Miss Sara Sampson - Theater Dortmund
Transcription
Miss Sara Sampson - Theater Dortmund
Begleitmaterial für Pädagogen „Miss Sara Sampson“ von Gothold Ephraim Lessing 1. Über die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels 2. Über das Bürgerliche Trauerspiel 3. Biographisches zu Lessing 4. Lessing als Kritiker der Gegenwartsdramatik, 1759 5. Über das Allgemein-Menschliche des tragischen Helden 6. Ausschnitte aus Briefen von Lessing 7. Aus: Das war´s dann wohl. Abschiedsbriefe von Männern, München 2009 8. Sara und Marwood 9. Kay Voges im WDR - Interview zum Text „Miss Sara Sampson“ 10. Textstellen für den Unterricht 1. Über die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels „Ich erinnere mich hier an einer anekdote, die mir von Leßing erzählt ist, und die, wenn sie wahr seyn sollte, den geringen werth anzeigen würde, den dieser große Kritiker der würkung seiner stücke auf den großen haufen beilegte. Leßing war mit Mendelsohn bey der vorstellung eines der französischen weinerlichen dramen zugegen. Der letzte zerfloß in thränen. Am ende des stücks fragte er seinen freund, was er dazu sagte? Das es keine Kunst ist, alte weiber zum heulen zu bringen, versetzte Leßing. Das ist leicht gesagt, aber nicht so leicht gethan, antwortete Mendelsohn. Was gilt die wette, sagte Leßing, in sechs wochen bringen ich ihnen ein solches stück. Sie giengen die wette ein, und am folgenden morgen war Leßing aus Berlin verschwunden. Er war nach Potsdam gereiset, hatte sich in eine dachstube eingemiethet, und kam nicht davon herunter. Nach verlauf von sechs wochen erschien er wieder bei seinem freunde, und Miß Sara Sampson war vollendet. “ Friedrich Wilhelm Basilius von Ramdohr, 1792 (zitiert nach Richard Daunicht: Die Entstehung des bürgerlichen Trauerspiels in Deutschland, Berlin 1965) Lessing muss gejubelt haben. Doch nicht nur vor, sondern auch auf der Bühne wurde heftig geheult: Nasse Wangen, überquellende Augen, Schluchzen am Busen eines Anderen galten als untrügliche Zeichen echter Gefühle von wegen wahre Männer weinen nicht. Schon in den ersten Zeilen seiner Miss Sara Sampson lässt Lessing die Tränen rollen. 2. Über das Bürgerliche Trauerspiel Die rührige Komödie, aus der es hervorging, verlagern den Ort der Handlung in die Intimität des Privatbereiches. Die Trennung der Gesellschaft in einen politisch-öffentlichen und einen moralisch-privaten Bereich ist charakteristisch für das Bürgerliche Gesellschaftsbild im 18. Jahrhundert. Der politisch-öffentliche Bereich wurde vom Hof repräsentiert, dem das klassizistische Drama einer seiner Repräsentationsformen war. Die politischen Machtverhältnisse und eine erstarrte feudale Sozialordnung – beides nicht mehr adäquater Ausdruck der ökonomischen Erstarkung des Bürgertums – verhinderten eine politische Emanzipation des Dritten Standes. Literatur und Familie waren Freiräume, in denen die bürgerlichen Ideale artikuliert bzw. praktiziert wurden, deren Realisierung im politischen Bereich vorerst noch Utopie bleiben musste. >Innerlichkeit<, >Empfindsamkeit<, >Moralität< ... bestimmten das Ethos des Bürgerlichen Trauerspiels, dem als Ideal eine harmonische Gesellschaftsordnung zu Grunde liegt. Diese spezifisch bürgerlichen Werte apostrophierte man als schlechthin allgemeinmenschlich. Galt die Familie als der Inbegriff des >natürlichen< Zusammenlebens, so der Hof – also der politisch-öffentliche Bereich – als die Inkarnation des Unnatürlichen und Lasterhaften, wo Intrige und Verstellung herrschten. So wird die >große Welt< in Miß Sara Sampson als >nichtswürdigste Gesellschaft von Spielern und Landstreichern< hingestellt und in Verbindung mit (adeliger) >Lebensart< genannt. Da Tugend und Empfindsamkeit als allgemein-menschliche Werte nicht allein an eine soziale Schicht gebunden waren, können sie sowohl von Bürgerlichen als auch von Adeligen verkörpert werden, was zu einer Aufhebung der >Ständeklausel< führen musste. Der Held ist in erster Linie Mensch, nicht Angehöriger einer sozialen Schicht. Die Gleichheit im ethischen Handeln hebt die sozialstrukturell bedingte Ungleichheit auf. Die Tragödie wurde zum Bürgerlichen Trauerspiel nicht allein deshalb, weil Bürgerlichen tragische Würde zuerkannt wurde, sondern durch die Ersetzung der stoischen Ideale der klassizistischen Tragödie durch bürgerlich-ethische; >bürgerlich< heißt in erster Linie >empfindsam<.