Das Amulett
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Das Amulett
Roland Enders Die Magier Teil 2: Die Machtergreifung © 2003 Alle Rechte vorbehalten. Dieser Roman darf nur zur privaten Nutzung heruntergeladen und einmalig ausgedruckt oder auf Datenträger gesichert werden. Jede andere Nutzung oder Verwertung – insbesondere Vervielfältigung oder Veröffentlichung in Teilen oder als Ganzes – ohne Zustimmung des Autors sind verboten. Die Dürre des Herzens Gormen Helath blickte die Personen an, die mit ihm zusammen am runden Tisch im Versammlungsraum saßen. Es waren die Schwarzen Mönche des Führungszirkels des Klosters, mit ihm sieben an der Zahl, darunter zwei Frauen. Eine war die Feuermagierin Duna, die den jungen Attentäter außer Gefecht gesetzt hatte. „Nun, da Nunoc Baryth tot ist“, begann er, „obliegt es mir, seinem Stellvertreter, das Kloster bis zur Wahl eines neuen Abtes zu führen. Diese Pflicht ist sehr schmerzlich für mich. Ich hoffe, ich erweise mich des hohen Amtes würdig.“ Einer der Mönche namens Teuben, ein dicklicher Mann mit verblassten Tätowierungen auf dem kahlen Schädel, erhob sich: „Es steht außer Frage, Gormen, dass wir dich zum Abt wählen. Keiner ist geeigneter für das Amt. Aber bevor wir zur Wahl schreiten, müssen erst die Umstände von Nunocs Tod vollständig aufgeklärt sein. Was hast du von den beiden Attentätern erfahren?“ „Mit dem Soldaten habe ich noch nicht sprechen können. Er ist immer noch ohnmächtig. Doch er wird überleben. Der Junge hat freiwillig Auskunft gegeben. Er schien überzeugt davon, dass seine Tat gerechtfertigt war. Ihr wisst ja, dass ihm Athlan Gadennyn, der Lord von Shoala, den Auftrag erteilt hat. Damit haben sich Nunocs schlimmste Befürchtungen bestätigt. Athlan ist die Reinkarnation von Semanius.“ „Was hat das Verhör des Jungen über Gadennyn noch ergeben?“, fragte ein anderer Mönch. „Leider gar nichts. Er ist in einen Schockzustand gefallen, liegt mit offenen Augen da, spricht, trinkt und isst nicht. Er hat ganz offensichtlich nicht gewusst, dass ihn Semanius als Werkzeug missbraucht. Gadennyn hat ihm irgendwie weisgemacht, dass unser Abt der wiedergeborene Semanius sei. Aus Trygar, so heißt der junge Mann, werden wir vorläufig nichts mehr herausbekommen. Er leidet an der Dürre des Herzens.“ „Dürre des Herzens? Was ist das?“, fragte Duna. „Eine Gemütskrankheit. Wenn ein Mensch eine schreckliche Tat begeht, so wird sein Gewissen schwer belastet. Manchmal so schwer, dass er die 5 Last nicht tragen kann. Dann zieht sich sein Ich zurück. Im Volksmund sagt man: das Herz trocknet aus. Die Person ist unfähig, etwas zu empfinden, denn die Empfindung, die alle anderen in den Hintergrund drängt, ist die Seelenpein über das begangene Unrecht. Um dieses nicht mehr fühlen zu müssen, werden alle Gefühle unterdrückt. In manchen Fällen gelingt dies nur, wenn der Mensch das Denken ganz ausschaltet. Er befindet sich dann in einem schlafähnlichen Zustand. Seine Augen sind offen, er sieht und hört, aber er versteht nicht, was ihm seine Sinne mitteilen.“ „Bist du sicher, dass er uns das nicht vorspielt, um der Strafe für seine ruchlose Tat zu entgehen?“ „Vollkommen sicher. Trygar ist kein Mörder. Der Junge ist selbst ein Opfer Gadennyns.“ Einer der Mönche begehrte auf: „Das spielt keine Rolle. Er muss bestraft werden. Diese Tat darf nicht ungesühnt bleiben!“ Gormen Helath sah den Jüngeren eindringlich an. „Das ist eines Mönches des Schwarzen Weges nicht würdig, Benic! Hast du Nunoc Baryths Worte vergessen? Der Weiße Weg ist der einfache: Glaube ist Erlösung, Unglaube ist Verdammnis, Schuld verlangt Strafe, zahle stets mit gleicher Münze zurück. Der Schwarze Weg jedoch ist der schwere: Zweifel ist der Pfad zur Erkenntnis. Frommer Glaube ist ein Leichentuch, das die Wahrheit verbirgt. Ihr müsst stets zweifeln und abwägen. Zweifelt an der Moral des Oberflächlichen, an Dogmen und Doktrinen, zweifelt an euch selbst, wägt jede Entscheidung in freiem Willen ab und lasst euch nicht sagen, was richtig oder falsch ist, ja, zweifelt auch an meinen Worten! So sagte er. Vergesst nicht, der Schwarze Weg ist der des Zweifels, aber auch der Gnade und Vergebung. Die Schuld selbst ist eine Last, eine Strafe. Deshalb übt nicht Vergeltung an denen, die euch Unrecht angetan haben. Helft ihnen, die Schuld zu überwinden.“ Benic senkte die Augen. „Du hast Recht, Gormen. Es tut mir leid, aber der Schmerz über unseren Verlust ist so groß, dass Rachegedanken meine Vernunft trübten.“ „Ich kann dich verstehen, Benic. Mir geht es wie dir“, sagte Duna. „Wir können die Mörder nicht einfach so davonkommen lassen. Denn Nunoc sagte auch, dass schwere Verfehlungen bestraft werden müssen.“ „Das ist richtig“, antwortete ihr Gormen Helath. „Doch hier geht es nicht um Rache oder Vergeltung, sondern darum, die Gesellschaft vor dem Täter zu schützen und den Täter vor sich selbst. Er muss Gelegenheit bekommen, über seine Tat nachzudenken und sie zu bereuen. Ein Dieb, der nicht tief in seinem Inneren versteht, wie er dem Bestohlenen, gleichgültig ob reich oder arm, schadet, wird nicht aufhören zu stehlen. Er muss erst erkennen, dass der Schaden nicht nur materiell ist, dass er durch seine Handlung auch 6 die Würde des anderen verletzt. Er muss begreifen, was er seinem Opfer angetan hat, wie dieses sich fühlt. Das gelingt manchmal mit einer angemessenen Bestrafung. Doch im Fall Trygars hätte eine Bestrafung keinen Sinn. Der Junge ist schon mehr als genug gestraft.“ „Und der andere? Dieser Ritter? Weiß er auch nicht, was er getan hat?“ „Wir werden sehen. Ich werde den Mann verhören, sobald er wieder bei Sinnen ist.“ In diesem Augenblick öffnete sich die Tür des Versammlungsraums. Ein Mönch in grauer Kutte trat ein. „Verzeiht die Störung. Einer der Jäger wünscht Euch zu sprechen. Es sei sehr wichtig, sagt er.“ „Schicke ihn herein.“ Ein Mann, dessen braun-grün gefleckte Lederkleidung ihn aussehen ließ, als wäre er mit Blättern und Gras bewachsen, betrat den Raum. Gormen Helath nickte ihm zu, als Aufforderung zu sprechen. „Ihr habt uns angewiesen, die Augen offen zu halten und zu berichten, falls sich etwas Ungewöhnliches in der Nähe tut“, sagte der Jäger. „Nun, ich habe eine Gruppe von Reitern im Nachbartal gesehen, die sich offensichtlich verstecken. Ich zählte allerdings mehr Reitpferde als Menschen, sodass ich annehme, dass die Gruppe mehr Personen umfasst, als sich jetzt dort befinden. Ich habe außerdem einige Fährten gefunden, die über den Höhenrücken zwischen den Tälern führen. Ich denke, mindestens zwei dieser Menschen halten sich hier im Klostertal auf.“ Unruhe breitete sich unter den Mönchen aus. Der stellvertretende Abt hob die Hand und gebot Ruhe. „Das werden die zwei sein, die wir bereits in Gewahrsam haben, also Trygar und der Soldat, dessen Namen wir noch nicht kennen. Sie haben demnach Komplizen.“ Er wandte sich an einen der schwarz gekleideten Mönche: „Methor, weise ein paar deiner Leute an, sie einzufangen. Es darf kein Blut vergossen werden! Du“, wandte er sich wieder an den Jäger, „gehst mit und zeigst den Schwarzen Kämpfern den Lagerplatz.“ Wenig später betrat er mit Duna den dunklen Kellerraum, in dem Hauptmann Gother gefesselt auf einer schmalen Pritsche lag. Einer seiner Wächter hatte Gormen Helath mitgeteilt, dass der Gefangene aufgewacht war. „Wer bist du?“, fragte Gormen mit scharfer Stimme. Gother antwortete nicht. „Wer hat dich geschickt?“ Schweigen. „Bist du zu feige, um dich zu deinem Namen zu bekennen?“ Die Augen des Gefangenen blitzten wütend auf. „Ich bin Hauptmann Gother.“ 7 Der Stellvertreter Nunoc Baryths musterte ihn eindringlich. „Ich kenne dich, ich habe dich schon einmal gesehen.“ Gother antwortete nicht. „Ja, jetzt erinnere ich mich: Du warst vor mehr als einem Jahr hier im Kloster. Du hast auf dem Wagen eines Bierbrauers gesessen und dich als sein Gehilfe ausgegeben! Ich war als Stellvertreter des Abtes auch der Zahlmeister des Klosters. Du bist mir gleich verdächtig vorgekommen. Als ich sagte, du solltest das Leichtbier in den ersten und das Starkbier in den zweiten Kellerraum bringen, hast du die Fässer verwechselt. Der Brauer musste deinen Irrtum korrigieren. Von Bier verstehst du nicht genug, um mich zu täuschen. Ich sah deine heimlichen Blicke, die mehr als bloße Neugier widerspiegelten. Es waren die Blicke eines Spions! Als ich Nunoc Baryth von meinem Verdacht berichtete, schickte er einen unserer Schwarzen Kämpfer hinter dir her, um herauszufinden, was du vorhast. Er ist nie zurückgekehrt. Was hast du mit ihm gemacht?“ „Ich habe ihn getötet.“ Aus Gothers Stimme klang unverhohlener Stolz. Gormens Hand schoss nach vorn, seine Finger krümmten sich zu Krallen. Der Gefangene schnappte nach Luft, die Augen traten aus den Höhlen. „Gormen!“, sagte Duna scharf. Der Schwarze Mönch ließ die Hand sinken. Röchelnd sog Gother die Luft ein. „Vollende doch, was dein Herr begonnen hat und töte mich“, sagte er mit rauer Stimme. „Oder will er es selbst zu Ende führen?“ „Du Scheusal!“, schrie Duna. „Er wäre niemals zum Mörder geworden, nicht einmal an dir. Ihr seid die Meuchelmörder!“ Gother runzelte nachdenklich die Stirn, dann begriff er. Für einen Moment erschien ein Ausdruck von Triumph auf seinem Gesicht. „Dann ist er also tot? Der Junge hat seinen Auftrag demnach doch erfüllt!“ „Ja, Nunoc Baryth ist tot“, sagte Gormen mit müde klingender Stimme. „Euer Herr, Semanius, hat sein Ziel erreicht.“ Gother lächelte. „Nun steht ihm kein würdiger Gegner mehr im Weg. Semanius wird bald das Alte Königreich wiedervereinen.“ Duna sah Gormen an. „Er wusste es also. Er wurde im Gegensatz zu Trygar nicht getäuscht und kannte das wahre Ich Lord Gadennyns!“ Gadennyn biss gerade in eine blaue Weinbeere und verschluckte sich fast daran, als er es spürte: das unbändige Triumphgefühl des Hauptmanns. Der Lord, der mit seinem Untergebenen über ein schwaches, geistiges Band verbunden war, konnte über zweitausend Meilen hinweg nicht mit Gothers Augen sehen und auch nicht dessen Gedanken lesen. Er empfand nur einen Hauch von dessen Emotionen. Das Unternehmen schien bisher unter einem 8 schlechten Stern gestanden zu haben, denn er hatte nur Gothers Zweifel, Ärger, Wut und Frustration gespürt. Doch jetzt erkannte er deutlich die Freude über den Sieg. Nunoc Baryth war tot! Eine Furcht fiel von Gadennyn ab, doch Gothers Freude konnte er nicht teilen. Eigentlich hätte er Erleichterung verspüren müssen, aber seine Gefühle blieben seltsam gedämpft und widersprüchlich. Zweifellos würden Trygar, Gother und die anderen für diese Tat bezahlen. Es stand außer Rede: sie würden den Schwarzen Mönchen nicht entkommen. Er empfand eine gewisse Sympathie für seine Untergebenen und bedauerte, dass er sie in den Tod hatte schicken müssen. Er konnte nicht einmal Genugtun darüber empfinden, dass sein ehemaliger Lehrer und gefährlichster Widersacher Nunoc Baryth nun nicht mehr am Leben war. Gadennyn schüttelte seine seltsamen und beunruhigenden Empfindungen ab, wie jemand, der den Staub von seiner Kleidung klopft. Jetzt musste er sich der Zukunft und seinen Plänen widmen. Aturo Pratt würde nun seine Schuld bei ihm begleichen müssen. Der Lord erinnerte sich: Nachdem Trygar und Harold den Verwalter des Mordes überführt hatten, lehnte Gadennyn eine Gerichtsverhandlung in der Burg mit der Begründung ab, sein Sekretär fiele als Beamter des Königs unter die Gerichtsbarkeit des Hofes. Er ließ ihn von einer Eskorte aus Soldaten nach Inay überführen und gab dem Offizier einen Brief an den König mit. Der Mann dachte, er übermittele mit dem Brief die Mordanklage und ritt mit seinen Leuten nach der Überstellung des Gefangenen zurück nach Shoal. In dem Brief stand jedoch nichts von einem Mord. Stattdessen enthielt er ein von Pratt unterzeichnetes und von Gadennyn bewilligtes Versetzungsgesuch an den königlichen Hof. Der Lord von Shoala hatte Pratt angeboten, für ihn als Spion zu arbeiten, und ihm im Gegenzug Straffreiheit versprochen. Doch er hatte viel mehr mit Pratt vor. Es genügte ihm nicht zu wissen, was am Hofe vorging. Der ehemalige Burgverwalter würde als sein verlängerter Arm dienen, als Hand, die nach der Krone griff. Gadennyn ließ sich Feder und Pergament bringen und setzte einen Brief an Pratt auf, den er persönlich verschloss und versiegelte. Trygar befindet sich in der Unterwelt, der Welt der Geister und Dämonen, die beherrscht wird von Wathan-Kha, dem Fürst der Schatten. Es ist dunkel und kalt an diesem Ort. Er wandert ziellos in einer grauen Ödnis herum. Kein Strauch, kein Halm wächst in dieser steinernen Wüste, keine Vogelstimme, kein Summen von Insekten ist zu vernehmen. Es ist das Reich des Todes, in dem er wandelt. Er weiß zwar, dass sein Körper noch lebt, aber seine Seele scheint gestorben zu sein. Doch er kann sich nicht an den Grund erinnern. Er ahnt, er hat etwas Schlimmes getan, bloß was? Soll er büßen für ein Verbrechen, an das er 9 sich nicht erinnern kann? Der letzte Abschnitt seines Lebens, der ihm bewusst ist, ist der des Artistendaseins im Wanderzirkus. Was ist danach geschehen? Vage aber grausame Bilder von Krieg erscheinen vor seinem inneren Auge. Leichen und Verstümmelte rings umher. Eine gesichtslose Gestalt mit hängenden Schultern und gesenktem Kopf taumelt über die Schlachtfelder, der einzige Überlebende weit und breit. Ist er es selbst, der da durch dieses Land des Schreckens wandelt? Ist er es, der diese furchtbaren Taten begangen hat? Trygar verjagt die Traumbilder und setzt seinen Weg durch die Einöde fort. Er geht einfach drauflos, seinem Schatten folgend. Schatten? Es ist keine Sonne am düsteren Himmel! Woher kommt der Schatten? Die schwarze Silhouette vor ihm auf dem Boden materialisiert und richtet sich auf. Ein seltsames Wesen steht vor ihm. Eine bleiche und ausgemergelte, fast durchscheinende Gestalt mit einem Insektenkopf. Große, schwarze Facettenaugen, stumpf und matt, ohne jedes Leben in ihnen, blicken ihn an. „Wer bist du?