vernetzte welten - Deutsches Archäologisches Institut

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vernetzte welten - Deutsches Archäologisches Institut
Archäologie Weltweit – Zweiter Jahrgang – Berlin, im April 2014 – DAI
Wenn wir unser
kulturelles Erbe erhalten
wollen, brauchen wir
Ihre Unterstützung.
TWG
1 t 2014
Wie Sie uns helfen
Ausschnitt aus einer
Wandmalerei mit der
Darstellung eines
Frauenkopfes. 13. Jh. v. Chr.
Foto: A. Papadimitriou: Tiryns.
Historischer und archäologischer Führerw, Athen 2001
können, sehen Sie hier:
W W W. T W G E S . D E
Gesellschaft der Freunde des
Deutschen Archäologischen Instituts
Theodor Wiegand Gesellschaft e.V.
Wissenschaftszentrum Bonn
Der Zahn der Zeit nagt an den Antiken, unser Kulturerbe ist an vielen Stellen gefährdet und muss restauriert werden.
Ahrstraße 45, 53175 Bonn
Zwischen 1400 und 1200 v. Chr. entstand im Süden des Peloponnes ein stark befesDorothea Lange
tigter Palast mykenischer Art, eine Art Musterzitadelle, deren mächtige Mauern noch
Tel.: +49 228 30 22 64
lange sichtbar blieben: Tiryns. Lebhaft farbige Fresken von großer Schönheit zeigten
Fax: +49 228 30 22 70
dem Besucher das, was ihn selbst herführte: eine Prozession zum Allerheiligsten im
[email protected]
Zentrum des Palastes.
Heinrich Schliemann initiierte 1876 den ersten Zyklus von Ausgrabungen in Tiryns
Theodor Wiegand Gesellschaft
– er währte bis 1920. Das DAI nahm 1967 die Grabungen wieder auf. Neue Maßstäbe
Deutsche Bank AG, Essen
in der Erforschung des Ortes setzte dabei die von Klaus Kilian geleitete Großgrabung
Konto Nr. 247 194 400
in der Unterburg von 1976 bis 1983, durch welche die Nutzung und die Konzeption
BLZ 360 700 50
der Bebauung dieses Siedlungsteiles in mykenischer Zeit geklärt werden konnte. Seit
oder
1994 leitet Joseph Maran, Universität Heidelberg, das Vorhaben im Auftrag des DAI.
Sparkasse Köln-Bonn
1999 erweckten Neufunde von Wandmalereien erneut das Interesse an den Fresken,
Konto Nr. 290 058 08
die bereits 1910 im Schutt gefunden worden waren – besonders, nachdem sie mit den
BLZ 370 501 98
Altfunden, die durch Gerhart Rodenwaldts Publikation bekannt geworden waren, in
Zusammenhang gebracht werden konnten.
Ihre Spenden sind
steuerbegünstigt.
Vielen Dank!
TITELTHEMA
2009 konnte die Restaurierung der Altfunde abgeschlossen werden. Nun steht die restauratorische Arbeit an den Neufunden an.
www.dainst.org
VERNETZTE WELTEN
Mobilität, Migration und Handel in der Antike
R E P O R TA G E
S TA N D P U N K T
INTERVIEW
Phönizisch-Iberisches
Joint Venture
Vernetzte Forschung –
Vernetzte Welten
Verbindung und Barriere –
Mittelmeerstudien
mit neuer Bedeutung
ARCHÄO LO G I E W ELT W EIT
In der nächsten Ausgabe von Archäologie Weltweit
Orte in dieser Ausgabe
Spanien, Los Castillejos de Alcorrín. Reportage, Seite 12
Arabische Halbinsel, Weihrauchstraße. Titelthema, Seite 36
Peru, Palpa. Cultural Heritage, Seite 20
Das Mittelmeer und seine Anrainer. Titelthema, Seite 36
Russische Föderation, Kimmerischer Bosporus,
Deutschland, München. Alltag Archäologie, Seite 76
Taman-Halbinsel. Landschaft, Seite 28
Türkei, Thrakischer Bosporus. Landschaft, Seite 28
Tadjikistan, Duschanbe. Das Objekt, Seite 34
Berlin, Zentrale des Deutschen
Marokko, Essaouira. Titelthema, Seite 36
Archäologischen Instituts
HEILIGTÜMER
DA S T ITE L B I L D
Eine kleine Insel vor der marokkanischen Atlantikküste
– in der Antike noch eine Landzunge – war der Treffpunkt der westphönizischen Seehandelsroute mit einer afrikanischen Karawanenstraße. Hier wurde gekauft und getauscht, man erzählte sich Geschichten
und berichtete einander die neuesten Nachrichten aus
allen Ecken der Welt. Die begehrten Güter waren Fisch
in großen Mengen, Elfenbein, Metalle, exotische Tiere,
das bernsteinähnliche Harz von Thuja berberiska/citrus
und kostbare Spezereien.
Unser Titelbild zeigt Essaouira, die Stadt auf dem Festland. Sie wurde bis in die sechziger Jahre hinein ‚Hafen
von Timbuktu’ genannt. Immer noch trafen hier die Karawanen aus dem afrikanischen Hinterland ein, und alle
europäischen Handelsmächte unterhielten Konsulate
in der Kleinstadt an der Küste.
EDITORIAL
EDITORIAL
LIEBE LESERIN, LIEBER LESER,
Prof. Dr. Friederike Fless
Präsidentin des Deutschen
Archäologischen Instituts
Foto: Lejeune
„Vernetzung“ ist Dauerthema in allen
Lebensbereichen, und die globale Welt
scheint geradezu ein Produkt neuer Formen von Vernetzung zu sein. Wie anders
scheint da die Welt der Antike gewesen zu
sein. Sie wird gerne als „die alte Zeit“,
als ein eher träges, adynamisch stagnierendes Gebilde wahrgenommen – besonders wenn es um Wirtschaft, um Politik
und um internationale Beziehungen geht.
Somit, so geht der Gedanke weiter, sei die
Antike das völlige Gegenteil all dessen,
was wir heute sind. Doch „die Antike“ war
ebenso bewegt und international vernetzt
wie die Gegenwart, wenn auch mit einer
anderen Grundgeschwindigkeit. Mithin ist
auch die Archäologie als Wissenschaft
so international und vernetzt, wie ihre
„Gegenstände“ es waren, verknüpft mit
Partnern in den Gastländern ihrer Forschung, in ständigem Austausch und
immer mit der Herausforderung konfrontiert, sehr unterschiedliche wissenschaftliche, politische und ökonomische Anforderungen als Ganzes im Blick zu behalten.
Im Deutschen Archäologischen Institut
ist die grenzüberschreitende Vernetzung
sogar schon in seiner Gründungsgeschichte
angelegt, seit sich 1829 in Rom ein Kreis
internationaler Gelehrter und Diplomaten
zusammenschloss, um die unterschiedlichen Kompetenzen miteinander zu verbinden und um die internationale Vernetzung
in der Erforschung der Antike voranzutreiben. Natürlich haben sich die Aufgaben
der Archäologie seit dieser Zeit verändert,
ihre Methoden haben sich um Ansätze
erweitert, an die vor fast 200 Jahren niemand dachte. Und wo einmal das Objekt
im Mittelpunkt des Interesses stand, sind
es heute die kulturellen Kontexte, zu
denen die Archäologie arbeitet – ganz im
Sinne international und wissenschaftlich
fachübergreifender Area Studies. Dabei
kann sie zugleich vermeintliche Kontinuitäten kritisch hinterfragen, wenn diese –
wie so oft – dazu dienen, heutige Probleme aus der Vergangenheit zu erklären,
ganz nach dem beliebten Muster: „Das
war schon immer so“. Doch ein solcherart
immer wieder auftauchender Chronodeterminismus – wenn man es einmal auf
einen Begriff bringen will – versperrt nur
den adäquaten Blick in die Antike und
verhindert auch ein angemessenes Verständnis unserer Zeit.
Mobilität, Migration und Handel in antiken
Kulturen sind Schwerpunkt des Titelthemas in dieser Ausgabe von Archäologie
Weltweit, die „Reportage“ berichtet von
einer phönizischen Gründung auf der Iberischen Halbinsel, das „Interview“ verrät
etwas über mediterrane Studien in den
Altertumswissenschaften, und im „Porträt“
ist nachzulesen, mit wem zwei Spitzenposition im DAI neu besetzt sind.
Viel Vergnügen bei der weiteren Lektüre
wünscht Ihnen
Ihre
Prof. Dr. Friederike Fless
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 1
4
12
NACHRICHTEN
REPORTAGE
Los Castillejos de Alcorrín
28
12
Landschaft
PA S S A G E N
Von Bosporus zu Bosporus
INHALT
Reportage
LO S C A S T I L L E J O S D E A LCO R R Í N
An der Küste, die heute Costa del Sol genannt
wird, entstand eines der ersten größeren
phönizisch-iberischen Joint Ventures
20
CULTURAL HERITAGE
El Señor de Palpa – Peruanische Grabanlagen,
mit denen niemand gerechnet hatte
26
STANDPUNKT
Vernetzte Forschung – Vernetzte Welten
28
LANDSCHAFT
Passagen – Von Bosporus zu Bosporus
34
DAS OBJEKT
Bewegter Kampf – Eine Schwertscheide aus Baktrien
Waldgirmes
Taganrog
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TITELTHEMA
Mobilität, Migration und Handel in der Antike
40
Wohltuender Reichtum – Die Weihrauchstraße
46
Mediterrane Kontinentalverbindung –
Die internationale Welt der Phönizier
Nizza
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Rom
VERNE TZTE WELTEN
56
Euböa
Levante
Berytos
Byblos
Sidon
Tyros
M O B I L I TÄT, M I G R AT I O N U N D H A N D E L I N D E R A N T I K E
Mogador
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64
D E R A B K L AT S C H
Eine Lesekunst der erhabenen Art
76
2 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Elaia – Der Hafen von Pergamon
Imperium zu Wasser und zu Land –
Die Römer verändern die antike Welt
67
70
Alltag Archäologie
Blick nach Westen und nach Osten –
Die Große Griechische Kolonisation
Metapont
Alcorrín
Häfen auf der Iberischen Halbinsel
Waldgirmes, ein kolonialer Außenposten
INTERVIEW
Mit Prof. Dr. Felix Pirson
Panorama
DIE FORSCHUNG
AU F R E I S E N
Unterwegs –
Das Reisestipendium
des DAI
Das Mittelmeer. Verbindung und Barriere
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IM PORTRÄT
72
Eszter Bánffy
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Philipp von Rummel
76
ALLTAG ARCHÄOLOGIE
Der Abklatsch – Eine Lesekunst der erhabenen Art
82
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STANDORT
Das Architekturreferat an der Berliner Zentrale
82
PANORAMA
Unterwegs – Das Reisestipendium des DAI
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IMPRESSUM, VORSCHAU
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 3
INHALT
Ein phönizisch-iberisches Joint Venture
Das Ramesseum
in Luxor
NACHRICHTEN
Foto: Ryckaert
NACHRICHTEN
Der Workshop zum Thema Kulturgüter-Raub fand im marokkanischen Casablanca statt.
Ausgeraubt und verwüstet
Kampf gegen illegalen Handel mit Kulturgütern
Der illegale Handel mit unschätzbaren Kulturgütern ist inzwischen der drittgrößte
Sektor krimineller Geschäfte nach illegalem Drogen- und Waffenhandel. Das
Gesamtvolumen dieses Schwarzmarkts
wird auf 10 Milliarden US-Dollar geschätzt.
„Der Gentleman-Kunstdieb, wie er von
Hollywood gezeigt wird, ist nicht die Realität“, heißt es denn auch auf der Website
der Initiative „Africa-EU Partnership“, die im
Januar 2014 im marokkanischen Casablanca einen Workshop zum illegalen Handel mit geraubten Kulturgütern veranstaltete. “The Fight against Illicit Trafficking of
Cultural Goods” wurde mit Unterstützung
des „Joint Africa EU Strategy Support
Mechanism“ organisiert. Der Workshop
diente der Vorbereitung des EU-afrikanischen Gipfels im April 2014 in Brüssel.
Unter der Leitung des Beauftragten für
Kulturgüterschutz und Site Management
des Deutschen Archäologischen Instituts
(DAI), Dr. Friedrich Lüth, reiste eine DAIDelegation nach Marokko, um im Kreise
von 80 Experten aus europäischen und
afrikanischen Ländern mögliche Maßnahmen zur Bekämpfung der kriminellen Aktivitäten zu entwickeln.
4 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Der illegale Handel mit Kulturgütern
wächst rasant, keine Region der Erde ist
heute noch davon verschont. Die Öffnung
der Grenzen, die steigende Zahl der Konflikte, zunehmende Armut und die nach
oben offenen Preise für gestohlenes Kulturgut auf den internationalen Märkten
verschlimmern die Sitaution zusehends.
Organisiert wird der Handel von Banden,
die verkaufen, was sie zuvor in der Regel
in Raubgrabungen erbeutet haben. Der
finanzielle Schaden ist immens, die Zerstörung des kulturellen Erbes ist nicht wieder
gut zu machen. Die lokale Bevölkerung
verliert nicht nur Ankerpunkte ihres kulturellen Gedächtnisses, sondern auch Einnahmequellen aus nachhaltigem Tourismus an archäologischen Stätten. Die Diebe
hinterlassen die Plätze zumeist völlig verwüstet.
Während des 3-tägigen Workshops entwickelten die Experten einen Katalog
unverzichtbarer Maßnahmen und Initiativen, die innerhalb der Partnerschaft afrikanischer und europäischer Länder abgestimmt und durchgeführt werden sollen,
allen voran die Sensibilisierung der Händ-
ler und Museen sowie auch der Polizei und
der Zollbehörden und darüber hinaus die
Vernetzung aller Beteiligten. Große Bedeutung im Kampf gegen Raub und illegalen
Handel mit Kulturgütern wird aber vor
allem der Einbindung der lokalen Bevölkerung beigemessen – durch Aufklärung
und nachhaltige Informationen über die
Bedeutung des eigenen kulturellen Erbes.
„Wir können nur schützen, was wir kennen“, erklärt DAI-Präsidentin Prof. Dr. Friederike Fless. Die Erfassung der archäologischen Stätten und Kulturgüter sowie die
Errichtung digitaler Verzeichnisse und
einer internationalen zentralen Datenbank
seien daher von vordringlicher Wichtigkeit. Fless sagte ferner zu, Expertise und
Infrastruktur des DAI im Bereich Kulturgüterschutz in internationalen Kooperationen zur Verfügung zu stellen.
Erhalten und Bewahren
Deutsch-ägyptischer Studiengang
„Heritage Conservation and Site Management“
Der romantische Blick auf das Land am Nil
und seine Jahrtausende alte Geschichte,
die sich in unvergleichlichen Bauwerken
manifestiert und deren Anblick man nie
wieder vergisst, macht manchmal vergessen, dass der Wirtschaftszweig, der Touristen nach Ägypten führt, einer der wichtigsten in Ägypten überhaupt ist und bis
vor Kurzem 10 Prozent des Bruttoinlandproduktes ausmachte.
Das Deutsche Archäologische Institut
beteiligt sich an dem neuen englischsprachigen Masterstudiengang „Heritage Conservation and Site Management“, den die
Helwan Universität Kairo und die Brandenburgische Technische Universität CottbusSenftenberg (BTU) gemeinsam konzipiert
haben.
Das Studienprogramm wird Kenntisse und
Fähigkeiten für die Verwaltung und das
Management archäologischer Stätten vermitteln. Seine Schwerpunkte liegen auf
der Lehre in akademischen Feldern wie
Konservierungsstrategien und -metho-
den, Strategie und Planung beim Management des Kulturerbes, Besuchermanagement, Präsentation und Interpretation
sowie guten Kenntnissen des Touristensektors.
Der Masterstudiengang, der beim European Credit Transfer System (ECTS) akkreditiert ist, sieht Studienphasen sowohl
in Deutschland als auch in Ägypten vor
und verbindet erstmalig klassische
Archäologie mit multidisziplinären Ansätzen des modernen Managements touristisch bedeutsamer Kulturstätten.
Die Einrichtung des Studiengangs, – großzügig gefördert vom Deutschen Akademischen Austauschdienst –, ist Teil der
Maßnahmen, die im Rahmen der Transformationspartnerschaft zwischen der Arabischen Republik Ägypten und der Bundesrepublik Deutschland vom Auswärtigen
Amt gefördert und finanziert werden.
Die Aufnahme der gemeinsamen Arbeiten
wurde im Dezember 2013 in Luxor mit
einem hochrangig besetzten wissenschaftlichen Symposium zum Thema „Heritage Tourism: Prospects and Challenges“
feierlich eröffnet. 42 Redner aus 12 Ländern, darunter der Minister für Tourismus
Hisham Zaazou, der Minister für Altertümer Prof. Dr. Mohammed Ibrahim Ali,
der Präsident der Helwan Universität
Prof. Dr. Yasser Sakr, der deutsche Botschafter Michael Bock, die Präsidentin des DAI,
Prof. Dr. Friederike Fless, und die DAADGeneralsekretärin Dr. Dorothea Rüland
sprachen über die zukunftsweisende Verzahnung von Kulturerbe und Tourismus.
Die Ergebnisse des Symposiums werden
2014 in einem Tagungsband publiziert.
WEITERE INFORMATIONEN:
http://www.heritage.edu.eg/
http://www.tu-cottbus.de/fakultaet2/de/
studiengang-heritage-conservation-and-sitemanagement/
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 5
NACHRICHTEN
Ausbildung
in den
Grundlagen
Die GermanCambodian
Conservation School
(2013–2016)
Die Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) des Deutschen
Archäologischen Instituts (DAI) führte von
2008 bis 2011 drei Grabungskampagnen
auf dem rund 2000 Jahre alten Gräberfeld
Prohear im Südosten Kambodschas durch.
Hunderte von Tongefäßen, Eisen- und
Bronzebeigaben bedurften sachgerechter
Konservierung und Lagerung. Bis 2012
wurden diese Arbeiten im Rahmen laufender Forschungen des DAI in Kambodscha
finanziert.
Anfang 2013 initiierte Dr. Andreas Reinecke, Referent für Südostasien an der KAAK,
den Aufbau der „German-Cambodian Conservation School“ mit drei Hauptzielen:
Grundlagen-Ausbildung für eine große
Anzahl interessierter Fachkollegen, die
weitere Absicherung fortlaufender Restaurierungsarbeiten und die Etablierung eines
kambodschanischen Ausbildungsteams.
Wichtiger Partner ist Prof. Dr. Hans Leisen
vom Cologne Institute of Conservation
Sciences (CICS) an der Fachhochschule
Köln.
Mit einer Finanzierung aus dem Kulturerhalt-Fonds des Auswärtigen Amts und mit
Angkor Wat. Als der portugiesische Kapuzinermönch Antonio da Magdalena 1586 nach
DAS GROSSE DURCHEINANDER
Angkor kam, beschrieb er seinen Eindruck vom großen Tempel „als so außergewöhnlich, dass
man es weder mit einem Stift beschreiben noch mit einem anderen Monument in der Welt
vergleichen kann.“ Die gewaltigen Bauten von Angkor Wat im nördlichen Kambodscha
stammen aus dem 9. bis 13. Jahrhundert n. Chr. und stehen seit 1992 auf der Welterbeliste der
UNESCO.
Unterstützung der Deutschen Botschaft
Phnom Penh organisiert das DAI gemeinsam mit dem „Memot Centre“ und dem
„German Apsara Conser vation Project“ in
Phnom Penh und Angkor Wat Restaurierungskurse für interessierte junge Fachkollegen aus allen südostasiatischen Ländern. Die sechswöchigen Kurse mit jeweils
zwei Teilnehmern begannen Mitte 2013
und werden vorläufig bis Ende 2016 durchgeführt. Sie versetzen die Teilnehmer in die
Lage, zukünftig in ihren Entsende-Einrichtungen mit klaren Vorstellungen für die
Restaurierung und Lagerung archäologischer Objekte einzutreten und gerade bei
bilateralen Forschungsprojekten auch die
entsprechenden Finanzmittel für Personal
und Equipment einzufordern. An den bis-
herigen vier Kursen nahmen Teilnehmer
aus vier Ländern teil (Kambodscha, Vietnam, Laos, Philippinen). Das Kultur-Ministerium Kambodschas ist sich der internationalen Bedeutung des Projektes bewusst
und unterstützt es dementsprechend mit
Räumlichkeiten und persönlichem Engagement, beispielsweise durch Übergabe
der Abschluss-Zertifikate an die Kursteilnehmer durch hochrangige Beamte im feierlichen Rahmen. Für das DAI, in dessen
Händen die Projekt-Leitung, die Verwaltung,
die Planung und Bewerberauswahl liegen,
ergibt sich ein Ausbau der Vernetzung mit
allen führenden archäologischen Einrichtungen in ganz Südostasien.
WEITERE INFORMATIONEN:
http://www.dainst.org/en/project/GCCS_2013
Restaurierungslabor des Memot Centres in
Phnom Penh
1 Der kambodschanische GCCS-Ausbilder
Tuy Sophea bei der Unterweisung einer
philippinischen und einer vietnamesischen
Kursteilnehmerin in die Bronzerestaurierung.
2 Die kambodschanische GCCS-Ausbilderin Seng Sonetra bei der Unterweisung
zweier vietnamesischer Kursteilnehmer
in praktischer Restaurierung.
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6 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 7
Antike digital
NACHRICHTEN
IANUS – Das neue Forschungsdatenzentrum
für Archäologie und Altertumswissenschaften
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INTERNATIONALER HANDEL
Das „Durcheinander“ zeigt eine Fundsituation auf der Insel Samos vor der ionischen Küste Kleinasiens.
Sortiert und bearbeitet, verwandelt sich der zunächst unübersichtliche Schutt in ein Zeugnis internationaler Vernetzung, und kein
anderes griechisches Heiligtum hat unter den Votiven früharchaischer Zeit einen solchen Reichtum und eine solche Vielfalt an
Importen aus dem Vorderen Orient und Ägypten hervorgebracht wie das der Hera auf Samos, das von der Abteilung Athen des
Deutschen Archäologischen Instituts unter der Leitung von Wolf-Dietrich Niemeier erforscht wird. Bereits im 7. Jahrhundert v. Chr. war
die Insel vollständig in die internationalen Handelsnetze des östlichen Mittelmeers und darüber hinaus eingebunden.
Mehr zum Thema „Heiligtümer“ im nächsten Heft.
8 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
den Aufgabe – und der größten Herausforderungen seit ihren Anfängen vor 150 Jahren, die nur mit gebündelten Ressourcen
zu bewältigen ist.
Am 18. Februar 2014 wurde in Berlin das
Forschungsdatenzentrum für Archäologie
und Altertumswissenschaften IANUS der
Öffentlichkeit vorgestellt. 180 Gäste aus
Wissenschaft, Politik und Medien nahmen
an der Vortragsveranstaltung im Auditorium Friedrichstraße teil.
Nachdem die Präsidentin des Deutschen
Archäologischen Instituts, Prof. Dr. Friederike Fless, kurz in die Thematik eingeführt
hatte, sprach Generalsektretär Prof. Dr.
Ortwin Dally* zur Entwicklung von IANUS
und Prof. Dr. Jürgen Kunow (Vorsitzender
des Verbands der Landesarchäologen)
erläuterte die Sicht der Landesdenkmalämter. Den Festvortrag hielt Prof. Dr.
Manfred Thaller (Universtität zu Köln) über
digitale Archäologie innerhalb der digitalen Geisteswissenschaften.
IANUS wird seit 2011 als gemeinsames
Vorhaben verschiedener Einrichtungen
ebenfalls von der DFG gefördert. Dazu
gehören universitäre und außeruniversitäre Forschungseinrichtungen, Graduiertenschulen, Museen, Bibliotheken, DFGgeförderte Projekte der Verbundforschung
sowie Einzelprojekte, Landesdenkmalämter und die Akademien.
Kartierung der Gebiete, aus denen in archaischer Zeit Votive in den Heratempel von Samos kamen.
Die Veranstaltung ist über den YoutubeChannel des DAI zu sehen.
www.youtube.com/dainst
WEITERE INFORMATIONEN UNTER
www.dainst.de und unter
www.ianus-fdz.de.
Darüber hinaus ist eine Broschüre zum Thema
erschienen, die in gedruckter Form über die
Pressestelle des DAI erhältlich ist (s. Impressum)
und als pdf auf der DAI-Homepage zum Download bereitsteht.
www.ianus-fdz.de/projects/ergebnisse/wiki
Fotos: Niemeier, DAI Athen
Nichts hat die Archäologie und die Altertumswissenschaften so sehr verändert wie
die digitale Revolution, die seit einigen
Jahrzehnten alle Lebensbereiche und insbesondere die Arbeit in der Wissenschaft
prägt. Neue Methoden ermöglichen nicht
nur neue Antworten auf alte Fragen. Sie
bringen völlig neue Fragen und Erkenntnisse hervor, die es möglich machen, zu
einem besseren Verständnis früher Kulturen vorzustoßen. Moderne altertumswissenschaftliche Forschung umfasst heute
ein breites Spektrum von Spezialdisziplinen, das von unterschiedlichen Archäologien und Philologien über die Alte
Geschichte bis zu Disziplinen wie Archäobiologie, Archäozoologie und Archäoinformatik reicht. Ihre Methoden umfassen
textbasierte und kunsthistorische Analysen, Untersuchungen sehr verschiedener
Materialien wie Knochen, Scherben oder
Statuen bis hin zu großangelegten Re gionalstudien, die mit Hilfe moderner Grabungs-, Vermessungs- und Fernerkundungstechniken durchgeführt werden.
So sehen sich die deutschen Altertumswissenschaften mit ihren zahlreichen Spezialdisziplinen und in ihrem institutionell
heterogenen Zuschnitt vor einer drängen-
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*Ortwin Dally ist zum 1. März 2014 als Direktor
2008 hatte die Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) eine Arbeitsgruppe
gebildet und sie mit dem Auftrag versehen, mögliche Lösungen zu konzipieren.
an die Abteilung Rom des DAI gewechselt.
Neuer Generalsekretär ist Philipp von Rummel.
(s. Porträt S. 74)
Abb. 1 und 2:
Abb. 3 und 4:
Abb. 5 und 6
Zyprische Terrakotten.