« Volker Badstübner, in: Wilfried Barner (u.a.): Lessing. Epoche – Werk – Wirkung. Unter Mitwirkung von Volker Badstübner und Rolf Keller, München 1981 3. Biographisches zu Gotthold Ephraim Lessing * 22. Januar 1729 in Kamenz, † 15. Februar 1781 in Braunschweig G. E. Lessing wurde am 22. Januar 1729 als Pfarrerssohn in Kamenz geboren und studierte Theologie, Philosophie und Medizin in Leipzig und Wittenberg. Während seiner Studienzeit entstand sein erstes Drama: Der Junge Gelehrte (1748). In Wittenberg erhielt er die Magisterwürde. Lessing hielt sich dann in Berlin als Literatur- und Theaterkritiker auf. In dieser Zeit entstanden weitere Dramen. 1755 kehrte er zurück nach Leipzig, doch 1758 reiste er wieder nach Berlin. Dort gründete er mit dem Kritiker Christoph Friedrich Nicolai und dem Philosophen Moses Mendelssohn die Literaturzeitschrift Briefe, die neueste Literatur betreffend. Ab 1760 war Lessing fünf Jahre lang in den Diensten des Kommandanten von Breslau als Kriegssekretär tätig. 1767 nahm er eine Stelle im neugegründeten Deutschen Nationaltheater als Dramaturg in Hamburg an. Bereits nach einem Jahr scheiterte das Theater und Lessing ging darauf nach Wolfenbüttel, wo er bis zum Rest seines Lebens (1781) als Bibliothekar arbeitete. Lessing war ein vielseitig interessierter Dichter, Denker und Kritiker. Als führender Vertreter der deutschen Aufklärung wurde er zum Vordenker für das neue Selbstbewusstsein des Bürgertums. Seine theoretischen und kritischen Schriften zeichnen sich aus durch einen oft witzig-ironischen Stil und treffsichere Polemik. Das Stilmittel des Dialogs kam dabei seiner Intention entgegen, eine Sache stets von mehreren Seiten zu betrachten und auch in den Argumenten seines Gegenübers nach Spuren der Wahrheit zu suchen. Diese erschien ihm dabei nie als etwas Festes, das man besitzen konnte, sondern stets als ein Prozess des sich Annäherns. Der Gedanke der Freiheit – für das Theater gegenüber der Dominanz des französischen Vorbilds, für die Religion vom Dogma der Kirche – zieht sich wie ein roter Faden durch sein ganzes Leben. Folgerichtig setzte er sich auch für eine Befreiung des aufstrebenden Bürgertums von der Bevormundung durch den Adel ein. In seiner eigenen schriftstellerischen Existenz bemühte er sich ebenfalls stets um Unabhängigkeit. Sein Ideal eines Lebens als freier Schriftsteller ließ sich jedoch nur schwer gegen die ökonomischen Zwänge durchsetzen.. In vielen Essays betonte er, dass die englischen Dramen (v. a. von Shakespeare) den deutschen Dramatikern ein besseres Vorbild seien. Er wandte sich deshalb vom französischen Klassizismus stark ab und verdrängte ihn auch ganz aus der deutschen Literatur. Mit Miß Sara Sampson schuf er das erste bürgerliche Trauerspiel überhaupt, es folgten Minna von Barnhelm und die Tragödie Nathan der Weise. Mit dem Nathan schuf Lessing einen großen Beitrag für Toleranz gegenüber der Religionszugehörigkeit von Menschen. In seiner Hamburgischen Dramaturgie schrieb er seine Gedanken zur Dramentheorie nieder. • • • • • • • • • Der junge Gelehrte (1748) Der Freygeist (1749) Die Juden (1749) Miß Sara Sampson (1755) Fabeln (1759) Minna von Barnhelm (1767) Hamburgische Dramaturgie (1767/1768) Emilia Galotti (1772) Nathan der Weise (1779) 4. Lessing als Kritiker der Gegenwartsdramatik, 1759 (Lessing ist bis 1760 Hauptautor der von Nicolai herausgegebenen Zeitschrift »Briefe, die neueste Literatur betreffend«, hier erscheint u.a. Lessings berühmter »17. Literaturbrief« mit der Kritik an Johann Christoph Gottsched und dem Hinweis auf Shakespeare.) Den 16. Februar 1759 »Niemand, sagen die Verfasser der Bibliothek, wird leugnen, daß die deutsche Schaubühne einen großen Teil ihrer ersten Verbesserung dem Herrn Professor Gottsched zu danken habe.