“, fragt Trygar. Als der Fremde redet, bewegen sich die Mandibeln des Insektenmauls, und die Fühler wippen auf und ab. „Dein Schatten, das was von dir in der wirklichen Welt noch übrig ist.“ „Ich bin ein Insekt?“ „Dummkopf! Du weißt, dass du ein Mensch warst. Du siehst dich in dieser Gestalt, weil du keine Gefühle mehr hast. Dein Herz ist so kalt, wie es nur bei einem Insekt der Fall ist.“ „Aber ich habe noch Gefühle!“ „Wenn ich von Gefühlen spreche, dann meine ich Empfindungen für andere, nicht Angst und Selbstmitleid, wie sie alle Wesen in der Unterwelt empfinden. Sag mir: spürst du Reue, Liebe, Mitleid?“ Trygar schweigt. Langsam wird ihm klar, dass er wirklich nur sich selbst bedauert. Doch für wen soll er sonst etwas empfinden, wenn er sich an keine Person aus seinem Leben erinnert? Was soll er bereuen, wenn er nicht weiß, was er getan hat? Er wird wütend. „Du hast gut reden! Ich weiß überhaupt nicht, weshalb ich hier bin.“ „Du bist ein Mörder“, sagt sein Schatten, „deshalb befindest du dich an diesem Ort.“ Trygar ist geschockt. „Was habe ich getan? Wen habe ich ermordet?“ „Deine Laufbahn als Mörder hat früh begonnen. Schon als Kind hast du einen anderen Jungen fast umgebracht, als du ihn gegen einen Baum schleudertest. Beim zweiten Mal warst du erfolgreicher. Du hast einen Schwarzen Kämpfer in das Schwert Gothers gestürzt. Als Entlastung kann man vielleicht anführen, dass du Angst hattest und dich bedroht fühltest. Aber kurz danach hättest du fast deinen Lehrer Harold umgebracht, als du 10 ein Weinfass gegen schleudertest. Im letzten Moment hat noch einmal deine Vernunft gesiegt. Dein nächstes Opfer war eine alte Frau. Du hast sie in so große Angst versetzt, dass ihr Herz stehen blieb. Dann kam ein Tyrannenmord. Zugegeben, er wäre berechtigt, wenn sein Motiv so edel gewesen wäre, wie du gerne glauben möchtest. Aber du hast Amaran nicht getötet, um euch zu retten und einen Krieg zu verhindern, sondern aus blankem Hass und heißer, roter Wut! Und schließlich dein größtes Verbrechen, dein letztes Opfer: ein guter Mann. Sein Name war Nunoc Baryth.“ Trygar fällt alles wieder ein. Kaltes Entsetzen packt ihn. Er beginnt zu schreien. Schreit, bis ihm fast die Lunge birst, bis er keine Luft mehr bekommt. Der Fremde wartet ungerührt ab, bis die Schreie zu einem leisen Wimmern werden, dann sagt er: „Zu schreien nutzt dir nichts. Ich erkenne aber an, dass deine Pein nicht nur von Selbstmitleid, sondern jetzt auch von echter Reue begleitet ist. Dein Schatten in der wirklichen Welt ist nur noch schwach. Noch kannst du aber in sie zurückkehren, wenn du deine Taten wenigstens zum Teil ungeschehen machst.“ Trygar hat sich wieder etwas gefasst. Hoffnung keimt in ihm auf. „Was muss ich tun?“ „Du musst den wahren Semanius aufhalten.“ Winger hatte kaum geschlafen. Er war fast die ganze Nacht hindurch gewandert. Der Wald lag bald hinter ihm, und er stieg einen sanft ansteigenden Hang hinauf, bis der Mond unterging und das Licht zu schwach war um weiterzugehen. Da legte er sich auf den harten Boden, und seine Augen fielen zu. Beim ersten Morgengrauen kletterte er weiter, bemüht, keine Spur zu hinterlassen. Er wusste, Spin war ein außergewöhnlich guter Kundschafter und Fährtenleser, doch auf diesem felsigen Untergrund würde selbst er nichts finden. Jetzt befand sich der Baumeister hoch auf der Flanke des Berges, dessen Ausläufer einen Rücken zwischen den beiden Tälern bildete. Er konnte sie nun überblicken. Im linken sah er das Kloster und im rechten das Wäldchen, in dem sich seine Gefährten versteckt hatten. Hier oben war er sicher, sowohl vor ihnen, die ihn wohl vermissen und suchen würden, als auch vor den Schergen des Schwarzen Abtes. Doch wie sollte er nun in Erfahrung bringen, was im Kloster geschehen war? Hatten Trygar und Gother Erfolg gehabt oder versagt? Winger hatte auf ein Zeichen gehofft, vielleicht auf das Glockengeläut für eine Aufbahrung. Aber nichts war geschehen. Alles sah friedlich aus im Kloster. Kein Anzeichen von Aufregung oder Trauer. Er schalt sich einen Dummkopf. 11 Was hatte er sich eigentlich vorgestellt? Dass ihm Wathan-Bejhi erscheinen würde? ‚Mein guter Diener, Winger: Trygars Mission ist erfolglos geblieben. Nun ist es an dir, sie zu vollenden. Gehe denn mit meinem Segen.’ Der Baumeister verfluchte seine Dummheit. Offenbar hatte ihm der jahrelange Missbrauch von Wein und Schnaps den Verstand vernebelt. Unschlüssig, ob er zurückkehren oder weitergehen sollte, setzte er sich auf einen Stein und stierte vor sich hin. Auf einmal drang in sein Bewusstsein, dass sich auf dem Höhenzug zwischen den Tälern etwas bewegte: kleine, schwarze Punkte, die aus der Ferne Ameisen glichen. Vielleicht Schafe? Nein, die würden nicht zielgerichtet den Bergrücken überqueren, sich auf der anderen Seite verteilen und von allen Seiten in den Wald eindringen! Winger sprang auf und hastete mit großen Sätzen den Hang hinab. Der Baumeister war nicht mehr aufgetaucht. Spin hatte seine Spur ein Stück verfolgt. Winger hatte das Wäldchen offenbar verlassen und war immer weiter das Tal hinaufgestiegen. Irgendwann hatte sich die Fährte auf dem steinigen Boden verloren. Der Waldläufer war zurück zu seinen Gefährten auf die Waldlichtung gekehrt. „Ich hoffe, es ist ihm nichts geschehen. Vielleicht ist er unserer Gesellschaft ja einfach überdrüssig und deshalb weggegangen.“ „Ein Fahnenflüchtiger ist er!“, zischte Dremion. „Der Hauptmann hatte Recht. Wir hätten ihm nicht trauen sollen.“ Boc wischte die Bemerkung des Soldaten mit einer Handbewegung beiseite. „Er wird schon allein zurechtkommen. Wir haben Wichtigeres zu tun, als ihn zu suchen. Trygar und Gother sind nun schon fast einen Tag gefangen. Wir wissen nicht, wie es ihnen geht. Wir müssen mehr über ihr Schicksal herausfinden.“ „Ich werde gehen“, sagte Cora mit Bestimmtheit. „Ich reite einfach ganz offen durch die Schlucht in das Klostertal. Den Wachen am Eingang werde ich irgendeine Geschichte auftischen, etwas in der Art: arme Frau auf der Flucht vor Räubern, die ihren Mann ermordet haben und sie schänden wollen, sucht Zuflucht bei edlen Mönchen.“ „Das kommt überhaupt nicht in Frage!“, begehrte Boc auf. „Ich…“ „Still!“, zischte Spin. „Da kommt jemand.“ Sie lauschten und vernahmen das leise Knacken und Rascheln von Füßen, die auf trockene Zweige und Blätter traten. Und die Geräusche kamen von allen Seiten! Kurz darauf traten etwa zwei Duzend Männer in schwarzen Kutten und mit Kampfstäben bewaffnet, auf die Lichtung. Die Gefährten waren eingekesselt. Dremion zog sein Schwert, doch Spin erkannte sofort, dass Gegenwehr bei dieser Überzahl sinnlos war. 12 Ein Mann trat vor und schlug seine Kapuze zurück. Schädel und Gesicht des Schwarzen Kämpfers waren mit roten Zeichen bedeckt. „Wir wollen euch nichts tun“, sagte er mit sanfter Stimme. „Bitte übergebt uns eure Waffen und folgt uns.“ Der Schwur Trygars Zunge fühlte sich an wie eine dicke, ausgetrocknete Schnecke. Seine Kehle war verdorrt. Sein Kopf dröhnte, als habe ihn jemand als Pauke benutzt. Er schlug die Augen auf und stellte fest, dass er immer noch in demselben Zimmer war und auf dem Bett lag, aber nicht mehr an die Bettpfosten festgebunden war. Er setzte sich auf. Neben ihm, auf einem kleinen Tischchen, standen ein Krug mit Wasser und ein Becher. Er schenkte ein und leerte ihn durstig, wobei sein Hals beim Schlucken schmerzte. Trygar fühlte sich völlig entkräftet. Seine Hand, die den erneut gefüllten Becher zum Mund führte, zitterte so stark, dass er einen Teil der Flüssigkeit vergoss. Er konnte sich jetzt wieder an alles erinnern, und deshalb fühlte er sich so grauenvoll. Die Stimme in seinem Traum hatte Recht: Er war ein Mörder! Wie konnte er den Mönchen in die Augen sehen, denen er den Anführer und einen geliebten Menschen genommen hatte? Er fühlte unbändigen Hass auf Gadennyn in sich aufsteigen, der ihn betrogen und als Waffe missbraucht hatte, und ballte die Fäuste, bis das Blut aus ihnen wich und die Knöchel weiß wurden. Doch seine Wut schlug schnell in Trauer und Selbstverachtung um. Er selbst war kein bisschen besser als der Lord. Trygar stand auf und wankte zum Fenster. Von hier aus konnte er in den Hof des Klosters hinabsehen. Ein Schreck durchfuhr ihn, als er einige seiner Gefährten dort unten erblickte, gefesselt auf dem gepflasterten Boden sitzend und von zwei in Schwarz gekleideten und mit Kampfstäben bewaffneten Männer bewacht. Er entdeckte Spin, Boc, Cora und Dremion. Von Winger und Gother keine Spur. Waren sie vielleicht entkommen? Trygar ging zur Tür. Er musste zu seinen Gefährten, ihnen das Unsagbare sagen, ihnen seinen furchtbaren Fehler gestehen. Er wunderte sich, dass sie nicht verschlossen war, als er die Klinke niederdrückte. Draußen fand er 13 sich auf einem kurzen Flur, von dem einige weitere Türen abgingen und der in ein Treppenhaus mündete. Er folgte den Stufen hinab, ging einen weiteren Gang entlang, öffnete die Tür zum Hof und trat hinaus. Die Sonne stand im Südosten. Es war demnach Vormittag. Er musste einen ganzen Tag und eine Nacht geschlafen haben. Hatten ihm die Mönche etwas eingeflößt? Langsam schlurfte er zur Hofmitte hin, wo sich die Gefangenen befanden. Cora sah ihn als Erste und stieß einen Ruf der Überraschung aus. Die Wächter wurden auf ihn aufmerksam, doch sie stürzten sich nicht wie erwartet auf ihn, um ihn wieder festzunehmen. Stattdessen lief einer von ihnen davon und verschwand im Klosterturm. Trygar erreichte die Freunde, die ihn bestürzt ansahen. Sie wussten nicht, ob sie sich darüber freuen sollten, dass er unverletzt und frei war, oder sich um ihn Sorgen machen sollten, weil er so unendlich traurig schien. „Ich…“, begann er, doch Spin unterbrach ihn. „Ich weiß, Trygar. Ich habe alles gesehen. Du hast Semanius getötet.“ „Du weißt gar nichts. Er war nicht Semanius!“ Die Stimme des jungen Magiers brach fast. „Nunoc Baryth war ein großer und verdienstvoller Mann. Die Welt ist viel ärmer ohne ihn. Ich habe einen Unschuldigen getötet. Doch das ist noch nicht das Schlimmste: Der wahre Semanius ist…“ „Lord Gadennyn!“, unterbrach ihn eine Stimme von hinten in fast akzentfreiem Koridreanisch. Gormen Helath, der neue Führer des Ordens, trat neben ihn. Er sah die Gefangenen an, die nicht zu begreifen schienen, was der große, schlanke Mann ihnen da erzählte. Doch der ließ ihnen keine Zeit, das Unbegreifliche zu verstehen. „Euer Herr, der Lord von Shoala, hat euch an der Nase herumgeführt. Immerhin sei euch zu Gute gehalten, dass ihr nichts wusstet, was ihr tatet. Mit einer Ausnahme: Gother hat gestanden, dass er Gadennyns Absichten und dessen wahre Identität kannte. Wir haben lange überlegt, was wir mit euch machen sollen. Viele von uns wollten euch hart bestrafen, denn das Unheil, das ihr angerichtet habt, ist groß. Vielleicht kann Semanius Dank eurer Hilfe die Welt ins Verderben stürzen. Doch ich messe mir einige Menschenkenntnis zu und glaube, dass Trygar seine Tat bereut und sie wieder gutmachen will. Ich gebe auch euch die Gelegenheit dazu, wenn ihr dem Orden bedingungslose Treue schwört. Ich lasse euch nun allein, damit ihr darüber nachdenken könnt. In zwei Stunden kehre ich zurück und erwarte eure Antwort.“ Die nächsten zwei Stunden zählten für die Gefährten zu den schlimmsten ihres Lebens. Als ihnen bewusst wurde, was sie angerichtet hatten, und in welchem Ausmaß Gadennyn ihre Loyalität missbraucht hatte, versanken sie zunächst in tiefe Trübsal, stierten auf den Boden und wälzten dunkle 14 Gedanken. Irgendwann rief sie Cora dazu auf, miteinander zu reden. Aber sie sprachen nicht über das, was vor ihnen lag, sondern über die Vergangenheit, über verpasste Chancen, suchten Gründe für ihr Verhalten, Ausreden und Entschuldigungen. Sie verfluchten Gother und schoben ihm die Schuld zu. Dremion war tief von seinem Vorgesetzten enttäuscht. Trygar schwieg lange, dann fuhr er seine Freunde an: „Begreift endlich: Wir alle haben schlimme Fehler begangen, und ich selbst den furchtbarsten. Natürlich fühlen wir uns schlecht und werden nie überwinden, was wir getan haben. Und ein schlechtes Gewissen ist die mindeste aller Strafen, die man für solche Verbrechen erleiden kann. Aber es hilft nichts, wenn wir jammern und uns selbst bemitleiden. Wir müssen verhindern, dass Semanius das Land unterjocht. Was können wir tun?“ Die anderen gaben ihrem jungen Anführer Recht. Aber Cora warf eine weitere Frage auf: „Dürfen wir diesen Schwarzen Mönchen denn trauen? Was wäre, wenn sie gelogen hätten, um die Schmach ihrer Niederlage zu verringern? Was wäre, wenn Nunoc Baryth doch der wiedergeborene Lordmagier gewesen wäre?“ „Nur einer kann uns darüber die Wahrheit sagen“, meinte Boc, „nämlich Gother.