Zyprische Kalksteinstatuetten.
Fayencen aus Naukratis.
Zweite Hälfte des
Zweite Hälfte des
Zweite Hälfte des
7. Jahrhunderts v. Chr.
7. Jahrhunderts v. Chr.
7. Jahrhunderts v. Chr.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 9
Werner Kaiser – Hermann Müller-Karpe – Peter Neve
Aus der Reihe „Menschen –
Kulturen – Traditionen“
NACHRICHTEN
Nachrufe
Zur Geschichte der Abteilung Kairo
Werner Kaiser (1926–2013)
Hermann Müller-Karpe (1925–2013)
Peter Neve (1929–2014)
AUS DER REIHE „MENSCHEN  KULTUREN  TRADITIONEN“
Die Forschungen Werner Kaisers waren
Auslöser einer neuen Epoche der Feldarbeit zur ägyptischen Prähistorie. Die Ausgrabungen in der alten Stadt Elephantine,
die er inaugurierte, erbrachten einen großen Reichtum neuen Wissens zu Urbanismus und städtischer Kultur in Ägypten. Als
hervorragender Kunsthistoriker verfasste
Kaiser Studien insbesondere zur Skulptur
des Alten Ägypten. Seine bahnbrechenden Arbeiten zur Chronologie der NaqadaKultur und zum Übergang vom prädynastischen Ägypten zum frühen pharaonischen
Staat eröffneten der Forschung neue Perspektiven zum frühen Ägypten.
Von ungebrochen großer Bedeutung für
die Archäologie wurde eines der Hauptwerke Hermann Müller-Karpes, das Handbuch der Vorgeschichte (1966–1980), später verdichtet zu einer Universalgeschichte
der frühen Menschheit in den „Grundzügen der frühen Menschheitsgeschichte“
(1998).
1979 wurde Hermann Müller-Karpe an die
neugegründete Kommission für Allgemeine und Vergleichende Archäologie des
DAI (heute Kommission für Archäologie
Außereuropäischer Kulturen) berufen. In
der Gründung der Bonner Kommission sah
Müller-Karpe einen entscheidenden Schritt
hin zu einer weltumfassenden Archäologie
der Ganzheit „als Inbegriff menschlicher
Geschichtlichkeit“. Bewusst setzte er gegen
eine einseitige Theoriebeflissenheit das
Konkrete, die Materialien und begründete
konsequent entsprechende Reihenwerke
wie die „Materialien und die Forschungen
zur Allgemeinen und Vergleichenden
Archäologie“.
Sein wissenschaftliches Leben verbrachte
der Bauforscher bei den Ausgrabungen
des Deutschen Archäologischen Instituts
in der Haupstadt der Hethiter. Hattuša faszinierte ihn von Beginn an. Hier war er seit
1954 Mitarbeiter, damals ein 25-jähriger
Architekturstudent. 1957 schloss der gebürtige Holsteiner sein Studium an der Universität Hannover ab und wurde ständiger
Mitarbeiter des Grabungsleiters Kurt Bittel.
Seit 1963 war Neve örtlicher Grabungsleiter und von 1978 bis 1993 als Nachfolger
Kurt Bittels Gesamtleiter der Forschungen
zu Hattuša. 1969 wurde er mit einer Arbeit
zu „Regenkult-Anlagen in BogazköyHattuša. Ein Deutungsversuch“ an der
Technischen Universität Berlin promoviert.
Von 1974 bis 1993 war er darüber hinaus
Leiter der Außenstelle Ankara des Deutschen Archäologischen Instituts.
In den langen Jahren seiner Arbeiten in
Bogazköy-Hattuša hat Peter Neve viele
wichtige Grabungsprojekte durchgeführt
und sowohl für die hethitische Zeit als
auch für die Eisenzeit bahnbrechende
Erkenntnisse ermöglicht. Durch konsequente Konservierung und Restaurierung
der freigelegten Baureste hat er Hattuša
ein völlig neues Gesicht verliehen. Es ist
seinen Bemühungen zu verdanken, dass
der Platz in ein archäologisches Freilichtmuseum verwandelt werden konnte, um
so der Öffentlichkeit die große Geschichte
der Region zu vermitteln. Auch auf seine
Initiative hin wurde Bogazköy-Hattuša
1986 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen.
Am 24. Januar 2014 ist Peter Neve im Alter
von 84 Jahren gestorben.
Zur Geschichte der Abteilung Kairo
Werner Kaiser wurde am 7. Mai 1926 in
München geboren; er wurde 1954 an der
Universität München promoviert. Von
1962 bis 1967 leitete er das Ägyptische
Museum in West-Berlin, von 1967 bis 1989
war er Direktor der Abteilung Kairo des
Deutschen Archäologischen Instituts. Werner Kaiser war korrespondierendes Mitglied der Bayerischen und der Göttinger
Akademien der Wissenschaften, wirkliches
Mitglied des Österreichischen Archäologischen Instituts sowie des Institut d‘Égypte.
Er starb am 11. August 2013.
Als Direktor der Abteilung Kairo des Deutschen Archäologischen Instituts schuf
Werner Kaiser ein Forschungsprogramm,
das alle Epochen und Aspekte der Archäologie Ägyptens umfasste. Neben der Forschung räumte er der Restaurierung und
dem Site Management höchste Priorität
ein. Die Zusammenarbeit mit und die
Unterstützung für ägyptische Forscher
und Archäologen waren ihm stets ein Herzensanliegen.
10 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Geboren wurde Hermann Müller-Karpe
am 1. Februar 1925 im hessischen Hanau.
So galt seine erste größere wissenschaftliche Arbeit der Urnenfelderkultur im
Hanauer Land, mit der er 1948 bei Gero
von Merhart in Marburg promoviert wurde.
Am Landesmuseum in Kassel fand er seine
erste Anstellung, 1950 wechselte er als
Kurator an die Prähistorische Staatssammlung München. Hier verfolgte er weiter
seine Studien zur Urnenfelderzeit und legte
seine Habilitationsschrift vor: „Beiträge zur
Chronologie der Urnenfelderzeit nördlich
und südlich der Alpen“. 1963 wurde er als
ordentlicher Professor an die Universität
Frankfurt berufen, wo er bereits 1965 den
umfassendsten Materialkorpus der vorgeschichtlichen Metallzeiten initiierte, die
Reihe „Prähistorische Bronzefunde“. 1986
schied Hermann Müller-Karpe aus dem
Amt.
Er starb am 20. September 2013 in Marburg.
Das Ende des 19. Jahrhunderts brachte den Aufschwung der Ägyptologie als Wissenschaft. Im
Anschluss an die etwas raunende Suche nach dem Urwissen, das man im Besitz ägyptischer Priester
vermutete und das in den zunächst noch unergründlichen Zeichen niedergeschrieben sei, verlor
mit Napoleons Feldzug und der Entzifferung der Hieroglyphen Ägypten an esoterischem Reiz, wurde
aber zu einem der bevorzugten Ziele für Bildungshungrige und Wissenschaftler.
Seit der Mitte des 19. Jahrhunderts machten sich die Europäer auf zu dem Land am Nil. 1842 bis 1846
leitete Richard Lepsius die von König Friedrich Wilhelm IV. ausgesandte Expedition nach Ägypten,
doch nach der Errichtung des Berliner Lehrstuhls und der Sammlung im Neuen Museum erlosch das
Interesse der deutschen Regierung an Ägyptologie.
Nun ist aus der Feder von Susanne Voss der erste Band einer Aufabeitung der Geschichte der Abteilung Kairo des Deutschen Archäologischen Instituts erschienen. Er umfasst die Jahre 1881 bis 1929
und zeichnet die Entwicklung der deutschen ägyptologischen Forschung vor Ort von 1881 bis 1929
nach, die 1906/1907 mit dem „Kaiserlich Deutschen Institut für ägyptische Altertumskunde in Kairo”
institutionalisiert wurde. 1929 wurde es dem Deutschen Archäologischen Institut angegliedert. Die
Untersuchung der akademischen Verhältnisse, der komplexen politischen Rahmenbedingungen und
personellen Verflechtungen geben einen Einblick in die Gründerzeit des Fachs.
Um die Geschichte des Fachs, der Personen und der Institution im Detail nachzeichnen zu können,
unternahm Susanne Voss eine akribische Aktenrecherche in nationalen und internationalen Archiven
und bearbeitete bisher unerschlossenes Material. Die Darstellung der Gesamtgeschichte ist an den
Personen der Institutsdirektoren entlang strukturiert, da sie zugleich Repräsentanten der politischen,
wissenschaftlichen und auch ideologischen Prägung ihrer jeweiligen Zeit waren.
Grabungserlaubnis
für die Deutsche
Susanne Voss,
Orient-Gesellschaft
Die Geschichte der Abteilung Kairo des DAI im Spannungsfeld deutscher politischer Interessen.
(DOG) in Abusir und
Band 1, 1881–1929. (Rahden/Westf. 2013)
Tell el-Amarna vom
12. Dezember 1907
Das Buch erscheint in der Reihe Menschen – Kulturen – Traditionen. Studien aus den Forschungs-
(Archiv DAI Kairo)
clustern des Deutschen Archäologischen Instituts Band 8,1
Cluster 5: Geschichte des Deutschen Archäologischen Instituts im 20. Jahrhundert.
Herausgegeben vom Deutschen Archäologischen Institut; VML Verlag Marie Leidorf GmbH
Lohnlistenblatt für die DOGAusgrabungen Ludwig
Borchardts am SahurePyramidenbezirk in Abusir
vom 17.–30. Oktober 1907
(Archiv DAI Kairo)
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 11
REPORTAGE
LOS CASTILLE JOS DE ALCORRÍN
Ein phönizisch-iberisches Joint Venture
Vor 2800 Jahren gründeten die Phönizier zahlreiche Niederlassungen an der Küste, die heute Costa del Sol genannt wird. 2700 Seemeilen
hatten sie hinter sich, als sie hier ankamen.
Die „Reportage“ über die Landung eines phönizischen Schiffes an
der südspanischen Küste ist keineswegs erfunden. Sie ist vielmehr
die sehr wahrscheinliche, archäologisch belegte Rekonstruktion
zahlreicher Begebenheiten, die sich in der Region vor ungefähr
2800 Jahren abgespielt haben. Eingespielt in den Text der Reportage, die am Ende einer Seereise beginnt, sind die wissenschaftlichen Anker.
12 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 13
In der Nähe des Landeplatzes mündete ein kleiner Fluss ins Meer.
An seinem Ufer lag ein Dorf, dessen Bewohner wie ihre Nachbarn
noch nicht lange hier lebten. Noch vor kurzer Zeit war die ganze
Küste unbesiedelt. Die Dorfbewohner beschlossen, sich mit den
Phöniziern, die längst keine Unbekannten mehr waren, zu treffen,
um mit ihnen ein Projekt zu erörtern. Sie kannten die Seefahrer
mit dem etwas fremdartigen Äußeren als freundliche Menschen,
exzellente Handwerker und Baumeister und als äußerst geschickte
Händler. Es kursierten aber auch Gerüchte, sie seien schändliche
Piraten und ganz und gar heimtückische Leute.
Dennoch überlegten sie sich, ihnen ein Geschäft vorzuschlagen.
Vielleicht könnte man zusammenarbeiten. Die Phönizier sollten
ihnen bei dem Vorhaben helfen, dafür dürften sie in der ganzen
Region Handel treiben mit ihren neuartigen Metallgefäßen, dem
schönen Schmuck und dem feinen Tafelgeschirr. Eine Sensation
war das durchsichtige Glas, reinste Zauberei. Sie trafen sich also
mit den Phöniziern und trugen ihren Plan vor: „Wir wollen eine
Festung bauen.“
Als die Passagiere des Schiffes an Land gingen, fand einer von
ihnen ein kleines Stück Karneol. Die Iberer mochten die schönen
roten Steine. Es stammte wohl aus einem früheren Geschäft oder
von einem früheren freundschaftlichen Treffen, bei dem
Geschenke ausgetauscht wurden, schließlich waren sie nicht die
ersten, die so weit nach Westen gesegelt waren. Ihre eigene
Gruppe war eher klein, und abgesehen von den Seeleuten – Kapitän, Navigator und Matrosen – waren ein Architekt, zugleich der
Landvermesser mitgekommen und, weil man das grobe Geschirr
der Einheimischen nicht zu jeder Gelegenheit schätzte, ein Töpfer,
der mit der schnellen Drehscheibe arbeiten konnte. Er würde gut
verdienen, denn seine Waren und seine Kenntnisse waren begehrt
genau wie die des „Eisenmannes“, der es verstand, Metall zu verarbeiten. Die Erzvorkommen der Gegend sollten fantastisch sein,
wie man von früheren Reisenden hörte.
Der Schreiber sah eine Menge Arbeit auf sich zukommen. Handelsposten waren zu fakturieren, die Berechnungen des Architekten
und des Landvermessers waren zu dokumentieren, Zollbescheinigungen auszustellen, Wer wusste schon, was alles auf einen
zukäme? Zum Glück hatten diejenigen, die für Seelenheil, Altäre
und Ritual zuständig waren, ihre Zahlen im Kopf. Aber der Zeremonienmeister würde zu ihm kommen, um sich von ihm die Aufstellung für das große Bankett zu Ehren der Handelspartner niederschreiben zu lassen. Aber zum Glück war er nicht der einzige, der
schreiben konnte.
Los Castillejos de Alcorrín liegt im südspanischen Andalusien an der Westgrenze der Provinz Málaga
nur 25 Kilometer von Gibraltar und 2,5 Kilometer von der Mittelmeerküste entfernt auf 165 Meter
Höhe über dem Flussbett des Alcorrín – eine äußerst günstige Lage. Der archäologische Fundplatz
wurde 1988 von Fernando Villaseca Díaz und Marcos Vázquez Candiles bei Prospektionen im
Zuge eines geplanten Bauvorhabens entdeckt. Im Folgenden konnten sie Spuren einer befestigten
Siedlung der späten Bronzezeit an der Schwelle zur Eisenzeit nachweisen, der Periode, in der die
ersten Kontakte zwischen Einheimischen und Phöniziern stattgefunden hatten (Ende des 9. / Beginn
des 8. Jahrhunderts v. Chr.). Anschließend übernahm der Archäologe José Suárez Padilla die Grabungsleitung; das Areal wurde 2006 unter Denkmalschutz gestellt. Der Platz zog sogleich große
Aufmerksamkeit auf sich und man beschloss, ihn genauer zu untersuchen. Da die Abteilung Madrid
des DAI auf eine lange Tradition in der Phönizierforschung zurückblicken konnte, lud man sie ein,
sich der Erforschung des Platzes zu widmen. Das Projekt wird nun vom DAI Madrid in Kooperation mit
dem Centro de Estudios Fenicios y Púnicos und der Gemeinde Manilva seit 2007 durchgeführt.
Die Luftaufnahme zeigt die Lage Alcorríns an
Die Ergebnisse der geophysikalischen Prospektion
der spanischen Südküste im Westen der
„Wir wissen noch nicht genau, wie viele Menschen genau es waren, die an
zeigen die Siedlungs-Situation im Gelände.
Provinz Málaga.
den Ort kamen, den wir heute ‚Los Castillejos de Alcorrín’ nennen“, sagt
Abb.: Eastern Atlas
DAI, Abteilung Madrid
Prof. Dr. Dirce Marzoli, Direktorin der Abteilung Madrid des Deutschen
Archäologischen Instituts, die hier die Forschungen zu den Phöniziern
leitet. „Aus dem 8. und 9. Jahrhundert v. Chr. haben wir nur wenige Funde,
erst ab dem 7. Jahrhundert lassen sich dann genauere Angaben machen.
Wir wissen aber, dass Phönizier und Einheimische an dieser Stelle gemeinsam eine Festung gebaut haben.“ Doch offenbar verlief dies anders, als der
ersten Anschein es glauben machen konnte. Die Phönizier waren nicht die
Art Eroberer, die Territorien besetzten.
14 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Die Bewohner des Dorfes haben Ärger mit den Nachbarn und das
Bedürfnis sich zu schützen. Also bitten sie die Phönizier um
Kooperation, Unterstützung und Technologie gegen die Gewährung von Handelspriviliegien. Die Siedler aus der Levante überlegen nicht lang. Die reichen Erzvorkommen im Hinterland sind
äußerst interessant, wie man inzwischen weiß. Ebenso interessant
sind die dortigen Bewohner als Handelspartner für Wein, Weihrauch, Parfum und Purpur. Also setzen sich Architekt und Geometer mit den Einheimischen zusammen und entwerfen eine Anlage.
Sie wird so weit oben auf einem Hügel liegen, dass man von dort
aus weit aufs Meer hinaus an Gibraltar vorbei bis zum Dschebel
Musa bei Ceuta sehen kann. Und umgekehrt wird man selbst von
weither gesehen. Die Anlage vorher zu berechnen und das Areal
auszumessen, erleichterte die Arbeit ungemein. Die „Mathematik“
hatten sie von ihren Nachbarn Mesopotamien und Ägypten
gelernt, erzählten die Phönizier, ebenso wie die Herstellung der
praktischen Lehmziegel für die Wohnhäuser, die ein nie gekanntes
flexibles Bauen ermöglichten.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 15
REPORTAGE
Um das Jahr 800 v. Chr. landet ein Schiff im Süden der Iberischen
Halbinsel. Der Kapitän kannte den Anlegeplatz in der Flussmündung von einem Kollegen, der schon früher dort war. Von ihm
wusste er auch, dass er hier einen sicheren Ankerplatz finden
konnte. Insgesamt bot die Meeresbucht exzellente Bedingungen.
Das Schiff der Neuankömmlinge war zehn Meter lang, vier Meter
breit und konnte 15 Tonnen Ladung fassen. Der hohe Steven trug
den Kopf eines Pferdes. Für die Langstrecke über See wurde das
große quadratische Segel gehisst, die Riemen erhöhten die Manövrierfähigkeit in schwierigen Situationen und in küstennahen
Gewässern. Nur noch ungefähr 50.000 Ellen (25 Kilometer) waren
sie entfernt von den ‚Säulen des Herakles’, wie die Griechen die
Meerenge zum offenen Ozean hin später nennen würden.
Die besonders schönen Fußböden entlang der
Außenwände der Gebäude waren in der Region
unbekannt. Glycimeris und Akanthocardia
REPORTAGE
lieferten das Material dazu. Es handelt sich um
Meeresmuscheln, die dicht an dicht auf Fußböden aufgebracht wurden, eine Tradition, die
im Vorderen Orient schon lange bekannt
war und wo dieselben Muschelarten verwendet
wurden.
DAI, Abteilung Madrid, Patterson
Die Eisenvorkommen der Iberischen
Halbinsel waren für die Phönizier ein
starker Magnet. Vorkommen in der Nähe
von Alcorrín.
Fotos: DAI, Abteilung Madrid
„97 Prozent der Keramikfunde stammen aus einheimischer Produktion“, erklärt Dirce Marzoli. „Sie ist handgemacht und
besteht aus Vorrats- und Essgeschirr. Wie erkennen sie an der unregelmäßigen Färbung der Oberfläche, die bei niedrigen
Brenntemperaturen entsteht.“ Der kleine Rest dessen, was die Archäologen fanden, wurde auf der schnellen Töpferscheibe
hergestellt und hart gebrannt. In Fall einer Amphore konnte die archäometrische Untersuchung nachweisen, dass sie aus
der ca. 90 Kilometer entfernten phönizischen Faktorei Cerro del Villar an der Bucht von Málaga stammt. Fast interessanter
als die Keramik finden die Archäologen die Schlacken, die sie auf dem Gelände der Festung fanden. Es sind die Spuren der
ältesten Eisenherstellung in Europa.
Die Landschaft um Alcorrín war mediterraner Wald, geprägt von Korkeichen, einer der Charakterpflanzen des Mittelmeerraums. In der sanften Hügellandschaft herrschten gute Bedingungen für Ackerbau und Viehzucht, die Wälder konnten
für Holzgewinnung und Jagd genutzt werden. Das Meer wie auch die nahen Bäche und Flüsse boten einen großen
Fischreichtum. Im Küstenforschungsprojekt des DAI konnte 1986 die Landschaft nahe Alcorrín in Umrissen rekonstruiert
werden. Sie hatte sich während des Holozäns stark verändert. Dort, wo heute Festland ist, lag um 4000 v. Chr. eine tiefe
Meeresbucht, die bis Casa Montilla reichte. Sie verlandete aufgrund von Erosions- und Sedimentationsprozessen, die sich
ab dem 8. Jahrhundert v. Chr. beschleunigten. „Es ist sehr gut möglich, dass der Einfluss der Phönizier, die neue Wirtschaftsformen mitbrachten, die die Siedlungstätigkeit und Landwirtschaft anspornten, bei diesen Prozessen eine entscheidende Rolle gespielt hat.“
Der Grundriss der Festung passt sich dem Gelände an, der Grundriss der Häuser würde aber rechteckig sein, wie es die Regeln der
Baukunst verlangten. Der phönizische Architekt lässt sich in dem
gemeinsamen Projekt zwar dazu überreden, einem trapezförmigen Eingangsbereich zuzustimmen. Aber es widerspricht seinem
ästhetischen Empfinden ganz entschieden. Solche Formen sind
zuhause im Osten unbekannt, aber man will ja hier zu beiderseitigem Nutzen und Frommen zusammenarbeiten. Die Herdstellen,
die die Kooperationspartner im Innern der Gebäude errichten wollen, findet er eigentlich ganz praktisch, und der einheimische
16 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Der Grundriss der Häuser war rechteckig. Die Bauweise hatten die Phönizier aus ihrer orientalischen Heimat mitgebracht.
Rekonstruktion Gebäude: Beiersdorf, Zeichnung: DAI, Abteilung Madrid
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 17
REPORTAGE
DIE FÖRDERER
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
und
Agence Nationale de la Recherche (ANR):
Projekt ARCHAEOSTRAITS
Steinmetz ist wirklich gut. Solange sie nur mit seiner Elle messen,
soll ihm alles recht sein, meint der Geometer, der die Anlage ausmessen muss. Gemeinsam errechnen sie, wieviel Material sie
ungefähr benötigen werden. Der einheimische Kollege weiß, wo
es Lehm für Ziegel gibt. Bevor die Bauarbeiten beginnen, soll der
Militärstratege die Anlage ausrichten. Die Sichtachse ist wichtig,
und natürlich spielen Sicherheitsaspekte eine große Rolle. Nun gilt
es, die Arbeitskräfte zu beschaffen und die Arbeit zu verteilen. Die
Festung soll nach dem Willen der Bauherren möglichst schnell fertig werden. „Welches Problem haben sie eigentlich mit ihren Nachbarn?“, fragen sich die Phönizier.
KO O P E R AT I O N
Centro de Estudios Fenicios y Púnicos;
Consejo Superior de Investiagiones Científicas;
Goethe-Universität Frankfurt;
Naturwissenschaftliches Referat des DAI;
Deutsches Bergbaumuseum Bochum
Die äußere Befestigung von Alcorrín erstreckt sich über zwei Kilometer und umschließt eine Fläche
von 11,3 Hektar. Sie folgt dem äußeren felsigen Rand des Plateaus, das im Westen und Norden
steil zum Alcorríntal abfällt und im Süden durch tiefe Taleinschnitte begrenzt ist. Nur die Ostseite läuft
sanft in die Landschaft aus und ist damit leichter zugänglich. Hier wurde die Befestigung mit neun
Bastionen oder Türmen besonders verstärkt und gleichzeitig repräsentativ gestaltet. Auf dem steilen
Hügelrücken im Nordosten der Anlage erstreckt sich eine Befestigungsmauer von 365 Metern Länge
Eine besondere Kunst verlieh den Phöniziern
– ähnliche Befestigungsbauten kennt man erst wieder aus spätmittelalterlicher und islamischer Zeit.
– phoínikes – ihren Namen: das Färben von
Insgesamt errichtete man – zu der Zeit üblich – Zweischalenmauern aus mittelgroßen Bruchsteinen
Stoffen mit Substanzen der Purpurschnecke.
mit einem Füllwerk aus kleineren Steinen und Lehm.
Für die äußere Mauer hat man 430.000 Kubikmeter Steine bewegt. In den leicht zugänglichen
Abschnitten erreichte sie eine Stärke von fünf Metern, über der steil abfallenden Nordseite begnügte
man sich mit zwei Metern. Im geomagnetischen Bild erkannten die Archäologen mehrere Strukturen,
die sich als große mehrräumige Häuser erwiesen. Es sind die ältesten Rechteckhäuser der Region.
Ihr Maß beruht auf der punischen Elle – 50 Zentimeter.
150 Jahre hatten sie auf dem Berge ausgeharrt, und nichts
Schreckliches geschah. Kein Überfall, keine Katastrophe, einfach
nichts. Umso lebhafter konnte sich das zivile Leben entfalten. Die
Festung wurde ein weithin bekannter Zentralort in der Region mit
Verbindungen zu den nahen Hafenplätzen am Mittelmeer. Man
wusste, dass hier das Eisen der Umgebung verarbeitet wurde, hier
gab es Leute, die phönizisch lesen und schreiben konnten, und
Alcorrín wurde ein internationaler Treffpunkt. Lange erinnerte
man sich noch an die prächtigen Bankette, die hier veranstaltet
wurden. Man trank sogar Wein, etwas, was es zuvor hier nicht
gegeben hatte.
Doch irgendwann betrachtete man es als zu aufwändig, die große
Anlage zu unterhalten. „Wir werden sie aufgeben“, beschlossen die
Bewohner gemeinsam. Die beweglichen Güter nahmen sie mit
und räumten gründlich auf.
Die Nachfahren unseres Schiffes zogen nach Málaga, wo man ihre
Spuren noch heute findet.
18 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
„150 Jahre geschlossener Befund sind ein Glücksfall für die Archäologie“,
sagt Dirce Marzoli. „Das entschädigt ein wenig dafür, dass wir bislang
so wenig gefunden haben.“ Die Bewohner hatten offenbar ordentlich
ausgefegt. „Es war sicher keine Flucht“, weiß die Archäologin. Ob es
womöglich ein Erdbeben gab, wird in einem neuem DFG- und ANRfinanzierten Projekt mit naturwissenschaftlichen Methoden und
spezialisierter Technik untersucht. Aber offenbar hatte sich insgesamt
die politische Großwetterlage verändert und mit ihr die regionale
Organisation – bei Einheimischen wie bei Phöniziern –, und die Festung
Alcorrín wurde nicht mehr gebraucht. Eine Frage beschäftigt die
Archäologen ganz besonders. „Wir haben bis heute keine Quelle gefunden,
und der Bach in der Nähe ist viel zu klein“, erzählt Dirce Marzoli.