« Ich bin dieser Niemand; ich leugne es gerade zu. Es wäre zu wünschen, daß sich Herr Gottsched niemals mit dem Theater vermengt hätte. Seine vermeinten Verbesserungen betreten entweder entbehrliche Kleinigkeiten, oder sind wahre Verschlimmerungen. Als die Neuberin blühte, und so mancher den Beruf fühlte, sich um sie und die Bühne verdient zu machen, sahe es freilich mit unserer dramatischen Poesie sehr elend aus. Man kannte keine Regeln; man bekümmerte sich um keine Muster. Unsre Staats- und HeldenAktionen waren voller Unsinn, Bombast, Schmutz und Pöbelwitz. Unsre Lustspiele bestanden in Verkleidungen und Zaubereien; und Prügel waren die witzigsten Einfälle derselben. Dieses Verderbnis einzusehen, brauchte man eben nicht der feinste und größte Geist zu sein. Auch war Herr Gottsched nicht der erste, der es einsahe; er war nur der erste, der sich Kräfte genug zutraute, ihm abzuhelfen. Und wie ging er damit zu Werke? Er verstand ein wenig Französisch und fing an zu übersetzen; er ermunterte alles, was reimen und Oui Monsieur verstehen konnte, gleichfalls zu übersetzen; er verfertigte, wie ein Schweizerischer Kunstrichter sagt, mit Kleister und Schere seinen »Cato«; er ließ den »Darius« und die »Austern«, die »Elise« und den »Bock im Prozesse«, den »Aurelius« und den »Witzling«, die »Banise« und den »Hypocondristen«, ohne Kleister und Schere machen; er legte seinen Fluch auf das extemporieren; er ließ den Harlekin feierlich vom Theater vertreiben, welches selbst die größte Harlekinade war, die jemals gespielt worden; kurz, er wollte nicht sowohl unser altes Theater verbessern, als der Schöpfer eines ganz neuen sein. Und was für eines neuen? Eines Französierenden; ohne zu untersuchen, ob dieses französierende Theater der deutschen Denkungsart angemessen sei, oder nicht. Er hätte aus unsern alten dramatischen Stücken, welche er vertrieb, hinlänglich abmerken können, daß wir mehr in den Geschmack der Engländer, als der Franzosen einschlagen; daß wir in unsern Trauerspielen mehr sehen und denken wollen, als uns das furchtsame französische Trauerspiel zu sehen und zu denken gibt; daß das Große, das Schreckliche, das Melancholische, besser auf uns wirkt als das Artige, das Zärtliche, das Verliebte; daß uns die zu große Einfalt mehr ermüde, als die zu große Verwickelung etc. Er hätte also auf dieser Spur bleiben sollen, und sie würde ihn geraden Weges auf das englische Theater geführet haben. - Sagen Sie ja nicht, daß er auch dieses zu nutzen gesucht; wie sein »Cato« es beweise. Denn eben dieses, daß er den Addisonschen »Cato« für das beste Englische Trauerspiel hält, zeiget deutlich, daß er hier nur mit den Augen der Franzosen gesehen, und damals keinen Shakespeare, keinen Jonson, keinen Beaumont und Fletcher etc. gekannt hat, die er hernach aus Stolz auch nicht hat wollen kennen lernen. Wenn man die Meisterstücke des Shakespeare, mit einigen bescheidenen Veränderungen, unsern Deutschen übersetzt hätte, ich weiß gewiß, es würde von bessern Folgen gewesen sein, als daß man sie mit dem Corneille und Racine so bekannt gemacht hat. Erstlich würde das Volk an jenem weit mehr Geschmack gefunden haben, als es an diesen nicht finden kann; und zweitens würde jener ganz andere Köpfe unter uns erweckt haben, als man von diesen zu rühmen weiß. Denn ein Genie kann nur von einem Genie entzündet werden; und am leichtesten von so einem, das alles bloß der Natur zu danken zu haben scheinet, und durch die mühsamen Vollkommenheiten der Kunst nicht abschrecket. Auch nach den Mustern der Alten die Sache zu entscheiden, ist Shakespeare ein weit größerer tragischer Dichter als Corneille; obgleich dieser die Alten sehr wohl, und jener fast gar nicht gekannt