“ Bevor sie über Gormens Angebot, dem Orden Treue zu schwören, nachgedacht hatten, kehrte dieser zurück. Spin erklärte ihren Standpunkt dem zukünftigen Abt: „Vielleicht haben wir einen großen Fehler begangen, aber vielleicht führst du uns ja an der Nase herum. Bevor wir dir helfen, müssen wir erst mehr wissen. Erzähle uns alles über Nunoc Baryth, den Orden, und auf welche Weise ihr erfahren habt, dass Gadennyn Semanius ist. Außerdem wollen wir dies von Gother bestätigt haben.“ Gormen schien das Ansinnen nicht als Anmaßung zu verstehen. Er hatte wohl damit gerechnet. „Gut, so soll es sein. Ich werde euch die Fesseln abnehmen lassen, doch noch seid ihr Gefangene. Die Freiheit erhaltet ihr, nachdem ihr den Schwur geleistet habt. An eine Flucht braucht ihr gar nicht erst zu denken. Die Klosterpforten sind geschlossen und schwer bewacht. Sonst gibt es keinen Ausgang.“ Nachdem die Wachen die Gefährten losgebunden hatten, fuhr er fort: „Kommt mit, ich führe euch jetzt zu Gother.“ Winger beobachtete von der Felsenplattform am Hang des Klostertals, wie die Gefangenen in ein Gebäude geführt wurden. Aus dieser Entfernung konnte er sie ohne Fernrohr nicht erkennen, aber er zählte insgesamt acht Menschen und nahm an, dass die in der Mitte Gehenden seine Freunde 15 waren. Der Baumeister war unschlüssig. War Semanius tot? Drohte seinen Gefährten unmittelbar Unheil? Würde man sie sofort töten oder ihnen später den Prozess machen? Doch jetzt, am helllichten Tag, konnte er nichts unternehmen. Er wollte warten, bis es dunkel war und dann in das Kloster eindringen. Trygar blickte voller Verachtung in das grinsende Gesicht des Hauptmanns, der gefesselt auf seiner Pritsche in einer Zelle im Kellergewölbe des Klosters saß. Gother hatte gerade Gormens Behauptung bestätigt. „Ja, es stimmt. Ihr alle habt Semanius gedient, bei eurer mangelnden Loyalität sogar besser als ich erwartet habe. Und ich bin ein bisschen stolz auf euch. Ihr habt große Gefahren gemeistert, um den gefährlichsten Feind des Lords zu töten. Ich wünschte, wir könnten zurückkehren, um gemeinsam die Anerkennung und Dankbarkeit Lord Gadennyns zu erfahren. Vielleicht würdet ihr dann ja begreifen, dass dies alles notwendig war.“ „Erkläre es uns jetzt!“, forderte Spin mit kalter Stimme. Gother seufzte. „Ich glaube kaum, dass ihr das versteht. Aber ich will es versuchen: Gadennyn ist schon immer ein großer Mann gewesen, ein Mann, fähig und von Wathan dazu ausersehen, das Reich zu vereinen und zu alter Größe zurückzuführen, aber er verfügt nicht über Armeen, um diesen Anspruch zu verwirklichen, und diejenigen, die Macht haben im zersplitterten Königreich, seien es die koridreanischen Fürsten, unser eigener unfähiger König, der idiotische Herrscher von Orinokavo, die Kaufleute und die Bandenführer von Pheldae, ja, nicht einmal der Pridemus des Tempels Wathans, würden ihm folgen und ihre eigene Macht aufgeben für einen Traum, den Traum von einem Großreich, das bis an die Grenzen der Welt reicht. Doch Wathan will, dass dieser Traum verwirklicht wird. Er hat seinem auserwählten Volk einen Führer gesandt und diesem eine gefallene Seele geschenkt, die eines Mannes, der über beinahe unbegrenzte Macht verfügte, die Seele des letzten Lordmagiers. Mag sein, dass Semanius damals fehlte, dass er mehr von der Welt forderte, als sie ihm zu geben bereit war, dass er zu unbedacht und stürmisch vorging. Aber Lord Gadennyn, der neue Semanius, ist ein anderer. Einer, dem man die Welt anvertrauen darf, der das Beste für sie will. Oder vielmehr: das Beste für die Menschen des Alten Königreichs, denn er wird dessen Feinde vom Erdboden tilgen! Ihr kennt die Geschichte der Eroberungsfeldzüge aus dem Süden, die nur Dank der Magier des Königreichs aufgehalten werden konnten. Sonst hätten die Südländer die Städte niedergebrannt und geplündert, die Frauen und Kinder versklavt und die Männer getötet. Semanius hat noch ein paar Rechnungen mit ihnen offen. Und ich werde seine Liste um ein weiteres Feindesvolk ergänzen, nämlich das der verdammenswerten Ostmenschen! 16 Auch wenn Amaran nun tot ist: sie sind und bleiben eine Gefahr für das vereinte Königreich und müssen ausgerottet werden.“ „Also will Gadennyn, wie schon Amaran vor ihm, die Welt mit Krieg überziehen“, stellte Trygar mit tonloser Stimme fest. „Ja, aber mit einem Krieg, der uns den Sieg und die Herrschaft über die Welt bescheren wird. Jetzt, wo Nunoc Baryth tot ist, kann ihn niemand mehr aufhalten. Schade, dass wir es nicht mehr erleben werden, denn diese schwarzen Krähen werden uns zweifellos umbringen.“ „Da irrt Ihr Euch, Hauptmann“, sagte Gormen Helath. „Wir werden niemanden töten.“ Gother lachte: „Umso besser! Wenn ihr mich nicht tötet, werde ich euch irgendwann entkommen, oder Gadennyn wird mich befreien. Und auf seiner Liste stehen nicht nur die Feinde von außen, sondern auch die von innen. Er wird mit euch nicht so gnädig verfahren.“ Boc spuckte aus. „Bei ihm ist guter Wille verloren. Wir haben gehört, was wir erfahren mussten. Lasst uns gehen.“ Der stellvertretende Abt führte sie in eine kleine Halle, die mit Wandteppichen geschmückt war, welche religiöse Szenen darstellten. Der Raum besaß an der einen Seite hohe Fenster und war hell und freundlich. Sein Mobiliar war allerdings mehr als spärlich. Es gab weder Stühle und Bänke, noch einen Tisch oder Schrank. Auf dem Boden lagen nur einige Sitzkissen. „Dies ist unser Meditationsraum“, sagte Gormen. „Hier finden wir in den Stunden zwischen dem Abendmahl und dem Nachtgebet Ruhe, Einkehr und Besinnung. Bitte setzt euch. Ich werde euch nun alles erzählen, was ich weiß. “ Er schickte die Wachen aus dem Raum. Die Gefährten und er ließen sich auf den Kissen im Kreis nieder. Er sah sie einen nach dem anderen an, bevor er begann: „Ihr wolltet etwas über Nunoc Baryth und den Schwarzen Orden wissen. Ich weiß, dass viele Menschen die Farbe Schwarz mit dem Bösen verbinden, ein Vorurteil, dass Gadennyn natürlich gut passt. Schwarz ist auch die Farbe des Todes und erweckt deshalb Angst und Schrecken. Ja es stimmt: In unserer religiösen Tradition steht schwarz für den Tod. Aber nicht für den Tod als schreckliches Ende, sondern für den Neubeginn, für die Ablösung der Seele vom schwachen Fleisch und für das spirituelle Leben nach der Vereinigung mit Wathan. Schwarz ist die Farbe Gottes, des ewigen Lebens und der Freude. Der Schwarze Orden wurde nicht von Nunoc Baryth gegründet, er ist schon Hunderte von Jahren alt. Es gab ihn bereits zu Semanius’ Zeiten, des ersten Semanius’, meine ich. Ursprünglich war es ein Orden wie jeder an- 17 dere, er unterschied sich nur ein wenig durch seine Riten und Zeremonien. Herausragend war aber schon immer die Gelehrsamkeit seiner Glaubensbrüder und -schwestern. Unser Orden hat nie das weltliche Wissen gebrandmarkt; ganz im Gegenteil, er war berühmt für seine großen Naturforscher. Wir sind dem Großtempel Wathans schon immer ein Dorn im Auge gewesen, weil wir undogmatisch sind und nicht jedes Ereignis göttlichem Handeln zuordnen. Wathan hat die Welt erschaffen, das stimmt, aber er hat ihr auch die Naturgesetze geschenkt, die es ihr erlauben, ohne sein ständiges Wirken zu funktionieren. Wathan schickt keine Stürme, Fluten, Dürren oder Hungersnöte. Das sind Naturereignisse, voraussehbare Wirkungen, die auf weltlichen Ursachen beruhen. Wathan bestraft in diesem Leben weder die bösen Menschen noch führt er die guten in Versuchung. Er hat Mensch und Tier einen Platz in der Welt gewiesen, und wir müssen selbst sehen, wie wir damit zurechtkommen. Alle Ungerechtigkeiten, die uns widerfahren, werden jedoch vergessen sein, wenn wir einst mit ihm vereint sind. Oh, verzeiht, ich schweife ab. Ich sagte, dass der Schwarze Orden ein Hort der Forschung und Lehre war. Ein Zweig des Wissens hat es uns besonders angetan, die Geschichte unseres und anderer Völker dieser Erde. Wir beobachten das Wirken der Menschen schon lange, denn auch wenn wir keine Mittel gegen Naturkatastrophen, gegen Krankheit und Tod haben: die größte Gefahr für uns Menschen geht immer noch von uns selbst aus. Unsere schlimmsten Geißeln sind Krieg, Unterdrückung, Unfreiheit, Hass und Verachtung für die, die wir als gering von Wert einschätzen. Menschen tun den Menschen Schlimmes an. Und die größte Bedrohung geht von den Mächtigen aus. Nicht alle Fürsten, Könige, ja nicht einmal die hohen Würdenträger des Tempels sind gute Menschen. Manche missbrauchen ihre Macht zu ihren eigenen Zwecken. Aus der Vergangenheit kann man vieles lernen. Man kann sie mit Entwicklungen der Gegenwart vergleichen und erkennen, ob diese zum Guten oder Schlechten führen. Also haben wir schon immer beobachtet, aufgeschrieben, verglichen und analysiert. Unsere Erkenntnisse haben wir stets eingesetzt, um gute Entwicklungen zu fördern und schlechte zu verhindern. Wir sandten Berater an Fürstenhöfe und Königshäuser, an Stadträte, die Verbände der Kaufleute, der Bauern und an alle Einflussreichen, die die Geschicke der Menschen mitbestimmten und denen unser Rat willkommen war. Natürlich war er nicht überall willkommen, und manche verfolgten uns gar mit bitterem Hass. Einer von diesen war Semanius, der Lordmagier. Ja, der Schwarze Orden beobachtete ihn und sein Wirken und warnte die Königin. Doch er konnte das heraufziehende Unheil nicht verhindern. Semanius ließ unsere Klöster überall 18 niederbrennen. Weit mehr als die Hälfte unserer Mönche und Nonnen starben. Wahrscheinlich hätte er unseren Orden ganz ausgelöscht, wenn er nicht seltsamerweise freiwillig aus dem Leben geschieden wäre. Nach seinem Tod dauerte es sehr lange, bis die überlebenden und weit zerstreuten Brüder und Schwestern wieder zusammenfanden und neue Klöster überall im Königreich errichteten, darunter dieses hier, in dem ihr euch befindet. Der Orden bekam großen Zulauf. Viele Menschen suchten nach all den Schrecken des Bürgerkriegs einen neuen Lebenssinn. Aber dem damaligen Abt reichte es nicht, einfach so weiterzumachen wie bisher. Er berief eine Klausur ein. Alte und neue Ordensmitglieder berieten viele Wochen und fassten weit reichende Beschlüsse, die die Grundziele des Ordens neu definierten. Die Versammlung war sich einig: so etwas dürfe nie wieder geschehen. Es reiche nicht aus, zu beobachten und zu warnen, sondern man müsse auch eingreifen, um das Schlimmste zu verhindern. Die Besten und Fähigsten des Ordens wurden ausgewählt und im Kampf ausgebildet. Darunter waren viele Magier und ehemalige Soldaten. Die Kämpfer sollten eingesetzt werden, wann immer von einem Mächtigen eine Grenze überschritten würde, die in Krieg oder Völkermord enden konnte. Sie waren nicht mit Schwertern und Streitbeilen, sondern mit magischen Waffen ausgestattet, Waffen, die nicht töteten, sondern die Gegner nur kampfunfähig machten und entwaffneten. Die Schwarzen Kämpfer haben so manchen Kampf gefochten, manchen Krieg verhindert, manchen Tyrannen gestürzt. Sie hatten großen Rückhalt in der Bevölkerung, bis Pridemus Erthon, der Fünfte, seine uneingeschränkte Macht über den Tempel Wathans von ihnen bedroht sah. Er verbot den Schwarzen Orden mit der Begründung, er würde Irrlehren verbreiten und die Gewalt verherrlichen. Dabei wurden die neuen Ordensstatuten nur geschaffen, um Gewalt als Mittel der Macht zu bekämpfen! Natürlich konnten wir uns nicht dem geistigen Oberhaupt unserer Religion widersetzen. Wir mussten uns fügen. Fast alle unsere Klöster wurden aufgelöst. Die Mönche und Nonnen wurden in anderen Orden aufgenommen, wenn sie unseren Prinzipien abschworen. Die Schwarzen Kämpfer aber wurden gebannt und verjagt. Nun, bis in den hohen Norden reicht der Arm des Großempels nicht mehr, seitdem das Alte Königreich zersplittert ist. Hierhin konnten sich die wenigen Anhänger unseres Ordens und die Kämpfer zurückziehen, und hier hat unser Orden überlebt. Unser Wirkungskreis ist nach dem Bann aber verschwindend klein geworden. Doch wir beobachten die Welt und ihre Mächtigen weiter aufmerksam und registrieren die politischen Entwicklungen. Kommen wir zur nahen Vergangenheit und zur Gegenwart: 19 Nunoc Baryth war über vier Dekaden unser Abt, ein großer Mann und ein ungewöhnlich begabter Magier. Unter seiner Führung nahm das Kloster viele Novizen mit magischer Begabung auf, die eine Zuflucht vor Verfolgung fanden, denn ihr wisst ja, dass Magier heutzutage nicht sehr beliebt sind. Vor etwa zwanzig Jahren kam Athlan, ein junger Novize eines anderen Ordens aus Vulcor, zu uns. Er hatte sein magisches Talent erst vor kurzem entdeckt. Doch als er dies dem Abt seines Klosters offenbarte, zwang ihn dieser – ein erbitterter Gegner der Magie, die er für das böse Werk WathanKhas hielt – den Orden auf der Stelle zu verlassen. Auf seiner anschließenden Wanderschaft hörte Athlan vom Schwarzen Orden, und er vernahm Gerüchte, dass man dort der Magie freundlich und offen gegenüberstand. Also kam er zu uns und bat um Aufnahme. Nunoc Baryth erkannte schnell das außerordentliche Talent des jungen Mannes, das dem des Abtes ebenbürtig war, daher förderte und lehrte er ihn. Doch bald bemerkte er, dass Athlan nichts daran lag, spirituelle Erkenntnis zu erlangen. Ihm ging es einzig darum, seine Magie ausüben und die magischen Fähigkeiten erweitern und vertiefen zu können. Er lernte rasch, und seine Macht wuchs unaufhaltsam. Nunoc zweifelte nun daran, dass es richtig war, den Jungen auszubilden. Er wurde ihm langsam unheimlich. Selbst die Schwarzen Kämpfer hatten Angst vor ihm. Keiner war ihm mehr gewachsen. Der Abt erinnerte sich an den Werdegang des jungen Semanius, Jahrhunderte zuvor, der ja ganz ähnlich gewesen war. Natürlich dachte er keinen Augenblick daran, dass es eine Verbindung zwischen dem toten Lordmagier und dem jungen Novizen geben könnte, aber er fürchtete, Athlan könnte ein zweiter Semanius werden. Eines Tages bat er ihn zu einem Gespräch. Er wollte ihm die Geschichte des Lordmagiers als abschreckendes Beispiel für den Missbrauch der Magie erzählen, aber als er dessen Namen nannte, fing der Junge an zu lachen, bis ihm die Tränen die Augen traten. Über Semanius brauchst du mir wirklich nichts zu erzählen, sagte er. Ich weiß mehr über ihn, als du je erfahren wirst! Nunoc verstand erst nicht, doch dann erzählte Athlan Details aus dem Leben des Lordmagiers, die nicht einmal ihm bekannt waren. Der Abt glaubte ihm natürlich kein Wort, hielt den jungen Mann für einen Aufschneider. Aber nachdem Athlan ihn verlassen hatte, ging er sofort in die Ordensbibliothek, öffnete eine magisch versiegelte Geheimtür, von der nur wenige Eingeweihte wussten, und stieg hinab in das Geheimarchiv. Dort las er in den Aufzeichnungen des Ordens über Semanius und erfuhr zu seiner Bestürzung, dass alles, was Athlan behauptet hatte, stimmte. Es gab nur zwei Möglichkeiten, wie er davon wissen konnte. Entweder hatte er das Geheimarchiv gefunden und es irgendwie geschafft, die Tür zu öffnen, oder – aber das war undenkbar! 