Wie also funktionierte die Wasserversorgung?
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 19
CULTURAL HERITAGE
Peruanische Spezialisten restaurieren die ungebrannten Lehmziegel, aus denen die Grabkammer
des „Señor de Palpa“ errichtet wurden. Die spanische Bezeichnung für dieses Material ist „Adobe“.
Der Fundort liegt im Tal des Rio Grande in Südperu.
Hier liegt in einer ausgedehnten Ebene das Dorf Palpa am Rande der mächtigen Cordillere.
EL SEÑOR DE PALPA
Peruanische Grabanlagen,
mit denen niemand gerechnet hatte
Palpa ist eine kleine Stadt an der Südküste Perus. Seine 5 000 Einwohner leben von der Landwirtschaft in fruchtbaren Bewässerungsoasen, die von den drei Flüssen Rio Grande, Rio Palpa und
Rio Viscas versorgt werden. Das Dorf liegt in einer ausgedehnten
Ebene am Rande der mächtigen Cordillere, und die ruhige
Geschäftigkeit des dörflichen Lebens ließ bislang auf den ersten
Blick kaum etwas vermuten von der großen Vergangenheit der
Region. Doch das Flusssystem der Täler, das sich scharf gegen die
nördlich und südlich angrenzende Wüste abhebt, beherbergt
Hunderte archäologischer Siedlungen, wo sich Menschen in den
vier Hauptregionen Küste, Andenfuß, Täler und Hochgebirge im
Laufe der Jahrtausende auf ganz unterschiedliche Art und mit
wechselnden Wirtschaftsformen an die Umwelt angepasst haben.
20 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
1997 begannen Markus Reindel von der Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen (KAAK) des DAI und sein peruanischer Kollege Johny Isla vom Centro de Investigación para la
Arqueología y el Desarrollo (ANDES) mit ihren Forschungen in der
Region Palpa. Sie wollten zum ersten Mal die berühmten Geoglyphen oder „Nasca-Linien“ in ihren kulturellen Kontext stellen, um
verstehen zu können, was sie – befreit von den Spekulationen
über ihre angeblich außerirdische Herkunft – wirklich waren und
welche Kultur die gigantischen Felsbilder geschaffen hatte.
(Archäologie Weltweit 1-2013, S. 57) Im Zuge dieser Untersuchungen machten die Archäologen 1998 eine spektakuläre Entdeckung. Beim Städtchen Palpa am Fundort La Muña fanden sie eine
Nekropole der Nasca-Zeit mit zwölf Gräbern, welche die größten
bisher gefundenen dieser Kultur sind. In feines Tuch gehüllt und
versorgt mit kostbaren Beigaben aus feinster Keramik, Gold und
Edelsteinen, saßen die offenbar verehrungswürdigen Toten halb
aufrecht in ihren Kammern an die Wand gelehnt. Der Reichtum
der Ausstattung spricht dafür, dass hier die Elite einer Gemeinschaft beigesetzt wurde, die in der mittleren Nasca-Zeit lebte. Die
Radiokarbondatierung weist auf die Zeit zwischen 250 bis 450 n.
Chr. Schnell war in der Region die Rede vom „Señor de Palpa“, und
auch der Platz, an dem die Nekropole angelegt war, spricht für die
Bedeutung der Bestatteten: Es ist der Zusammenfluss der drei eingangs genannten Flüsse, und am rechten Ufer des Rio Grande
gelegen, war La Muña zu seiner Zeit das politische Zentrum einer
florierenden Region, deren Bewohner es zudem verstanden, aus
einer schwierigen Geographie den größt möglichen Nutzen zu
ziehen.
Über eine Fläche von acht Hektar erstreckte sich die architektonisch aufwändig gearbeitete Anlage. Sechs der zwölf Gräber legten die Archäologen frei, und obwohl schon Grabräuber ihr Unwesen getrieben hatten, konnten die Wissenschaftler die Architektur
dokumentieren und Stücke feinster dünnwandiger Keramik und
fein ziselierte Goldobjekte bergen. Anschließend wurden die Gräber wieder verfüllt, um sie zu erhalten.
S C H U T Z D E S K U LT U R G U T S
Das kleine Museum in Palpa zeigt die Fundstücke der ersten Kampagne und kommt damit dem wachsenden Interesse der peruani-
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 21
CULTURAL HERITAGE
Rekonstruktion der Grabanlage
Abb.: Tomkowitz
Dr. Markus Reindel (re.), Referent für
Seit Ende der 1990er-Jahre wird in Palpa gegraben. Die Freilegung der Grabkammer von La Muña (oben)
Die Kammer eines der Gräber von La Muña nach der Restaurierung (unten)
Lateinamerika an der KAAK, leitet die
DAI-Forschungen in Südperu, Lic.
Johny Isla (li.) ist Direktor des Centro
de Investigación para la Arqueología y
el Desarrollo (ANDES)
schen Bevölkerung an der eigenen vorspanischen Geschichte
entgegen. „Es gab aber immer den Wunsch, die Grabanlagen zu
restaurieren, um den ganzen kulturellen Kontext zu erschließen“,
sagt Markus Reindel. „Es ist wichtig zu zeigen, dass die Nasca eine
weit entwickelte Sozialstruktur mit einer deutlich ausgebildeten
Oberschicht hatten. Dies belegen die Fürstengräber von La Muña.“
2009 wurde mit Geldern der UNESCO eine Initiative gestartet, das
Kulturgut der Region Palpa und Nasca zu schützen, im Jahr 2011
konnte das Vorhaben, einen Teil der Grabanlagen wieder freizulegen und zu restaurieren, auf Initiative der deutschen Botschaft in
Lima begonnen werden. „Zuerst müssen wir die Anlage konsolidieren“, sagt Reindel. Dann wird restauriert und konserviert und
schließlich wird die Nekropole für Besucher zugänglich gemacht.
Restauriert werden auch die Geoglyphen am Fundort. Sie sind
stark beschädigt und kaum mehr in ihrer Gesamtheit zu erkennen.
Die Zeit drängt. „Es gibt hier in der Nähe immer mehr informell
angelegte Gold- und Kupferminen“, erklärt Reindel. „Falls dagegen
nichts unternommen wird, sind die Geoglyphen und auch die
Grabanlagen extrem gefährdet.“
LETZTE RUHE DER VEREH
RUNGSWÜRDIGEN TOTEN
„Die Grabanlagen hatten ein einheitliches
Grundmuster: Man hat eine sechs bis sieben
Meter tiefe Grube ausgehoben und darin die
Grabkammer aus Lehmziegeln errichtet. Die
Toten saßen halb aufrecht in der Kammer,
„begleitet“ von kostbaren Beigaben – polychromen Keramikgefäßen von exzellenter Qualität,
So könnte die Anlage ausgesehen haben. Rekonstruktion der
Schmuckstücken aus Gold, Perlen und dekorier-
Plattform und des Daches über der Grabkammer
ten Spondylus-Muscheln. Bedeckt wurde die
Kammer von Holzbalken, Schilfrohr und einer
Lehmpackung. Anschließend hat man die Grube
verfüllt. Sodann errichteten die Hinterbliebenen
auf Geländeniveau eine gestufte Plattform aus
Lehmziegeln, die von einem Dach aus Holzbalken und einer Abdeckung aus Schilf und Lehm
geschützt wurde. Diese Plattform war von einer
ADOBE
Adobe ist die spanische Bezeichnung für die ungebrannten Lehmziegel, aus denen die Grabkammern errichtet wurden. Sie zu restaurieren, ist eine Kunst, die nur wenige Spezialisten beherrschen.
Die peruanischen Fachleute kennen nicht nur die Herstellungstechnik und die Anteile der unterschiedlichen Materialien. Sie
müssen außerdem das Klima der Zeit, in der die Ziegel hergestellt
wurden, und die Qualität des Wassers kennen, das für die Restaurierung verwendet wird, damit es den alten Ziegeln keinen Schaden durch ungewollte Reaktionen zufügt. Ein Töpfer aus der
Region fertigt Repliken der Keramikgefäße an, ein anderer Handwerker bildet so gut es die Fundlage erlaubt, Schmuckstücke
nach.
„Im größten der Gräber werden wir die Rekonstruktion einer
Bestattung einrichten“, sagt Reindel, um den Besuchern zu zeigen,
22 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Schutzmauer umgeben, die einen kleinen Hof
mit seitlichem Eingang bildete. Dort wurden
offenbar in regelmäßigen Abständen Opfergaben niedergelegt.“
Dr. Markus Reindel
Der offenbar verehrungswürdige Tote wurde in Tücher gewickelt
und mit Gebrauchsgegenständen und Nahrung versorgt sitzend in
seiner Grabkammer bestattet. Rekonstruktion des Innenraums.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 23
CULTURAL HERITAGE
wie es gewesen sein könnte. Doch die offengelegten Gräber müssen geschützt werden, die Sonneneinstrahlung ist intensiv in der
Region, und in den Wintermonaten gibt es starke Temperaturschwankungen zwischen Tag und Nacht – eine Strapaze für alles
Material. Nachts steigt die Luftfeuchtigkeit erheblich an, von Westen wehen mitunter kräftige Winde. Eine Überdachung mit Windschutz bewahrt den Fundplatz vor den rauen klimatischen Einflüssen. Vor unbedachter Beschädigung der Lehmbauten durch
Besucher schützt ein Wegesystem, das von einem kleinen Informationszentrum aus um die Gräber herum führt und hin zu Aussichtspunkten und Schautafeln verläuft, auf denen die Fundstücke und die archäologischen Arbeiten erklärt werden.
In Peru ist seit etwa 20 Jahren das Interesse an archäologischen
Themen und an den präkolumbianischen Grundlagen der eigenen Kultur massiv gestiegen, so dass zum Beispiel auch peruanische Firmen archäologische Langzeitprojekte unterstützen. Die
Bewohner der Region Palpa haben außerdem kein geringes Interesse am Aufbau einer touristischen Infrastruktur zur nachhaltigen
Präsentation ihrer einzigartigen kulturellen Zeugnisse.
Die Panamericana ist nicht weit.
Goldobjekte in Form von Orcas und Keramikgefäße der Nasca-Kultur
In Peru ist seit etwa 20 Jahren das Interesse an archäologischen Themen und an den präkolumbianischen Grundlagen der eigenen Kultur stark
angestiegen. Zur Erschließung des Fundplatzes für eine touristische Nutzung gehört auch die Einrichtung eines Museums.
Die Lage des Untersuchungsgebiets an der peruanischen Südküste.
24 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Fotos und Abb.: DAI, KAAK, Reindel, Centro de Investigación para la Arqueología y el Desarrollo (ANDES), Isla
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 25
STANDPUNKT
„Wir wohnen nur in einem kleinen Teil der
Erde … rings um das Meer, so wie Ameisen
oder Frösche um einen Tümpel herum“,
ließ der griechische Philosoph Plato einen
der Protagonisten seiner Dialoge bemerken. Eine solche kleine Teichwelt scheint
Lichtjahre von unserer globalisierten und
vernetzten Welterfahrung entfernt zu sein;
einer Welt die uns immer mehr als ein
komplexes System begegnet, in dem die
einzelnen Regionen nicht mehr separat
existieren und agieren. Die Nutzung von
Ressourcen und der Raubbau in der einen
Ecke der Welt beeinflussen das Klima in der
anderen. Das Internet verbindet und
erlaubt den Zugriff auf Informationen
weltweit und dies in vielfältige Richtungen. Vermag der Blick in die Antike also
nur das Bedürfnis nach der „guten alten
Zeit“ zu befriedigen, die weniger komplex
und dafür überschaubarer war?
Die zentralen Bausteine griechischer Gesellschaft waren in der Antike das Haus,
der oikos, und die Stadt mit ihrem Umland,
die Polis. Und diese Module wurden exportiert und in Form von Siedlungsgründungen im Mittelmeer und Schwarzen Meer
an die Küsten verpflanzt. Und tatsächlich
lagen diese Kolonien um das Mittelmeer
herum wie im Bild des platonischen Dialogs beschrieben. Sie waren damit aber
auch über das Mittelmeer miteinander
verbunden. Es waren jedoch nicht allein
die Griechen, die dort saßen, sondern auch
die Phönizier. Ausgehend von den Stadt-
staaten der Levante besiedelten sie die
Küsten Nordafrikas und Spaniens. Vom 8.
Jahrhundert v. Chr. an reihten sich die griechischen und phönizischen Siedlungen
wie Perlen an der Küstenlinie, und zwischen ihnen spannte sich ein komplexes
Netzwerk von Handel und Austausch aus.
Das Mittelmeer, das in einer langen historischen Perspektive trennend und verbindend sein konnte, war damals also anders
als heute durch eine Vielzahl an Kontakten
vernetzt. Kein Abkommen von Schengen
kanalisierte und beschränkte die Kommunikation durch eine quer durch das Mittelmeer verlaufende „Grenze“.
Es wäre jedoch zu kurz gedacht, wenn man
die griechischen und phönizischen Kontakte allein als mittelmeerisches Binnennetzwerk verstehen würde. Über die Flussläufe und Handelswege bestand ein
intensiver Kontakt mit anderen Kulturen
und der kulturelle Austausch reichte zum
Beispiel bis in keltisches Gebiet und dortige
Grabhügel, in denen griechische Importe
gefunden wurden. Spätestens mit den
Römern kommt es zu einem Paradigmenwechsel des Umgangs mit dem Mittelmeerraum. Das Entstehen territorialer Reiche
besonders seit den Feldzügen Alexanders
des Großen wurde von den Römern in ein
das gesamte Mittelmeer umschließendes
Territorialreich überführt. Man vernetzte
das Imperium nicht nur über das Meer, sondern auch über ein Straßennetz. Und über
sehr flexible Grenzsysteme kontrollierte
man die Kontakte auch nach Afrika hinein.
Levante
Byblos
Sidon
Tyros
Titelthema „Vernetzte Welten“, ab S. 36
26 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Vernetzte Welten
Und gerade auf diesem Kontinent überlagerten sich die antiken Mittelmeerkulturen mit anderen Kulturkreisen, etwa mit
demjenigen, der sich um die Sahara herum
gruppiert. Dieser überschneidet sich in
Äthiopien mit der Kultur im Jemen und
darüber mit den Kulturen des Alten Vorderen Orients. Die Arabische Halbinsel war
wiederum über den pazifischen Ozean mit
den Kulturen Indiens fast wie um ein Binnenmeer gruppiert. Und diese Region wiederum führt zu den Vernetzungen des
Zentral- und Mittelasiatischen Raumes,
des Raumes, der aus der Perspektive des
antiken Griechenland durch die Feldzüge
Alexanders des Großen näherrückte. Diese
sich überlagernden Räume konnten durch
Fernhandel auf dem See- und Landweg
große Kulturräume vernetzen. Nicht
zuletzt ist die Seidenstraße hier ein eindrücklicher Beleg.
Alle diese komplexen und vernetzten
Räume mit ihren Wegen und Durchgangszonen, deren Strukturen sich manchmal
bis hin zu den Flüchtlingsströmen weltweit zu wiederholen scheinen, sich manchmal aber auch grundsätzlich neu zu justieren scheinen, kann man nur in einem
globalen wissenschaftlichen Blick verstehen. Dafür bedarf es einer Archäologie mit
weltweitem Blick.
Die Erforschung der frühen Kulturen der
Menschheitsgeschichte gleicht in den Fragestellungen dabei nicht nur den modernen Area Studies, sondern kann wesentlich zu ihnen beitragen. Schließlich sind
die antiken Kulturen die Grundlagen unserer heutigen Zivilisationen – nicht nur in
einzelnen Merkmalen, sondern auch mit
ihren Verbindungen untereinander. Dabei
überschreiten nicht selten die Räume der
antiken Kulturen moderne nationalstaatliche Grenzen und stellen diese in Frage. Sie
können aber auch wie die Ausbreitung der
bronzezeitlichen Kultur des europäischen
Raumes im 2. Jahrtausend eine scheinbare
Begründungen des modernen politischen
Raumes der europäischen Union liefern.
Der Blick in die Antike kann vor allem diese
sich ändernden Räume und Vernetzungen
hervortreten lassen und hilft unsere heutigen Konstruktionen und Verlagerungen zu
neuen Kernregionen und -zentren der
Globalisierung aus anderen Perspektiven
zu betrachten, und er kann die Frage be-
STANDPUNKT
Vernetzte Forschung
Wie Frösche um den Teich saßen die
Griechen an den Küsten „rings um
das Meer“. So beschrieb Platon das
Ergebnis einer Kolonisation.
antworten, ob kulturelle Räume, Handelswege, Austausch und Vernetzungen
gleichbleibend durch die Geographie vorgegeben sind oder sich nicht doch auch
immer wieder unabhängig davon neu ausrichten.
Weltweit Archäologie zu betreiben, bedeutet also immer neue Perspektivenwechsel,
und weltweit zu forschen, bedeutet nicht
nur eine Zusammenarbeit in einer Vielzahl
von Disziplinen, sondern mehr noch in
einer Vielzahl von Kooperationen in den
Gastländern unserer Forschung.
Friederike Fless
Die Autorin, Prof. Dr. Friederike Fless,
ist Präsidentin des Deutschen
Archäologischen Instituts
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 27
LANDSCHAFT
Die Fahrtzeit zwischen zwei Kontinenten beträgt
vier Minuten, 75.000 Menschen pro Stunde
werden durch den Tunnel in 56 Meter Tiefe unter
dem Meeresgrund transportiert. Sie durchfahren
den ersten Transkontinentaltunnel der Welt, der
Europa mit Asien verbindet und einmal als Teil
einer „eisernen Seidenstraße“ dem Güterverkehr
bis nach China dienen soll. Zunächst aber soll
der Marmaray-Tunnel durch den Bosporus dazu
beitragen, die Verkehrsprobleme der türkischen
Metropole Istanbul zu lösen. Ende Oktober 2013
wurde die Bahnverbindung eröffnet.
PASSAGEN
Die Meerenge zwischen Europa und Kleinasien,
die das Schwarze Meer mit dem Marmarameer
verbindet, ist eine gefährliche Passage, etwa 30
Von Bosporus zu Bosporus
Kilometer lang und 700 bis 2500 Meter breit. Ein
kräftiger Oberstrom aus dem Schwarzen Meer,
das seinen Wasserüberfluss in das „aride“
Mittelmeer ergießt, das mehr Wasser verdunstet
als ihm zufließt, macht besonders die Fahrt nach
Osten zu einem schwierigen Unterfangen. Jason,
der Anführer der Argonauten, musste auf seiner
Fahrt nach Kolchis zwei heimtückische Felsen,
die Symplegaden, passieren, die an der Einmündung des Bosporus in das Schwarze Meer lagen
und schaffte es nur mit göttlicher Hilfe.
Die Versuche der Griechen, auf der Suche nach
Wikimedia.Commons
Land und Gütern den Bosporus zu durchschif-
28 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
fen, waren zunächst auf wenige Monate im Jahr
beschränkt, bis um 700 v. Chr. ein kundiger
Schiffbauer stärkere Ruderboote entwickelte, die
es auch ohne göttliche Hilfe schafften, die
gefährliche Wasserstraße zu passieren – bis zum
nächsten Bosporus.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 29
LANDSCHAFT
Asowsches Meer
Mündungsdelta
Kimmerischer Bosporus
des Kuban
Straße von Kertsch
Schwarzes Meer
Thrakischer Bosporus
Blick vom asiatischen Teil des Bosporus auf den nördlichen Bereich der Straße von Kertsch, den antiken Kimmerischen Bosporus.
Der Blick fällt auf die Gegend des antiken Porthmion.
Foto: Schlotzhauer
Rekonstruktionsversuch des antiken „Kuban“Bosporus: oben die heutige Situation –
unten die hypothetische Rekonstruktion.
Betrachtung von der antiken Siedlung Strelka
2 am Westufer des „Kuban“-Bosporus nach
Osten in das heutige Kubantal, im
Norden die Küste der ehemaligen Temrijuk(Halb)insel gegenüber und südlich die
Küsten der Sindike.
Foto und Rekonstruktion: Kai-Browne
„Der“ Bosporus ist im allgemeinen Sprachgebrauch stets die
Meerenge, die der modernen Großstadt Istanbul ihr Gesicht gibt,
die zuvor die Metropole Konstantinopel prägte und an der die
griechische Stadt Byzantion im 7. Jahrhundert v. Chr. zur Sicherung der wichtigen Wasserstraße gegründet worden war. Sprechen Archäologen aber vom ‚Bosporanischen Reich’, meinen sie
die Region an einer anderen Wasserstraße, dem ‚Kimmerischen
Bosporus’, Meerenge zwischen Schwarzem und Asowschem Meer,
im Unterschied zum ‚Thrakischen Bosporus’. Auch der Kimmerische Bosporus war in der Antike und ist – als Straße von Kertsch
– auch in modernen Zeiten stets begehrt und oft umkämpft. Er
trennt die Halbinsel Krim im Westen von der Taman-Halbinsel im
Osten, ist rund 40 Kilometer lang und an ihrer schmalsten Stelle
vier Kilometer breit. Wie die meisten Meerengen ist er sowohl
Sperrriegel wie Transitweg zwischen den Kontinenten und ermöglichte den Griechen, die Land suchten und Handel treiben wollten,
die Passage zur fischreichen und fruchtbaren Donmündung.
Udo Schlotzhauer von der Eurasien-Abteilung des Deutschen
Archäologischen Instituts erforscht in enger Zusammenarbeit mit
Denis Žuravlev vom Staatlichen Historischen Museum in Moskau
in einer interdisziplinären landschafts- und siedlungsarchäologischen Regionalstudie die griechische Kolonisation auf der TamanHalbinsel. Im frühen 6. Jahrhundert v. Chr. gründeten Griechen aus
Kleinasien die ersten Siedlungen in der Region. Im buchtenreichen Mündungsdelta des Kuban fanden sie eine strategisch güns-
tige Situation, und bald schon kontrollierten zahlreiche befestigte
Siedlungen beiderseits des Kimmerischen Bosporus die für den
Getreide-, Wein- und Fischhandel wichtige Durchfahrt zwischen
Schwarzem und Asowschem Meer.
„Wir wollen die hier noch wenig erforschten Aspekte griechischer
Kolonisation untersuchen“, sagt Udo Schlotzhauer. „Wie gestaltete
sich der Ablauf der Landnahme? Wie verliefen die Kontakte zur
ansässigen Bevölkerung, wie die Kontakte der Kolonien untereinander? Wie haben wir uns die klimatische Situation, die Bodenverhältnisse und die Vegetation, also alles in allem auch das Verhältnis der Menschen zu ihrer Umwelt vorzustellen?“ Besonders
interessant ist für die Archäologen die geomorphologische Situation der Region, denn alte Quellen berichten, dass ein Teil der heutigen Taman-Halbinsel zur Zeit der ersten griechischen Besiedlung
aus einzelnen Inseln bestand.
Anzahl und Größe der Inseln sind unbekannt, auch Namen kennt
man keine. „In der Wissenschaft war die Formation lange falsch
dargestellt“, erklärt Schlotzhauer. „Aber heute wissen wir, dass der
asiatische Teil des Kimmerischen Bosporus zur fraglichen Zeit tatsächlich noch aus einzelnen Inseln bestand.“ Anschwemmungen
des Kuban haben den einstigen Archipel in den vergangenen
zweieinhalbtausend Jahren in eine Halbinsel transformiert.
Blick auf die heutige Situation des ehemaligen
»Kuban«-Bosporus und die gegenüberliegende
Küste der Sindike. Der Seefahrtsweg ist an dieser
Stelle vollständig durch die Sedimentation des
Flusses Kuban verlandet. Die steilen Kliffs zeugen
aber noch von der früheren Küstensituation.
Foto: Kai-Browne
30 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 31
LANDSCHAFT
1
2
3
1 Ein Reibstein zum Mahlen des Getreides aus Fundkontexten des 6.–5. Jahrhunderts v. Chr. aus der Siedlung Golubickaja 2.
Vielleicht ist er ein Zeichen dafür, dass die Griechen schon Zugriff auf die Ressourcen der weit entfernten Vulkangebiete des zentralen Kaukasus hatten,
vielleicht brachten sie die Steine mit den besonderen Materialeigenschaften aber auch aus ihren Heimatgebieten in Kleinasien mit. Naturwissenschaftliche
Untersuchungen in Kooperation mit der Universität Mainz sollen dies klären.
2 Randfragment einer attischen Kleinmeisterschale mit der Darstellung einer Amazone oder der Athena aus der Siedlung Golubickaja 2; 540–520 v. Chr.
4
3 Bodenfragment einer dunkelgrundigen Kotyle (Black Kotyle) mit Strahlenkranz aus der Siedlung Golubickaja 2; 570–550 oder kurz nach 550 v. Chr.
4 Gefäßfragment einer nordionischen Amphora mit einem Steinbock im Schulterbildfeld aus der Siedlung Golubickaja 2; nordionisch 590–570 v. Chr.
Fotos: I. Seden’kov
DAS BOSPORANISCHE REICH
Etwa hundert Jahre nach Beginn der griechischen Kolonisation
löste der missglückte Feldzug des Perserkönigs Dareios I. im späten 6. Jahrhundert v. Chr. Bewegungen unter den Völkern am Kaukasus und in der Steppe aus. Wohl als Reaktion auf diese Bedrohung formierten sich im Verlauf des 5. Jahrhunderts v. Chr. die
freien griechischen Gemeinden am Kimmerischen Bosporus zu
einem für die griechische Welt damals noch ungewöhnlichen
Staatsgebilde, dem ‚Bosporanischen Reich’. Dieser erfolgreiche
Zusammenschluss freier griechischer Poleis hatte sein politisches
Zentrum in Pantikapaion auf der Krim, mit Phanagoreia gab es
eine zweite führende Stadt auf den Inseln. Mit der Zeit dehnte sich
das Bosporanische Reich rund um das Asowsche Meer aus und
blieb bis weit in die Spätantike hinein bestehen. Im 4. und 3. Jahrhundert v. Chr. galt es als einer der wichtigsten Getreideexporteure der antiken Welt. Aber seit wann genau lässt sich dies nachweisen? Archäobotanische Untersuchungen sollen hier Klarheit
schaffen.
