re rustica XII 56) unter dem Titel „raporum conditura“ ausführlich beschrieben, wurden in der Antike vor allem Kohl, Lattich, Rettich und Weißkraut milchsauer vergoren.
47 electuarium accipere: Latwerge (electuarium) bezeichnet eine Arznei von dickbreiiger,
musartiger Beschaffenheit. Sie besteht aus Pulvern, die mit Pflaumenmus, Tamarindenmark,
Zuckerlösung oder Honig zu einem dicken Brei angerührt werden. Von den zahlreichen früher
gebräuchlichen Mischungen haben sich nur noch die Senna-Latwerge (electuarium sennae) als
Abführmittel für Kinder und der Theriak erhalten. In Süddeutschland nennt man musartige Fruchtspeisen generell Latwerge.
50 f. ad choleram deducendam et phlegma per ventrem: Der Text folgt hier im Wesentlichen
der hippokratischen Lehre von den Säften, die in der so genannten Humoraltherapie ihre medizinische Anwendung fand. Danach bilden die Säfte Blut, Schleim, gelbe und schwarze Galle, denen
in der angeführten Reihenfolge die Primärqualitäten feucht / warm, feucht / kalt, trocken / warm
und trocken / kalt sowie die
Jahreszeiten Frühling, Winter,
Sommer und Herbst zugeordnet werden, die Grundbestandteile des menschlichen
Organismus. Ihr Mischungsverhältnis ist ausschlaggebend für Gesundheit und
Krankheit. Weisen die Säfte
die
richtige
Mischung
’
(ε υκρασ ία / eukrasia) auf, so
ist der Körper gesund, ist dagegen das Mischungsverhältnis durch das Überwiegen
des einen oder durch das
zu geringe Vorhandensein
eines anderen Saftes gestört
Abb. 24: Pharmazeutisches Produzieren in einer islamischen Apotheke.
Aus: Dioskurides, Materia Medica. Bagdad 1224
(δυσκρασία / dyskrasia), so
bedeutet das Krankheit. Den vier Säften – Blut, Schleim, gelber und schwarzer Galle – wurden im
Laufe der Zeit weitere Entsprechungen zugeordnet, unter anderem die vier Elemente Luft, Wasser,
Feuer und Erde, die vier Lebensalter sowie geistig-seelische Eigenschaften, die, wie man glaubte,
aus dem Vorherrschen eines bestimmten Saftes resultierten; im Mittelalter wurden diese Vorstellungen zur Lehre von den vier Temperamenten, dem des Sanguinikers (Blut), des Phlegmatikers
(Schleim), des Cholerikers (gelbe Galle) und des Melancholikers (schwarze Galle), weiterentwickelt.
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16v ertiefung
1
Welche medizinischen Verfahren werden in diesem Text zur Verhinderung von Krankheiten
empfohlen?
2
Wo sind in diesem Text Elemente einheimischer Kräutermedizin erkennbar? Welche Begriffe
verweisen auf die griechische Tradition der Medizin?
3
Was lässt sich allgemein über die literarische Qualität dieses Textes aussagen?
4
Das Vokabular dieses Textes ist sehr beschränkt. Liste alle Wörter auf, die öfter als fünfmal
verwendet werden.
5
Die in den Handschriften überlieferte Version dieses Textes weicht erheblich von der obigen
textkritischen Fassung ab. Vergleiche den letzten Absatz (
Zeile 47 ff., S. 50) mit der
folgenden Originalfassung:
Mense Februario de pollice sanguinem minuare debet et oximelle conciciendum qui facit ad colera
deducenda et flegma per ventre et melancolico, quod plus invenitur habundare, expellit per vetrem et
causa in capite circum solvet etque ex humore nascitur aut caligo aut colera et ipsum non permitit
generare, visica curat et renis, cibus bene accipere facit et bene digerere in omnibus apptissimum est.
a Welche Unterschiede zwischen beiden Fassungen sind erkennbar?
b Warum ist deiner Meinung nach eine textkritische Bearbeitung eines lateinischen
Originaltextes notwendig?
c Fehler im Original können sowohl dem Autor als auch dem Kopisten unterlaufen sein.
Welche Abänderungen, so genannte Konjekturen, sind auf wahrscheinliche Fehler des
Autors, welche auf Fehler des Kopisten zurückzuführen? Welche Besonderheiten
entsprechen der damals üblichen Schreibweise des Lateinischen?
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M. Valerius Martialis,
epigrammata
Der Arzt, dein Feind und Henker
Da es in der ausgehenden Republik und den ersten beiden Jahrhunderten der Kaiserzeit keine Prüfungen und nur eine sehr beschränkte Verantwortlichkeit der Ärzte gab, drängten sich viele Unberufene, besonders aus den unteren Ständen, zur Ausübung dieser ars, die im Fall des Erfolgs sehr
einträglich war. Schuster, Zimmerleute, Färber, Schmiede gaben ihr Handwerk auf und wurden Ärzte, wie denn auch wohl Ärzte, denen Erfolg versagt blieb, das Leichenträger- oder Gladiatorenhandwerk ergriffen. Mit dem Sozialprestige der Ärzte stand es demnach in römischer Zeit nicht
zum Besten. Dazu kamen zahlreiche Vorurteile gegen eine für Laien kaum durchsichtige und daher mit dem Ruch des Mysteriösen umgebene Kunst, die durch die fortschreitende Spezialisierung
in die drei Fachgruppen der Chirurgen, der Augen- und der Ohrenärzte nicht transparenter wurde. Gerade an Augenärzten bestand reger Bedarf, so dass diese zahlenmäßig den größten Anteil
stellten. Es liegt nahe, dass sich die teils wohl begründeten, zum größeren Teil sicherlich unterbewussten Ängste der Bevölkerung ein Ventil suchten. Sie fanden ihren befreienden Niederschlag in
der Verspottung der Ärzte, die in Satire und Komödie anzutreffen ist, aber gerade im Epigramm mit
seinen vielfältigen Typen vom unfähigen über den dumm-dreisten, geldgierigen, diebischen, lüsternen, perversen bis hin zum geradezu diabolischen Mörder-Arzt zu einem Höhepunkt kommt.
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