20 Nunoc übertrug die Führung des Klosters seinem Stellvertreter, sattelte sein Pferd und machte sich unter dem Vorwand, Hilfe für einen sehr kranken Klosterbruder zu suchen, auf die lange Reise zu einem anderen Orden am Fluss Thes. Er kannte die Äbtissin. Sie war im Geheimen eine Geistmagierin, eine, die spüren konnte, ob jemand die Wahrheit sprach oder log. Er bat sie um Hilfe, und sie ritt mit ihm. Nach vielen Wochen trafen sie wieder hier ein. Die Äbtissin gab sich als Heilerin aus, die gekommen war, um den kranken Mönch zu pflegen. Tatsächlich verstand sie einiges von der Heilkunst, doch der wahre Grund ihrer Anwesenheit war natürlich herauszufinden, wer der junge Athlan war. Sie suchte sein Vertrauen, und da sie eine hübsche Frau war, fühlte sich der Junge trotz des Altersunterschieds von fünfzehn Jahren zu ihr hingezogen. Sie unterhielten sich oft, und Athlan erzählte ihr einiges von dem, was er schon Nunoc Baryth berichtet hatte, aber darüber hinaus viel mehr, denn sie konnte die Menschen mit ihrer Gabe zum Reden bringen. Ja, es stimmte, so berichtete sie dem Abt: Athlan war der Sohn und Erbe des koridreanischen Fürsten Lord Gadennyn, er war von ihm zur Ausbildung in den hohen Norden geschickt worden. Es war auch wahr, dass der Junge zuerst in einem anderen Kloster gewesen und von dort fortgejagt worden war, nachdem er sein magisches Talent entdeckt hatte. Und sie bestätigte Nunoc Baryths furchtbaren Verdacht, dass der junge Mann der wiedergeborene Semanius war. Athlan hatte es ganz offen zugegeben. Aber es gab einen Punkt, an dem er verschlossen wie eine Auster blieb, nämlich als ihn die Frau fragte, wann er es entdeckt habe und wie ihm seine zweite Persönlichkeit bewusst geworden sei. Selbst mit ihren außergewöhnlichen Fähigkeiten konnte sie es ihm nicht entlocken. Athlan war sofort misstrauisch geworden, als sie darüber sprach, so als ob sie ihm mit diesem Wissen die Identität und die Macht Semanius’ hätte rauben können. Der junge Mann verbarg etwas vor ihr. Nunoc Baryth war ratlos. Was sollte er tun? Es war klar, dass er Athlan nicht weiter ausbilden durfte. Dessen Macht war sowieso schon zu groß geworden. Doch wenn er den Jungen des Klosters verwies, beraubte er sich jeden Einflusses auf ihn. Die anderen Oberen des Ordens bedrängten ihn, Semanius alias Athlan Gadennyn zu verstoßen. Sie hatten große Furcht davor, dass er die Macht an sich reißen würde. Schweren Herzens befolgte der Abt ihren Rat. Er teilte Athlan mit, dass er das Kloster verlassen müsste. Der junge Magier war gekränkt und wütend, aber er ging. In den vergangenen Jahren versuchten wir immer wieder, etwas über ihn in Erfahrung zu bringen. Wir wollten wissen, was aus ihm geworden ist. Deshalb schickte Nunoc Baryth von Zeit zu Zeit Kundschafter aus. Und sie berichteten, dass Athlan inzwischen das Haus seines Vaters geerbt hatte und Lord von Shoala geworden war, doch er verhielt sich unauffällig und 21 ruhig, schien sich als besonnener Fürst zu erweisen, der um das Wohl seiner Untertanen besorgt war. Es gab keinerlei Anzeichen von Machtgier oder Eroberungsgelüsten. Nunoc war erleichtert. Doch dann, vor nicht allzu langer Zeit, kam ein Mann aus dem Süden mit koridreanischem Akzent in unser Kloster. Es war Gother, wie sich inzwischen herausgestellt hat. Ich fasste den Verdacht, dass er ein Spion war, und Nunoc sandte ihm deshalb einen Schwarzen Kämpfer nach, der herausfinden sollte, für wen Gother spionierte. Natürlich ahnten wir es schon. Als unser Mann nicht mehr zurückkehrte, schien es Gewissheit zu sein. Lord Gadennyn hatte seine Aufmerksamkeit auf uns gerichtet. Das konnte nichts Gutes bedeuten. Wir verschärften unsere Wachsamkeit, konnten aber dennoch nicht verhindern, dass ihr unseren Abt getötet habt!“ Am Schluss klangen seine Worte bitter. Die Gefährten schwiegen betreten. Nach einer minutenlangen Pause sagte Trygar: „Ich schwöre den Eid.“ Eine Stunde später warteten die Gefährten auf Geheiß Gormen Helaths auf dem Klosterhof, wo die Feier nach der Zeremonie der Vereidigung stattfinden sollte. In graue Kutten gekleidete Mönche und Nonnen – ja, es waren auch einige Frauen unter den Bewohnern des Klosters – trugen Stühle und Tische nach draußen und deckten sie mit Tellern und Bechern. Aus dem Fenster der großen Küche drangen Gerüche, die den Koridreanern das Wasser im Mund zusammenlaufen ließen. Sie konnten sich kaum an ihr letztes Mahl erinnern, das sie an einem Tisch eingenommen hatten. Doch das musste noch warten, denn zuvor sollten sie den Eid leisten. Die Gefährten waren etwas nervös, denn sie wussten nicht genau, was sie erwartete. Der zukünftige Abt hatte von einer heiligen Zeremonie gesprochen, von einem Versprechen, das sie nicht ihm, Gormen Helath, sondern Wathan, dem Höchsten, persönlich geben müssten. Sie sollten ihre Gedanken reinigen und sich bewusst machen, dass dieser Schwur ihr Leben ändern würde, hatte er gesagt. Sie sollten ihn nicht leichtfertig leisten. Duna, die Feuermagierin, näherte sich ihnen. Trygar hatte zum ersten Mal Zeit, sie genauer zu betrachten. Sie trug eine graue Kutte, deren Kapuze sie zurückgeschlagen hatte. Die junge Frau war klein und zierlich, hatte langes, braunes Haar, haselbraune Augen, ein herzförmiges Gesicht mit einem Grübchen im Kinn. Die Nase war gerade und ein wenig zu lang, die Mundwinkel mürrisch leicht nach unten gezogen. Zu seiner Bestürzung waren die gerunzelte Stirn und die Schläfen mit einigen roten Tätowierungen bedeckt, jenen seltsamen Zeichen, die auch die anderen Schwarzen Mönche und Kämpfer trugen. 22 Duna musterte die Menschen aus Koridrea misstrauisch. Sie schien sie nicht zu mögen. Kein Wunder, waren sie doch für den Tod des verehrten und geliebten Abts, Nunoc Baryth, verantwortlich. „Gormen hat gesagt, ich soll eure Fragen beantworten, falls ihr noch welche habt, und euch die Zeremonie erklären. Fragt also“, sagte sie barsch. Cora ergriff das Wort. „Wir sehen, dass du traurig und zornig bist. Es wäre vermessen von uns, wenn wir dir versicherten, das alles zu bedauern. Es würde deinen Schmerz nicht lindern. Ich weiß, dass du uns jetzt nicht vergeben kannst. Ich könnte es an deiner Stelle genauso wenig.“ „Und was willst du, das ich tun soll?“ „Gar nichts. Verfluche und beschimpfe uns. Hasse uns ruhig eine Weile. Wir verstehen das. Trauere um Nunoc Baryth. Der Schmerz wird nach und nach vergehen, und vielleicht kannst du uns irgendwann verzeihen.“ Duna sah sie an. „Ich hasse euch nicht. Aber ich kann auch keine Freundschaft für euch empfinden. Das werde ich vielleicht niemals können. Mehr möchte ich dazu nicht sagen. Nun stellt eure Fragen.“ Die Gefährten schwiegen einen Moment betreten. Schließlich ergriff Spin das Wort: „Ich sehe in diesem Kloster Männer und Frauen. Der Pridemus hat aber, soweit ich weiß, gemischte Orden verboten. Er sagt, dass dies Unkeuschheit Vorschub leistet.“ „Wir erkennen den Pridemus nicht als Stellvertreter Wathans an. Die Pridemi der Vergangenheit haben gezeigt, wie fehlbar sie sind. Von den Sünden, die sie begangen haben, war Unkeuschheit noch die harmloseste! In diesem Orden dienen Frauen und Männer Wathan, dem Erhabenen. Sie arbeiten, beten und essen zusammen. Nur zum Schlafen ziehen sie sich in getrennte Häuser zurück.“ Trygar stellte die nächste Frage: „Hier gibt es in Grau gekleidete Ordensbrüder und -schwestern, ebenso wie solche in schwarzen Roben. Manche sind tätowiert wie du und Gormen Helath, andere tragen keine Zeichen. Was hat es denn damit auf sich?“ „Dem Schwarzen Orden dürfen nur solche Brüder und Schwestern angehören, die viele Jahre ausgebildet worden sind und eine schwere Prüfung abgelegt haben, wie etwa die Schwarzen Kämpfer. Nicht jede oder jeder unserer Gemeinschaft sieht sich dazu berufen, für Wathan auf andere Weise zu kämpfen als mit Worten. Diejenigen, die die Mühe auf sich nehmen und die Prüfung bestehen, dürfen die Zeichen tragen.“ „Aber du trägst sie doch ebenfalls“, warf Trygar ein. „Vor ein paar Monaten habe ich dich in Shoal gesehen. Da warst du noch nicht tätowiert. 23 Außerdem bist du viel zu jung, um eine langjährige Ausbildung erhalten zu haben. Du trägst auch keine schwarze Kutte. Wie kannst du dann zum Schwarzen Orden gehören?“ Duna runzelte die Stirn und musterte ihn neugierig. „Ja, jetzt erinnere ich mich wieder. Auf dem Gauklerwettbewerb, nicht wahr? Du warst gut! Ich habe dich nicht gleich erkannt, denn damals warst du ziemlich mager und sahst viel jünger aus. Ja, du hast Recht, ich gehöre dem Schwarzen Orden an. Ich habe mich damals nach Vulcor eingeschifft, weil ich hörte, im Norden sei die Magie noch kein Makel, den man verstecken muss. Ich wollte sie ausüben, ohne Angst und Scham. In Helmseth traf ich einen Schwarzen Mönch. Allerdings trug er eine graue Kutte, die sein Haupt verhüllte. Er schien mich zu durchschauen und sprach mich an. In seinem Kloster, so sagte er, gäbe es einen Platz für mich. Magier wären in seinem Orden hoch geachtet. Nun, ich wollte nicht unbedingt mein Leben als Nonne beenden, er überredete mich aber, mit ihm zu kommen. Als ich seinen Herrn, Nunoc Baryth, traf, lernte ich zum ersten Mal einen Menschen kennen, dem ich vorbehaltlos vertraute. Er war… ich kann es nicht beschreiben. Du hättest ihn kennen lernen sollen! Aber…“ Sie brach ab und schluckte. Eine Träne rollte über ihre Wange. Für einen kurzen Moment blitzen ihre Augen Trygar böse an. Doch dann fasste sie sich wieder und fuhr fort: „Magier brauchen keine lange Ausbildungszeit. Ihre Aufgabe ist nicht der physische Kampf. Zwar hat Nunoc Baryth mich vieles gelehrt, auch, meine Magie besser einzusetzen, aber meine Aufnahme in den Schwarzen Orden erfolgte schon nach vier Monaten.“ „Aber warum trägst du keine schwarze Kutte?“, fragte Dremion. „Die schwarze Robe müssen wir nur zu besonderen Anlässen anlegen, etwa beim Gebet oder der Meditation. Ansonsten tragen wir grau wie die Novizen und die Brüder und Schwestern, die sich nicht berufen fühlen, in den Schwarzen Orden einzutreten und Wathan auf andere Weise dienen wollen. Einigen meiner Ordensbrüder ist es zu lästig, sich mehrmals am Tag umzuziehen, deshalb tragen sie ständig schwarz. Ich halte es mit Nunoc Baryth, der als Zeichen seiner Demut die meiste Zeit die graue Kutte trug. Nun muss ich aber auch Schwarz anlegen, denn euer Eid steht bevor. Folgt mir.“ Duna führte sie in eine Kleiderkammer in einem der Klostergebäude. Hier hingen schwarze und graue Kutten an den Wänden. Sie öffnete eine Kiste und nahm einige nicht getragene graue Kleidungsstücke heraus. „Ihr müsst euch nackt ausziehen und dürft nur diese Sachen tragen. Sucht euch aus, was euch passt. Du –“, sie zeigte auf Cora, „wie heißt du?“ 24 Die Angesprochene sagte ihren Namen. „Gut, Cora. Folge mir in den Umkleideraum der Schwestern. Euch hole ich hier wieder ab.