Getreidereste, Reibsteine und Keramik sind die Grundlage für
Forschungen zur Wirtschaftsweise und zu möglichen wirtschaftlichen Kontakten. Neben den klassischen archäologischen
Methoden kommen naturwissenschaftliche Untersuchungen zum
Tragen. „Wir arbeiten in der Archäologie heute mit verschiedenen
Disziplinen der Naturwissenschaften zusammen“, erklärt Schlotzhauer. Untersuchungen zum Klima, zur Vegetation, zu den Bodenverhältnissen und zum menschlichen Einfluss auf die Unwelt sind
unverzichtbar. Eine belastbare Rekonstruktion von Landschaft
und gebauter Umwelt kann die Gründe für die Ortswahl wie auch
für spätere Veränderungen in der Siedlungskonzeption und letztlich den Ablauf der Kolonisation selbst klären. „Aber zur Erforschung der natürlichen Umwelt gehört natürlich auch die Erfas-
32 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
sung des politischen und kulturellen Raumes“, beschreibt der
Archäologe den ganzen Umfang der Forschung. „Wir untersuchen
Markierungen, Strukturen und die Organisation von Räumen und
darüber hinaus Strategien der Nutzung von Bauwerken – seien es
Heiligtümer, Verteidigungsanlagen, Siedlungen oder die großen
Grabhügel, die man Kurgane nennt.“ Religiöse, kulturelle und
machtpolitische Sphären lassen sich so ausmachen, eingebettet
in die natürliche Region, in die die Kolonisten einst zogen.
„Nur wenn wir alle Befunde in einer Zusammenschau analysieren,
können wir zu einem umfassenden Bild der Lebensverhältnisse
antiker Kulturen gelangen“, sagt Udo Schlotzhauer.
Die Griechen drangen im Zuge der „Großen Kolonisation“ weit
nach Osten vor, überwanden dabei zwei Bosporoi und machten
sich die strategischen Vorteile der Passagen und ihrer Landschaften zunutze. Sie erweiterten ihr Territorium und ihr Handelsnetz
und das Einflussgebiet griechischer Kultur und Sprache. Im Westen drangen sie bis ins heutige Frankreich und Spanien vor und
gründeten die Städte, die mit modernen Namen Nizza und Marseille heißen. Für den griechischen Historiker und Ethnographen
Herodot war dieser westliche „Bosporus“, die Straße von Gibraltar
mit den Säulen des Herakles, das Ende der Welt.
(siehe auch „Vernetzte Welten“, ab S. 36 und vgl. „Phönizisch-Iberisches Joint Venture“, S. 12)
K O O P E R AT I O N
Dr. Denis Zhuravlev (Staatliches Historisches Museum Moskau)
Prof. Dr. Helmut Brückner, Dr. Daniel Kelterbaum, Geographisches
Institut, Universität zu Köln (Geoarchäologie, Küstenmorphologie
und Geochronologie)
Prof. Dr. Hans-Joachim Gehrke, Präs. i.R. des Deutschen Archäologischen Instituts
Dr. Anca Dan, CNRS Paris, in AOROC - Ecole Normale Superieure
(Historische Geographie)
Georgii A. Lomtadze, Staatliches Historisches Museum, Moskau
(Fundplatz Achtanizovskaja 4)
Prof. Dr. Kay Kohlmeyer, Ulrike Thüring, Christina Becker, Arie KaiBrowne M.A., Studiengang Konservierung und Restaurierung/
Grabungstechnik, Hochschule für Technik und Wirtschaft Berlin
(Geodäsie)
Drs. Reinder Neef, Naturwissenschaftliches Referat an der Zentrale
des DAI, Berlin (Paläobotanik)
Dr. Mischa Sablin, Zoologisches Institut, Akademie der Wissenschaften, St. Petersburg (Paläozoologie)
Dr. Harald Stümpel, Dipl. Geophysikerin Christina Klein, Institut für
Geowissenschaften, Angewandte Geophysik, Christian Albrechts
Universität Kiel (Geophysik)
Dr. Nikolai Sudarev, Archäologisches Institut, Russische Akademie
der Wissenschaften, Moskau (östliche Taman-Halbinsel) und SüdRussisches Zentrum für Archäologische Forschung (Krasnodar)
Der Archäologe
Dr. Udo Schlotzhauer ist
Wissenschaftlicher Mitarbeiter
an der Eurasien-Abteilung des
DAI
FÖRDERUNG
Bundesministerium für Bildung
NASA
und Forschung (BMBF)
Gerda-Henkel-Stiftung
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 33
FRÜHHELLENISTISCHE KUNST
Es war eine Schwertscheide aus Elfenbein, deren geschnitztes
Relief eine bewegte Kampfszene zeigt. Im Zuge eines Forschungsprojekts der Eurasien-Abteilung des Deutschen Archäologischen
Instituts wurden sämtliche Altfunde aus dem Oxos-Tempel katalogisiert, um darauf basierend die Votivpraxis in verschiedenen baktrischen Heiligtümern vergleichend zu untersuchen. Bei der systematischen Sichtung der Lagerräume der Akademie tauchte 2007
das verloren geglaubte Objekt wieder auf. Seitdem wird die
Schwertscheide in einer Einzelvitrine des Museums präsentiert.
Die Form des ehemals über 20 cm langen Beschlags lässt noch
seine Fertigung aus einem Elefantenzahn erkennen. Während das
zur Scheidenspitze gerichtete Bildfeld mit filigranen Ranken verziert ist, zeigt das obere Bildfeld den Kampf zwischen Reitern und
Fußsoldaten. Die Szene am rechten Bildrand ist am deutlichsten
zu erkennen: Auf einem kräftigen Schlachtross prescht ein Reiter
auf einen Fußsoldaten zu, der sich dem Angreifer mutig entgegenstellt. Den Stoß der Lanze, die in der Rechten des Reiters zu
ergänzen ist, versucht der Infanterist mit einem Schild abzuwehren, während er gleichzeitig mit einem Schwert zum Gegenschlag
ausholt.
Die Darstellungsweise des Kampfes entspricht einem geläufigen
Schema der frühhellenistischen Kunst, wie es beispielsweise von
den Reliefs des sogenannten Alexandersarkophages aus Sidon
(Libanon) und von Grabmalereien in Makedonien bekannt ist. Die
Schwertscheide wurde also entweder aus dem Westen importiert,
oder – was wahrscheinlicher ist – in Baktrien von einem Handwerker gefertigt, der mit griechischen Vorlagen vertraut war. Ob sie
von einem griechischen Migranten in das Heiligtum geweiht
wurde oder von einem Baktrer, lässt sich nicht erschließen. Doch
belegt ihre Auffindung im „fernen“ Osten die weiträumige Verbreitung griechischer Kunsttraditionen in hellenistischer Zeit.
Gunvor Lindström
DAS OBJEKT
Der Name der Region ist heute nicht unmittelbar geläufig, doch in
einer anderen Zeit war sie keineswegs eine Unbekannte. Baktrien
war ein antikes Land in Mittelasien, im Süden des heutigen Usbekistan und Tadschikistan sowie im nördlichen Afghanistan.
Alexander der Große benötigte drei Jahre (329–327 v. Chr.), um die
reiche und widerständige Region zu erobern, die in den folgenden Jahrhunderten zur hellenistischen Welt gehörte. Durch die
Ansiedlung zahlreicher aus dem Westen stammender Siedler entwickelte sich mit der Zeit eine Mischkultur, die griechische und
einheimische Elemente verband. Zu den bedeutendsten Fundorten der Region gehört der Oxos-Tempel im heutigen Tadschikistan, der trotz seiner Errichtung in hellenistischer Zeit kein griechischer Säulentempel war, sondern ein aus ungebrannten
Lehmziegeln errichteter Monumentalbau mit einer an einheimische Bautraditionen anknüpfenden Architektur. Der Tempel war
dem lokalen Flussgott Oxos gewidmet und wurde zwischen 1976
und 1991 von einer sowjetischen Expedition ausgegraben, wobei
viele kunstvolle Objekte aus Gold, Silber, Elfenbein, Edelsteinen
und anderen Materialien zu Tage kamen. Sie führten für lange Zeit
ein Schattendasein, denn sie lagerten in einem Kellerraum der
Akademie der Wissenschaften in Duschanbe und waren während
des Bürgerkriegs in Tadschikistan, der nach dem Ende der Sowjetunion herrschte und bis 1997 andauerte, selbst für ihre Ausgräber nicht zugänglich. Erst als 2001 das „Nationalmuseum der
Antike“ eingerichtet wurde, holte man zahlreiche Funde aus den
Magazinräumen und präsentierte sie im Hauptsaal des Museums.
Dabei blieb ein besonderes Fundstück zunächst verschollen.
BEWEGTER K AMPF
Eine Schwertscheide aus dem Oxos-Tempel in Baktrien
Dr. Gunvor Lindström von der EurasienAbteilung des DAI hat sich als Klassische
Archäologin auf die Kulturen des hellenistischen
Orients spezialisiert und ist seit 2003 in
Mittelasien tätig. Nach Abschluss eines von
der Deutschen Forschungsgemeinschaft
Schwertscheide aus Elfenbein, deren
(DFG) geförderten Projektes zur „Votivpraxis
geschnitztes Relief eine bewegte
im hellenistischen und kuschanzeitlichen
Kampfszene zeigt.
Baktrien“ leitet sie seit 2013 die Erforschung
Foto: DAI Eurasien-Abteilung
eines neu entdeckten Heiligtums in
Torbulok/Xušdilon im Südwesten Tadschikistans.
34 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 35
TITELTHEMA
Waldgirmes
Taganrog
Nizza
Rom
Metapont
Alcorrín
Euböa
ante
Lev
Berytos
Byblos
Sidon
Tyros
Mogador
Weihrauchstraße
Phönizier
Griechen
Römer
Bei den „Säulen des Herakles“ liege die westliche Grenze der Oikumene, der bekannten Welt,
berichtet Herodot, Reisender, Geschichtsschreiber und Ethnograph, seinen Zeitgenossen
im 5. Jahrhundert v. Chr. Er kannte das Schwarze und das Kaspische Meer im Osten, „Libyen“ im
Süden, eher rätselhaft war ihm der Norden. Gut 500 Jahre später erklärt Ptolemaios in seiner
VERNETZTE WELTEN
Mobilität, Migration und Handel in der Antike
36 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
„Geographie“, ein und derselbe Mensch könne die „wirkliche Erde, riesig groß“ niemals als Ganzes
bereisen. Für 8.000 Orte hatte er Koordinaten gesammelt, die aus Reiseberichten, Wegweisern
von Handelsreisenden und aus den Periploi der Schiffskapitäne stammten. Wie bei Herodot geht
es bei Ptolemaios ums Reisen, um die Erfassung von Räumen, die Verbindung zwischen
Punkten, die Beschreibung von Wegen und Ländern samt ihren mitunter fantastischen Bewohnern, die Vernetzung zwischen Kulturen – Transfer, Transport, Transformation. Mit einem Wort:
Mobilität. Das Zentrum ihrer beider Welt war das Mittelmeer.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 37
1 Das wüstenresistente Dromedar war das
1 Das Heiligtum von Delphi war Hauptinfor-
Hauptverkehrsmittel auf der Weihrauch-
mationsbörse während der Großen Griechi-
straße.
schen Kolonisation.
TITELTHEMA
Wikimedia.Commons
2 Das Harz des Baumes Boswellia sacra war
eines der teuersten Luxusgüter der Antike.
2 Blick auf die westliche Mole des Hafens
von Pergamon.
DAI, Abteilung Istanbul
1
Mobilität und Vernetzung sind bestimmende Elemente modernen Lebens. Reales Geld und virtuelles Geld in ständigem
Fluss, Handelsvolumnia, die niemand
mehr übersieht, Vernetzungen und Kulturaustausch, Preisexplosionen und Expansionsstrategien, Schutz- und Wegezoll in
exorbitanter Höhe, politische Auseinandersetzungen, ungeahnte Möglichkeiten
und nie gekannte Freiheitsgrade, Wettbewerb – und immer wieder Wettbewerb
sind Komponenten und Szenarien eines
Weltzustandes, den man Globalisierung
nennt und ganz zu Unrecht für etwas eher
Neuartiges hält. Aber Mobilität, Handel
und Vernetzung bestimmten das Leben
viel mehr, als wir uns heute in der Regel
vorzustellen vermögen, schon in der
Antike, wenn auch die Formen und die
Geschwindigkeiten andere waren als
heute, und andere waren auch die realen
und gedachten Territorien und Grenzverläufe.
Am Ende des 2. Jahrtausends v. Chr. wurde
das Dromedar, ein ungemein wüstentaug-
2
liches Reit- und Lasttier, domestiziert. Dies
war die Voraussetzung für die Entstehung
eines blühenden Handels auf der Arabischen Halbinsel, und im 10. Jahrhundert v.
Chr. entstand ein Handelsweg, der nach
einem der verhandelten Luxusgüter bis
heute „Weihrauchstraße“ heißt. Sie verband die Arabische Halbinsel, die Levante,
Ägypten, das Mittelmeer, Ostafrika und
Indien miteinander. Entlang ihres Verlaufs
entstanden mächtige und sehr reiche
Oasenkulturen mit großen urbanen Zentren, die der Wüste mit kluger Ingenieurskunst große Lebensräume abtrotzten. Sie
waren durch ein dichtes Netzwerk miteinander verbunden, Relaisstationen für Handel, Kulturkontakt und Kommunikation.
Die Straße endete an der ägyptischen und
levantinischen Mittelmeerküste, nicht aber
das Geschäft mit dem kostbaren Harz. Verhandelt wurde es sogar bis ans Ende derjenigen Welt, die Herodot im 5. Jahrhundert
v. Chr. beschrieb, und eine der Routen, auf
der das geschah, ist heute in Google Maps
nicht zu finden. Sie führt „quer“ durchs Mit-
1
telmeer und verbindet so den Orient mit
dem Okzident.
Vor nicht ganz 3000 Jahren beherrschten
die Phönizier den Handel im Mittelmeer
und darüber hinaus. Als Herodot seine
Welt mit den „Säulen des Herakles“ begrenzte, waren sie längst darüber hinaus in
den Atlantik gesegelt. Auf ihren Reisen landeten sie an den südlichen Küsten ebenso
wie an den nördlichen oder auf einigen
der zahllosen Inseln. Ihr Ruf als Seefahrer
war ebenso exzellent wie der als Handwerker und Künstler, Konkurrenz war nicht in
Sicht. Sie gründeten Städte, ohne Territorien zu besetzen und sie legten sich mit
niemandem an, solange niemand ihnen
ihre Domäne streitig machte.
Vom 8. bis zum 6. Jahrhundert v. Chr. ereignete sich im Mittelmeeraum etwas, was
man später die „Große Griechische Kolonisation“ nannte. Einzelne Gruppen zumeist
waffenfähiger Männer machten sich auf,
das Meer zu dem ihren zu machen – zu-
mindest an seinem nördlichen Ufer. Einige
wollten Handel treiben, manche wollten
aber auch Land gewinnen, Städte gründen
und von vorn anfangen. Fast alle gingen
zuvor nach Delphi, um im Heiligtum des
Apollon das Orakel zu befragen. So wird
der Tempel nicht nur ein heiliger Ort, sondern auch ein Umschlagplatz für Informationen geographischer, nautischer und
ethnologischer Art, die häufig von den
Phöniziern stammten, die sich hier und da
unter Einheimischen angesiedelt hatten.
In der Folge siedeln die Griechen nicht nur
an den Küsten des Mittelmeers, gründen
Städte wie Nizza und Marseille im Westen
und versuchen, den Phöniziern Konkurrenz zu machen. „Wie Frösche um den
Teich“ sitzen sie auch an den Küsten des
Schwarzen Meeres und dringen bis an den
Fuß des Kaukasus vor.
ändert. Die Römer lösten sich wie zuvor
Alexander der Große vom mediterranen
Netzwerk und erschlossen große Territorien. Daher waren sie anders als vorher die
Phönizier oder „Punier“ und zum Teil die
Griechen nicht allein auf das Meer fixiert.
Ihr Weg ist die Straße. 80.000 Kilometer
befestigte „viae“ ziehen sich durch die
halbe damalige Welt, in Kleinasien, Griechenland, Germanien, Gallien, Britannien.
Es ist die Zeit, als Augustus der erste Kaiser
eines unbesiegbar scheinenden Imperiums ist. Am Ende hat keine andere Vernetzungsstrategie der Antike so viele materialle Folgen hinterlassen wie das römische
Straßennetz, seine Meilensteine, ein Mammutbauwerk namens „Limes“ – in seiner
ursprünglichen Bedeutung „Weg“ und
nicht „Grenze“ – sowie zahllose Städte und
Siedlungen.
„Mare Nostrum“ heißt schließlich die römische Version des Mittelmeers. Die antike
Welt war durch die Expansion des Imperium Romanum in ihren Grundfesten ver-
Antike Kulturen zu erforschen und plausibel rekonstruieren zu können, ist eine
Herausforderung, die immer nur in einer
fächerübergreifenden Perspektive geleis-
2
tet werden kann. Archäologie und Altertumswissenschaften müssen mit Naturwissenschaften zusammenarbeiten, um
die komplexen Bezüge zwischen der Menschenwelt, ihrer natürlichen Umwelt und
ihrer materiellen Umgebung auszuleuchten. Weit komplexer noch sind die zahlreichen Überschneidungen, Vernetzungen,
Verlagerungen und Austauschprozesse,
die antike Gesellschaften kulturell, politisch,
ökonomisch miteinander verknüpften –
sei es in friedlichen Aushandlungsprozessen, sei es in militärischen Auseinandersetzungen oder wie so oft in Kombinationen
aus beidem. Außer der interdisziplinären
Perspektive ist es daher ein grundlegendes
Charakteristikum der Vorhaben des Deutschen Archäologischen Instituts (DAI), in
Kooperation mit Wissenschaftlern und Institutionen der Gastländer des Instituts zu
arbeiten, da sich nur im gemeinsamen
Blick aus unterschiedlicher Perspektive ein
einigermaßen erkennbares Bild der sehr
bewegten Antike zeichnen lässt.
1Auf ihren Reisen verhandelten die
Phönizier Handwerkskunst, Schmuck, Purpur
und Spezereien.
1 Keine Karte, sondern das
DAI, Abteilung Madrid
Straßennetz des Imperium Romanum:
die Tabula Peutingeriana.
1
38 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
2
2 Ihre Schiffe trugen auf dem Steven zumeist
einen Pferdekopf.
2 Römische Straßenbauinschrift in Albanien.
1
2
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 39
TITELTHEMA
Wohlgeruch des Orients, heiliger Mittler zwischen den Welten und Quelle märchenhaften
Reichtums – eines der begehrtesten Handelsgüter der Antike war das aromatische Harz
des Baumes Boswellia sacra. Es wurde in Gold aufgewogen und über Tausende Kilometer
verhandelt. Es konnte Kranke heilen und das Wohlwollen höherer Wesen in den Tempeln
vieler Regionen und Religionen erwirken. Um es zu gewinnen, wurden die Bäume eingeritzt – bis heute hat sich das Verfahren nicht geändert. Beim Verglühen entwickelt das
getrocknete Harz aromatisch duftenden Rauch, dessen wohltuende Wirkung seit jeher
bekannt und geschätzt ist: Weihrauch.
WOHLTUENDER REICHTUM
Vor rund 3000 Jahren nahm der internationale Handel mit Weihrauch seinen Anfang. In
Dhofar, im heutigen Oman, wurde das begehrte Harz gewonnen und bis an die Küste des
Mittelmeers transportiert. Für Herodot war das Land, aus dem der Weihrauch stammt, ein
mythisches Land, bewohnt von Fabelwesen und Drachen. Tatsächlich war dieses Land der
Anfangspunkt einer der ältesten Handelsrouten der Welt. Die Weihrauchstraße führte
durch den Jemen über die Arabische Halbinsel über eine Strecke von über 3000 Kilometern bis nach Gaza und im Osten bis Damaskus. Wichtige Handelsstationen an der Straße
oder in ihrer Nähe waren Sana’a, Medina, Tayma und Petra.
40 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Wikinger-Blog
Die Weihrauchstraße ist eine der ältesten
Handelsrouten der Welt
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 41
Der große Tempel von Yeha in Äthiopien weist deutliche Merkmale
sabäischer Architektur auf. Möglicherweise wollten Sabäer
den Weihrauchhandel über die Arabische Halbinsel hinaus auf den
afrikanischen Kontinent ausdehnen. DAI, Orient-Abteilung
Es war womöglich das einträgliche Geschäft mit Weihrauch und
Myrrhe, das Bewegung in die sabäische Bevölkerung brachte. Iris
Gerlach erforscht die signifikanten Übereinstimmungen zwischen
der sabäischen Kultur auf der südlichen Arabischen Halbinsel und
im nördlichen Äthiopien sowie südöstlichen Eritrea. Der große
Tempel von Yeha in Äthiopien weist deutliche Merkmale sabäischer Architektur auf. „Ein Grund für die beginnende Migration
sabäischer Bevölkerungsgruppen in dieses Gebiet mag darin liegen, den Weihrauchhandel über die Arabische Halbinsel hinaus
auf den afrikanischen Kontinent auszudehnen und die dort
befindlichen Anbaugebiete des Weihrauchbaums unter Kontrolle
zu bringen“, erklärt Gerlach. Die Vernetzung des Handels- und Verkehrszentrums Marib reichte weit in überregionale Wirtschaftsräume.
Ebenfalls eingebunden in die weiträumigen Handelsnetze, wo
sich alte Handelswege kreuzen, ist eine andere berühmte Station
an der Weihrauchstraße. Wie Marib ist die Oase Tayma eine bedeu-
tende Territorialmacht und ebenfalls reich durch den Handel mit
kostbaren Gütern, aber auch als unvermeidliche Station für Karawanen, die oft Hunderte von Lasttieren zu tränken hatten – die
nächste Wasserstelle lang 150 Kilometer entfernt. Ricardo Eichmann und Arnulf Hausleiter von der Orient-Abteilung des DAI
gehörten zu den ersten ausländischen Wissenschaftlern, die in
Saudi-Arabien arbeiten durften. Seit 2004 erforschen sie den Ort,
den man aus der Bibel und auch schon aus keilschriftlicher Literatur vor allem als Handelsplatz kennt. Aus der einfachen Oasensiedlung war im Laufe der Zeit ein mächtiges Zentrum mit öffentlichen Bauwerken und ausgedehnten Wohngebieten geworden,
das sich sogar im 2. Jahrtausend mit einer großen Stadtmauer
eine Grenze gab. Bereits zu dieser Zeit gibt es Kontakte mit Ägypten und der Levante.
Es war der hohe Bedarf an Weihrauch bei kultischen Handlungen
im Mittelmeerraum, die zu einer Blüte des Handels mit dem aromatischen Harz führte. Die Nachfrage für ein derart lebensnotwendiges Gut wurde auch durch die astronomischen Preise nicht
„elastisch“, wie die Ökonomen es ausdrücken. Oasen, Händler
und Karawanenführer wurden reich, und am Ende der Handelskette konnte der Weihrauch bis zum 300-fachen seines Ursprungswertes erzielen. Das Marktgeschehen änderte sich, als
die ptolemäischen Herrscher Ägyptens ab dem 2. Jahrhundert v.
Chr. den Seeweg durch das Rote Meer erschließen ließen. Ab
dem späten 1. Jahrhundert v. Chr. kontrollierten schließlich die
Römer den Weihrauchhandel auf dem Seeweg und vermieden so
die hohen Zölle und Abgaben, die auf der Landroute erhoben
wurden – mit Folgen für die Königreiche auf der arabischen Halbinsel.
TITELTHEMA
Die Außenstelle des Deutschen Archäologischen Instituts in
Sana’a im Jemen wird von Iris Gerlach geleitet. Die Archäologin
untersucht die bedeutendste Oasenkultur am östlichen Rand des
jemenitischen Hochlands, eine Hochkultur, die reich geworden
war vom Handel mit Duftstoffen, Zentrum und Lebensader eines
bedeutenden Karawanenreiches des 1. Jahrtausends v. Chr. – das
Königreich von Saba. Seit dem 8. Jahrhundert v. Chr hatte es sich
mit seinem Zentrum, der Oase Marib, zu einem bedeutenden
Staat entwickelt, und schon antike Quellen berichten von seinem
sagenumwobenen Reichtum. Die Überreste reicher Tempel und
anderer Prachtbauten sind bis heute erhalten.
Die Oase Tayma war eine bedeutende Territorialmacht und ebenfalls reich durch den Handel mit kostbaren Gütern. Für die Karawanen auf der Weihrauchstraße war sie eine unvermeidliche Station,
denn die nächste Wasserstelle lag 150 Kilometer entfernt. Oft
waren Hunderte von Lasttieren zu tränken. DAI, Orient-Abteilung
1 Marib, Zentrum und Lebensader des
sabäischen Reichs. Die Überreste reicher
Tempeln und anderer Prachtbauten sind
bis heute erhalten. DAI, Orient-Abteilung
2 Sabäischer Handelsposten an der
Weihrauchstraße. Das Königreich von Saba
hatte sich seit dem 1. Jahrtausend v. Chr. zu
einem mächtigen Territorialstaat entwickelt, und schon antike Quellen berichten
von seinem sagenumwobenen Reichtum,
gewonnen durch den Handel mit DuftstofDr. Iris Gerlach (li.), Prof. Dr. Ricardo Eichmann, (mi),
fen. DAI, Orient-Abteilung
Dr. Arnulf Hausleiter (re.), Orient-Abteilung des DAI
42 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 43
TITELTHEMA
A U S S T E L L U N G 2 0 1 7  K U LT U R U N D H A N D E L A N
D E R W E I H R AU C H S T R A S S E
In einer großen Ausstellung „Crossing Deserts and Seas: Culture
and Commerce along the Arabian Incense Route”, die das Deutsche Archäologische Institut gemeinsam mit der Qatar Museums
Authority (QMA) für das qatarisch-deutsche Kulturjahr 2017 in
Doha plant, wird der Fernhandel auf der Arabischen Halbinsel in
vorislamischer Zeit beleuchtet. Hierbei werden die merkantilen
sowie kulturellen Kontakte der arabischen Kulturen untereinander
sowie zu den Nachbarregionen (Mesopotamien, Mittelmeerraum,
Indien usw.) anhand einzigartiger Fundstücke aus verschiedenen
arabischen Ländern gezeigt. Die Ausstellung präsentiert wichtige
präislamische Gesellschaften mit ihrer Geschichte, ihrer materiellen und geistigen Kultur sowie deren vielschichtige Vernetzungen
untereinander. Ein Schwerpunkt liegt dabei auch auf den archäologischen Fundplätzen Katars, die u. a. in Kooperation zwischen
DAI und QMA erforscht werden. In der Ausstellung werden darüber hinaus Funde aus dem Jemen, Saudi Arabien, Jordanien, aus
den Arabischen Emiraten, Oman und Äthiopien gezeigt.