hat. Corneille kömmt ihnen in der mechanischen Einrichtung, und Shakespeare in dem Wesentlichen näher. Der Engländer erreicht den Zweck der Tragödie fast immer, so sonderbare und ihm eigene Wege er auch wählet; und der Franzose erreicht ihn fast niemals, ob er gleich die gebahnten Wege der Alten betritt. Nach dem »Ödipus« des Sophokles muß in der Welt kein Stück mehr Gewalt über unsere Leidenschaften haben, als »Othello«, als »König Lear«, als »Hamlet« etc. Hat Corneille ein einziges Trauerspiel, das Sie nur halb so gerühret hätte, als die »Zayre« des Voltaire? Und die »Zayre« des Voltaire, wie weit ist sie unter dem »Mohren von Venedig«, dessen schwache Kopie sie ist, und von welchem der ganze Charakter des Orosmans entlehnet worden? Daß aber unsre alten Stücke wirklich sehr viel Englisches gehabt haben, könnte ich Ihnen mit geringer Mühe weitläuftig beweisen. Nur das bekannteste derselben zu nennen; »Doctor Faust« hat eine Menge Szenen, die nur ein Shakespearesches Genie zu denken vermögend gewesen. Und wie verliebt war Deutschland, und ist es zum Teil noch, in seinen »Doctor Faust«! Einer von meinen Freunden verwahret einen alten Entwurf dieses Trauerspiels, und er hat mir einen Auftritt daraus mitgeteilet, in welchem gewiß ungemein viel großes liegt. Sind Sie begierig ihn zu lesen? Hier ist er! - Faust verlangt den schnellsten Geist der Hölle zu seiner Bedienung. Er macht seine Beschwörungen; es erscheinen derselben sieben; und nun fängt sich die dritte Szene des zweiten Aufzugs an. [Faust und sieben Geister] Was sagen Sie zu dieser Szene? Sie wünschen ein deutsches Stück, das lauter solche Szenen hätte? Ich auch! Fll. Aus: Lessing: Briefe, die neueste Literatur betreffend, S. 67 ff. Digitale Bibliothek Band 1: Deutsche Literatur, S. 123947 5. Über das Allgemein-Menschliche des tragischen Helden „Die Namen von Fürsten und Helden können einem Stück Pomp und Majestät geben; aber zur Rührung tragen sie nichts bey. Das Unglück derjenigen, deren Umstände den unsrigen am nächsten kommen, muss natürlicher Weise am tiefsten in unsere Seele dringen; und wenn wir mit Königen Mitleiden haben, so haben wir es mit ihnen als mit Menschen, und nicht als mit Königen. Macht ihr Stand schon öfters ihre Unfälle wichtiger, so macht er sie darum nicht interessanter. Immerhin mögen ganze Völker darein verwickelt werden; unsere Sympathie erfordert einen einzeln Gegenstand, und ein Staat ist ein viel zu abstrakter Begriff für unsere Empfindungen. “ Gotthold Ephraim Lessing in der Hamburgischen Dramaturgie 6. Ausschnitte aus persönlichen Briefen von Lessing Brief an Nicolai In einem Briefwechsel, der sich über etwa ein Jahr hinzieht, setzen sich Lessing, Moses Mendelssohn und der Berliner Autor, Buchhändler und Aufklärer Friedrich Nicolai (17331811) ausführlich mit einer theoretischen Begründung des Trauerspiels auseinander. Lessing an Nicolai: Im Nov. 1756 Liebster Freund! (...) Es kann seyn, dass wir dem Grundsatze: Das Trauerspiel soll bessern, manches elende aber gutgemeinte Stück schuldig sind; es kann seyn, sage ich, denn diese Ihre Anmerkung klingt wenig sinnreich, als dass ich sie gleich für wahr halten sollte. Aber das erkenne ich für wahr, dass kein Grundsatz, wenn man sich ihr recht geläufig gemacht hat, bessere Trauerspiele kann hervorbringen helfen, als der: Die Tragödie soll Leidenschaften erregen.