“ Etwas später waren sie alle wieder beisammen, gekleidet in graue und mit einem Lederriemen gegürtete Kutten aus rauem, grobem Stoff, der unangenehm auf der Haut kratzte. Nur Duna trug Schwarz. Sie wies sie an, ihre Häupter mit den Kapuzen zu verhüllen, bevor sie das Allerheiligste beträten. Das Allerheiligste war der Tempel des Klosters, in dem die heiligen Zeremonien abgehalten wurden. Die Koridreander folgten ihr in den schlichten, schmucklosen Raum, in dessen Mitte ein Altar stand. Auf diesem Altar war eine senkrechte Eisenstange angebracht, auf der zwei durchbohrte, etwa kopfgroße Kugeln aufgereiht waren. Die obere war schwarz und die untere Rot. Das Zeichen Wathans. Cora verstand. Die schwarze Kugel stand für Wathan-Bejhi, die rote für Wathan-Kha. Deshalb die schwarze Robe und die roten Tätowierungen der Mitglieder des Ordens. Sie dienten beiden Aspekten Gottes, nicht nur dem Schenker, Schöpfer und Lebensspender, wie es die meisten anderen Orden taten, sondern auch dem Fordernden, dem Richter und Strafenden. Duna wies sie an, vor dem Altar niederzuknien. Nach und nach füllte sich der Tempel mit Männern und Frauen, die in einem Kreis um die Knienden Aufstellung nahmen. „Ihr werdet hier schweigend warten, bis alle Ordensbrüder versammelt sind. Dann wird Gormen Helath vor euch treten und den Eid vorsagen. Jeder von euch wird ihn Wort für Wort nachsprechen, wenn er euch dazu auffordert. Ich sage euch jetzt die Worte des Eides, damit ihr darüber nachdenken könnt. Wenn ihr ihn schwört, muss jedes Wort von Herzen kommen und absolut ehrlich gemeint sein. Wenn ihr zu der Überzeugung kommt, den Schwur nicht leisten zu können, dann steht auf und geht hinaus. Der Eid lautet: Ich schwöre dem Schwarzen Orden und meinem Herrn, Wathan, unverbrüchliche Treue bis in den Tod. Von nun an bin ich ein Grauer“, sie wandte sich an Cora: „oder eine Graue. Ich entsage jeglichem Besitz. Alles was ich habe, gehört allen meines Ordens. Ich gelobe dem Ordensoberhaupt und den Schwarzen Brüdern und Schwestern Gehorsam und befolge ihre Anweisungen, sofern sie nicht dem Willen Wathans widersprechen. Ich gelobe, alles in meiner Macht Stehende zu tun, um Böses von der Welt abzuwenden, Kranke zu heilen, die Not der Armen zu lindern, die Wehrlosen zu verteidigen und zu beschützen.“ Boc sah sie mit entsetztem Gesichtsausdruck an. „Das kann ich nicht schwören!“ Duna lächelte unerwartet. „Und warum nicht?“ „Ich kann kein Mönch werden. Ich liebe Cora und werde sie heiraten!“ 25 „Keine Angst. Keiner von euch wird durch den Eid ein Mönch oder eine Nonne. Der Orden hat geistige und weltliche Angehörige. Die wenigsten der Schwarzen Kämpfer etwa sind Mönche. Ihr müsst die geistlichen Pflichten, wie etwa die Durchführung der heiligen Rituale, nicht erfüllen. Allerdings wird es gerne gesehen, dass ihr am Gebet teilnehmt, solange ihr euch im Kloster aufhaltet. Selbstverständlich dürft ihr außerhalb des Klosters eine Familie gründen. Wathan braucht Menschen, die ihm auf ihre Weise dienen, nicht Betbrüder und Scheinheilige.“ Der Tempel war fast voll, doch noch immer ließ sich der Ordensführer nicht blicken. Die Zeit schien wie zäher Sirup zu verrinnen. Trygars Knie schmerzten. Ja, er hatte Dunas Rat befolgt und gut über den Eid nachgedacht. Die Verpflichtungen, die er damit einging, schienen ihm angemessen, sogar gering, wenn er sie gegen seine Schuld aufwog, gegen den immensen Verlust, den der Orden und die ganze Menschheit durch den Tod Nunoc Baryths erlitten hatten. Die anderen schienen ähnlich zu denken, denn keiner von ihnen war aufgestanden und gegangen. Er sah allerdings, dass Dremion immer noch schwer mit sich zu kämpfen hatte. Auch Spin, Cora und Boc schien die Entscheidung nicht leicht gefallen zu sein. Er hatte ihre zweifelnden Gesichter beobachtet, doch jetzt schienen sie ruhig und entschlossen. Eine Glocke ertönte. Die Ordensbrüder und -schwestern murmelten ein Gebet. Dann erschienen die Schwarzgekleideten, in ihrer Mitte Gormen Helath. Trygar kniete ganz rechts außen, und Gormen trat vor die am linken Ende der Reihe kauernde Cora. Er legte ihr die Hand auf das Haupt und rezitierte den Eid. Die junge Frau sprach ihn ohne zu zögern nach. Dann kam Boc an die Reihe. Nach und nach leisteten alle den Schwur, bis der Ordensführer endlich vor Trygar stand, der die Worte inzwischen auswendig kannte. Gormen begann: „Ich, Trygar Tathe, schwöre dem Schwarzen Orden und meinem Herrn, Wathan, unverbrüchliche Treue bis in den Tod. Von nun an bin ich ein Schwarzer.“ Trygar wiederholte die Worte, beinahe ohne nachzudenken. Erst am Ende des Satzes zögerte er. „Von nun an bin ich ein, äh, Grauer.“ „Du hast die Eidesformel nicht korrekt nachgesprochen, Trygar“, sagte Gormen mit milde tadelndem Ton und korrigierte ihn: „Von nun an bist du ein Schwarzer, ein Mitglied des Schwarzen Ordens.“ Trygar war verwirrt. „Aber die anderen…“ „Wir müssen deinen besonderen Fähigkeiten Rechnung tragen. Du bist ein Magier, und…“, er griff hinter sich und nahm von einem seiner Brüder den Kampfstab, den Trygar in der Waffenkammer von Lord Gadennyns Burg gefunden hatte, entgegen, „ein Schwarzer Kämpfer. Du hast diesen Stab mit Recht getragen.“ Er sah den entsetzten Blick des Jungen. „Keine 26 Angst, ich weiß sehr wohl, wem diese Waffe gehörte. Aber nicht du warst es, der ihn getötet hat. Nimm ihn nun. Können wir mit dem Schwur fortfahren?“ Trygar nahm die Waffe aus der Hand des Abtes an und nickte wie betäubt. Als sie draußen auf den Bänken saßen, aßen und tranken, feierten und lachten, als gäbe es überhaupt keinen Trauerfall im Orden, konnte er es noch immer nicht fassen: er war nun ein Schwarzer Kämpfer! Die Reisegefährten aus Koridrea saßen zusammen mit Gormen Helath, Duna und einem Dutzend schwarz gekleideten Ordensbrüder und schwestern an einem langen Tisch. Ringsumher, an den anderen Tischen, herrschte eine ausgelassene und gar nicht klösterliche Stimmung. Eine Frau lachte kreischend, ein Mann sang ein lustiges Lied von einem Fährmann, der eine Herde Schafe übersetzen sollte, deren Hammel sich mit ihm um den Preis stritt, so jedenfalls fasste Trygar den Inhalt des in vulcoranischer Sprache vorgetragenen Liedes für seine Freunde zusammen. Am Tisch der koridreanischen Gäste unterhielt man sich vorwiegend in der Landessprache der neuen Ordensmitglieder, die neben Gormen und Duna auch einige der Schwarzen Kämpfer recht gut beherrschten. Aber die meisten der Klostermitglieder am Tisch sprachen kein Koridreanisch, und so übersetzten der stellvertretende Abt und die junge Frau für sie. Wenn Trygar mit den Ordensbrüdern und -schwestern sprach, benutzte er aus Höflichkeit die Landessprache von Vulcor, und so ging es in beiden Idiomen hin und her. Cora sagte, sie freue sich zwar darüber, dass man sie so freundlich aufgenommen habe und gemeinsam ihren Eintritt in den Orden feiere, aber sie frage sich auch, ob denn niemand der Anwesenden um Nunoc Baryth trauere. Gormen antwortete ihr: „Für Freude ist eine Zeit, für Trauer eine andere. Natürlich sind wir sehr, sehr traurig über Nunocs Tod, aber er hätte ebenfalls gewollt, dass wir eure Aufnahme in den Orden mit Freude begehen. Nach unseren Sitten und Gebräuchen wird er drei Tage lang im Totenraum aufgebahrt, sodass jeder von ihm persönlich Abschied nehmen kann. Erst danach wird das Begräbnis stattfinden.“ Das Fest wurde zweimal zum Gebet unterbrochen. Alle begaben sich dazu in den Tempel. Erst nach der zweiten Andacht wurde Wein ausgeschenkt. Die Feier ging weit in die Nacht hinein, bis Gormen schließlich ihr Ende verkündete. Nachdem man den neuen männlichen Ordensmitgliedern Pritschen im Schlafsaal der grauen Mönche zugewiesen hatte (Cora war Duna 27 in das Schlafgemach der Frauen gefolgt), versank Trygar trotz des lauten Chores der Schnarchenden schnell in einen tiefen Schlaf. Winger war äußerst verwundert, als er, kurz nachdem der Mond untergegangen war, das Kloster erreichte: Das Tor stand weit offen! Er sah im schwachen Sternenlicht Tische und Bänke und die Überreste eines Festessens im Klosterhof. Was hatte das zu bedeuten? Er schüttelte den Kopf. Das war jetzt unwichtig. Das Einzige was zählte, war, seine Gefährten zu befreien. Geduckt huschte er an der Innenmauer entlang auf die Gebäude zu. Er musste den Kerker finden. Es dauerte fast eine halbe Stunde, bis er eine Treppe nach unten entdeckte. Vorher hatte er dunkle Gänge durchquert, an Türen gelauscht und einige geöffnet, die Ausdünstung zahlreicher Schläfer und ihr Schnarchen vernommen, war durch leere Zimmer und Räume geschlichen, immer auf der Hut, aber keiner Wache, keinem schlaflosen Mönch begegnet. Als er, ohne etwas zu sehen, die Stufen hinab stieg und sich dabei an der Wand entlang tastete, dankte er Wathan-Bejhi, der bis jetzt seine schützende Hand über ihn gehalten hatte. Er befand sich nun in einem Vorratskeller. In dem halbrunden Gewölbe waren Fässer und Kisten gestapelt; Käseräder und Brotlaibe lagen in den Regalen, in tönernen Krügen bewahrte Ziegenmilch ihre Frische. Er konnte dies mit seinen an die Dunkelheit angepassten Augen nur deshalb erkennen, weil am Ende des Gewölbes eine Öllampe schien. Dort war eine mit Eisen beschlagene Tür, und davor saß ein schnarchender, grau gekleideter Mann mit auf die Brust gesunkenem Kopf auf einem Schemel, den Rücken an die Wand gelehnt. Sein Mund stand offen, und die Unterlippe zitterte, wenn er rasselnd den Atem ausstieß. Winger näherte sich vorsichtig und leise. Um den Hals trug der Schlafende eine Kette mit einem Schlüssel daran. Er beugte sich über ihn und roch den weingeschwängerten Atem. Unendlich behutsam hob er die Kette über den Kopf des Mannes. Dann sah er sich um. Er fand eine Flasche mit Lampenöl auf dem kleinen Tischchen, auf dem die Öllampe stand, träufelte ein paar Tropfen davon auf den Schlüssel und steckte ihn ins Schloss der Tür. Er ließ sich geräuschlos drehen. Zum Glück waren die Scharniere gut geölt. Kein Quietschen oder Knarren war zu hören, als er die schwere Tür öffnete. In der engen Zelle saß ein wacher Hauptmann Gother, gefesselt auf seiner Pritsche, und blickte ihn an. Winger ging zu ihm und legte den Zeigefinger auf die Lippen. Er zog seinen Dolch und schnitt Gother die Fesseln durch. „Wo sind die anderen?“, flüsterte er leise. Gother antwortete: „Später. Gib mir deinen Dolch.“ 28 Winger war etwas verwundert, doch er gab dem Hauptmann die Waffe ohne Zögern. Der trat aus der Zelle und schnitt mit einer einzigen, flüssigen Bewegung dem Wächter die Kehle durch. Schmerzgepeinigt riss dieser die Augen auf. Doch er konnte nicht mehr schreien. Er sank auf den Boden und verblutete dort. Winger war starr vor Grauen. Er versuchte zu verstehen, was er gerade gesehen hatte, aber er begriff immer noch nicht, als sich der Hauptmann zu ihm umdrehte, ihm das Messer bis ans Heft in die Seite stieß und sagte: „Tut mir leid, mein Freund. Aber jetzt brauche ich dich nicht mehr.“ Ein Tagebuch Der Schrei einer Frau riss Trygar aus einem traumlosen Schlaf. Ringsumher erhoben sich die Männer von ihren Pritschen, sahen sich fragend an. Plötzlich wurde die Tür aufgerissen. Im Durchgang stand eine ältere Nonne. Sie hatte die Kapuze ihrer grauen Kutte zurückgeschlagen, und Trygar sah ihre vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen und ihr kreidebleiches Gesicht. Sie zitterte am ganzen Körper, als sie mit sich überschlagender Stimme schrie: „Ein Toter! Kommt schnell.“ Dann verschwand sie. Spin war als Erster durch die Tür. Nach ihm drängten sich die Mönche und die Koridreaner durch die enge Türöffnung, und es dauerte ein paar Augenblicke, bis Trygar draußen war. Die Männer umringten etwas, das auf dem Boden lag, und Spin befahl: „Zurück! Macht Platz!“ Auch wenn die wenigsten seine koridreanischen Worte verstanden, so war ihr Sinn unmissverständlich. Trygar drängte sich durch den zurückweichenden Ring aus Menschenleibern und sah, was den Auflauf verursacht hatte: Spin kniete neben einem am Boden liegenden Mann, aus dessen Brustkorb der Griff eines Dolches ragte. Von dem Körper weg führte eine Blutspur den Gang entlang bis zu der offen stehenden Tür des Treppenhauses, das in den Keller führte. Trygar erschrak, als er den Mann erkannte: Winger! Oh, Wathan! Sein blutleeres Gesicht war weiß wie Kalk, seine Augen waren geschlossen. Spin hatte die Hand auf die Halsschlagader des Baumeisters gelegt und fühlte den Puls. Er stieß einen Seufzer aus und sagte zu Trygars großer Erleichterung: „Er lebt, aber sein Herzschlag ist schwach.“ 29 Inzwischen waren Duna und Cora eingetroffen. Die Heilerin aus dem Dörfchen Brenton hielt sich nicht lange mit Klagen auf, als sie ihren Reisebegleiter da liegen sah, sondern handelte sofort. „Ich muss die Blutung stoppen. Legt ihn vorsichtig auf ein Tuch oder eine Bahre und bringt ihn in das Krankenzimmer. Es gibt doch hier einen Behandlungsraum, oder?“ Duna bejahte und erteilte knappe Anweisungen. Ein Mönch rannte zurück in den Schlafsaal und holte eine Wolldecke. Kurz darauf trugen vier Männer den auf der Decke liegenden Verwundeten in einen Raum mit einem hohen und breiten Bett und legten ihn darauf. Auf einem Regal standen Flaschen und Salbentöpfe, lagen Verbandszeug, einige scharfe Messer zum Aufschneiden von Pestbeulen und Furunkeln, zum Ausschaben und Aderlassen, sowie Schröpfgläser und viele Dinge, die Trygar nicht einordnen konnte. Der Raum hatte sich inzwischen mit neugierigen Männern und Frauen gefüllt, und draußen standen noch mehr, die hereindrängten, aber Cora fauchte: „Alle raus hier, bis auf Duna und einen Heilkundigen, falls ihr so jemanden habt.“ Duna übersetzte. Eine der Ordensschwestern meldete sich energisch: „Ich heiße Myria und bin die Heilerin des Klosters. Vielleicht solltest du das besser mir überlassen!“ Cora antwortete höflich, aber bestimmt: „Ich bin ebenfalls eine Heilerin und wollte dich keinesfalls übergehen, aber dieser Mann ist ein Freund von mir, und deshalb muss ich die Verantwortung für sein Leben übernehmen.“ Die andere Frau nickte. „Gut, ich werde dir helfen.“ Duna winkte die Zuschauer ungeduldig aus dem Zimmer und schloss die Tür. Die Klosterinsassen standen draußen unschlüssig herum. Endlich fiel einem von ihnen ein, Gormen Helath, der im Klosterturm wohnte, Bescheid zu geben. Kurze Zeit darauf tauchte der stellvertretende Abt mit einigen hoch stehenden Mitgliedern des Schwarzen Ordens auf. „Was ist geschehen?