Boswellia sacra
Foto: Young
Das getrocknete Harz von Boswellia sacra: Weihrauch
Nach Berichten antiker Autoren benötigten Kamelkarawanen 100
1 Der Weihrauchbaum, wie er in einer arabi-
Tagesmärsche für die 3.400 km lange Strecke zwischen Dhofar und
schen Fassung (10. Jh. n. Chr.) der „Materia
Gaza. Orientierung boten Sterne und bekannte Landmarken. Die
Medica“ des griechischen Arztes und Gelehrten
Karawanenführer kannten „ihre“ Wüste. Hauptnahrungsquelle war
Dioscorides dargestellt ist.
die Dattel, nahrhaft und haltbar, das Lasttier war das Dromedar, das
einhöckrige Kamel. Bis zu 250 Kilogramm Last kann es tragen, es
2 Die Arabische Halbinsel in der „Geographie“
schafft 40 Kilometer am Tag, kann seine Körpertemperatur verän-
des Ptolemaios. Der griechische Geograph
dern, um sich der Hitze anzupassen. Es kann innerhalb weniger
(1. Jh. n. Chr.) hatte in seinem Werk das bekannte
Minuten 60 bis 120 Liter Wasser zu sich nehmen und es gut zwei
geographische Wissen der Antike zusammenge-
Wochen im Magen vorhalten (nicht im Höcker). satin-doz/photolia.de
fasst.
44 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 45
TITELTHEMA
Levante
Berytos
Byblos
Sidon
Tyros
Wie Perlen einer Kette säumen phönizische Niederlassungen die
südspanische Küste, beschrieb der französische Historiker Fernand
Braudel ein Siedlungsbild der Iberischen Halbinsel. Alle 10 Meilen
hatten sie Station gemacht, manchmal nur Handel getrieben,
gelegentlich aber auch Städte gegründet. Im 8. und 7. Jahrhundert v. Chr. entstehen zahlreiche phönizische Niederlassungen im
westlichen Mittelmeerraum – allein 30 auf der Iberischen Halbinsel. Weit gekommen waren sie auf ihren Reisen, die sie vom östlichen Rand des Mittelmeers bis an seinen westlichen Übergang in
den Atlantischen Ozean führten und darüber hinaus. Aufgebrochen waren sie im 9. Jahrhundert v. Chr. in gut gebauten Schiffen
aus Zedernholz.
MEDITERRANE
KONTINENTALVERBINDUNG
Die internationale Welt der Phönizier
46 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 47
„Wir konnten keine Route zwischen Beirut und Cádiz berechnen,“
lässt Google Maps einen wissen, wenn man versucht, den Weg
durchs Mittelmeer zu finden, auf dem die Seefahrer einst reisten.
Tyros, gut 100 Kilometer südlich des heutigen Beirut gelegen, war
häufig der Ausgangspunkt ihrer Fahrten, eine Stadt im Wasser, fast
eine Insel, wie später die phönizische Gründung Cádiz auf der
anderen Seite der Welt.
Das Mittelmeer wurde zu einem Kontinent aus Wasser und Land,
vereint in seiner östlichen, westlichen und afrikanischen Gestalt,
ein Raum des Kultur- und Technologietransfers und des Handels.
Die Phönizier nannten sich selbst nicht so, auch ein Land „Phönizien“ gab es nicht. Vielmehr lebten sie in autonomen Städten,
Tyros, Byblos, Sidon, Berytos und anderen, die zusammengehalten wurden durch den Seehandel und eine gemeinsame Sprache.
Manchmal nannten sie sich selbst Kanaanäer nach der Region, aus
der sie stammten. Bei Homer taucht der Name „phoínikes“ zum
ersten Mal auf. „Phoínix“ bedeutet purpurrot; das Färben von Stoff
mit einer Substanz, die aus Purpurschnecken gewonnen wird, war
eine phönizische Spezialität.
TITELTHEMA
Dirce Marzoli ist die Direktorin der Abteilung Madrid des Deutschen Archäologischen Instituts und leitet hier die Phönizier-Forschung. Von Spanien aus wirft sie den Blick zurück nach Osten in
die Levante, wo die Phönizier herkamen, nach Westen in Richtung
Atlantik, die afrikanische Küste entlang. Denn auch hier sind phönizische Perlen zu finden. Schon früh waren die routinierten Seefahrer über das „Ende der Welt“ hinaus in den Atlantik gesegelt,
hatten Gibraltar hinter sich gelassen und mit dieser Passage das
von Land umrundete Mittelmeer gegen einen gewaltigen Ozean
ausgetauscht. So verbanden sie auf ihren Wegen drei Kontinente
miteinander.
„Man kann den Zusammenschluss der phönizischen Städte mit
der Hanse vergleichen“, sagt Dirce Marzoli, „wenn auch die Hanse
anders als der phönizische Städtebund keine Niederlassungen
gründete.“ Im 9. Jahrhundert v. Chr. – es ist eine Zeit der Blüte,
aber auch der Tributforderungen des neuassyrischen Reichs –
beginnt der große Aufbruch nach Westen. Die Archäologin
bezweifelt die bis heute am häufigsten angeführte Ursache für
den Aufbruch der Seefahrer. „Es ist keine Flucht vor den assyrischen Herrschern“, erklärt sie. „Dafür verlief der Aufbruch zu systematisch und zu gut strukturiert. Er war politisch gewollt und durch
die Religion legitimiert.“ Für eine Flucht waren auch die Schiffe zu
reich ausgestattet und zu üppig beladen.
Die phönizischen Niederlassungen an den nördlichen und südlichen Küsten des Mittelmeers und auf seinen Inseln wurden zu
pulsierenden Knotenpunkten unterschiedlicher Kulturen und
Wirtschaftsräume. Es waren in der Regel geplante Städte, auf dem
Reißbrett entworfen. Die Idee ‚Stadt’ kannten die Seefahrer von
den Großreichen des Vorderen Orients. Das, was wir heute ‚Westen’
nennen, wusste noch nichts von dieser Art zu leben.
Die Phönizier brachten nicht nur ihre urbane Lebensweise und
ihre Formen des Wohnens überall hin mit, sondern auch ihr
Rechensystem, ihre Schrift, ihre spezialisierten Arten des Handwerks mit der Herstellung feinster Töpferwaren, Agrar- und Bergbautechniken, neue Methoden, lokale Ressourcen zu nutzen und
die routinierte Art, Handel zu treiben, und sie benutzten Maße
und Gewichte. Ein enormer Magnet für die phönizische Expansion
nach Westen war der Erzreichtum der Iberischen Halbinsel, eine
Ressource, die sich unter den Händen der phönizischen Metallurgen in kunstvolle und nützliche Gegenstände verwandelte. Ihre
Glasindustrie war allem voraus in ihrer Zeit, sie waren die ersten,
Die Glaskunst der Phönizier hatte bereits im
7. Jahrhundert v. Chr. einen Höhepunkt erreicht.
Glas wie dieses war zu dieser Zeit im Westen
noch unbekannt. Vase aus Aliseda.
Museo Arqueológico Nacional, Madrid
Die phönizische Schrift ist die Grundlage
unseres Alphabets.
Phönizischer Goldschmuck war ein
begehrtes Handelsgut.
Die Phönizier brachten auch ihre Art des
Wohnens mit. Wohnhäuser in Cádiz, einer
phönizischen Gründung aus dem 8. Jh. v. Chr.
Rekonstruktion nach J.A. Zamora
Feine Töpferwaren wurden auf der
schnellen Drehscheibe hergestellt.
Fotos: DAI Madrid
48 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 49
TITELTHEMA
die durchsichtiges Glas herstellen konnten, und die ersten, die
regelmäßig eine Alphabetschrift benutzten. Durch Handel und
Reisen verbreitete sie sich schnell im gesamten Mittelmeerraum
und darüber hinaus ins Binnenland. Unsere heutige Schrift beruht
auf dem phönizischen Alphabet.
„Die archäologischen Funde zeigen, dass es dort, wo die Phönizier
mit Einheimischen zusammentrafen, einen fruchtbaren Handel
auf Gegenseitigkeit gab“, erklärt Dirce Marzoli. „Darüber hinaus
bedeutete der phönizische Seehandel immer auch einen immensen Schub für allen Binnenhandel.“ Das war so in Italien, auf Sardinien und Sizilien, an der nordafrikanischen Küste und natürlich auf
der Iberischen Halbinsel. „Wo Wein angebaut wurde, erhöhte man
die Produktion, weil man nun mehr davon verkaufen konnte“, sagt
Marzoli. „Und um ihn zu transportieren, brauchte man eine Verpackung, und so wurden bald in Massenproduktion Amphoren auf
der schnellen Drehscheibe hergestellt – mit phönizischer Technologie.“ Die Phönizier forcierten bereits bestehende Produktionen
und erweiterten die Handelsnetze. Der Thunfisch, der zwei Mal im
Jahr an Gibraltar vorbeizieht, wurde verarbeitet und bis nach Griechenland verhandelt. Wieder brauchte es Gefäße – die Töpfereien
mussten in der Nähe sein ebenso wie die Salinen.
Was waren das für Leute, die offenbar überall wohl gelitten waren,
wo sie auftauchen? „Die Phönizier waren flexibel“, sagt Dirce Marzoli. „Sie adaptierten kulturelle Elemente der Regionen, in denen
sie landeten, sie fühlten sich nicht bedroht von fremden Religionen und Ideologien, und sie machten sich in der Regel nicht zum
Problem für andere, wenngleich ihr Ruf in der Antike durchaus
zwiespältig war.“ Während sie in den frühen Schichten der Ilias
noch als „kunstreiche Sidonier“ (nach einer ihrer Heimatstädte)
auftauchen, nennt Homer sie in der Odyssee „hinterhältige geldgierige Piraten“.
Morro de Mezquitilla (li.) und Los Toscanos (re., o. u. u.)
sind seit einem halben Jahrhundert Referenzplätze der
Phönizierforschung geworden.
Rekonstruktion: Arnold
PHÖNIZIERFORSCHUNG
1964 wurde zwischen dem Deutschen Archäologischen Institut
und der spanischen Denkmalbehörde eine Kooperation vereinbart, um am Fundort Los Toscanos in der Nähe Málagas eine griechische Siedlung zu finden, die sich aber alsbald als eine phönizische herausstellte. Dies war der Beginn der systematischen
Phönizierforschung in Spanien, die Abteilung Madrid des DAI
blieb seit den Anfängen bei diesem Thema und besitzt nun eine
große Expertise auf diesem Gebiet.
Gemeinsam mit spanischen Kollegen untersuchen die Madrider
DAI-Archäologen die ältesten phönizischen Gründungen aus dem
8. Jahrhundert v. Chr.: Huelva, Málaga, Cádiz oder Cartagena. „Es
sind aber Fundplätze wie Morro de Mezquitilla und Los Toscanos,
die seit einem halben Jahrhundert Referenzplätze der Phönizierforschung geworden sind“, beschreibt Dirce Marzoli die Forschungslandschaft. Beide sind relativ kleine, nur wenige Kilometer
voneinander entfernt liegende Siedlungen, deren geographische
Position kennzeichnend ist für die phönizischen Niederlassungen:
Die Plätze befinden sich am Rand einer Meeresbucht mit der Mündung eines Flusses, der eine Verbindung zum Hinterland gewährleistet. Um 700 v. Chr. erlebten beide Orte eine wirtschaftliche
Blüte. Die Siedlungen wurden größer, die Bevölkerung wuchs und
mit ihnen die Friedhöfe. In einer aktuellen Ausgrabung in Ayamonte (Provinz Huelva in Andalusien), fanden die Archäologen
eine Nekropole mit neun Gräbern, „ein selten reicher und vor
allem aussagekräftiger Fundplatz“, erklärt die Archäologin.
Anhand dieses Funds konnte aber vor allem eine Vermutung der
Archäologen bestätigt werden: „Wir wissen nun, dass ganze Familien gereist sind.“
Viele der phönizischen Niederlassungen sind Gründungen der
bedeutendsten phönizischen Apoikie (Außensiedlung) Karthago,
die um 800 v. Chr. an der Küste des heutigen Tunesien entstand
und im Laufe der Zeit die Vorherrschaft im westlichen Einflussgebiet der Phönizier übernahm. Die Stadt entwickelte sich zu einer
reichen Metropole mit agrarischem Hinterland, größer als die
Mutterstadt Tyros mit großem Einfluss auf die phönizischen Siedlungen Siziliens, Sardiniens, Ibizas und an den südlichen Küsten
der Iberischen Halbinsel. Im Dritten Punischen Krieg fand sie ihr
Ende, doch das ist eine andere Geschichte.
In Ayamonte (Provinz Huelva in Andalusien)
fanden die Archäologen eine Nekropole mit
neun Gräbern. Anhand dieses Funds konnte eine
Vermutung der Archäologen bestätigt werden:
„Wir wissen nun, dass ganze Familien gereist
sind.“
1 Ausstattung des Grabes für einen einzelnen
Mann
2 Ausstattung für eine Frau und ihre Dienerin
50 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 51
AT L A N T I K FA H R T
Im 8. Jahrhundert v. Chr. durchsegelten die
Phönizier die Meerenge von Gibraltar, was
durch den starken ostsetzenden Strom an
der Oberfläche in Verbindung mit den oft
vorherrschenden Westwinden ein ebenso
schwieriges wie gewagtes Unterfangen
war. Sie gründeten die Niederlassungen in
Cádiz, Huelva und Ayamonte und gelangten bis zu einer Landzunge an der Atlantikküste des heutigen Marokko, die heute
eine Insel ist und den Namen Mogador
trägt – 800 Kilometer südlich der „Säulen
des Herakles“. Sie ist 500 Meter lang, 400
Meter breit, bis zu 23 Meter hoch, und es
gibt dort heute nichts außer einer aufgelassenen Moschee und den Mauern eines
ehemaligen Gefängnisses. Wären da nicht
Spuren antiker Nutzung, würde man der
kleinen Insel wohl kaum Aufmerksamkeit
schenken. Die Spuren sind phönizisch, und
die Archäologen fragten sich, warum überhaupt irgendjemand ausgerechnet auf
Mogador eine Faktorei würde einrichten
wollen.
Das DAI Madrid untersucht zusammen mit
dem Institut National des Sciences de
l’Archéologie et du Patrimoine in Rabat,
der DAI-Kommission für Archäologie
Außereuropäischer Kulturen in Bonn und
dem Naturwissenschaftlichen Referat des
DAI die phönizische Niederlassung auf der
marokkanischen Insel. Das Projekt ist interdisziplinär konzipiert, außer Archäologen
arbeiten hier Vermessungstechniker, Geographen, Geophysiker, Paläobotaniker,
TITELTHEMA
Ein emblematischer Platz für die aktuelle
Forschung der Interaktion zwischen Phöniziern und Einheimischen ist Castillejos
de Alcorrín in Andalusien. 1988 wurde er
entdeckt, 2006 unter Denkmalschutz
gestellt, seit 2007 erforscht die Abteilung
Madrid des DAI die befestigte Siedlung aus
der späten Bronzezeit an der Schwelle zur
Eisenzeit, der Zeit der ersten Kontakte zwischen Einheimischen und Phöniziern.
(siehe „Phönizisch-Iberisches Joint Venture“, S. 12“)
Zu den Zeugen der phönizischen Inselnahme zählen ein steinerner Pfeiler, ein sogenannter Baitylos, und phönizische Graffiti auf Keramik. Sie belegen, dass
die Neuankömmlinge hier als erstes ein Heiligtum errichteten. Tausende Scherben phönizischer Keramik lagen bei dem Heiligtum – man verehrte nicht nur
dieselben Götter wie zuhause, man aß auch vom selben Geschirr wie in der fernen Heimat. DAI, Abteilung Madrid
Archäozoologen und Archäometallurgen.
Zu den Zeugen der phönizischen Inselnahme zählen ein steinerner Pfeiler, ein
sogenannter Baitylos, und phönizische
Graffiti auf Keramik. Sie belegen, dass die
Neuankömmlinge hier als erstes ein Heiligtum errichteten – hier war es eines der
Astarte –, zum Schutz und als Ort der
Begegnung. Knochen von Tieren, die auf
der damaligen Halbinsel nicht vorkommen
konnten – Rinder, Schafe und Ziegen –
belegen, dass auch das Festland genutzt
wurde. Für die echten Überraschungen
sorgten aber die Knochen ganz anderer
Tiere: Löwen und Elefanten, wobei aber
der Elefant kein ganz Unbekannter war.
Schon seit der zweiten Hälfte des 3. Jahrtausends v. Chr. wurde afrikanisches und
asiatisches Elfenbein nach der Iberischen
Halbinsel verhandelt. Auf demselben
Wege wie die Elefanten wird wohl auch
der Löwe gekommen sein. Vielleicht handelte man mit den Knochen und den Fellen, vielleicht aber mit den Tieren selbst.
Die Archäozoologen des DAI fanden an
den Knochen eines jungen Löwen eine
pathologische Deformation, die darauf
hinweist, dass er in Gefangenschaft gehalten wurde.
52 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Die Phönizier betrieben eine spezialisierte
Fischerei auch in den Gewässern des Atlantik.
DAI, Abteilung Madrid
Die Archäologen fanden Elefantenknochen auf Mogador und das Gebiss eines jungen Löwen, der
offenbar in Gefangenschaft gehalten wurde. DAI, Abteilung Madrid
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 53
Prof. Dr. Dirce Marzoli, Direktorin der
Abteilung Madrid des DAI
TITELTHEMA
I N T E R N AT I O N A L E S H A N D E L S Z E N T R U M
Für die seefahrenden und Handel treibenden Phönizier war Mogador so etwas wie eine erste Adresse. Denn an dieser zunächst entlegen scheinenden Weltecke wurde in der Antike besonders reger
Handel mit sehr außergewöhnlichen Waren getrieben. Hier trafen
der vorläufige Endpunkt der westphönizischen Seehandelsroute
und eine afrikanische Karawanenstraße aufeinander. Hier wurde
gekauft und getauscht, man erzählte sich Geschichten und
berichtete einander die neuesten Nachrichten aus allen Ecken der
Welt. Die begehrten Güter waren Fisch in großen Mengen, Elfenbein, Metalle, exotische Tiere, das bernsteinähnliche Harz von
Thuja berberiska/citrus und kostbare Spezereien.
H Ä F E N AU F D E R I B E R I S C H E N H A L B I N S E L
Der internationale Handel und Austausch braucht die Meere als
Transportmedium, die Seefahrer brauchen Häfen. So simpel das
klingt, so kompliziert ist es mitunter, die Belege für die Zeit der
Antike zu ermitteln. Maritime Archäologie, ein in Deutschland
eher seltenes Fach mit antiker Nautik, Schiffbau und limnischer
Archäologie, ist eine der Disziplinen an der Abteilung Madrid des
Deutschen Archäologischen Instituts. Marcus Hermanns erforscht
antike Häfen auf der Iberischen Halbinsel in ihrer Entwicklung
über viele Jahrhunderte, und er untersucht sie bis auf den Grund
– im wahrsten Sinne des Wortes. Hermanns ist nicht nur Archäologe, sondern zugleich Forschungstaucher – eine langwierige
Ausbildung, die jeder zu absolvieren hat, der unter Wasser arbeiten will. Die Phönizier waren die ersten, die nennenswerte Landeplätze für größere Schiffe auf der Iberischen Halbinsel benötigten,
doch in Ermangelung schriftlicher Quellen und schwer zu ermittelnder archäologischer Befunde an den Küsten sind die Schiffe
der Seefahrer wertvolle Zeugnisse ihrer Kultur.
Die Phönizier trieben blühenden Handel, ihre Schiffe konnten
große große Mengen Waren über weite Strecken transportieren.
Wo also löschten sie ihre Ladung?
„Unter Umständen einfach am Strand“, sagt Hermanns. Denn phönizische Hafenanlagen haben die Archäologen noch nicht gefunden. Möglicherweise ist dies aber nur eine Frage der Zeit, denn
inzwischen weiß man aus geophysikalischen Prospektionen, aus
großräumiger Küstenforschung aus der Luft und vom Wasser aus,
dass die südspanische Küste sich in Jahrtausenden stark verändert
hat. Es gab Erosion durch Meeresspiegelschwankungen und eine
Verfüllung ganzer Fjorde durch Flusssedimente. Viele der möglichen Anlegestellen phönizischer Schiffe sind heute verlandet. Die
Flussmündungen sind aber die wahrscheinlichsten Fundorte,
denn die Flüsse waren die Verbindung ins Hinterland, die die Phönizier brauchten, um Handel mit der ansässigen Bevölkerung zu
treiben.
Essaouira, die Stadt auf dem Festland, wurde bis in die sechziger
Jahre hinein ‚Hafen von Timbuktu’ genannt. Immer noch trafen
hier die Karawanen aus dem afrikanischen Hinterland ein, und alle
europäischen Handelsmächte unterhielten Konsulate in dieser
Kleinstadt an der marokkanischen Atlantikküste.
INTERNATIONALE KOOPERATION
„Der beste Ort für eine Konferenz zur Phönizierforschung wäre ein
Schiff auf dem Mittelmeer“, schlägt Dirce Marzoli vor. So weit wie
der Expansionsraum der Phönizier, so international ist auch die
Forschung zu ihnen. Ihr Lebensraum erstreckte sich über Syrien,
Libanon, Israel, Griechenland, Ägypten, Zypern, Malta, Italien,
Algerien, Tunesien, Marokko, Spanien und Portugal. „Ohne diese
internationale Kooperation kann das Erbe der Phönizier nicht mit
dem größtmöglichen Erfolg erforscht werden“, erklärt die Archäologin. „Es ist wichtig, dass wir die Zusammenarbeit mit den afrikanischen Ländern ausbauen“, sagt Marzoli. Denn es wird immer
wahrscheinlicher, dass die Phönizier den afrikanischen Kontinent
umsegelt haben könnten, wie man es in der antiken Überlieferung
Hanno, dem Seefahrer zuschreibt. „Die Phönizier besaßen nicht
nur die Kenntnisse, die Reise in eine unbekannte Welt zu wagen“,
sagt Marzoli. „Sie hatten auch den Mut, geographische und mentale Grenzen zu überwinden.“ Die archäologische Arbeit ist mühsam ohne schriftliche Überlieferungen. Aber Dirce Marzoli ist
zuversichtlich: „Es ist nur eine Frage der Zeit, bis wir die Archive
finden.“
KOOPERATIONEN
Centro de Estudios Fenicios y Púnicos – Madrid;
Institut National des Sciences de l’Archéologie et
du Patrimoine, Rabat;
Junta de Andalucía; Museum Málaga; Universität
de Málaga; Universität Granada; Centro Superior
de Investigaciones Científicas, Madrid; Deutsches Bergbaumuseum Bochum; Universität
Frankfurt; Freie Universität Berlin.
Innerhalb des DAI: Kommission für Archäologie
Außereuropäischer Kulturen; Abteilung Rom;
Naturwissenschaftliches Referat.
FÖRDERUNG
Fritz Thyssen Stiftung; Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG) gemeinsam mit Agence
nationale de la recherche (ANR); Theodor
Wiegand Gesellschaft; Freunde der Madrider
Abteilung des Deutschen Archäologischen
„Umfangreiche Hafenanlagen bauten erst die Römer“, erzählt Hermanns. Offenbar war auch für sie die erzreiche Iberische Halbinsel
eine Region, die man dem eigenen Einfluss unterwerfen wollte.
Hermanns will untersuchen, welche Entwicklungen die neuen
Herren forcierten und ob es womöglich nun – anders als bei Phöniziern und Griechen – auf durchaus römische Art ein zentral
gesteuertes Infrastrukturprogramm zur Schaffung einer maritimen Logistik gab.
Instituts.
Marcus Hermanns und seine Kollegen sind
gerade von einer Tauchfahrt nach Ibiza zurückgekehrt. Die Insel war ein bedeutender phönzischer Handelsplatz, und in einem Wrack vor der
Insel fanden die Archäologen große Mengen
attisch rotfiguriger Vasen. Derlei Waren waren
sehr beliebt in der Region, und die phönizischen
Händler versorgten diesen Markt ganz gezielt.
Der Hafen von Essaouira. DAI, Abteilung Madrid
54 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Fotos: Hermanns
Die Taucher fanden zudem griechische Keramik
mit phönizischen Graffiti, offenbar ein Handelszeichen. Das zeigt, dass die Phönizier im westlichen Mittelmeerraum den Handel auch dann
kontrollierten, wenn die ihn nicht selbst durchführten.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 55
TITELTHEMA
Wikimedia Commons
Das Apolloheiligtum in Delphi war zentrale Informationsbörse
und Koordinationszentrum, Initiator und Ratgeber zugleich. Bevor
man aufbrach, befragte man häufig das Orakel. So will es die Überlieferung, die es im Gedächtnis vieler Städte der griechischen Welt
über Jahrhunderte verankerte. Im 8. Jahrhundert v. Chr. beginnt
– nach kleineren Unternehmungen in früherer Zeit – die sogenannte „Große Griechische Kolonisation“, die aber nur in Teilen
eine zentral geplante Aktion war. Vielmehr machten sich einzelne
Gruppen waffenfähiger Männer auf den Weg, um Handelsinteressen zu verfolgen, vielleicht aber auch, um Landmangel oder
Bevölkerungsdruck zu entkommen. Große Teile ihrer nautischen
Kenntnisse und das Wissen um geeignete Siedlungsplätze hatten
die Griechen im Kontakt mit den Phöniziern gewonnen, die reiche
geographische Kenntnisse besaßen und die die Verhältnisse an
den Küsten des Mittelmeers genau kannten.