(...) Das meiste wird darauf ankommen: was das Trauerspiel für Leidenschaften erregt. In seinen Personen kann es alle möglichen Leidenschaften wirken lassen, die sich zu der Würde des Stoffes schicken. Aber werden auch zugleich alle diese Leidenschaften in den Zuschauern rege? wird er freudig? wird er verliebt? wird er zornig? wird er rachsüchtig? Ich frage nicht, ob ihn der Poet so weit bringt, dass er diese Leidenschaften in der spielenden Person billiget, sondern ob er ihn schon so weit bringt, dass er diese Leidenschaften selbst fühlt, und nicht bloß fühlt, ein andrer fühle sie? Kurz, ich finde keine einzige Leidenschaft, die das Trauerspiel in dem Zuschauer rege macht, als das Mitleiden. Sie werden sagen: erweckt es nicht auch Schrecken? erweckt es nicht auch Bewunderung? Schrecken und Bewunderung sind keine Leidenschaften, nach meinem Verstande. Was denn? (...) Das Schrecken in der Tragödie ist weiter nichts als die plötzliche Ueberraschung des Mitleides, ich mag den Gegenstand meines Mitleids kennen oder nicht. Z.E. endlich bricht der Priester damit heraus: Die Oepid bist der Mörder des Lajus! Ich erschrecke, denn auf einmal sehe ich den rechtschafnen Oepid unglücklich; mein Mitleid wird auf einmal rege. Ein ander Exempel: es erscheinet ein Geist; ich erschrecke: der Gedanke, dass er nicht erscheinen würde, wenn er nicht zu des einen oder zu des andern Unglück erschiene, die dunkle Vorstellung dieses Unglücks, ob ich den gleich noch nicht kenne, den es treffen soll, überraschen mein Mitleid, und dieses überraschte Mitleid heißt Schrecken. Belehren Sie mich eines Bessern, wenn ich Unrecht habe. Nun zur Bewunderung! Die Bewunderung! O in der Tragödie, um mich ein wenig orakelmäßig auszurücken, ist das entbehrlich gewordene Mitleiden. Der Held ist unglücklich, aber er ist über sein Unglück so weit erhaben, er ist selbst so stolz darauf, dass es auch in meinen Gedanken die schreckliche Seite zu verlieren anfängt, dass ich ihn mehr beneiden, als bedauern möchte. Die Staffeln sind also diese: Schrecken, Mitleid, Bewunderung. Die Leiter heißt: Mitleid; und Schrecken und Bewunderung sind nichts als die ersten Sprossen, der Anfang und das Ende des Mitleids. (...) Das Schrecken braucht der Dichter zur Ankündigung des Mitleids, und Bewunderung gleichsam zum Ruhrpunkt desselben. Der Weg zum Mitleid wird dem Zuhörer zu lang, wenn ihn nicht gleich der erste Schreck aufmerksam macht, und das Mitleiden nützt sich ab, wenn es sich nicht in der Bewunderung erholen kann. Wenn es also wahr ist, dass die ganze Kunst des tragischen Dichters auf die sichere Erregung und Dauer des einzigen Mitleidens geht, so sage ich nunmehr, die Bestimmung der Tragödie ist diese: sie soll unsere Fähigkeit, Mitleid zu fühlen, erweitern. Sie soll uns blos lehren, gegen diesen oder jenen Unglücklichen Mitleid zu fühlen, sondern siel soll uns so weit fühlbar machen, dass uns der Unglückliche zu allen Zeiten, und unter allen Gestalten, rühren und für sich einnehmen muß. Und nun Berufe ich mich auf einen Satz, den Ihnen Herr Moses vorläufig demonstriren mag, wenn Sie, Ihrem Gefühl zum Trotz daran zweifeln wollen. Der mitleidigste Mensch ist der beste Mensch, zu allen gesellschaftsfähigen Tugenden, zu allen Arten der Großmuth der auferlegteste. Wer uns also mitleidig macht, macht uns besser und tugendhafter, und das Trauerspiel, das jenes thut, thut auch dieses, oder – es thut jenes, um dieses thun zu können Zitiert nach: G.E. Lessings Schriften. 6Tle.Berlin, 1755 7. Das war´s dann wohl. Abschiedsbriefe von Männern, München 2009 Aus: Sybille Berg (Hg.): Eugene O`Neill (1888-1953), amerikanischer Dramatiker, 1936 mit dem Nobelpreis für Literatur ausgezeichnet, sammelte auch auf der Bühne seines Lebens Tragödien um sich herum. Seine erste Ehe scheiterte 1912 nach zwei Jahren. Eugene O`Neill, bereits in jungen Jahren dem Alkohol verfallen, versuchte, sich umzubringen. Was ihm nicht gelang, schaffte der aus der Ehe entsprungene Sohn Eugene jr. 1950 im Alter von vierzig Jahren. Auch der heroinabhängige zweite Sohn Shane, der aus der 1918 geschlossenen Ehe mit Agnes Boulton hervorging, schied durch Freitod aus dem Leben. Das zweite Kind der beiden, die Tochter Oona, wurde von O´Neill verstoßen, nachdem sie achtzehnjährig, Charlie Chaplin geheiratet hatte. (...) In dem nachfolgenden Brief verabschiedet sich der Schriftsteller wegen seiner beginnenden Affäre mit Carlotta Monterey von seiner zweiten Ehefrau Agnes Boulton. Liebste Ines, Montagabend, 26. Dezember 1927 (...)Ich liebe jemand