“, wollte er wissen. Spin berichtete ihm, was sie wussten. Es war nicht gerade viel. Gormen runzelte die Stirn. „Ihr kennt den Mann? Er war euer Reisebegleiter? Wann wolltet ihr mir das eigentlich mitteilen?“ Spin entschuldigte sich und seine Freunde: „Wir dachten, er habe das Weite gesucht. Er hat uns verlassen, bevor Trygar und Gother in das Kloster eindrangen. Ehrlich gesagt, ich habe ihn fast vergessen.“ „Aber was wollte er hier? Wo ist er hergekommen?“ Spin schlug sich mit der Hand vor die Stirn. 30 „Die Blutspur kommt aus dem Keller! Hat denn schon einer von euch dort nachgesehen?“ Es stellte sich heraus, dass noch niemand auf die Idee gekommen war. Gormen wies zwei der Schwarzen Kämpfer an, ihm zu folgen und eilte davon. Etwa eine Stunde später hatten sich die Schwarzen Brüder und Schwestern zusammen mit den Koridreanern in Gormens Turmzimmer versammelt. Der neue Ordensführer berichtete: „Gother ist entkommen! Er hat Jela, der ihn bewachte, ermordet und euren Begleiter Winger, der den Gefangenen offenbar befreit hat, niedergestochen. Er muss ein paar Stunden Vorsprung haben, denn bei Jela ist schon die Leichenstarre eingetreten.“ Einige der Schwarzen schauten die Männer und die Frau aus Koridrea böse an. Boc verteidigte den Baumeister: „Winger kann nicht gewusst haben, dass sich die Situation grundlegend geändert hat. Er ging wohl davon aus, dass wir alle gefangen genommen worden sind und wähnte uns in der Hand von Semanius. Der arme Winger. Er will stets helfen und das Richtige tun und begeht einen Irrtum nach dem anderen.“ „Leider war sein letzter ein fataler“, meinte Gormen. „Ich hatte gehofft, Semanius in die Irre führen zu können, ihn in dem Glauben zu lassen, dass Nunoc Baryth noch lebt und ihr gescheitert seid. Aber wenn Gother entkommt, wird sein Herr erfahren, dass sein Plan aufgegangen ist. Wir müssen ihn fassen. Er hat seine Flucht mit Bedacht geplant. Im Vorratsraum fehlen Lebensmittel und im Stall zwei unserer besten Pferde.“ „Zwei?“, wunderte sich Spin. „Das heißt, er will die Pferde unterwegs wechseln, wenn sein Reittier ermüdet. So kann er viel schneller vorankommen. Aber der Weg ist weit. Über zweitausend Meilen sind es von hier nach Shoal. Er muss vorsichtig sein, sobald er Pheldae erreicht. Wegen der umherstreifenden Banden wird er dort nur nachts reiten können. Wir werden ihn einholen. Es ist nur eine Frage der Zeit.“ Dremion meldete sich zu Wort: „Ich fürchte, soviel Zeit haben wir nicht. Er reitet nicht nach Süden, sondern nach Westen.“ Alle sahen ihn fragend an, und so fuhr er fort: „Wie ihr ja wisst, haben wir uns auf unserer Reise durch die Ostlande nach Zaphirs Tod zerstritten. Gother misstraute euch, und er war nur offen zu mir. Er hatte Pläne für die Flucht nach dem Attentat auf Nunoc Baryth geschmiedet und erzählte mir, dass im Hafen von Khor ein Schiff Gadennyns auf uns warte. Sollten wir es rechtzeitig vor Beginn der Herbstürme 31 erreichen, könnten wir, so sagte er, in höchstens sechs Wochen wieder in Shoal sein.“ „Bis Khor ist es nur ein Zehntel der Strecke von hier bis Koridrea“, sagte einer der Schwarzen Kämpfer, sein Name war Grom. „Wir müssen sofort losreiten, wollen wir ihn noch einholen!“ Gormen stimmte zu: „Nimm dir zwei gute Männer, Grom, und verfolge ihn. Doch ich will ihn lebend.“ Grom und zwei andere verließen den Raum, um den Befehl ihres Oberhauptes auszuführen. Dieser wandte sich an Cora: „Wie geht es eurem Freund Winger?“ „Er lebt, doch ob er es schaffen wird, weiß Wathan allein. Er hat sehr viel Blut verloren, und seine Lunge ist verletzt. Myria kümmert sich jetzt um ihn. Wir werden uns Tag und Nacht bei der Pflege abwechseln.“ „Ich werde den Schamanen der Pferdeleute kommen lassen. Er kann wahre Wunder bewirken und hat uns schon einige Male geholfen.“ „Pferdeleute?“, fragte Spin. „So nennen sich die Menschen der Nomadenstämme. Die Yauqui, die Nomaden des Nordens, lagern zurzeit nicht weit von hier.“ Gormen erteilte nun verschiedene Anweisungen an einige der anwesenden Mönche. Sie sollten die Leiche von Jela neben der von Nunoc Baryth aufbahren, nach dem Schamanen schicken und dafür sorgen, dass alle Brüder und Schwestern wieder ihren normalen Pflichten nachgingen. Er bat sie außerdem, die Totenfeier für die beiden Ermordeten vorzubereiten. Nachdem die Angesprochenen den Raum verlassen hatten, um seine Anweisungen auszuführen, wandte sich der Ordensführer an die übrig Gebliebenen. Neben den Menschen aus Koridrea waren dies: Duna, die Feuermagierin, Teuben, ein untersetzter, älterer Mann, den Gormen zu seinem Stellvertreter ernannt hatte, sowie Methor, Seyn und Legis, drei Schwarze Kämpfer des Ordens. Die Letztgenannten waren große Männer mit eindrucksvollem Körperbau und kahlen, tätowierten Schädeln. „Wir müssen nun beraten, was wir gegen Semanius unternehmen wollen, doch zuvor sollen unsere neuen Freunde aus Koridrea alles erfahren, was wir über Athlan Gadennyn wissen. Folgt mir in die geheime Bibliothek.“ Gormen ging mit einer Öllampe in der Hand voran. Sie stiegen eine steile, gewundene Treppe hinab, die in einem kleinen Vorraum endete. Der stellvertretende Abt öffnete eine schwere Tür. Innen zündete er einige Wandlampen an. Die anderen betraten ebenfalls das Gewölbe. Es war riesig und voll gestopft mit Bücherregalen: an den Wänden befestigt und mitten im Raum fast bis zur Decke reichend, bildeten sie ein Labyrinth von Gängen. Gormen Helath führte sie hindurch, bog mehrfach ab und blieb schließlich vor einem Wandregal stehen. Er machte eine Geste in der Luft, 32 und sie hörten ein Klicken hinter den Büchern. Das Regal bewegte sich wie von Geisterhand geschoben nach hinten und gab eine Öffnung frei. Eine magische Geheimtür, dachte Trygar. Von außen kam man nicht an den Öffnungsmechanismus heran. Der Ordensführer hatte wohl seine magische Fernkraft gebraucht, um den Mechanismus zu betätigen. Sie betraten einen mittelgroßen Raum. Auch hier zündete ihr Führer einige Lampen an. Auch hier waren die Wände ringsherum mit übervollen Bücherregalen bedeckt. In der Mitte standen ein runder Tisch und darum ein Dutzend Stühle. Gormen wies sie an, Platz zu nehmen. Er holte eine kleine Truhe aus einem Regal, öffnete sie und nahm ein Buch und eine Schriftrolle heraus. „Nunoc Baryth hat nach Athlan Gadennyns Verschwinden Nachforschungen über ihn angestellt. Er hat sich in das Kloster begeben, in dem der junge Mann als Novize gedient hatte, bevor er hierher kam, und die Mönche dort über ihn befragt. Alles was er herausgefunden hat, hat er in dieser Schriftrolle niedergeschrieben. Athlan hatte, so der Abt des anderen Ordens, den Auftrag, die alten Bücher und Schriften der dortigen Bibliothek zu katalogisieren und diese Aufgabe gewissenhaft erledigt. Der junge Novize hat eine Liste aller im Archiv verschollener und wieder entdeckter Schätze angelegt. Nunoc studierte diese Liste und war überrascht, als er auf einen Eintrag mit dem Titel ‚Semanius’ stieß. Er ließ sich das Buch geben. Es war dieses hier.“ Gormen zeigte auf das unscheinbare Büchlein, das auf dem Tisch lag. „Es ist eine Art Tagebuch, geschrieben vor mehr als 450 Jahren von – ja, so unglaublich es klingt – dem Lordmagier. Athlan hatte es gefunden, und es muss ihn entscheidend beeinflusst haben. Natürlich steht vieles darin, das ohne Belang für uns ist. Aber Nunoc Baryth hat die wichtigen Passagen angestrichen. Ich möchte sie euch vorlesen. Das Buch beginnt mit einem Rückblick auf einen Tag, der für Semanius offenbar zu einem Wendepunkt seines Lebens geworden ist. Es geht nicht hervor, wie alt er damals gewesen ist, aber es war lange vor seiner Zeit als Lordmagier. Er schreibt: Ich beginne diese Aufzeichnungen, weil ich spüre, dass ich mich verändere. Und diese Veränderungen haben, so vermute ich, mit einem Ereignis zu tun, das sich vor einigen Wochen zugetragen hat. Ich verstehe nicht, was das alles zu bedeuten hat. Einerseits erschreckt mich meine Verwandlung, andererseits sehe ich der weiteren Entwicklung voller Freude, ja Gier entgegen! Es hat eine Weile gedauert, bis mir der Verdacht kam, meine neuen Fähigkeiten hätten etwas mit dem Fund zu tun. Noch bin ich nicht sicher. Von Anfang an: 33 An jenem denkwürdigen Tag saß ich am Ufer des Flusses und übte. Ich erzeugte einen Strudel im klaren Wasser und sah, wie er über die Wasseroberfläche emporstieg, sich zu einer Wasserhose formte, in deren Trichter glitzernde Kiesel umherwirbelten. Mir ging es um die Formung dieses Elements, das so schwer zu fassen ist. Feste Dinge bewegen kann jeder halbwegs begabte Erdmagier, aber das Wasser zu beherrschen ist eine höhere Kunst. Es erfordert ein allseitiges Gespür seiner Form, denn es droht, jederzeit auszubrechen, zu zerfließen. Man darf es nicht zu hart in seine Schranken verweisen, denn es gibt nach und lässt sich keinen fremden Willen aufzwingen. Man muss behutsam mit ihm umgehen. Ich beobachtete den flachen, felsigen Grund des Flusses, dort, wo die Wasserhose ihren Anfang hatte und das Material aufnahm, mit dem sie spielte. Die starke Strömung führte ihr immer neue Kieselsteine zu, die vom Wasser flussabwärts getragen wurden und über den Fels rollten. Der Wirbel erfasste sie und nahm sie auf in seinen Becher. Dann sah ich etwas Ungewöhnliches: Ein schwarzer Stein näherte sich dem Wirbel, ebenfalls über den glatten Fels rollend, aber er bewegte sich gegen die Strömung! Ich war so überrascht, dass meine Wasserhose zusammenbrach. Der schwarze Stein schien einen Moment unschlüssig zu verharren, änderte dann seine Richtung und rollte auf mich zu. Einen Schritt vom Ufer entfernt, blieb er schließlich liegen. Nach der ersten Verwirrung fand ich rasch eine Erklärung: Der Wirbel musste eine Gegenströmung verursacht haben. Nach dem Zusammenbruch der Wasserhose veränderte die Strömung kurzzeitig ihre Richtung, wurde rasch schwächer und kam schließlich zum Erliegen. Dennoch: Dieser schwarze Klumpen erregte meine Neugier. Ich zog meine Schuhe aus und watete ins kalte Wasser. Als ich den Stein in der Hand hielt, überraschte er mich ein zweites Mal. Er schien mir wärmer zu sein als der Fluss, fast, so schien es mir, sogar wärmer als meine vom Wasser klamme Hand. Er war glatt und etwa so groß wie ein Hühnerei. Ich rieb ihn mit einem Zipfel meines Ärmels trocken und betrachtete ihn genauer: Es schien mir ein Halbedelstein unbekannter Art zu sein, denn er wirkte so, als ob er glasiert wäre. Unter einer dünnen, transparenten und harten Schicht war das Mineral tiefschwarz. Ich hatte vorher noch nie eine dermaßen Licht schluckende Substanz gesehen. Der Stein gefiel mir, und ich steckte ihn ein. Am nächsten Tag brachte ich ihn zu einem Goldschmied. Er sollte ihn einfassen und ein Amulett daraus machen. Der Juwelier, ein erfahrener und kenntnisreicher Mann, konnte den Edelstein nicht einordnen. Er vermutete, dass der unbekannte Stein vulkanischen Ursprungs sei, denn er schien in einer tropfenartigen Form erstarrt zu sein. Er zeigte mir ein Medaillon an einer Silberkette, das einen ähnlich großen Opal einfasste und schlug mir 34 vor, das Schmuckstück als Vorlage zu verwenden. Es gefiel mir, und so willigte ich ein, nachdem wir noch ein paar Änderungen besprochen hatten. Einige Tage später holte ich mein Amulett ab. Der Goldschmied war konsterniert: Er habe den Stein auf seiner Rückseite ein wenig abflachen wollen, damit er angenehmer zu tragen wäre, aber es sei ihm nicht gelungen, auch nur den geringsten Kratzer hinein zu schleifen. Das Material sei härter als alles, was er kenne. Er habe deshalb die Fassung etwas dicker machen müssen. Mir war es gleich. Ich legte die Kette um den Hals und blickte in seinen polierten Metallspiegel. Das Amulett mit dem schwarzen Stein sah großartig aus, eines Königs würdig. Seitdem trage ich das Schmuckstück. Anfangs legte ich es nachts ab, doch dann schlief ich unruhig. Seit einigen Tagen ist es mir zuwider, ja, fast unmöglich, es abzulegen. Ich habe es versucht, aber mein Sehnen danach ist so stark, dass ich es nur wenige Augenblicke ohne das Amulett aushalten kann. Und ich fühle mich besser, stärker, machtvoller. Meine Magie macht große Fortschritte. Die anderen meines Zirkels sind mehr als erstaunt über meine neu gewonnenen Fähigkeiten, einige gar argwöhnisch.