Ortwin Dally, neuer Direktor der Abteilung Rom des Deutschen
Archäologischen Instituts, beschreibt die Zielrichtung der griechischen Ausfahrten ins Mittelmeer und an die Küsten des Schwarzen Meers. „Wichtig für die Ortswahl der Koloniegründung war
insbesondere eine verkehrsgünstige Lage. Man bevorzugte leicht
zu verteidigende Landzungen, gute Häfen, Anbindungen an das
Hinterland über Flüsse und fruchtbares Umland.“ Hatten die Kolonisten ihre Stellung gesichert, konnten sie hier und da ihren
Machtbereich ins Hinterland ausdehnen.
BLICK NACH WESTEN
UND NACH OSTEN
Die Große Griechische Kolonisation
56 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 57
TITELTHEMA
Griechische Gründungen am Mittelmeer: Metapont
(Foto: Σπάρτακος), Nizza (Foto: Waithamai) und
Marseille (unten) (Foto: Drewes) .
Eine „Mutterstadt“ der Großen Kolonisation war Chalkis auf der
Insel Euböa, ursprünglich eine Ansiedlung phönizischer Purpurfischer. Von Euböa aus wurde in der 1. Hälfte des 8. Jahrhunderts v.
Chr. Pithekoussai gegründet – der Startschuss für eine Reihe von
Gründungen in Unteritalien und Sizilien, welche schließlich die
Küsten bis auf den Nordwesten Siziliens säumten. Viele der griechischen Kolonialstädte waren – anders als die Mutterstädte – auf
dem Reißbrett entstanden. Zu den besonders eindrucksvollen
Planstätten zählt Metapont, dessen innovative städtebauliche
Anlage seit langem von der Abteilung Rom des DAI in enger
Zusammenarbeit mit der lokalen Denkmalpflegebehörde erforscht
wird.
Wo Menschen unterwegs sind, verbreiten sich mit ihnen nicht nur
Güter, sondern auch Wissen und Kenntnisse über Technologien,
Innovationen und wissenschaftliche Verfahren. Im Zeitalter des
beginnenden Hellenismus erfuhren Geographie und Kartographie einen Aufschwung, die Oikumene erweiterte sich rasant und
mit ihr der kulturelle und wissenschaftliche Horizont der Griechen.
Den Boden hierfür hatte die „Große Kolonisation“ bereitet. „Insgesamt haben die Kolonisation, die erweiterten Handelsbeziehungen und auch der Kontakt mit vielfältigen indigenen Populationen
ein allmählich wachsendes Bewusstsein der Zusammengehörigkeit aller Hellenen gefördert“, beschreibt Dally die komplexen politischen Prozesse dieser Zeit. Bis nach Korsika und an die Küste
Südfrankreichs drangen sie vor, wo Massilia – Marseille – Mittelpunkt ihrer Handelsplätze wurde. Von Massilia aus steuerten die
Griechen auch Spanien an, wo sie schließlich Ampurias gründeten. Doch das Gros des Handels im westlichen Mittelmeerraum
konnten sie den Phöniziern nicht streitig machen.
Die griechische Expansion richtete sich jedoch nicht nur nach
Westen.
Euböa war ein wichtiger Ausgangspunkt der griechischen Kolonisation.
Marseille
58 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 59
TITELTHEMA
Taganrog
Taganrog war der äußerste östliche Siedlungspunkt griechischer Kolonisten.
Prof. Dr. Ortwin Dally
A M S C H WA R Z E N M E E R
Taganrog liegt ca. 60 Kilometer westlich
von Rostov am Don und ungefähr 10 Kilometer westlich der heutigen Mündung des
Don in das Asowsche Meer. Der Handelsstützpunkt am Fuße des Kaukasus war der
östlichste der Griechen überhaupt. Doch
was taten die Griechen überhaupt so weit
im Osten, hier, im äußersten nördlichen
Schwarzmeerraum? Der Standort ist nicht
das einzige Rätsel, mit dem die Archäologen konfrontiert sind. „Anders als in allen
anderen Fällen griechischer Niederlassung
hat sich Taganrog nie zu einer Stadt mit
einem orthogonalen Straßensystem entwickelt“, sagt Ortwin Dally. An schlechter
Versorgung kann es nicht gelegen haben:
„Das Dondelta war immer ein attraktives
Siedlungsgebiet, fischreich und verkehrsgünstig gelegen.“
Gab es politische Gründe für diese Ausnahme? Waren die nomadischen und halbsesshaften Völker, die das Gebiet schon in
der späten Bronzezeit besiedelt hatten,
der Grund für die ungewöhnliche Entwick-
lung? Oder waren es womöglich Krimoder Taman-Griechen, welche die Region
in der 1. Hälfte des 6. Jahrhunderts. v. Chr.
erreicht hatten und keine Konkurrenz entstehen lassen wollten? Womöglich haben
sie die durch Inseln gebildeten Meerengen
zwischen der Krim und der heutigen
südrussischen Halbinsel Taman – Voraussetzung für Handel und Austausch – in
eine Barriere verwandelt, wie es unzählige
Male später in der Geschichte geschah.
Sicher ist, dass es in Taganrog einen außerordentlich lebendigen Austausch von
Gütern gab, dass Handel getrieben wurde,
und dass man sich sogar Ressourcen teilte.
„Wir fanden nicht nur Keramik von 40 verschiedenen Herkunftsorten aus vielen Teilen Griechenlands, sondern auch ‚einheimische’ Ware“, erklärt der Archäologe.
Chemische Untersuchungen ergaben
sogar, dass die griechische Keramik und
die einheimische Keramik teilweise aus
derselben Lehmlagerstätte kamen. „Ganz
offensichtlich haben neue und alte Bewoh-
ner friedlich zusammengelebt“, erklärt Ortwin Dally, zusammengelebt in Taganrog,
das zwar keine Stadt wurde, aber als Handelsposten für Vernetzung, Handel und
kulturellen Austausch eine entscheidende
Rolle spielte.
Dally und seine Kollegen haben in einer
umfangreichen Untersuchung genauere
Erkenntnisse über die Frühphase der
griechischen Kolonisation des Schwarzmeerraumes, die Herkunft der Siedler und
insbesondere die Entwicklung der Beziehungen zwischen Griechen und Einheimischen im Dondelta zwischen dem mittleren 7. und dem 6. Jahrhundert v. Chr.
gewonnen und wollen diese Erkenntnisse
nun verbinden mit neueren Forschungen
zur Frühphase der „Großen Griechischen
Kolonisation“ in Unteritalien und Sizilien.
„Wir wollen den Mittelmeer- und den
Schwarzmeerraum nicht als Krisenraum,
wie er derzeit vielfach im Gespräch ist, sondern vielmehr als Kommunikationsraum
ansehen, der die Vernetzung seiner Siedlungen und Städte entscheidend beförderte.“
Der Don ist ein fast 2000 km langer Zufluss des Asowschen Meeres.
KOOPERATIONEN
Don-Archäologische Gesellschaft, Rostov am Don (V. Zibrij, V. Zibrij, A. Isakov, P. A. Larenok)
Institut für Archäologie der russischen Akademie der Wissenschaften, Moskau (V. Kuznetsov)
DFG-Exzellenzcluster TOPOI, Research Area A I
Institut für Geowissenschaften der Christian Albrechts Universität Kiel (IFG), Abt. Geophysik (W.
Rabbel; H. Stümpel; Ch. Müller)
Institut für Nachrichtentechnik und Informationselektronik (NTIE), Forschungsgruppe Hydroakustik,
Universität Rostock (G. Wendt)
Institut für geographische Wissenschaften, Fachrichtung Physische Geographie, FU Berlin
(B. Schütt, M. Schlöffel)
Institut für Prähistorische Archäologie, FU Berlin (H. Parzinger, L. van Hoof )
Helmholtz- Institut für Strahlen- und Kernphysik, Universität Bonn (H. Mommsen)
60 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 61
Blick auf die Bucht von Elaia
Was immer sich auch ändert im Laufe der Jahrtausende – Sprachen, Kulturen, religiöse Systeme, Staatsgrenzen –, es gibt doch
Dinge, die durch alle politischen Veränderungen und Umwälzungen hindurch im Grunde bleiben, was sie sind und immer waren.
Wo heute der siebtgrößte Containerhafen der Welt an der türkischen Mittelmeerküste entsteht, verwandelte sich vor ungefähr
2000 Jahren eine kleine Hafenstadt in einen strategischen Satelliten des mächtigen Reichs der Attaliden, die weite Gebiete Kleinasiens beherrschten. Seine Hauptstadt hieß Pergamon.
„Dass Pergamon als Importeur von Baumaterialien, aber auch als
Exporteur auf einen funktionierenden Hafen angewiesen war,
bedarf eigentlich keiner weiteren Erklärung“, sagt Felix Pirson,
Direktor der Abteilung Istanbul des DAI und Leiter der Pergamongrabung, der in einem interdisziplinär angelegten Kooperationsprojekt das Verhältnis der Hafenstadt Elaia zur Residenzstadt der
Attaliden untersucht.
Als Pergamon zur Territorialmacht aufgestiegen war, bedeutete
dies den Niedergang der meisten anderen Städte in der Region.
Doch Elaia, das anatolische und griechische Wurzeln besitzt,
blühte auf unter der Herrschaft der Attaliden. Wohl kurz nach der
Mitte des 3. Jahrhunderts v. Chr. wurde Elaia in das pergamenische Reich integriert, massiv ausgebaut und umgestaltet, wobei
es nicht nur als Handelshafen diente, sondern zugleich militärische Bedeutung besaß. Zahlreiche archäologische Befunde –
TITELTHEMA
Elaia,
der Hafen von
Pergamon
seien es Gefäße aus Keramik, Gebäudespuren oder auch das typisch hellenistische
Straßenraster – belegen die Verbindung
zwischen Elaia und Pergamon. „Wir konnten auch feststellen, dass die Degradation
des Baumbestandes – ein wichtiger Anzeiger anthropogenen Einflusses – mit der
Ausdehnung der Stadt zunahm und ihren
Höhepunkt bereits um die Zeitenwende
erreichte“, sagt Pirson. Die grundlegende
Umgestaltung Elaias wirkte sich also bis in
den ländlichen Raum aus und veränderte
die natürliche Umwelt der Stadt.
„Die Anwesenheit fest in Elaia stationierter
Verbände und der rege Betrieb der Händler
und internationalen Reisenden haben den
Charakter der Stadt außerdem gründlich
verändert“, sagt Pirson. Zwar blieb Elaia
auch unter der Herrschaft der Attaliden
eine von den Bürgern selbst regierte Stadt,
doch steht sie ähnlich wie die Residenzstadt für eine Gruppe hellenistischer Poleis,
die für Funktion und Sicherung der neuen
Territorialstaaten von zentraler Bedeutung
waren und von den Herrschern nach ihren
Bedürfnissen geformt werden konnten.
Elaia ist ein Beispiel für die Übertragung
spezifischer Funktionen einer Territorialherrschaft auf eine Polis“, erklärt Pirson.
„Ganz ähnlich verhielt es sich zum Beispiel
auch mit Seleukeia Pieria, der Hafenstadt
Antiochias am Orontes.“
In vielen Kriegen spielte der strategisch
günstig gelegene Ort an der Küste der
Ägäischen See eine zentrale Rolle. Mit der
endgültigen Sicherung der römischen
Herrschaft in Kleinasien geht die Präsenz
Elaias in den Schriftquellen hingegen
merklich zurück, und die Hafenstadt verliert ihre strategische Bedeutung als eine
unter vielen am „Mare Nostrum“ der Römer.
Aus archäologischer Sicht ist sie ein wichtiges Zeugnis für die Geschichte Pergamons
und liefert neue Informationen in den
noch ganz lückenhaften Kenntnissen des
Seehandels und der Marine im Hellenismus.
Im Flachwasser sind deutlich die Überreste
der Hafenbefestigung zu erkennen
Der Stadtplan von Elaia
Blick auf die westliche Mole des geschlossenen Hafens von Nordwesten. Von dem knapp 200 m langen und maximal 3,75 m breiten Bauwerk
haben sich noch zwei Lagen aus Kalksteinblöcken erhalten, die mit schwalbenschwanzförmigen Klammern verbunden sind.
KOOPERATIONEN
Generaldirektion für Kulturdenkmäler und Museen des Kultur- und Tourismusministeriums der Republik Türkei
Geodätisches Institut der Universität Karlsruhe; Institut für Geomatik der Hochschule Karlsruhe
Institut für Geowissenschaften der Universität Kiel; Geographisches Institut der Universität zu Köln
Institut für Strahlenphysik der Universität Bonn; Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts; Eastern Atlas. Geophysikalische Prospektion Meyer und Ullrich GbR (Berlin); EMI Harita (Istanbul).
FÖRDERUNG
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
3D-Modell von Elaia mit Darstellung der oberirdisch sichtbaren und geophysikalisch prospektierten Baustrukturen
62 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 63
TITELTHEMA
Weder die Griechen zur Zeit ihrer „Großen Kolonisation“ noch die
weit gereisten Phönizier wären je auf die Idee gekommen, so
etwas wie „Mare Nostrum“ auch nur zu denken. Die Römer taten
es. Sie übertrugen den territorialen Gedanken auf ein Gebiet aus
Wasser, nachdem sie seine Ufer in allen vier Himmelrichtungen in
Besitz genommen hatten. Es sind diese Ufer und die Landmassen
dahinter, die viel eher als das zu einem Territorium gebannte Wasser das wirkliche Element der Römer sind. Und wo sie am Mittelmeer auf die Vernetzungen der Griechen, Phönizier und der Hochkulturen des Alten Orients zurückgreifen samt deren Kenntnissen
und Teilen ihrer Technologie, schaffen sie zwischen Rom und ihren
terrestrischen Kolonien vollkommen neue Verbindungen. Bis
heute durchziehen diese zum Teil sehr alten Verbindungen
Europa, Kleinasien und den Vorderen Orient auf einer Länge von
80.000 Kilometern. In Mitteleuropa waren befestigte Straßen der
römischen Art – aus Stein gebaut – etwas gänzlich Neues, und sie
vernetzten vormals weit entfernte Regionen auf völlig neue Weise.
Reisezeiten wurden kürzer, Nachrichten verbreiteten sich schneller. Zivile und militärische Personen kamen schneller von einem
zum anderen Punkt. Die Straßen waren unabhängig von der
Bodenbeschaffenheit und von Witterungseinflüssen passierbar.
Sie bahnten sich mittels Stützmauern und Brücken fast gerade
und ohne nennenswerte Steigungen auch durchs Gebirge. Zur
Zeit des Kaisers Augustus wurde der Straßenbau forciert, das
Imperium expandierte, und den neuen Untertanen wurde überall
verdeutlicht, wer seine neuen Herren waren. So dienten die charakteristischen Meilensteine im römischen Wegenetz nicht nur der
Orientierung, sondern waren zu allen Zeiten auch ein unmissverständlicher Hinweis: Hier herrscht Rom.
IMPERIUM ZU WASSER UND
ZU LAND
Die Tabula Peutingeriana bildete die gesamte bekannte Welt ab – von
Iberien im Westen bis Indien im Osten. Die Karte, 7 m lang und 37 cm hoch,
ist extrem gestaucht und bildet in der Art eines Metroplans das Straßennetz
mit Entfernungsangaben ab. Die Entstehung der Vorlage dieser Prachtkarte
datiert ins 3. Jh. v. Chr.
Die Römer verändern die antike Welt
64 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 65
TITELTHEMA
Die Straßenbauinschrift des M. Valerius
Lollianus aus Byllis im heutigen Albanien
zeigte, dass man gekommen war, um zu
bleiben. Hier trafen verschiedene Kulturen
aufeinander, und besonders in der Römischen Kaiserzeit wurde die Region zu einer
kulturellen Übergangszone. Drei römische
Provinzen „teilten“ sich das Gebiet: Dalmatia, Macedonia und Epirus. Die erste war
Teil des lateinischen Westens des Reiches,
die beiden anderen des griechischsprachigen Osten.
An einer ursprünglich schwer passierbaren, aber hoch frequentierten Stelle fand
man die Inschrift bereits im 19. Jahrhundert. Es ist die größte der lateinischen
Inschriften in Albanien, plakativ in ihrer
Größe wie auch in ihrer Typographie. Der
größte Teil des Textes ist in 6 cm großen
Buchstaben in den Fels gemeißelt, drei
Zeilen mit besonders wichtigen Partien
aber wurden mit 13,5 cm großen, besonders gut sichtbaren Lettern hervorgehoben.
Die Kommission für Alte Geschichte und
Epigraphik des DAI untersuchte die
Inschrift 2009 erneut, um sie neu zu lesen.
Denn eine Frage war bislang offengeblieben: Handelte es sich bei der Straße, um
die es in der Inschrift ging, um eine „via
publica“, eine öffentlich finanzierte Straße
oder wurde sie auch von privaten Geldgebern mit finanziert? In der Forschung war
dies lange offengeblieben. Das, was man
heute Public-Private Partnership nennen
würde, ist allerdings sehr wahrscheinlich.
Zu Cäsars und Augustus’ Zeiten waren
nämlich zahlreiche römische Bürgerkolonien gegründet und damit lateinischsprachige Siedler in eine Umgebung versetzt
worden, die eigentlich griechisch sprach
oder sich in einer der Sprachen der einheimischen ursprünglichen Gesellschaften
verständigte. Aus Sicht des Imperiums galt
es – nicht zuletzt durch die Ansiedlung von
Kolonisten – die zentrale West-Ostachse
über den Balkan zu sichern.
M. Valerius Lollianus, Sohn des Marcus, aus
(der Tribus) Quirina, (ehemaliger) praefectus der
cohors I Apamenorum sagittariorum equitata,
(ehemaliger) tribunus militum der legio VII
gemina felix, (ehemaliger) praefectus equitum
der ala Flavia Agrippiana, (ehemaliger) Kommandeur in Mesopotamia über Abteilungen ausgewählter Reiter der Alen: praetoria, Augusta,
Syriaca, Agrippiana, Herculiana, singularium, und
der Kohorten:
I Lucensium, II Ulpia equitata civium Romanorum, I Flavia civium Romanorum, I<I> Thracum,
III Ulpia Paflagonum, II equitum, I Ascalonitanarum, I Flavia Chalcidenorum, V Petreorum, IIII
Lucensium, I Ulpia Petreorum, II Ulpia Paflago-
WA L D G I R M E S , E I N K O L O N I A L E R
AU S S E N P O S T E N
Für die Archäologie war es der erste
Beweis, dass die Römer die Absicht hatten,
in germanischen Gebieten östlich des
Rheins dauerhaft eine zivile Verwaltung
aufzubauen. Waldgirmes war kein militärischer Stützpunkt, sondern eine zivile Siedlung von rund acht Hektar Größe, die 20
Jahre lang bestand, von 4 v. Chr. bis etwa
16 n. Chr. Es ist die Zeit des augusteischen
Eroberungsversuchs in der rechtsrheinischen Germania, und mit der Gründung
der Ansiedlung begann der Aufbau ziviler
Strukturen und der Übergang von der
Eroberung zur dauerhaften Herrschaft.
Ende der 1980er-Jahre war der Platz zufällig entdeckt worden.
Waldgirmes liegt am nördlichen Rand der
Wetterauer Senke zwischen Wetzlar und
Gießen, am Übergang zum Mittelgebirgsraum rund 25 Kilometer nördlich des späteren Limes und rund 100 Kilometer östlich des Rheins. Das städtische Zentrum
war ein 2.200 Quadratmeter großes Forum,
und damit Zweifel über die Herrschaft erst
gar nicht aufkommen konnten, stand auf
dem Platz des Forums eine lebensgroße
vergoldete Bronzestatue des Kaisers
Augustus.
num, I Ulpia sagittariorum, I{II} Dacorum, I
Syngambrum, befestigte aus eigenen Mitteln die
öffentliche Straße, die von der Colonia der
Byllidenser durch das Astaciae genannte Gebiet
führt und die eng, holprig und gefährlich war,
so, dass sie (jetzt) mit Wagen befahren werden
kann, und errichtete Brücken über den Fluss
Argyas und Bäche und dokumentierte (dies)
inschriftlich; auf Beschluss des Dekurionenrates.
66 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
DER PFERDEKOPF
Der lebensgroße bronzene Pferdekopf wurde 2009 aus einem gut elf Meter tiefen Brunnen
geborgen, dessen hölzerner Brunnenkasten ein dendrochronologisches Datum von 4 v. Chr.
ergeben hat. Der Kopf ist von herausragender Qualität und entspricht mit einer Länge von 55
cm der natürlichen Größe eines Pferdekopfes. Das Geschirr ist reich geschmückt, auf den
Kreuzungspunkten der Riemen, den beiden Querriemen über Augen und Nüstern sowie dem
Längsriemen auf der Nase des Pferdes sitzen figürlich verzierte Schmuckscheiben. Ursprüng-
Gabriele Rasbach von der Römisch-Germanischen Kommission des DAI erforscht
das römische Waldgirmes seit 1993. Statuen aus Stein oder Bronze gehörten
besonders ab der augusteischen Zeit zur
üblichen Ausstattung neu gegründeter
und auf Dauer angelegter römischer Zentralsiedlungen. Auch die übrigen Statuen,
lich war das ganze Stück blattvergoldet. Die an der Bundesanstalt für Materialprüfung in Berlin
durchgeführte Tomographie zeigt, dass der Kopf zusammen mit den Schmuckscheiben in
einem Stück gegossen wurde. Die Stellung der seitlichen Schmuckscheiben sowie das weit
aufgerissene Maul zeigen, dass der Reiter den Kopf des Pferdes zu sich herangezogen hat. Der
Kopf war fast senkrecht zum Betrachter ausgerichtet, vergleichbar der Haltung der Pferdeköpfe an den frühaugusteischen Statuen der Nonii aus Pompeji oder einer Marmorstatue aus
Sentinum.
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 67
Außer Straßen und Statuen brachten die Römer eine neue Art der
Architektur in die Region. Das Forum von Waldgirmes war auf
einem vermörtelten Steinfundament errichtet. Es ist der erste
archäologische Nachweis für ein Steinfundament – überhaupt für
ein Forum – aus augusteischer Zeit rechts des Rheins. Der Ausbau
der Siedlung stand am Beginn einer geplanten Urbanisierung und
war vermutlich noch nicht beendet, als die Bautätigkeiten am Ort
abgebrochen und die Statuen zerstört wurden.
Die Schlacht im Teutoburger Wald im Jahr 9 n. Chr. wird als eine
der Ursachen für das Ende römischer Kolonisierungsversuche
rechts des Rheins genannt, eine andere sei der Aufstand von Legionären und Veteranen am Rhein im Jahre 14 n. Chr. beim Regierungsantritt von Kaiser Tiberius gewesen – mit vielfältigen Wirkungen für die im Rechtsrheinischen lebenden Römer und
Einheimischen gleichermaßen. In Waldgirmes hingegen dauerte
die Besiedlung an und es wurden weiterhin kleinere Baumaßnahmen durchgeführt; hier führte die Niederlage 9 n. Chr. nicht zum
Ende der Besiedlung. „Offenbar hielt die friedliche Kooperation
zwischen der einheimischen Bevölkerung und den zugezogenen
Römern im Lahntal auch weiterhin an“, sagt Rasbach. „Auch in der
Zerstörungsschicht findet sich ein gleichbleibender Anteil einheimischen Fundmaterials.“
Aber der Plan, in den neu eroberten Gebieten Provinzialstrukturen
einzuführen und eine neue politische Elite heranzubilden, die als
Träger römischer Kultur und als Stützen römischer Herrschaft in
der Region auftreten konnte, war gescheitert, als 17 n. Chr. Kaiser
Tiberius die Truppen aus Germanien zurückrief und den Plan einer
Provinz, die bis zur Elbe reichen sollte, aufgab.
TITELTHEMA
für die man in Waldgirmes Sockelfundamente gefunden hat, folgten vermutlich einem vorgegebenen Bildprogramm. „Dies würde
erklären, warum in einer neu gegründeten Siedlung wie Waldgirmes, die noch nicht einmal fertig war, so früh schon eine Gruppe
von Ehrenstatuen aufgestellt war bzw. aufgestellt werden sollte“,
erläutert Gabriele Rasbach den erstaunlichen Fund. „Als ideelles
Vorbild ist sicher die Bildausstattung des Augustus-Forums zu
denken, das im Jahr 2 v. Chr. eingeweiht wurde“. Eine auf diese
Weise städtisch geprägte Bildersprache und Architektur hatte
aber nicht nur die möglicherweise dort siedelnden Römer als Zielgruppe. Auch die einheimische Bevölkerung des Lahntals sollte
mit den Bildern Roms vertraut gemacht werden. „Lebensgroße
Abbilder mit Porträtzügen hatte man hier im einheimischen
Milieu bis dato noch gar nicht gekannt“, erklärt Rasbach.
WALDGIRMES
Die Siedlung in Waldgirmes war mit
einer Holz-Erde Mauer und zwei vorgelagerten Spitzgräben befestigt und
ursprünglich durch mindestens drei Tore
erschlossen.
Der Eingang der Wohngebäude befand
sich zwischen zwei rechteckigen, gleich
großen Räumen. Er führte in einen
großen, annähernd quadratischen Raum
im Zentrum des Hauses, der von
schmaleren Räumen flankiert wurde.
Eine rückwärtige Raumreihe schloss
die Gebäude ab.