anderen. Sehr innig. Daran besteht nicht der geringste Zweifel. Und dieser jemand liebt mich. Dessen bin ich mir absolut sicher. Und unter diesen Umständen fühle ich mich außerstande, mit Dir zu leben, auch wenn du dies von mir verlangen würdest – was du sicherlich nicht tust, davon bin ich überzeugt-, wäre es doch für Dich eine noch tiefere Erniedrigung Deiner edlen Gefühle als für mich, den Versuch zu unternehmen, aus welchen Gründen auch immer, den Anschein von Mann und Frau zu wahren. (...) Es hat Momente gegeben, da unsere Liebe wieder aufflackerte, doch Du musst zugeben, dass diese immer seltener wurden. Auf der anderen Seite wurden Momente von grausamen Hass sichtbar, eine giftige Bitterkeit und Abneigung, ein grausames Verlangen zu verletzen, Wut, Frustration und Rache. Das hat unsere Chancen auf ein gemeinsames Glück zerstört. Unsere Ehre und unsere Selbstachtung wurden zu oft gekränkt, es gab zu viele hässliche Szenen, die man vielleicht vergeben, im tiefsten Inneren aber nicht vergessen kann und die eine Liebe egal wie stark sie ist, weder überstehen noch überdauern kann. Ich gebe Dir keine Schuld. Ich war genauso daran beteiligt, vielleicht noch mehr als Du. Eigentlich trägt keiner von uns beiden Schuld. Es ist das Leben, das uns zu dem gemacht hat, was wir sind. (...) Objektiv betrachtet bin ich davon überzeugt, dass Dir die Freiheit, zu tun, was Du möchtest, viel bedeutet. (...) Ich meine, lass Dich von mir scheiden. Dies hatten wir für den Fall ausgemacht, der jetzt eingetreten ist, nicht wahr? Es ist die einzig faire Lösung – genauso fair für Dich wie für mich, da es uns beiden Freiheit schenkt. (...) Wenn du Deinen Weg gefunden hast, damit umzugehen, wäre ich äußerst dankbar, wenn Du Deine Ankunft bis nach den Premieren verschieben würdest. Es wird nicht leicht für dich sein, zu tun, was wir tun müssen, und für mich wäre es ungeheuer schwierig, dann auch nur an meine Stücke zu denken, gerade wenn sie meine Gedanken am nötigsten brauchen. Doch wenn Du meinst, jetzt kommen zu müssen, dann tu es. Ich möchte nicht egoistisch sein, was dies betrifft. (...) Küss Shane und Oona von mir. Meine tiefste Zuneigung an Dich! Gene 8. Sara und Marwood Gerhard F. Hering im Berliner Tagesspiegel, 21. Januar 1979 In Sara und Marwood thematisiert das Trauerspiel zweimal das gesellschaftliche Schicksal der Frau. Beide Figuren sind im Maßstab bürgerlicher Rationalität und empfindsamer Moral entworfen, die die männlichen Protagonisten des Stücks, Sir William und Mellefont, vertreten. Während Sara den geltenden Normen der väterlichen Autorität schließlich aufs Schönste entspricht, werden solche Normen von der Marwood durchbrochen. „Der will sich nichts wagen“, sagt sie, „der sich mit kaltem Blute wagen will.“ ‚Geschöpf Mellefonts’ ist die Marwood nur insoweit, als sie nach seinem Wunsch auf die Legalisierung ihrer Beziehung verzichtet und den psychischen und sozialen Preis seines Rückzugs zu tragen hat. Aber sie rebelliert gegen das ihr zugedachte Schicksal der verlassenen Frau, die nach der Entscheidung des Mannes gegen sie weder emotionale noch materielle Ansprüche gelten machen darf. Erst der Widerstand der Marwood gegen das ihr gesellschaftlich zugedachte weibliche Schicksal erklärt ihren `vorbürgerlichen`, heroischen Charakter, die Nähe zu Medea, die sie im bürgerlichen Trauerspiel als Fremde erscheinen lässt. Sie erscheint als Fremde, weil sie den Verhaltensmustern der übrigen Figuren Hohn spricht, und sie erscheint in ihm doch mit Notwendigkeit, weil sie die psychische und sozialen Kosten repräsentiert, die die bürgerliche Rationalität und Moral dem Einzelnen abverlangen. (...) Die „Vorbürgerlichkeit“ der Marwood, ihre Unangepasstheit an die fürs Bürgertum geltenden Verhaltensnormen, ist das Eingeständnis Lessings, dass es einiges gibt, darunter die sinnliche Natur, das die empfindsame Moral nicht integrieren kann und folglich unterdrücken muss. Und wenn Mellefont sich