“ Normen Helath blätterte ein paar Seiten weiter, bevor er fortfuhr: „Ja, ich merke, der Stein hat einen großen Einfluss auf mich, er verändert mich. Heute habe ich alle Prüfungen der Geistmagie mit Leichtigkeit bestanden, und das nach nur dreimonatiger Ausbildung! Das hat vorher noch keiner geschafft. Ich spüre die immer größere Reserviertheit der anderen, vor allem der Älteren, derjenigen, die Einfluss haben, die als die Mächtigsten des Zirkels gelten. Sie tuscheln über mich, gehen mir aus dem Weg. Ich glaube, sie schmieden Ränke gegen mich. Einige der Jüngeren scheinen mich hingegen zu bewundern, aber gleichzeitig haben sie Angst vor mir. Viele begegnen mir nun mit offener Ablehnung. Einer hat mich sogar der bösen Magie beschuldigt. Ich habe genug. Ich verlange eine Anhörung vor der Vollversammlung des Zirkels. Doch vorher muss ich die Kraftverhältnisse zu meinen Gunsten ändern. Heute habe ich die niederen Magier des Zirkels einzeln angesprochen, sie gebeten, zu einer bestimmten Zeit zu einer Lichtung im Wald zu kommen. Ich schmeichelte ihnen, kündigte ihnen eine große Überraschung und Belohnung an, und sagte, sie dürften keinem anderen von unserer Verabredung erzählen. Jeder von ihnen dachte, dass nur er meine Gunst erworben hätte, dass ich mich mit ihm allein im Geheimen treffen wollte, und so waren sie sehr überrascht, dass sie sich mit 35 mehr als dreißig anderen Magiern auf der Lichtung versammelt fanden. Sie unterhielten sich ungehalten, als ich unvermittelt erschien und ihnen sogleich eine außergewöhnliche Demonstration meiner Macht bot. Sie waren zutiefst erschreckt. Ich sagte ihnen, es bestehe kein Zweifel, dass ich der nächste Führer des Zirkels sein würde, und dann stünden sie besser auf meiner Seite. Wer mir heute seine Unterstützung zusagte, würde reich belohnt. Alle anderen jedoch… Ich ließ die Worte im Raum stehen, als ich sie einen nach dem anderen mit scharfem Blick musterte. Die unverhohlene Drohung und die unterschwellige Beeinflussung ihres Geistes hat Wirkung gezeigt. Heute habe ich vor der Vollversammlung ausgesagt. Ich verlangte zu wissen, wessen man mich bezichtigte und anklagte. Natürlich verneinten die feigen Gesellen des Rates, mir irgendetwas vorgeworfen zu haben, aber ich lies Zeugen aufmarschieren, die aussagten, wer von ihnen mich der bösen Magie bezichtigt hatte. Andere Zeugen hatten ein Gespräch dreier älterer Magier belauscht, Ratsmitglieder, die sich konspirativ getroffen hatten, um einen Weg zu finden, mich aus dem Zirkel auszustoßen. Ein Zeuge gab zu, dass ein anderes Mitglied des Rates ihm aufgetragen hatte, mich heimlich zu beobachten. Es war rasch klar, dass einige der Führungsmitglieder des Zirkels gegen mich intrigiert hatten, nur weil ich ein mächtigerer Magier war als sie. Mechthan, der Ratsführer musste sich öffentlich bei mir entschuldigen.“ Wieder raschelten die Seiten des Buchs, als Normen die nächste von Nunoc Baryth angestrichene Stelle suchte. Bald darauf las er weiter: „Seit der Anhörung ist mein Ansehen enorm gestiegen. Ich habe viele neue Anhänger um mich geschart. Mein Ruf ist inzwischen auch bis zu den anderen Zirkeln gedrungen. Jeden Tag sehe ich den gierigen Blick von Mechthan auf mir ruhen. Er will mein Medaillon für sich! Mechthan ist ein kluger Kopf und hat natürlich erkannt, dass meine so schnell zunehmende magische Macht mit dem Stein zu tun hat. Einige Male fragte er mich beiläufig danach, aber ich wich seinen Fragen stets aus, was ihn wütend machte. Nachts schließe ich mich in mein Zimmer ein, denn ich habe Angst, dass er oder einer seiner Vasallen eindringen könnte, um mir das Amulett zu stehlen. Ich fühle mich nicht mehr sicher. Sie hecken irgendetwas aus. Ich kann es ihren ansehen. Wollen sie mich vergiften? Ich esse und trinke nur noch im Gemeinschaftsraum. Wann immer es unauffällig geht, vertausche ich dabei mein Essen mit dem eines anderen. Dazu lasse ich ein Glas zerspringen oder die Hauskatze aufjaulen, was immer dazu führt, dass sich alle Köpfe 36 für einen Augenblick zu dem Geräusch wenden. Genug Zeit, um Teller oder Becher mit dem meines Tischnachbarn Prel zu tauschen. Natürlich hat dieser es meist bemerkt und mich merkwürdig angesehen, doch er gehört zu meinen Anhängern und schweigt. Einmal ist es Prel nach dem Mahl schlecht geworden. Drei volle Tage war er krank, aber er erholte sich wieder. Kein Zweifel, jemand hat Gift in mein Essen getan! Ich wette, Mechthan steckt dahinter. Meine ganze Macht nützt mir nichts, wenn sie heimlich und heimtückisch gegen mich vorgehen. Ich kann nicht ständig auf der Hut sein! Ich muss etwas unternehmen. Es ist geschehen. Mechthan ist tot! Er hatte an dem Abend stark getrunken und schlief seinen Rausch aus. Ich habe mich in seine Kammer geschlichen und sein Herz angehalten. Er starb im Schlaf, ohne etwas zu merken. Natürlich hat keiner Verdacht geschöpft. Der rotgesichtige und fette Zirkelführer war schon immer dem Alkohol und anderen Leibesgenüssen zugeneigt gewesen, die einem gesunden Leben abträglich sind. Ich bin der neue Führer des Geistmagie-Zirkels! Nie habe ich damit gerechnet, dass es so schnell gehen würde. Sie wählten mich mit großer Mehrheit. Nun kann ich dafür sorgen, dass mir niemand mehr gefährlich werden kann. Meine Kraft wird von Tag zu Tag größer. Insbesondere meine Geistmagiefähigkeiten nehmen zu. Jeder im Zirkel, der einst mein Feind war, hat diese Macht zu spüren bekommen. Sie sind nun willenlos und tun das, was ich von ihnen verlange.“ Gormen unterbrach und sagte: „Nun wird es besonders interessant. Die nächste Passage hat Nunoc rot angestrichen. Er sagte mir, er habe lange darüber nachgegrübelt, was sie bedeutet. Hört zu: Jemand spricht nachts zu mir in meinen Träumen, richtet Worte von solcher Macht an mich, dass meine eigene dagegen ein Nichts ist. Aber ich verstehe diese Worte nicht. Wer ist es, der in einer fremden Sprache zu mir spricht? Ein höheres Wesen, ein Dämon, ein Gott? Die Träume kehren Nacht für Nacht wieder und ich erstarre vor Ehrfurcht, wenn die Stimme erklingt. Wo kommt sie her, von wem stammt sie?“ Gormen blickte auf und sah seine Zuhörer an, die gebannt an seinen Lippen hingen. 37 „Das wird für lange Zeit das letzte Mal sein, dass er die Stimme erwähnt. Wir sollten sie aber nicht vergessen. Ich will nun einige Stellen überspringen. Sie handeln davon, wie er seine Macht festigt, bald in den Großen Rat aller Zirkel berufen wird, dort seinen größer werdenden Einfluss ausübt, um immer mehr Anhänger um sich zu scharen. Als der Lordmagier überraschend stirbt, bewirbt er sich um dieses Amt. Da es kaum noch Magier gibt, die seinem Willen Widerstand leisten können, ist es keine Überraschung, dass er gewählt wird. Doch er ist noch nicht zufrieden, strebt nach Höherem, nach dem Thron. Wir können nachlesen, welche Intrigen er einfädelt, um dem Ansehen des Hofes zu schaden. Er reist unerkannt kreuz und quer durch das vereinte Königreich, säht Misstrauen gegenüber den königlichen Beamten und tut manche schlimmen Dinge, leider mit großem Erfolg. Ihr wisst alle davon, ich brauche nicht in die Einzelheiten gehen. Aber was er nicht bedacht hat, ist: wenn er sich anderenorts aufhält, kann er die Magier nicht mehr mit seiner Geistmagie kontrollieren. Einige von ihnen nutzen seine Abwesenheit, um den Widerstand zu organisieren. Als er versucht, die Königin zu stürzen, erheben sie sich gegen ihn. Schnell folgen ihnen andere. Eine kurzfristig anberaumte Versammlung des großen Rats enthebt ihn in Abwesenheit seines Amtes. Seine Rache ist furchtbar. Ich lese euch nun noch einige Passagen vor, die zeigen, was aus ihm geworden ist: Ich rase vor Wut! Sie haben mich als ihr gewähltes Oberhaupt verraten, sind mir in den Rücken gefallen, gerade, als ich kurz vor dem Ziel stand. Der Thron war schon mein, das Volk stand hinter mir, und doch wagten sie es, mich des Amtes zu entheben, als ich fern vom Ratssitz war und mich nicht wehren konnte. Diese Feiglinge werden meine Rache spüren! Sie beschuldigen mich des Umsturzversuchs, zeihen mich des Hochverrats, behaupten, ich hätte das Reich an den Rand des Bürgerkriegs gebracht. Also sollen sie ihren Krieg haben! Nur derjenige hat Anspruch auf den Thron, der imstande ist, sich ihn zu nehmen, der die Macht hat, ihn zu verteidigen. Nicht dieses lächerliche Recht der hohen Geburt macht jemanden zum Herrscher, sondern allein sein Wille, seine Kraft. Und deshalb gehört das Königreich von Rechts wegen mir. Sie haben Hochverrat begangen, nicht ich! Heute ist es mir gelungen! Ich habe zum ersten Mal einen Menschen verwandelt. Enno ist ein Speichellecker, der stets den Rücken vor mir beugte, um meine Gunst zu erlangen. Er hoffte, ich würde ihn für eine große Aufgabe auswählen. Seine Hoffnung hat ihn nicht getrogen. Er ist nun eine willenlose Kreatur, mehr Tier als Mensch, ein unbesiegbarer Dämon, ausgestattet mit der Körperkraft eines Höhlenbären und den Reflexen einer 38 Katze, von unstillbarer Mordgier besessen. Ich werde ihn ausschicken, meinen Stellvertreter zu töten. Er wird ihn zerfleischen und ein Exempel statuieren, das jedem klar macht: wer sich mit mir anlegt, dem wird es ebenso ergehen. Sie werden in Scharen wieder zu mir überlaufen. Meine Armee der Mutanten wird von Tag zu Tag größer. Es sind noch furchtbarere Wesen darunter als jenes, in welches ich Enno verwandelt habe. Der hat seinen Zweck erfüllt. Der neue Lordmagier ist tot. Enno hat ihn auf die Spitze des Turms gespießt, in dem er wohnte. Sie haben die arme Kreatur im Feuer geröstet, doch hundert andere werden ihn ersetzen. Die Feiglinge zittern jetzt vor Angst, aber diese Furcht ist auch der Grund dafür, dass sie es nicht wagen, unter meine Augen zu treten und mich um Vergebung bitten. Sie schließen sich noch enger zusammen. Ich werde morgen zum Ratssitz aufbrechen und mit ihnen abrechnen.“ Gormen blickte auf. „Ihr wisst, was danach geschieht. Die Magier versuchen, sich gegen ihn zu stellen, aber er überrascht sie und vernichtet viele von ihnen. Dann erhebt sich das Volk gegen Semanius. Zusammen mit dem Heer der Königin belagern mehr als zehntausend bewaffnete Bauern und Bürger den Sitz des Rates der Zirkel, den Palast der vier Kreise, welchen der ehemalige Lordmagier zu seiner Heimstatt gemacht hat. Doch nun trägt sich etwas Sonderbares zu: Die Welt außerhalb der Palastmauern scheint Semanius nicht mehr zu interessieren! Er ignoriert die Belagerung. Als der Palast gestürmt wird, flieht er in die Berge. Aus der Zeit, die er zurückgezogen in seinem Wehrturm in der Burg verbracht hat, finden sich kaum Aufzeichnungen in seinem Tagebuch. Erst kurz vor seinem Freitod beginnt er wieder zu schreiben: Ich verstehe endlich die Worte meines Traums. Die Sprache ist mir nun nicht mehr unbekannt. ES ruft mich. ES will sich mit mir vereinen. Oh, wie ich mich danach sehne. ES verspricht mir viel mehr als eine Herrschaft über dieses armselige Land. SEINE Macht und meine Macht zusammen können die Feste der ganzen Welt erschüttern. Vereint sind wir größer als Wathan! Aber ich weiß immer noch nicht, woher es mich ruft, wohin ich kommen soll. Draußen wüten meine Feuerwände und haben jeden ihrer Versuche abgewehrt, hier einzudringen, um mir das Wertvollste zu stehlen, das ich besitze. Ich habe alle weggeschickt, die mir noch treu waren. Ich kann es nicht mehr ertragen, dieses kriecherische Menschengewürm! Sollen sie überlaufen oder verrotten, mir ist es gleich. Ich warte auf SEINE Eingebung. Ich 39 spüre, wie nahe ES mir schon ist. Ich meditiere und fühle die immer stärker werdende Verbindung zwischen uns, die wie eine Nabelschnur ist. Sie spendet mir Energie und hält mich am Leben. Mein Geist tastet sich an dieser Schnur entlang, um die Leben spendende Plazenta zu finden, die in IHM ruht. Ich spüre SEINE Kraft stärker und stärker werden. Wo ist ES, damit ich zu IHM gehen kann? Ich habe ES gefunden! Was war ich doch mit Blindheit geschlagen! Ich fand ES in meiner Jugend am Ufer eines Flusses, oder besser: ES fand mich! ES ist über all die Jahre bei mir gewesen. Nun ist die Zeit reif für unsere Vereinigung, aber dieses Gewürm dort draußen darf uns nicht dabei stören. Ich werde einen anderen Ort aufsuchen. Dort wird es geschehen.“ Gormen blickte wieder auf. In der geheimen Bibliothek war es so still, dass man eine Daunenfeder hätte fallen hören können. Er hob das aufgeschlagene Buch hoch und zeigte ihnen eine detaillierte Landkarte, mit feinen Federstrichen gezeichnet und mit Landschaftsmerkmalen bebildert. „Dies ist die letzte Eintragung von Semanius. Die Karte zeigt einen Weg in die Berge, an dessen Ende ein mit einem Kreuz bezeichneter Ort liegt. Es ist der Ort, wo er sich das Leben in einem von ihm selbst entfachten Feuersturm nahm: eine Höhle. Die Magier, angeführt von der Königin, verfolgten ihn bis dorthin. Aber sie fanden nur noch seinen verbrannten Leichnam. Sie verschlossen die Höhle und kehrten zurück. Die restlichen Schlussfolgerungen überlasse ich euch.“ Nach einer kurzen Weile schweigenden Nachdenkens fasste Boc das Offensichtliche zusammen: „In diesem schwarzen Edelstein, den er im Fluss gefunden hat, wohnte ein magisches Wesen, dieses ES, die Macht, mit der er sich vereinigen wollte.“ „Was denn für ein Wesen? Ein Dämon vielleicht?“, fragte Cora. Gormen Helath nickte. „Ein mächtiger Dämon, ein Wesen aus der Unterwelt, wer weiß? Jedenfalls ist eines klar: Semanius mag in jungen Jahren ein begabter Magier gewesen sein, aber von außergewöhnlichen Kräften berichtete man erst später. Er hat sich schnell – zu schnell – entwickelt, nachdem er den Stein gefunden hat. Und er ist mächtiger geworden als je ein Magier vor ihm. Das Amulett hat ihm diese Macht verliehen, das steht außer Zweifel. Zuerst dachte Nunoc Baryth, als er in dem Buch las, es handele sich bei dem schwarzen Stein um einen magischen Gegenstand, den ein mächtiger Magier aus grauer Vorzeit angefertigt hatte, aber dann erwähnte Semanius die Stimme, die ihn rief. Selbst der Lordmagier hat lange gebraucht, um zu erkennen, woher sie kam. Ja, ihr habt Recht. Entweder ist der Stein selbst ein höheres Wesen oder dieses wohnt in ihm.“ 40 Spin fragte: „Die Höhle: hat sie jemand von euch aufgesucht?“ Gormen nickte: „Nunoc Baryth und ich haben sie gefunden. Und wir haben ein Skelett darin entdeckt.“ „Und das Amulett?“, wollte Trygar wissen. „War es ebenfalls in der Höhle?“ „Nein.