PERLE MIT ÄGYPTISCHEM MOTIV
Eine Besonderheit im Fundmaterial ist eine
1,5 cm große Mosaikglasperle, für die
bisher keine direkten Vergleichsstücke bekannt
Rekonstruktionen: Förderverein Römisches Forum Waldgirmes e. V., Lahnau
sind. In die hellblaue opake Matrix der Perle
KOOPERATIONEN
FÖRDERUNG
Landesamt für Denkmalpflege Hessen, Hessen-
Deutsche Forschungsgemeinschaft (DFG)
eingelegt, die durch drei einfarbige hellgrün-
Archäologie, Wiesbaden
1999–2013.
opake Glasplättchen getrennt sind. Der schwarz-
sind drei Bilder des ägyptischen Stiergottes Apis
Bundesanstalt für Materialprüfung, Berlin
weiß-gefleckte Stier steht in einem gelben
Goethe-Universität Frankfurt a.M., Institut für
Rahmen vor hellblauem Hintergrund, eine
Archäologische Wissenschaften; Niedersächsi-
Darstellungsweise, die an einen Schrein erinnert.
sches Institut für Historische Küstenforschung,
Apis trägt die Sonnenscheibe zwischen den
Wilhelmshaven.
Hörnern. Vor ihm steht ein kleines Räuchergefäß
oder ein kleiner Altar, auf dem ein Opfer
verbrannt wird.
68 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 69
INTERVIEW
Verbindung
und Barriere
Mittelmeerstudien gewinnen eine neue Bedeutung
Die Straße von Gibraltar. Der Felsen von Gibraltar (li.) war die nördliche, Dschebel Musa (re.) die südliche Säule des Herakles. NASA
INTERVIEW
Prof. Dr. Felix Pirson ist Direktor der
Abteilung Istanbul des DAI und Leiter
der Pergamongrabung.
Foto: Engels
Die DFG hat ein Schwerpunktprogramm
„Häfen“ mit mehr als 30 Teilnehmern –
darunter das DAI – aufgelegt, das European Research Council bewilligt groß
angelegte Projekte zur Erforschung
römischer Häfen, das DAI wird zusammen mit der Ruhr-Universität Bochum
bei der Jahrestagung der European
Association of Archaeologists 2014 in
Istanbul eine Sektion zu mediterranen
Studien beantragen – ein bedeutender
Teil der akademischen Welt scheint sich
gerade an den Ufern des Mittelmeers
einzufinden. Warum ist das so?
Die Forschungsrichtung ist natürlich nicht
völlig neu, aber seit dem Ende des Kalten
Krieges hat sie einen Aufschwung erfahren
und an Aktualität gewonnen. Eine der
neuen Konfliktlinien ist eine gedachte
Grenze zwischen ‚Orient’ und ‚Okzident’,
die genau durch das Mittelmeer hindurch
verläuft. Dabei ist es interessant zu sehen,
dass sich der heutige Blick auf die Region
so völlig von demjenigen der Antike unterscheidet. Man sah im Mittelmeer nicht die
Barriere oder die zu schützende Grenze,
die es heute scheinbar ist. Weder die Phönizier noch die Griechen oder die Römer
konnten ins Mittelmeer eine Grenze hineinprojizieren. Und auch später im Osma-
nischen Reich sah man es eher als Verbindung denn als trennendes Element.
Das Mittelmeer ist traditionell einer der
geographischen Schwerpunkte archäologischer Forschung. Welchen Zuschnitt
haben in diesem größeren Zusammenhang die ‚mediterranen’ Studien am DAI?
Das DAI hat über lange Zeit und in zahlreichen Vorhaben die Städte der Antike
erforscht und tut dies noch. Schließlich
gehört die Erforschung antiker Stadtkultur
zu den zentralen Forschungsfeldern der
Archäologie. Dabei müssen wir uns vor
Augen halten, dass viele der bedeutenden
Zentren der Antike Hafenstädte waren wie
z. B. Karthago, Milet, Smyrna, Ephesos,
Byzanz oder Alexandria. Doch überraschenderweise wurde dieser Tatsache als
solcher bislang wenig Rechnung getragen,
und seit der bahnbrechenden Dissertation
Karl Lehmann-Hartlebens von 1923 und
seiner Vertreibung 1933 wurde diese Forschungsrichtung nicht konsequent fortgesetzt. Lehmann-Hartleben untersuchte
antike Hafenanlagen als Teile eines städtebaulichen Ganzen, betrieb also eine urbanistisch ausgerichtete Hafenforschung, die
das Beziehungsgeflecht zwischen Hafenanlagen und Stadt ins Auge fasste.
Ganz ähnlich wollen wir uns in einer Forschungsgruppe innerhalb des neuen DAIForschungsclusters „Connecting Cultures“
mit solchen Fragen beschäftigen. Wie definieren Städte am Meer ihr Verhältnis zum
Hinterland? In welchem Maße richtet sich
ihr Blick aufs Meer? Entwickeln sie zwangsläufig eine maritime Identität oder gibt es
dazu auch Alternativen?
Konkrete Forschungsprojekte des DAI sind
über den gesamten Mittelmeerraum verteilt und werden nun in neuer Perspektive
zusammenarbeiten.
Wie Sie sagen, sind ‚Mittelmeerstudien’
nicht gänzlich neu. Der französische
Historiker Fernand Braudel war ein
großer Impulsgeber dieser Forschung.
Wie hat sie sich seither entwickelt?
‚Mittelmeerstudien’ ist zunächst ein Begriff,
der historische, archäologische und kulturwissenschaftliche Sachverhalte bearbeitet
und verschiedene Fächer und Methoden
unter einer geographischen Matrix miteinander verbindet. Braudel hat sehr stark
geographisch argumentiert, wenngleich
man sich davor hüten sollte, ihm eine Art
Umweltdeterminismus zu unterstellen.
Neuere Autoren wie Peregrine Horden und
Nicholas Purcell gehen einen anderen Weg
und erweitern dabei die Perspektive. Sie
nehmen nicht mehr nur Städte allein in
den Blick, sondern auch deren Hinterland
als gemeinsamen und aufeinander bezogenen Ereignisraum der Geschichte. Insgesamt entwickeln sie die These, dass man
die ‚Mikroökologien’ des Mittelmeerraums
und ihre Vernetzung miteinander untersuchen muss, um die größeren historischen
und kulturellen Entwicklungen der Region
verstehen zu können.
Der Mittelmeerraum zieht in der heutigen internationalen Politik häufig eine
Art Aufmerksamkeit auf sich, die das
Bild vom freundlichen Urlaubsziel voller
erbaulicher Bildungserlebnisse durch
Berichte über menschliches Leid, Flucht
und Vertreibung überschattet. Kann
man die Altertumswissenschaften nach
Hinweisen befragen, wie man die Vergangenheit auch für diesen Teil der
Gegenwart nutzbar machen könnte?
Wenn man sich die Entwicklung des Mittelmeerraums ansieht und bedenkt, dass
von hier aus im Zusammenwirken zahlreicher Kulturen entscheidende Impulse für
die Menschheitsgeschichte ausgingen,
drängt sich tatsächlich die Frage auf, ob
die spezifische geographische und kultu-
relle Konstellation des Mittelmeerraumes
heute noch das gleiche Potential hat. Es
gilt also nach Kontinuitäten, vor allem aber
auch nach Brüchen zu fragen. Dabei spielt
der Aspekt des Verkehrsraums und – damit
verbunden – des politischen Raums eine
wesentliche Rolle. Gerade heute ist es ja
interessant herauszufinden, wann und
warum das Mittelmeer eher als Verbindungraum oder eher als Hindernis wahrgenommen wurde. Mit anderen Worten,
wir wollen herausfinden, wie in der Antike
der Austausch von Ressourcen und Ideen
und die Bewegung von Menschen funktionierte und welche Auswirkungen dies auf
die Identität der Bewohner des Mittelmeerraums hatte. Auf dieser Basis ließe
sich auch die heutige Situation distanzierter bewerten und erschiene nicht mehr als
zwangsläufig gegeben, sondern als eine
Option von vielen. Darin liegt ja gerade die
Bedeutung der historischen Wissenschaften; sie sollten sich von den aktuellen Entwicklungen im Mittelmeerraum geradezu
herausgefordert fühlen.
Ansicht von Istanbul am
Thrakischen Bosporus
Foto: Vinent
70 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 71
PORTRÄT
Interdisziplinäre
Kulturdiplomatie
PORTRÄT
„Moderne Archäologen sind in sich eine
interdisziplinäre Spezies“, sagt Eszter
Bánffy. Wenn die komplexe Aufgabe die
Rekonstruktion antiker Gesellschaften ist,
also Paläosoziologie im weitesten Sinne,
brauchen sie schon als Basis einen weiten
geistes- und sozialwissenschaftlichen Horizont. Das ist aber nicht genug – die Aufgabe ist gewaltig. Meistern kann man sie
nur in der Zusammenarbeit mit anderen,
ist Bánffy überzeugt. „Ohne Naturwissenschaften geht es nicht.“
Eszter Bánffy ist die neue Direktorin der
Römisch-Germanischen Kommission des
DAI in Frankfurt am Main.
Eszter Bánffy ist seit 1. September 2013
neue Direktorin der Römisch-Germanischen Kommission des Deutschen Archäologischen Instituts in Frankfurt am Main.
Sie studierte an der Eötvös Loránd Universität in Budapest englische Philologie,
prähistorische und mittelalterliche Archäologie sowie Indologie und vergleichende
indoeuropäische Sprachwissenschaft.1986
wurde sie wissenschaftliche Mitarbeiterin
am Archäologischen Institut der Ungarischen Akademie der Wissenschaften, zu
deren stellvertretender Direktorin sie 2008
gewählt wurde. Bereits drei Jahre zuvor
wurde sie zum Doktor der Ungarischen
Akademie der Wissenschaften promoviert,
was einer Habilitation in Deutschland entspricht. 2012 schloss sie eine zweite Habilitation in der Geoarchäologie an.
Eszter Bánffy, Geistes- und Naturwissenschaftlerin, weiß, wie wichtig das Gleichgewicht zwischen den Fächerkulturen ist.
Als Mitte des 20. Jahrhunderts der naturwissenschaftlich geprägte Positivismus
Einzug in die Sozialwissenschaften hielt
und alles messbar werden musste, ging
Komplexität verloren, ebenso wie in den
postmodernen Formen der Archäologie,
wo das Pendel ins andere Extrem umschlug,
als Ausgrabungen fast als schädlich angesehen wurden und man nach weit verbreiteter Auffassung im Reich der Konstruktionen lebte. „Ich denke, die Kinderkrankheiten sind heute überwunden“, sagt
Bánffy. „Aber sie waren wichtig, um die
Abwehrkräfte zu stärken.“
Auch Traditionen, die man so heute nicht
mehr fortsetzen würde, können in manchen ihrer Aspekte wertvoll und unverzichtbar für die Arbeit moderner Archäolo-
gie sein. Die Zeit der Großsystematisierungen im 19. Jahrhundert brachte die
großen Sammlungen hervor. „Es war die
Zeit des Ordnens und Aufräumens“, erklärt
die Archäologin. „Der Zeitgeist äußerte
sich in diesen Formen, und es ist wichtig,
den wertvollen Teil der mitteleuropäischen Tradition zu achten und für unsere
heutige Arbeit nutzbar zu machen. Das
heißt aber nicht, dass wir uns auf dieser
Tradition ausruhen dürfen.“
Die mitteleuropäische Perspektive mit
einem physischen Ort in Frankfurt am
Main ist für die gebürtige Ungarin der ideale Ausgangspunkt für die Schaffung
eines intellektuellen Zentrums mit kulturdiplomatischer Ausrichtung, das vor allem
auch Osteuropa und Südosteuropa im
Blick hat, Regionen mit reichen kulturellen
Traditionen, die, wie Bánffy findet, bislang
noch zu wenig Aufmerksamkeit auf sich
gezogen haben. Ein dergestalt erweiterter
internationaler Horizont ruft zudem etwas
ins Gedächtnis, was in den guten Teilen
der wissenschaftlichen Tradition gang und
gäbe war: „Wir sollten mehr darauf achten,
dass der Zugang zu anderen als der eigenen Muttersprache oder nur einer einzigen Fremdsprache wieder geläufiger und
selbstverständlicher wird.“
Diese Art intellektueller Anstrengung
erleichtert womöglich auch die mehr als
schwierige Aufgabe, von den Selbstverständlichkeiten der eigenen Zeit ausgehend den Blick auf die antiken Kulturen zu
lenken und dennoch zu verstehen, was
gewesen sein könnte. „Wir haben oft sehr
wenige Zeugnisse und müssen natürlich
vorsichtig sein mit unseren Analysen“, gibt
Bánffy zu bedenken. „Aber wir können
Annäherungen finden.“ Doch nicht, um es
dabei zu belassen. „Wir wollen die Vergangenheit verstehen, um für Gegenwart und
Zukunft zu lernen“, erklärt die Archäologin.
„Womöglich suchen wir heute nach Lösungen für Probleme, ohne zu wissen, dass sie
schon längst existieren.“
Eszter Bánffy ist die erste Frau und die
erste Nichtdeutsche auf dem hoch renommierten Direktorenposten der RömischGermanischen Kommission des DAI. Ganz
selbstverständlich sind derlei Entschei-
dungen im deutschen Wissenschaftsbetrieb immer noch nicht, umso mehr müsse
man diesen Entschluss des DAI achten,
findet die neue Direktorin. „Ich habe große
Hochachtung und Respekt vor dieser fast
spektakulären Entscheidung, an die Spitze
dieses ehrwürdigen Instituts gewählt worden zu sein.“ Damit habe man gleich mehrere Stufen übersprungen – „eine tolle
Dynamik“.
Nicht ganz so alt, „ehrwürdig“ würde Eszter
Bánffy es nicht nennen wollen, aber sehr
berühmt und ebenfalls zu den besten seiner Art gehörend, ist eine „Einrichtung“, die
auch in gewisser Weise der interdisziplinären Polyphonie verpflichtet ist. Das Budapest Festival Orchestra, gegründet 1983
von Iván Fischer, der nicht nur dessen
Musikdirektor ist, sondern auch Chefdirigent des Berliner Konzerthausorchesters,
gehört trotz seiner Jugend zu den zehn
führenden Orchestern der Welt. Die Vorsitzende der „Budapest Festival Orchestra
Association“ ist Eszter Bánffy.
Die Römisch-Germanische
Kommission des DAI in Frankfurt a. M.
72 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 73
Philipp von Rummel ist neuer
Generalsekretär des
Deutschen Archäologischen Instituts.
Foto: Obeloer
„Der Posten des Generalsekretärs ist immer
eine Position zwischen Politik und Wissenschaft“, sagt Philipp von Rummel. Die Fragen der Forschung wollen fächer- und
abteilungsübergreifend weiterentwickelt
werden und es gilt, das Institut in nationalen und internationalen Scientific Communities gut zu positionieren. Am 1. März
2014 trat von Rummel als Nachfolger von
Ortwin Dally, der als Direktor nach Rom
wechselte, sein Amt als neuer Generalsekretär des Deutschen Archäologischen
Instituts an, Leiter der Wissenschaftlichen
Abteilung der Zentrale und Vertreter der
Präsidentin.
Der neue Generalsekretär bringt ein hohes
Maß an Erfahrung mit nach Berlin. Die
großräumigen geopolitischen Entwicklungen der letzten Jahre brachten es mit sich,
dass von Rummels Forschungsprojekte in
Tunesien in die große Politik einbezogen
waren. Der „arabische Frühling“ zeitigte die
Transformationspartnerschaft der Bundesrepublik Deutschland mit der Tunesischen
Republik. Und so erforderte das Management der Vorhaben – Grabungen, Museumsaufbau oder Durchführung von Summerschools für tunesische Wissenschaftler
und Restauratoren – die kluge Vermittlung
zwischen allen Beteiligten und deren Interessen auf mehr als einer Ebene.
Philipp von Rummel studierte ab 1995 Urund Frühgeschichte, Klassische Archäologie und Alte Geschichte an den Universitäten in Freiburg und Basel sowie an der
Humboldt- und der Freien Universität in
Berlin. Mit einer Arbeit zum Thema „Habitus barbarus. Kleidung und Repräsentation
spätantiker Eliten im 4. und 5. Jahrhundert
n. Chr.“ wurde er 2005 an der Albert-Ludwigs-Universität Freiburg promoviert. Die
Arbeit wurde mit dem „Juliana-AniciaPreis“ des Vereins für Spätantike Archäologie und Byzantinische Kunstgeschichte
München ausgezeichnet. Seit 2006 war
von Rummel wissenschaftlicher Mitarbeiter am Institut für Ur- und Frühgeschichte
und Archäologie des Mittelalters der Universität Freiburg, seit 2008 wissenschaftlicher Referent der Abteilung Rom des DAI,
wo er die Redaktion leitete und die Projekte der Abteilung in Nordafrika koordinierte.
Doch begonnen hatte alles viel früher. „Versunkene Städte“ war die Lieblingslektüre
der frühen Schulzeit. „Seitdem wollte ich
Archäologe werden“, erzählt von Rummel,
der schon seit der 10. Schulklasse an Ausgrabungen einer alemannischen Höhensiedlung auf dem Zähringer Burgberg in
der Nähe von Freiburg teilnahm. Derart
PORTRÄT
Kluge Vermittlung
romantisch gestimmte Anfänge archäologischen Forschergeistes sind bei aller
Bedeutung für Lebensentscheidungen
aber eben nur Anfänge. Sie treffen nicht
wirklich den Kern dessen, was Archäologie
heute leisten kann und soll: „In den meisten der Länder, in denen wir arbeiten, spielen historische Diskurse und die Selbstvergewisserung in der eigenen Geschichte
eine ungleich größere Rolle als dies bei uns
der Fall ist“, weiß von Rummel. „Dies gilt
mehr noch in Zeiten des Umbruchs, in
der die Menschen stabilisierende Anker
suchen.“ In einer derartigen Situation kann
es die Aufgabe der Archäologie sein, Konsolidierungsprozesse zu unterstützen. „Wir
müssen dazu die ganze Expertise des
Fachs zur Verfügung stellen.“ In den Gastländern wird die Arbeit der Archäologen
auch in ihrem geschichtspolitischen Aspekt
verstanden. Tatsächlich spielt das hierzulande gern kolportierte Spaten- und Pinsel-Image schatzsuchender Ausgräber in
Ländern, die existentielle Problem zu
meistern haben, keine Rolle, zumal es
ohnehin eine Verzerrung der Realität ist.
„Die Archäologie ist eine historisch arbeitende Wissenschaft, die sich modernster
Methoden bedient, um ihre Forschungsfragen zu beantworten.“
Die Archäologinnen und Archäologen
haben aber über die wissenschaftlichen
Qualifikationen hinaus noch eine ganz
andere Art der Expertise, weiß der Generalsekretär – auch aus eigener Erfahrung.
„Viele der DAI-Wissenschaftler sind schon
sehr lange vor Ort, haben exzellente Landes- und Sprachkenntnisse, sind perfekt
vernetzt, hochgradig diplomatisch eingeübt und nicht zu vergessen: sehr willkommen.“
So wichtig die Vernetzung in der Politik ist,
so unverzichtbar ist sie in der Wissenschaft,
findet von Rummel. „Das heißt aber nicht,
die Arbeit in Einzeldisziplinen geringzuschätzen.“ Denn erst sie bilden die Basis für
die fächerübergreifende Zusammenarbeit.
„Sehr häufig ist es die einzelne Forscherin
oder der einzelne Forscher, der zuallererst
die Vernetzung begründet, die schließlich
in institutionelle und internationale Kooperationen mündet.“ Die Vielfalt in der Spezialisierung und dabei die Ermöglichung
derjenigen Synergieeffekte, die moderne
Archäologie braucht, um die komplexer
werdenden Forschungsfragen bearbeiten
zu können, ist für Philipp von Rummel
eines der Alleinstellungsmerkmale des
Deutschen Archäologischen Instituts. Ein
Merkmal, das noch viel zu wenig bekannt
ist, wie er findet. „Wer gut ist, darf auch darüber reden“.
Dabei dürfe eine intensive Öffentlichkeitsarbeit aber nicht nur dem Ansehen des
eigenen Hauses in der Öffentlichkeit dienen. Sie müsse auch Rechenschaft geben
gegenüber der Gesellschaft, die im Wesentlichen die Existenz der Forschung und der
Institutionen, in denen sie stattfindet,
ermöglicht. „Kommunikation ist mehr als
wichtig“, sagt Philipp von Rummel. „Nach
außen wie nach innen.“
Doch auch die Kommunikation nach innen
ist bei einem Institut, dessen Abteilungen
und Forschungsstellen über die ganze Welt
verteilt sind, keine kleine Herausforderung
– aber eine, die Philipp von Rummel am
Herzen liegt. „Wichtig ist ein starkes Team.“
Eine ganz andere Herausforderung könnte
es sein, die ewige Stadt am Tiber gegen ein
raues Spreeathen einzutauschen, die Wärme des Südens gegen beißenden Nordostwind … Aber wie bei so vielen Dingen
im Leben und in der Archäologie spielt das
Alter eine gewisse Rolle. „Rom ist eine
wunderbare Stadt“, sagt Philipp von Rummel. „Aber Berlin ist vielfältig, agil und
lebendig – und auch ein bisschen jünger
als Rom.“
Die DAI-Zentrale in Berlin.
Links das Wiegand-Haus von 1912,
rechts das Bittel-Haus von 1976
74 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 75
ALLTAG ARCHÄOLOGIE
Vom Steinmetz haarfein vorgerissene Buchstaben
Myra, das heutige Demre, ist eine antike Stadt in Lykien in der Türkei, Provinz Antalya.
Fotos: Schuler
Die DAI-Epigraphiker haben die Steine mit Papier „beklebt“, um später auf den Abklatschen die Inschriften besser lesen zu können.
DER ABKLATSCH
Eine Lesekunst der erhabenen Art
Die Blicke des Epigraphikers ruhen auf einem Stück Papier, das
dem Laien erscheint wie ein Stück Raufasertapete. Es hat vielleicht
die Größe eines DIN A 3-Bogens, und es könnte die Antwort auf
eine der ungelösten Fragen der Archäologie tragen.
Epigraphiker, Spezialisten für Inschriften, sind Schriftgelehrte mit
ganz besonderen Fähigkeiten. Sie können das – im materiellen
Wortsinn – erhabene Chaos der Raufasertapete als Buchstaben
erkennen und entziffern. Ihre Lektüre haben sie aus Griechenland
oder aus der Türkei mitgebracht, wo sie dem handwerklichen Teil
ihres Berufs nachgingen und Abklatsche nahmen, wie viele ihre
Kollegen vor ihnen.
76 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Viele Zeugnisse der Antike sind für immer verloren, erodiert in
Wind und Wetter oder durch die Expansion moderner urbaner
Strukturen verschwunden. So bleiben aus Zeiten, in denen weder
die technischen Möglichkeiten des Kulturerhalts noch ein entsprechendes Bewusstsein sehr ausgeprägt waren, ausgerechnet
empfindliche Papiere oft die einzigen Dokumente, überliefert von
früheren Forschern, von Inschriftensteinen, die heute verloren
sind.
S T E I N , PA P I E R U N D B Ü R S T E
Mit Papier und Bürste machen sich die Epigraphiker
auf zu Steinen und Statuenbasen mit Inschriften, die
noch einmal gelesen und schließlich dokumentiert
sein wollen. Hier kommt Papier zum Einsatz, das sehr
saugfähig und reißfest sein muss. Sie durchtränken es
mit Wasser und legen es auf den Stein. Die großen Blasen werden mit der Hand ausgestrichen, dann kommt
die Spezialbürste zum Einsatz, eine kräftige Rosshaarbürste mit besonders dichten Borsten. Mit dieser
Bürste klatschen die Epigraphiker das Papier mehrmals hintereinander mit genau dosiertem Druck auf
den Stein, bis es jede Kontur geschmeidig umschlossen hat. Nach dem Trocknen nimmt man das erstaunlich widerstandsfähige Papier ab und erhält ein sehr
genaues Negativ der Inschrift – bei schlecht erhaltenen Texten ein unschätzbares Hilfsmittel für die Entzifferung.
„Es dauert eine Weile, bis man gelernt hat, auf einem
Abklatsch etwas zu entziffern“, sagt Christof Schuler,
Direktor der Kommission für Alte Geschichte und Epigraphik des Deutschen Archäologischen Instituts in
München. Es ist ja nicht nur die Unübersichtlichkeit,
die den Laien rätseln lässt, wie man so etwas jemals
lesen kann. Will man sich die erhabene, besser sicht-
bare Seite des Abdrucks zunutze machen, muss man
auch noch seitenverkehrt lesen. „Oft sind es endlose
Stunden, die man mit Abklatsch und Lampe am
Schreibtisch verbringt, bis schwer lesbare Texte entziffert und schließlich veröffentlicht werden können“,
beschreibt der Epigraphiker das mühsame und komplizierte Unterfangen.
N E U E S A B K L AT S C H  M AT E R I A L
Digitale Fotografie, aber auch komplexere Techniken
wie Laserscans, bieten heute neue Möglichkeiten der
Dokumentation und der Entzifferung von Inschriften.
„Den Papierabklatsch als zentrales Dokumentationsinstrument können die neuen Methoden aber nicht verdrängen“, sagt Schuler. „Jedenfalls im Moment noch
nicht.“
Für die Herstellung von Abklatschen werden heute
immer wieder auch andere Materialien wie Latex oder
Silikon verwendet, bleiben aber marginal, da gewissen
Vorteilen auch erhebliche Nachteile gegenüberstehen. Latex-Abklatsche sind nicht lagerungsbeständig
und eignen sich deshalb nicht für die langfristige
Dokumentation. Silikone erfordern einen größeren
logistischen Aufwand etwa für den Transport des
Materials, der aber in abgelegenen Regionen nicht
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 77
Auch ohne Abklatsch lesbar, aber ein
Puzzlespiel: Brief des Kaisers Hadrian an
die Pergamener.
Die Kommission für Alte Geschichte und
Epigraphik verfügt über eine bedeutende Sammlung, insbesondere zu den
Inschriften von Pergamon, einer der
wichtigsten Langzeitgrabungen des
DAI, aber auch aus mehreren anderen
antiken Städten Kleinasiens.