auf Vernunft und Notwendigkeit beruft, um der Marwood die im bequeme Lösung aufzuzwingen, lässt die Vernünftigkeit der „rasenden“ Marwood erkennen, dass die Aufklärung mit der Sache der allgemeinen Vernunft auch noch deren Korrumpierbarkeit zugunsten egoistischer Interessen zu verhandeln hat. Rolf-Peter Janz, Sie ist die Schande ihres Geschlechts. Die Figur der femme fatale bei Lessing. In: Jahrbuch der Deutschen Schiller-Gesellschaft 23, 1979 9. Kay Voges im WDR - Interview 2009 „Zeitzeichen“ zum Text „Miss Sara Sampson“ „Die Problematik der Liebe ist eine zeitlose Problematik. Wenn wir heute viele Jahre später Szenen einer Ehe anschauen, dann sind das die gleichen Themen noch, die Sprache hat sich ein bisschen verändert, die Konflikte sind die gleichen geblieben und auch die Methoden, mit denen die Liebenden gegeneinander oder miteinander kämpfen und ringen.“ „Der Mellefont, der Zauderer, der einen eigentlich schon an einen Hamlet erinnern lässt. Es ist nicht nur ein Liebesdrama, sondern es ist auch gleichzeitig das Portrait eines Zweiflers, der nicht von der Stelle kommt. Die Marwood ist eine Frau, die so tief verletzt ist und solche Rachegelüste entwickelt, was antike Größe hat wie eine Medea. Bei Miss Sara Sampson ist sie nicht weniger archaisch und auch nicht weniger zeitgemäß.“ „Wenn man das mitliest, dann ist der Begriff Tugend relativiert, da geht es um Erziehung die man verlässt, um eine Prägung die man versucht abzuschütteln und die einem Schuldgefühle mitgibt und ich glaube, dass auch wir heute durch unsere Erziehung, unsere Prägung, durch unsere gesellschaftlichen Systeme, in denen wir groß werden, mit den gleichen Schuldgefühlen in Beziehungen hineingehen wie das vor 250 Jahren der Fall war.“ „Es geht nicht um die Frage nach Tugend sondern nach Schuld, wo fühle ich mich schuldig, dass ich dich liebe oder wo kann ich eins mit mir sein? Saras Problem ist, dass sie nicht eins mit sich ist, das sie ein Bild von Liebe hat, das mit Hochzeit und Frieden mit dem Vater zu tun hat.Die Marwood hat ein Bild, in dem Hochzeit nicht wichtig ist, aber der Vater muss bei seinem Kind und seiner Frau sein. Dafür kämpfen die Beiden und ob man das jetzt Tugend nennt oder Amoral, es sind Liebesbilder.“ „Wie ein Arzt seziert er (Lessing) Stück für Stück Sehnsüchte und verschiedene Liebesdefinitionen aus den Figuren heraus und lässt sie aufeinander rasen. Wenn man diese Figuren gar nicht von Oben herab betrachtet und sie verurteilt, sondern sie ernst nimmt, Jeden in seinen Sehnsüchten, in seinen Ängsten und in seinen Zweifeln, dann kommt da ein höllisches Gebräu dabei raus und das ist das große Drama, welches dieses Stück fast wie einen Krimi erzählen lässt.“ „Ich glaube Lessing hat ein Labor der Liebe geschaffen.“ 10. Textstellen für den Unterricht Ausschnitt 1 Marwood. Rechne darauf, dass ich alles anwenden werde, dich zu vergessen. Und das erste, was ich in dieser Absicht tun werde, soll dieses sein.....Zittre für deine Bella! Ihr Leben soll das Andenken meiner verachteten Liebe auf die Nachwelt nicht bringen; meine Grausamkeit soll es tun. Sieh in mir eine neue Medea! Mellefont Marwood - - Marwood. Ich will sie nicht gestorben sehen; sterben will ich sie sehen! Durch langsame Martern will ich in ihrem Gesicht jeden ähnlichen Zug, den es von dir hat, sich verstellen, verzerren und verschwinden sehen. Ich will mit begieriger Hand Glied von Glied, Ader von Ader, Nerve von Nerve lösen... Ich – Ich werde wenigstens dabei empfinden, wie süß die Rache sei! Himmel, was habe ich gesagt? -Was willst du tun, Mellefont? ( Wo sind die Parallelen zu Medea? Was setzen verschmähte Liebende ein, um den Verlust des Partners auf zu halten?) Ehepaarübung, Statuswechsel, Wutzettelspiel Ausschnitt 2 Waitwell. Miß Sara - hören Sie doch auf, er lebt ja noch, Ihr Vater; er lebt ja noch. Ach, Sir William ist noch immer der zärtliche Vater, so wie sein Sarchen noch immer die zärtliche Tochter ist. Nehmen