Foto: Müller
... der Regen dauerte
jetzt auch tagsüber an
Prof. Dr. Christof
Schuler ist Direktor der
Kommission für Alte
Geschichte und
„(Wir zogen …) den wild zerklüfteten Felsberg zwei Stunden aufwärts an meinen Bestimmungsort Gjölbaschi, dessen landschaftliche Reize alle Beschwerden des Aufstiegs sofort vergessen machten. Wir fanden hier in der von der Expedition noch vorhandenen
Bretterbaracke nothdürftige Unterkunft, und nachdem durch
einen aus Kasch herbeigeholten Zaptieh (Polizist) Schwierigkeiten
mit dem türkischen Nachbarn gelöst worden waren, verliessen
mich am 3. December Herr Graf Lanckoroński und Dr. von
Luschan. (…) Leider war aber auch die schlechte Jahreszeit vollends hereingebrochen, und der Regen dauerte jetzt auch tagsüber
als sanfter Landregen fort. (…) Unter gleichmässig fortdauernder ungünstiger Witterung, bei der gleichwohl die Arbeit nur
bei heftigem Sturm und Gussregen für kurze Zeit unterbrochen
wurde, liessen sich bis 18. December (…) 11 theilweise fragmentierte Inschriften entdecken, welche ich so lange es gieng auf dem
einzig trockenen Raume unter meinem Feldbette, den ich durch
rings um das Bett gezogene Wassergräben schützte, unterbrachte.
An dieser Stelle wurde es mir aus Mangel an Beleuchtung schwer,
die schwerer lesbaren Inschriften ganz zu copieren; ich verlegte
mich daher darauf, möglichst viel Abklatsche von allen zu erzielen,
bewahrte dieselben an dem gleichen Orte und flüchtete mich erst,
als ich sah, dass auch mein Bett den untern Raum vor Nässe nicht
mehr schützen konnte, in die nahe Behausung des Anfangs so
feindlichen Türken.“
Epigraphik des DAI
in München.
Foto: Vedder
D E R A L LTA G D E R F E L D A R B E I T
„Die Anfertigung von Abklatschen erfordert ein
wenig Übung, kann aber von jedermann erlernt
werden. Die Feldarbeit hält jedoch auch für
erfahrene Forscherinnen und Forscher immer
wieder neue Probleme bereit. Reicht die Abendsonne noch aus, um das Papier zu trocknen,
bevor es dunkel wird? Ist es windstill genug, um
von der Leiter aus das Papier zu bändigen und
auf den Stein in der Stadtmauer zu bringen?
Werden die Ziegen ihre Neugier und ihren
Appetit im Zaum halten, oder muss der trocknende Abklatsch durchgehend bewacht
werden? Auch wenn man nicht gern darüber
spricht: So mancher Bogen ist schon zerknüllt in
der Macchia gelandet. Und auch wenn wir heute
nicht mehr wie die Forschungsreisenden des 19.
Jahrhunderts auf Maultiere oder Pferde zurückgreifen oder gar Räuberüberfälle fürchten
müssen, ist es gelegentlich noch nötig, die
Ausrüstung, insbesondere den Wasservorrat, in
längeren Wanderungen zum Fundort zu tragen
und die fertigen Abklatsche vorsichtig aus
Gebüsch und Dornen herauszubringen. Zurück
Bericht des jungen Gelehrten Eduard Gollob aus Graz von epigraphischen Forschungen im Dezember 1882 in der antiken Siedlung von
Trysa (Gölbaşı) in der südwestlichen Türkei
In: Archaeologisch-epigraphische Mitteilungen aus Oesterreich 7,
1883, 140f.
am Schreibtisch, entschädigt die Arbeit mit den
Texten und der langfristige wissenschaftliche
Wert der papiernen Dokumentation alle Mühen.“
Christof Schuler
Die Abbildungen stammen aus Patara, der
bedeutenden Hafenstadt in Lykien, deren
Ruinen seit 1988 unter der Ägide der AkdenizUniversität Antalya ausgegraben werden. Dabei
sind bisher über 500 griechische und teilweise
auch lateinische Inschriften gefunden worden,
die von der Kommission für Alte Geschichte und
Epigraphik und der Forschungsstelle Asia Minor
Klaus Zimmermann (Universität Münster) stellt einen Abklatsch her.
an der Universität Münster in Kooperation
bearbeitet werden.
78 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Fotos: Schuler
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 79
ALLTAG ARCHÄOLOGIE
immer gewährleistet werden kann. Der
Vorteil der Kunststoffe besteht aber darin,
dass sie die beschriftete Steinoberfläche
besonders exakt abbilden und damit auch
feinste Details festhalten. Wenn zudem die
Inschriften bei der späteren Wiederverwendung der Steine in Positionen vermauert wurden, an denen man mit Papier und
Bürste nichts ausrichten kann, kommen
die Kunststoffe zum Einsatz, die man auch
auf engstem Raum aufgetragen und nach
dem Aushärten leicht abnehmen kann.
Wenn die Abklatsche entziffert sind,
beginnt der nächste Teil der Arbeit. Der
Inhalt der Inschriften muss interpretiert
und in den richtigen übergeordneten Kontext eingebettet werden. „In der Regel
ergibt es zusammen mit historischen und
archäologischen Befunden ein sinnvolles
Ganzes“, sagt Schuler. „Ohne fächerübergreifende Zusammenarbeit geht es nicht.“
STANDORT
STANDORT
Baugeschichte
Das Architekturreferat
an der Berliner
Zentrale
Schon in der 1799 gegründeten Berliner
Bauakademie stand die Antike auf dem
Lehrplan, und bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts waren viele Architekten in der
Architekturgeschichte und in der Archäologie gleichermaßen bewandert. Oft
waren es die Grenzgänger zwischen Architektur, Kunstgeschichte und Archäologie,
welche die Altertumswissenschaften in
der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts
maßgeblich mit vorantrieben.
1973 hat das Deutsche Archäologische
Institut (DAI) diese lange Tradition mit der
Gründung des Architekturreferats an der
Berliner Zentrale institutionalisiert. Im letzten Jahr feierte das DAI das 40-jährige
Bestehen des Referats mit der Ausstellung
„Antike Architektur im Blick“, die im Oktober und November 2013 in der Berliner
Urania zu sehen war.
Das Referat ist Anlaufstelle für die Bauforscher an allen Standorten des DAI sowie
weitere an Institutsprojekten beteiligte
Architekten. Es integriert die historische
Bauforschung und die Altertumswissenschaften in zahlreichen Forschungsprojekten seiner Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter, die zudem häufig in Kooperation mit
in- und ausländischen Universitäten und
Forschungsinstituten durchgeführt werden. An deutschen Universitäten ist die
archäologische Bauforschung ein Allein-
80 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
stellungsmerkmal altertumswissenschaftlicher Ausbildung, die in den gestiegenen
Herausforderungen beim Erhalt des kulturellen Erbes auf internationaler Ebene eine
immer wichtigere Rolle spielt.
An den berühmten deutschen Großgrabungen waren neben den „Philologen“
immer auch die „Praktiker“ beteiligt. So
nahm beispielsweise der Archäologe Ernst
Curtius 1871 den Architekten Friedrich
Adler nach Kleinasien mit, und als 1875
unter Curtius’ Leitung die Arbeiten in
Olympia begannen, war der Architekt
maßgeblich an den spektakulären Ausgrabungen und ihren Publikationen beteiligt.
Auch in den aktuellen Vorhaben des Referats arbeiten Architekten, Bauhistoriker
und Archäologen fächerübergreifend
zusammen. Zu ihnen zählen neben den
Untersuchungen zu den Kaiserpalästen
auf dem Palatin in Rom und dem spätantiken Kaiserpalast Felix Romuliana beim
heutigen Gamzigrad in Ostserbien auch
die Untersuchungen zu den Stadtmauern
von Pergamon und zur Oase Tayma in
Saudi-Arabien sowie zum sogenannten
Şekerhane Köşkü, dem vermuteten Kenotaph des Kaisers Trajan in Selinus in der
Türkei sowie zu onduliernden Lehmziegelmauern im pharaonischen Ägypten, die
Porta Nigra, ein römisches Stadttor in Trier
oder ein Basarviertel in Erbil im Nordirak.
Neben der Weiterentwicklung von Vermessungs- und Visualisierungsmethoden
in der archäologischen Bauforschung wird
vom Architekturreferat derzeit auch die
Fotothek der Zentrale betreut. Das Interesse an der Planung, Entstehung und der
Funktion historischer Bauwerke in ihrem
gesellschaftlichen Kontext ist ungebrochen. Zur Darstellung und Vermittlung
wissenschaftlicher Befunde wird daher im
Architekturreferat ein breites Spektrum an
modernsten Graphik- und Visualisierungsmethoden eingesetzt. Das Architekturreferat lädt in lockerer Folge zu den „Diskussionen zur Archäologischen Bauforschung“
nach Berlin ein; in der gleichnamigen
Reihe werden sie auch publiziert. Sie sind
eine wichtige Plattform des Austauschs
ebenso wie die zahlreichen Veranstaltungen, Vorträge und Tagungen, die das
Architekturreferat des Deutschen Archäologischen Instituts durchführt.
Die Ausstellung „Antike Architektur im Blick“
wird vom 3. Juni bis zum 25. Juli 2014 im
Wissenschaftszentrum Bonn gezeigt.
Zur Ausstellung gibt es eine reich bebilderte
Broschüre.
A R C H ÄO LO G I E W E LT WEIT
Die Standorte des Deutschen Archäologischen Instituts
Berlin
Kairo
Bonn
Jerusalem
München
Amman
Frankfurt am Main
Sana‘a
Peking
Bagdad
Damaskus
Ulaanbaatar
Teheran
Athen
Istanbul
Rom
Lissabon
Madrid
www.dainst.org/de/department/bauforschung
[email protected]
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 81
Unterwegs
DANK
Dank an Melanie Jonasch, die als
Das Reisestipendium des
Deutschen Archäologischen Instituts
Wissenschaftiche Referentin am DAI
PANORAMA
die Reisestipendiaten betreut
sowie an Antje Krug, ehemals am DAI
für das Reisestipendium zuständig
und Reisestipendiatin 1969/70.
PANORAMA
Die Reise war der Abschluss der Erziehung, sie sollte der Bildung des Reisenden den „letzten Schliff“ geben. Die Ziele waren bedeutende europäische Kunststädte mit ihren Baudenkmälern vor allem aus der Antike. Sie reisten durch malerische Landschaften und
lernten Kultur und Sitten fremder Länder kennen, sollten neue Eindrücke sammeln und
für das weitere Leben nützliche Verbindungen knüpfen. Die „Grand Tour“ des englischen
Adels erlebte gegen Ende des 17. Jahrhunderts einen Aufschwung, als sie zu einer Art
Initiationsritus zur Aufnahme in die kultivierte Gesellschaft wurde. Die jungen Männer,
die auf diese Art ihren Horizont erweitern sollten, waren in der Regel zwischen 17 und 21
Jahren alt. In Ratgebern und Reisetagebüchern wurden Empfehlungen über die Wegstrecke gegeben, Sehenswürdigkeiten, Sitten, die notwendige Kleidung, die Apotheke und
Lektüre besprochen sowie wichtige Sätze und Vokabeln als Hilfe verzeichnet.
Die Empfehlungen zur Wegstrecke, Öffnungszeiten von Museen und Behörden und ähnliche nützliche Tipps werden in Kürze von den Reisenden direkt in einen internetbasierten
Gazetteer eingegeben oder sie posten ihren Standort und ihre Erlebnisse in Echtzeit auf
facebook. Die Rede ist von denjenigen Reisenden, die ebenfalls mit einer großen Tour ihre
„Erziehung“ abschließen, ihren Horizont erweitern und ihre Kenntnisse abrunden sollen,
dabei aber in einer ganz anderen Tradition stehen – den Empfängern des Reisestipendiums des Deutschen Archäologischen Instituts, das seit 1859 vergeben wird. Als Alexander
Conze, zusammen mit Adolf Michaelis der erste Stipendiat im Gründungsjahr aus Kleinasien nach Hause schrieb, dass er sich einen bewaffneten Diener gemietet habe, war die
Post viele Wochen unterwegs.
Auf dem Weg in eine glänzende
archäologische Zukunft (v. l.):
Christoph Börker, Tonio Hölscher
und Jan Assmann auf der
Römerstraße von Antiochia nach Chalkis.
Aufgenommen von Wolf-Dieter
Heilmeyer. Reisestipendium 1966/67
Börker, Hölscher und Heilmeyer wurden
Professoren für Klassische Archäologie,
40 Jahre später.
Gagnon
Assmann Professor für Ägyptologie.
82 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 83
Samosata am Euphrat
Moderne Verkehrsforscher würden von
PANORAMA
Mobilitätskonvergenz sprechen: Wo das
Auto selbst nicht weiterkommt, muss es
aufs Boot umsteigen. Ein Käfer überquert
den Euphrat bei Samosata im Südosten der
heutigen Türkei und wird noch auf einem
Stück des Weges begleitet.
Einst war Samosata Station an der Route
von Damaskus über Palmyra und Sura nach
Armenien und ans Schwarze Meer. Als
Kummuhu wurde der Ort ursprünglich von
den Hethitern gegründet. Um 160 v. Chr.
wurde Samosata hellenistisch, benannt
nach Samos II., dem Herrscher des Königreichs Kommagene. 72 n. Chr. wurde
Samosata römisch.
Fotos: Heilmeyer
Djebel Aruda in Syrien
Der Blick auf den Euphrat 40 Jahre später. Aufgenommen von
Jens Pflug, Reisestipendiat 2007/2008, heute im Architekturreferat
des DAI an der Berliner Zentrale.
Bei Melanie Jonasch, als Wissenschaftliche Referetin zuständig für
das Reisestipendium, liegt ein dicker Ordner voller Reiseerlebnisse
und nützlicher Tipps, dessen Inhalt nach und nach in Datenbanken eingepflegt wird, sofern er noch aktuell ist. Vieles verändert
sich heute schneller als früher, zumal in vielen der klassischen Reiseländer der Archäologen. Internet ist überall. So kommt das
Meiste per Mail und muss nicht mehr gescannt werden. Es erleichtert die Arbeit, so wie die heute fast überall funktionierenden Kreditkarten oft sogar in abgelegenen Gegenden den Geldverkehr
erleichtern.
„Im Allgemeinen halten sich die Stipendiaten über einen längeren
Zeitraum im Kulturraum der Klassischen Antike, also dem Mittelmeerraum, aber auch Vorderasien, auf“, heißt es in der Ausschreibung zum Stipendium, und sie sollen dabei „einen Eindruck von
den Ländern und der Kultur, besonders aber den archäologischen
und historischen Stätten und Zeugnissen“ gewinnen.
Der Beginn des Reisestipendiums des Deutschen Archäologischen Instituts fällt in eine Zeit, in der schließlich vor allem die
Bürger – nicht mehr allein der Adel – im Geiste der Aufklärung
fremde Länder bereisen. Karl Baedecker und Thomas Cook entdecken Mitte des 19. Jahrhunderts einen neuen Markt, 1863 eröffnet
Carl Stangen in Breslau das erste Reisebüro Deutschlands. Seit
1873 bot es Reisen nach Ägypten an und schon 1878 Reisen um
die ganze Welt. Bei Künstlern und Intellektuellen hatte die Besichtigung antiker Stätten in Italien schon seit dem Spätmittelalter
Tradition, die nachweislich bevorzugten touristischen Reiseziele
in der Antike waren Griechenland, Süditalien mit Sizilien und dem
Golf von Neapel, Kleinasien mit den vorgelagerten Inseln sowie
Ägypten und seit dem Ende der Republik die Hauptstadt des
Römischen Reichs.
84 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
In der Nähe von Leptis Magna in Libyen –
Tank voll für sieben Dinar, umgerechnet 3,75 €
Foto: Jens Pflug
Wadi Rum
Auch hier könnte alles voller Wasser sein und die Gegend unpassierbar machen. Das Wadi Rum ist das größte Wadi in Jordanien.
Ein Wadi ist ein trockener Flusslauf, der nur nach starken Regenfällen vorübergehend Wasser führt. Als Schutzgebiet mit einer
Fläche von 74.000 Hektar wurde das Wadi Rum 2011 in die Welterbeliste der UNESCO aufgenommen. Seit prähistorischen Zeiten war
die Region von vielen Kulturen bevölkert, die ihre Spuren hinterließen.
Foto: Heike Lehmann, Reisestipendium 2005/6
2
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 85
PANORAMA
graphik sowie die Kommission für Archäologie Außereuropäischer Kulturen vergeben Stipendien in eigener Regie. Die Anzahl
der Stipendien richtet sich jeweils nach den zur Verfügung stehenden Mitteln und der Zahl und Qualität der Bewerber.
Das Reisestipendium wurde schnell zu einem äußerst nachhaltigen Instrument des DAI bei der wissenschaftlichen Nachwuchsförderung. Ein Großteil der späteren Hochschullehrer vor allem in
der Klassischen Archäologie war Inhaber des Stipendiums. Abteilungsdirektoren, Generalsekträre, Präsidenten und Präsidentin
und zahlreiche Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler des DAI
waren ebenfalls mit einem der renommiertesten Stipendien im
deutschen Wissenschaftsbetrieb auf Reisen. Wo immer sie sind,
müssen die Geförderten an den wissenschaftlichen Veranstaltungen der Auslandsabteilungen des DAI teilnehmen, und auch hier
treffen sie Kolleginnen und Kollegen, die erzählen, wie das Reisen,
das Land und die Leute zu ihrer Zeit waren.
Römisch-französisch-griechisch-keltisch. Glanum in der Provence ist eine der bedeutendsten römischen Grabungen in Frankreich. Hier war die
Fortbewegungsart eher landgebunden, befestigt mit Stein und Mauer. Als Glanum im 1. Jh. v. Chr. römisch wurde, war es schon eine „alte“ Stadt.
Bei der ersten Auslobung des DAI-Stipendiums wurden zunächst
zwei Förderungen vergeben, vorrangig an Klassische Archäologen. Mit einer Satzungsänderung des DAI im Jahre 1874 wurden
fünf Stipendien eingerichtet, vier für Klassische Archäologen
(damals häufig auch Philologen) und eines für einen Christlichen
Archäologen.
Die erste Stipendiatin war 1908 die Theologin Carola Barth – noch
gegen die Einlassung mancher Institiutsmitglieder („ (…) meiner
Ansicht nach sind Frauen mit den Aufgaben des Instituts, wie sie
in § 1 formuliert sind, ebenso unvereinbar, wie die Zulassung der
Frauen zur Habilitation mit den Interessen der Universitäten.“), der
eine Einlassung indessen, die vom ersten Sekretär Wilhelm Dörpfeld mit dem Hinweis auf „erfolgreich grabende (auch in Leitungsfunktion) und publizierende Damen aus dem angelsächsischen Sprachraum“ abschlägig beschieden wurde. Als allerdings
knapp 20 Jahre später das erste Stipendium für Bauforscher ausgeschrieben wurde und der Generalsekretär den Architekturabteilungen der Technischen Hochschulen Deutschlands mitteilt,
dass ein Reisestipendium für einen Architekten auf dem Gebiete
der Bauforschung des Altertums zur Verfügung stünde, richtet
sich dieses ausdrücklich an „Herren“.
Seit 1927/28 werden auch Prähistoriker mit einem von der
Römisch-Germanischen Kommission vergebenen Stipendium
gefördert, und auch die Kommission für Alte Geschichte und Epi-
86 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
Die am besten erhaltene römische Ausgrabung in Marokko wurde 1997 zum
UNESCO-Weltkulturerbe erklärt. Volubilis
war ein wichtiger Außenposten am
westlichen Rand des Imperiums, mutmaßlich auf einer ehemals punischen Siedlung
errichtet. Erste menschliche Spuren
reichen aber bis ins Neolithikum zurück.
Fotos: Melanie Heinle, Reisestipendium
2013/14
ARCHÄOLOGIE WELTWEIT _ 87
IMPRESSUM
Archäologie Weltweit
Magazin des Deutschen
Archäologischen Instituts
2. Jahrgang / 1  2014
H E R AU S G E B E R
Deutsches Archäologisches Institut
www.dainst.org
T E X T, R E D A K T I O N
U N D O R G A N I S AT I O N
Wortwandel Verlag
Susanne Weiss
www.wortwandel.de
G E S TA LT E R I S C H E S K O N Z E P T
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Deutsches Archäologisches Institut
Presse- und Öffentlichkeitsarbeit
Nicole Kehrer
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88 _ ARCHÄOLOGIE WELTWEIT
AN DACHTSO R TE, HANDELSZ E N TR E N, T HIN K TANKS,
SP O R TSTA D IE N UND IN FO R M ATIO N SB Ö R SE N Die Enthüllung der römischen Monumentalskulptur im türkischen Bergama fand im September des Jahres 2013 statt. Natürlich wurde
mehr enthüllt als „nur“ eine Statue, die in einem Vorhaben der
Abteilung Istanbul des Deutschen Archäologischen Instituts mit
Unterstützung der Studiosus Foundation restauriert worden war.
Enthüllt wurde wieder einmal die komplexe Bedeutung eines Heiligtums. Hier ist es ein riesiger römischer Vielgöttertempel im einst
griechischen Pergamon in Kleinasien. Sachmet, die Enthüllte, ist
aber weder eine römische noch eine griechische Gottheit. Sie
stammt aus Ägypten. Hadrian, römischer Kaiser und Bauherr des
Tempels, fand während seiner Reise an den Nil Gefallen an den
Darstellungen der Gottheiten und wünschte sie sich als gewaltige
Stützfiguren für ein hoch aufragendes Tempeldach – um einen
ehrfurchtgebietenden Ort zu schaffen für Götterverehrung und
Kaiserkult. Mehr Enthüllungen im nächsten Heft.
ARCHÄO LO G I E W ELT W EIT
In der nächsten Ausgabe von Archäologie Weltweit
Orte in dieser Ausgabe
Spanien, Los Castillejos de Alcorrín. Reportage, Seite 12
Arabische Halbinsel, Weihrauchstraße. Titelthema, Seite 36
Peru, Palpa. Cultural Heritage, Seite 20
Das Mittelmeer und seine Anrainer. Titelthema, Seite 36
Russische Föderation, Kimmerischer Bosporus,
Deutschland, München. Alltag Archäologie, Seite 76
Taman-Halbinsel. Landschaft, Seite 28
Türkei, Thrakischer Bosporus. Landschaft, Seite 28
Tadjikistan, Duschanbe. Das Objekt, Seite 34
Berlin, Zentrale des Deutschen
Marokko, Essaouira. Titelthema, Seite 36
Archäologischen Instituts
HEILIGTÜMER
DA S T ITE L B I L D
Eine kleine Insel vor der marokkanischen Atlantikküste
– in der Antike noch eine Landzunge – war der Treffpunkt der westphönizischen Seehandelsroute mit einer afrikanischen Karawanenstraße. Hier wurde gekauft und getauscht, man erzählte sich Geschichten
und berichtete einander die neuesten Nachrichten aus
allen Ecken der Welt. Die begehrten Güter waren Fisch
in großen Mengen, Elfenbein, Metalle, exotische Tiere,
das bernsteinähnliche Harz von Thuja berberiska/citrus
und kostbare Spezereien.
Unser Titelbild zeigt Essaouira, die Stadt auf dem Festland. Sie wurde bis in die sechziger Jahre hinein ‚Hafen
von Timbuktu’ genannt. Immer noch trafen hier die Karawanen aus dem afrikanischen Hinterland ein, und alle
europäischen Handelsmächte unterhielten Konsulate
in der Kleinstadt an der Küste.
Archäologie Weltweit – Zweiter Jahrgang – Berlin, im April 2014 – DAI
Wenn wir unser
kulturelles Erbe erhalten
wollen, brauchen wir
Ihre Unterstützung.
TWG
1 t 2014
Wie Sie uns helfen
Ausschnitt aus einer
Wandmalerei mit der
Darstellung eines
Frauenkopfes. 13. Jh. v. Chr.
Foto: A. Papadimitriou: Tiryns.
Historischer und archäologischer Führerw, Athen 2001
können, sehen Sie hier:
W W W. T W G E S . D E
Gesellschaft der Freunde des
Deutschen Archäologischen Instituts
Theodor Wiegand Gesellschaft e.V.
Wissenschaftszentrum Bonn
Der Zahn der Zeit nagt an den Antiken, unser Kulturerbe ist an vielen Stellen gefährdet und muss restauriert werden.
Ahrstraße 45, 53175 Bonn
Zwischen 1400 und 1200 v. Chr. entstand im Süden des Peloponnes ein stark befesDorothea Lange
tigter Palast mykenischer Art, eine Art Musterzitadelle, deren mächtige Mauern noch
Tel.: +49 228 30 22 64
lange sichtbar blieben: Tiryns. Lebhaft farbige Fresken von großer Schönheit zeigten
Fax: +49 228 30 22 70
dem Besucher das, was ihn selbst herführte: eine Prozession zum Allerheiligsten im
[email protected]
Zentrum des Palastes.
Heinrich Schliemann initiierte 1876 den ersten Zyklus von Ausgrabungen in Tiryns
Theodor Wiegand Gesellschaft
– er währte bis 1920. Das DAI nahm 1967 die Grabungen wieder auf. Neue Maßstäbe
Deutsche Bank AG, Essen
in der Erforschung des Ortes setzte dabei die von Klaus Kilian geleitete Großgrabung
Konto Nr. 247 194 400
in der Unterburg von 1976 bis 1983, durch welche die Nutzung und die Konzeption
BLZ 360 700 50
der Bebauung dieses Siedlungsteiles in mykenischer Zeit geklärt werden konnte. Seit
oder
1994 leitet Joseph Maran, Universität Heidelberg, das Vorhaben im Auftrag des DAI.
Sparkasse Köln-Bonn
1999 erweckten Neufunde von Wandmalereien erneut das Interesse an den Fresken,
Konto Nr. 290 058 08
die bereits 1910 im Schutt gefunden worden waren – besonders, nachdem sie mit den
BLZ 370 501 98
Altfunden, die durch Gerhart Rodenwaldts Publikation bekannt geworden waren, in
Zusammenhang gebracht werden konnten.
Ihre Spenden sind
steuerbegünstigt.
Vielen Dank!
TITELTHEMA
2009 konnte die Restaurierung der Altfunde abgeschlossen werden. Nun steht die restauratorische Arbeit an den Neufunden an.
www.dainst.org
VERNETZTE WELTEN
Mobilität, Migration und Handel in der Antike
R E P O R TA G E
S TA N D P U N K T
INTERVIEW
Phönizisch-Iberisches
Joint Venture
Vernetzte Forschung –
Vernetzte Welten
Verbindung und Barriere –
Mittelmeerstudien
mit neuer Bedeutung