Sie diesen Brief, Miß; er ist von ihm. Sara. Von wem? Von meinem Vater? Nein, ich will ihn nicht eher nehmen, als bis du mir sagst, was ungefähr darin enthalten ist. Waitwell. Was kann darin enthalten sein? Liebe und Vergebung. Sara. Liebe? Vergebung? ... Wenn er mir vergibt, so muß er mein ganzes Verbrechen vergeben und sich noch dazu gefallen lassen, die Folgen desselben vor seinen Augen fortdauern zu sehen. Er nennt meine Flucht eine Abwesenheit. - Er schmeichelt sich, ich würde ihn noch lieben. Er gedenkt meines Verbrechens nicht mit einem Buchstaben. - Er will kommen und seine Kinder selbst zurückholen. Seine Kinder, Waitwell! - Er sagt, derjenige verdiene nur allzuwohl sein Sohn zu sein, ohne welchen er keine Tochter haben könne. - Oh! hätte er sie nie gehabt, diese unglückliche Tochter! Er verlangt eine Antwort, und ich will sie sogleich machen. Frag in einer Stunde wieder nach. Waitwell! Danke. (Liebe ohne Grenzen, Was würdest du für die Liebe tun?) Blickkontaktübung, Blick halten, Kreisübungen, Begriffe zuwerfen, Partner-Übertreibungsspiel (immer größer...) Ausschnitt 3 Sara. Auch Sie, Lady, müssen den Brief meines Vaters lesen. Er vergibt uns. Sie scheinen allzuviel Anteil an unserm Schicksale zu nehmen, als daß es Ihnen gleichgültig sein könnte. Marwood. Mir gleichgültig, Miß? Sara Was fehlt Ihnen? Marwood. Es ist nichts, Miß, als ein kleiner Schwindel, welcher vorüber gehn wird. Die Nachtluft muß mir auf der Reise nicht bekommen sein. Mellefont. Sie erschrecken mich, Lady - ist es Ihnen nicht gefällig, frische Luft zu schöpfen? Marwood. Wenn Sie meinen, so reichen Sie mir Ihren Arm. Sara. Ich werde Sie begleiten, Lady. ( Eine Botschaft kommt und ändert alles gründlich, eine Schwäche, eine Ausrede, eine Ausflucht erfinden, Übung: Emotionales Hallo bis Geschichten erfinden ) Ausschnitt 4 Monolog Mellefont. Wofür soll ich mich halten? Was für ein Rätsel bin ich mir selbst! Ich liebe Sara, ja, gewiß, ich liebe sie. Und doch...fürchte ich mich vor dem Augenblick, der sie auf ewig zu der Meinigen machen wird. - Er ist nun nicht zu vermeiden; denn der Vater ist versöhnt. Auch weit hinaus werde ich ihn nicht schieben können. Die Verzögerung der Hochzeit hat mir schon schmerzhafte Vorwürfe genug zugezogen. - Aber sie waren mir doch erträglicher als der Gedanke, auf zeitlebens gefesselt zu sein. Aber bin ich es denn nicht schon? Und mit Vergnügen? Was will ich also? Das! Sara! Jetzt bin ich ein Gefangener, den man frei herumgehen läßt: das schmeichelt. Warum kann es nicht so bleiben? Warum muß ich eingeschmiedet werden? Sara Sampson, meine Geliebte! Wieviel Seligkeiten liegen in diesen Worten. Sara Sampson, meine Ehegattin... Die Hälfte dieser Seligkeiten ist verschwunden! Und die andere Hälfte - wird verschwinden... Vermaledeite Einbildungen die mir durch ein zügelloses Leben so natürlich geworden. Ich muß ihrer los werden(Wann empfinden wir Enge, was macht uns Angst, hält uns fest, verbaut uns die Zukunft? Übungen von da will ich hin, Umschalter, bis ich wünsche mir...) Ausschnitt 5 Sir William. Warum vergab ich dir nicht gleich? Warum setzte ich dich in die Notwendigkeit, mich zu fliehen? Und als ich dir schon vergeben hatte, was zwang mich, erst eine Antwort von dir zu erwarten? Ein heimlicher Unwille mußte in einer der verborgensten Falten des betrognen Herzens zurückgeblieben sein. Mellefont. Warum kamen Sie nicht eher? Sie kommen zu spät, Ihre Tochter zu retten! Aber nur getrost! Sich gerächet zu sehen, dazu sollen Sie nicht zu spät gekommen sein. Sir William. Erinnern Sie sich, Mellefont, in diesem Augenblicke nicht, daß wir Feinde gewesen sind! Wir sind es nicht mehr und wollen es nie wieder werden. ( Vergebung ohne Hass, Partnerübungen zum Zugeben, Arm Druck Körperkontakt bis Sprache: Ja, ich vergebe dir) Kontakt Sarah Jasinszczak /Theaterpädagogik Schauspiel Tel. 0231/50 22 555 oder unter: Theater Dortmund Kuhstr. 12, 44137 Dortmund oder [email protected]