“ „Aber Semanius hat es doch sicher getragen, um sich mit IHM im Tode zu vereinigen. Und die Magier haben die Höhle verschlossen. Also müssen sie es mitgenommen haben.“ Das glaube ich nicht“, antwortete Gormen. „Hätte es einer der Magier an sich genommen, so hätte er unglaubliche magische Macht erlangt. Doch dann hätten wir davon gehört. Nein. Die Höhle wurde verschlossen, und das Amulett blieb an der Kette um den Hals des Toten. Aber als wir dem Weg auf der Karte von Semanius folgten und die Höhle fanden, war der Eingang frei gelegt, und die Grabungen schienen noch gar nicht so lange zurückzuliegen. Ein anderer hat das Amulett gefunden.“ Boc riss die Augen auf. „Athlan?“ „Ja, du hast Recht. Als Athlan Gadennyn zu uns kam, trug er eine Kette um den Hals. Sie war geschwärzt, aber an einer Stelle glänzte das blanke Silber unter der Tarnfarbe. Das Amulett hatte er in einem Lederbeutel verborgen. Uns sagte er, dass in dem Beutel ein Andenken seines Vaters sei.“ „Lord Gadennyn trägt ja ebenfalls eine Kette mit einem Medaillon!“ Trygar fiel es wie Schuppen von den Augen. „Sie sieht allerdings anders aus, als die, welche in Semanius’ Tagebuch beschrieben ist. Die Fassung stellt einen Tigerkopf dar. Aber der trägt in seinem Maul einen schwarzen Stein!“ „Gadennyn hat seinen Goldschmied wohl beauftragt, den Stein neu zu fassen, denn auf ihn allein kommt es an, nicht auf den Tand drum herum“, meinte Cora. „Dann ist also die Macht von Semanius und dieses Wesens auf ihn übergegangen. Er muss jetzt ein noch mächtiger Magier sein als es der Lordmagier war. Wie sollen wir bloß gegen ihn bestehen?“ Trygars Stimme klang mutlos. „Wir werden einen Weg finden“, erwiderte Gormen zuversichtlich. 41 Neue Pläne werden geschmiedet Am nächsten Tag trafen sie sich erneut im Meditationsraum, den Gormen Helath wegen seiner hellen, freundlichen Atmosphäre schätzte. Doch durch die hohen Fenster drang heute nur trübes Licht von einem bleiernen Himmel. Draußen regnete es schon seit Stunden. Ein kalter Wind peitschte den Regen durch die unverglasten Fensteröffnungen, sodass Gormen die Läden schließen lassen musste. Nun saßen sie bei Kerzenlicht im Kreis auf den Sitzkissen. Der Ordensführer eröffnete die Versammlung. „Bevor wir beginnen, möchte ich gerne wissen, wie es Winger geht. Cora, du hast dich doch um ihn gekümmert?“ „Myria und ich haben uns abgewechselt. Er ist noch nicht bei Bewusstsein und schwebt immer noch in Lebensgefahr. Heute Morgen ist der Schamane der Nomaden eingetroffen. Ich verstehe seine Sprache nicht, aber Duna sagt, er sei überzeugt, dass er Winger retten könne.“ „So lasst uns ein stilles Gebet für ihn sprechen. Jeder möge in seinen Worten und Gedanken für ihn bei Wathan um Genesung bitten.“ Sie senkten die Köpfe, und Trygar dachte an Winger, dessen Lebensweg vom Unglück geleitet schien: der frühe Verlust der Eltern, die harte Kindheit und Jungend, seine Trunksucht, der Tod seiner Frau, an dem er sich schuldig fühlte, die falschen Entscheidungen, die der Baumeister immer wieder getroffen hatte, bis hin zu seinem letzten fatalen Fehler: der Befreiung Gothers. Gott schien es nicht gut mit ihm zu meinen. Trygar sprach eine stille Fürbitte und bat Wathan, Wingers Leben zu verschonen. Sie wurden aus ihrer Andacht gerissen, als ein Rabe draußen krächzte und ein wütender Kater ihm fauchend antwortete. Gormen ergriff wieder das Wort: „Wir sind zusammengekommen, um die Gefahr, die Athlan Gadennyn darstellt, einzuschätzen und uns zu überlegen, wie wir sie abwehren können.“ Legis, einer der Schwarzen Kämpfer, schlug vor: „Wenn wir unseren Feind besiegen wollen, sollten wir uns klarmachen, wer er ist. Wir Ordensleute kennen ihn als Athlan, den Novizen, der mit uns gemeinsam betete, aß, trank und schlief. Für Trygar und seine Freunde ist es Lord Gadennyn, ein Fürst ihres Landes, aber für all die Menschen, die er bedroht, ist er die Reinkarnation des Lordmagiers Semanius. Ich schlage vor, wir nennen ihn bei diesem Namen.“ Gormen nickte. „So soll es sein. Wir müssen uns fragen, was Semanius vorhat.“ Diesmal antwortete ihm Boc. 42 „Er hat uns hinters Licht geführt, indem er uns weismachte, Nunoc Baryth sei der wiedergeborene Lordmagier, aber erzählte uns auch, dass dieser plane, die Länder des Alten Königreichs unter seiner Herrschaft zu vereinen. Ich denke, in diesem Punkt musste er nicht lügen. Das genau ist sein Ziel! Auch Gother hat es bestätigt.“ „Und was das für eine Herrschaft wäre, können wir uns alle denken“, sagte Teuben. „Eine Herrschaft der totalen Unterdrückung, eine Tyrannei ohnegleichen. Erreichen könnte er dieses Ziel nur mit Krieg, der Tausende das Leben kosten würde.“ „Aber wann wird er losschlagen?“, fragte Seyn, einer der Kämpfer. „Wenn er alle Hindernisse aus dem Weg geräumt hat“, antwortete Teuben. „Nunoc Baryth war das erste. Wer das nächste ist, dürft ihr gerne raten.“ „Vielleicht du, Gormen?“, meinte Cora. „Du bist der neue Führer des Ordens, und Semanius wird wissen, dass du Nunoc Baryths Vermächtnis annehmen und ihn mit allen Mitteln bekämpfen wirst.“ Dremion hatte einen anderen Vorschlag: „Oder Trygar? Schließlich war er es, der Nunoc Baryth mit seiner Magie getötet hat.“ Alle sahen, wie der Genannte zusammenzuckte. „Tut mir Leid, mein Junge, aber Gadennyn – ich meine Semanius – wird erkannt haben, dass deine magischen Fähigkeiten ihm gefährlich werden können.“ Doch Gormen war anderer Meinung: „Teuben hat weder mich noch Trygar als Semanius’ nächstes Opfer im Sinn. Der Lordmagier dürfte uns beide nicht als besonders gefährlich einschätzen. Von mir weiß er wenig, und Trygar ist jung und unerfahren. Ich hoffe, dass er seine Fähigkeiten unterschätzt. Nein, ich denke genauso wie Teuben an ein anderes Ziel.“ „Aber an wen denn?“, fragte Trygar. „Wer soll so mächtig sein, Semanius aufhalten zu können?“ Da dämmerte es Cora: „Natürlich. Der König, unser König!“ „Der Herrscher von Koridrea?“, fragte Methor, der Anführer der Schwarze Kämpfer. Gormen nickte. „Cora hat Recht. Der König in Inay kann Semanius enorme Probleme bereiten. Er würde es nicht zulassen, dass einer seiner Fürsten zu mächtig wird. Und da ist noch das Haus der Lords, die Fürstenversammlung. Auch sie wird argwöhnisch werden, wenn Semanius zu offensichtlich nach Macht strebt. Der König befehligt eine gewaltige Armee, die die wenigen Soldaten, die der Fürst von Shoala aufbieten kann, hinwegfegen würde. Also wird der Lordmagier den gleichen Weg wählen, den er schon einmal in der Vergangenheit fast erfolgreich beschritten hat, den 43 Weg der Intrige. Doch diesmal wird er vorsichtiger sein. Ich glaube nicht, dass er wieder versucht, das Volk aufzuwiegeln.“ „Aber was wird er dann tun?“, fragte Spin. Teuben antwortete ihm: „Das wissen wir nicht, noch können wir es erraten. Wir könnten es auch nicht verhindern. Schließlich befinden sich zweitausend Meilen zwischen uns und Koridrea. Wir müssen leider davon ausgehen, dass es Semanius gelingt, die Macht in Koridrea zu ergreifen. Dann untersteht die Armee des Königs ihm, und der Krieg wäre nicht aufzuhalten. Uns bleibt nur eines: wir müssen die Zeit nutzen und ebenfalls eine Armee aufstellen, die die anderen Länder verteidigen kann.“ „Nein!“, sagte Trygar laut. Seine Stimme klang trotzig und wütend. „Wir müssen einen Krieg um jeden Preis verhindern!“ Mit ruhigem Ton erwiderte Gormen: „Du hast Teuben falsch verstanden. Genau diesem Zweck soll die Armee, die er aufstellen will, dienen. Sieht sich Semanius einem gleich starken oder stärkeren Heer gegenüber, so wird er nicht angreifen! Er ist viel zu klug, um eine Niederlage zu riskieren. Teubens Strategie beruht auf Abschreckung.“ „Aber das wird Semanius nur vorübergehend aufhalten“, warf Spin ein. „Euch ist doch klar, was ihm die enorme Macht verleiht, die ihn fast unbesiegbar macht: das Amulett! Wir können ihn nur außer Gefecht setzen, indem wir es ihm abnehmen!“ Cora runzelte die Stirn. „Und wie willst du das bewerkstelligen? In seine Burg marschieren? Ihm freudestrahlend Hallo sagen, die Hand schütteln und ihm am Ende die Kette vom Hals reißen? Natürlich weiß er jetzt, dass wir inzwischen wissen, was Nunoc Baryth herausgefunden hat: nämlich, dass seine Macht auf dem schwarzen Stein beruht. Er wird niemanden an sich heranlassen, der davon weiß oder wissen könnte.“ Boc meinte: „Und was ist mit Magie? Trygar kann doch Dinge aus der Ferne bewegen. Wenn er dicht genug an ihn herankäme…“ „Unmöglich!“, meinte Trygar. „Semanius ist ein Geistmagier, auch wenn er alle anderen magischen Talente besser beherrscht als jeder lebende Mensch. Aber als Geistmagier spürt er natürlich sofort, wenn ich mich ihm nähere. Er würde mich oder jeden anderen Magier als große Bedrohung empfinden und uns seine ganze Macht entgegenstellen. Er würde uns vernichten!“ „Das ist genau das, worauf ich hinaus will“, sagte Spin. Seine Augen leuchteten, und er lächelte zufrieden. „Ihr drei, Gormen, Duna und Trygar, werdet als Magier die Galionsfiguren des Widerstands und der Köder sein, den wir für Semanius auslegen. Ihr werdet durch die Länder ziehen und den Menschen von der drohenden Gefahr berichten, die von dem auferstande- 44 nen Semanius ausgeht. Sein Name verbreitet selbst heute noch Furcht und Schrecken. Ihr werdet Anhänger um euch scharen. Es werden mehr und mehr werden. Schließlich werdet ihr an der Spitze einer Armee stehen, die eine echte Bedrohung für Semanius darstellt, und mit ihr nach Süden ziehen. Der Lordmagier wird schon lange vorher davon erfahren, wird über jeden eurer Schritte unterrichtet sein. Er wird seine ganze Aufmerksamkeit auf euch richten, auf die größte Gefahr für seine Herrschaft, und wird, so abgelenkt, nicht erkennen, welche Gefahr ihm wirklich droht, nämlich von dem einzigen Wesen, das in der Lage ist, ihm den Stein zu entwenden.“ Alle blickten den Waldläufer mit großen Augen an. Selbst Gormen war verblüfft. „Von wem sprichst du?“, wollte er wissen. Spin genoss die Aufmerksamkeit. Er lehnte sich ein wenig zurück und machte eine effektvolle Pause, bevor er sagte: „Von Zpixs natürlich!“ Sie hatten eine Hügelkuppe erreicht. Vor ihnen dehnte sich die Savanne scheinbar endlos aus. Das hohe, trockene Gras reichte bis zum Bauch von Groms Reittier. Der Schwarze Kämpfer, der von Gormen zusammen mit zwei anderen ausgesandt worden war, um Gother zu verfolgen, richtete sich in den Steigbügeln auf und schattete mit der rechten Hand die Augen ab. Die Spur des niedergetretenen Grases wurde in der Ferne zu einer dünnen Linie und führte schnurgerade nach Westen in die tief stehende Sonne. Grom wandte sich an seine Begleiter: „Er schläft nicht, isst im Sattel und reitet sehr schnell. Sein Vorsprung wächst von Stunde zu Stunde. Im Dunkeln können wir ihn nicht verfolgen. Wenn er keine Rast einlegt, werden wir ihn nicht einholen können.“ „Aber der Soldat mit der Narbe im Schädel sagte doch, dass Gother nach Khor will, wo ein Schiff auf ihn wartet. Warum verfolgen wir überhaupt seine Spur? Lasst uns doch direkt nach Khor reiten“, meinte der zu seiner Rechten. „Ich traue diesem Dremion nicht. Vielleicht ist der Hinweis auf Khor nur eine Finte. Wir werden weiter der Fährte folgen. Irgendwann muss er ja einmal schlafen“, erwiderte Grom. Der dritte Reiter hatte plötzlich etwas entdeckt und zeigte nach vorne, hoch in die Luft: „Schaut mal da.“ Grom sah es auch: In der Ferne, weit jenseits des Punktes, an dem die Spur sich verlor, kreisten Vögel am Himmel. Aaskrähen! Eine Stunde später und kurz vor Einbruch der Dämmerung hatten sie den Ort erreicht. Ihr Kommen verscheuchte die Krähen von dem Kadaver eines Pferdes. Die starren Augen waren weit aufgerissen und blutunterlaufen. Die Zunge hing heraus. Das Fell war verklebt von getrocknetem Schweiß. 45 „Er hat es zuschanden geritten“, meinte einer von Groms Begleitern. „Jetzt muss er mehr Acht geben auf das ihm noch verbliebene Reittier.“ Grom nickte zustimmend. „Er wird nun viel langsamer reiten müssen, um das Pferd schonen. Vielleicht holen wir ihn ja doch noch ein.“ Die Versammlung wurde unterbrochen von Myria, der Heilerin, die in den Raum trat. „Winger ist zu sich gekommen“, berichtete sie freudestrahlend. Alle erhoben sich und folgten ihr zum Krankenzimmer. Auf dem Weg dorthin begegneten sie einem kleinen, fremdländisch aussehenden Mann. Die eingefallenen Wangen, aus denen die Backenknochen hervortraten, das schüttere, graue Haar, die tiefen Runzeln im Gesicht und die Krähenfüße um die Augen zeigten, dass es sich um einen Greis wohl jenseits der Siebzig handelte. An seinem Kinn spross ein dünnes Ziegenbärtchen. Der Alte trug derbe Reiterkleidung aus Ziegenfell: eine Hose, bis zu den Knien reichende Schürstiefel und eine Weste. Darunter war sein Oberkörper nackt, und die Rippen traten aus dem dürren Leib hervor. Der Mann lächelte freundlich. Seine mandelförmigen, wachen Augen waren grün wie Jade. Gormen blieb ein paar Schritte vor dem Alten stehen und verbeugte sich respektvoll, bevor er Worte in einer den Koridreanern unbekannten Sprache an ihn richtete, die anders klang als das Vulcoranisch, das sie bisher gehört hatten. Nach einer kurzen Unterhaltung verbeugten sie sich nochmals voreinander, und der Mann trat aus einer Tür hinaus ins Freie. „Wer war der Fremde, und aus welchem Land kommt er?“, fragte Dremion. „Der Fremde?“, Gormen schien amüsiert. „Nur weil du die Sprache nicht kennst und er anders aussieht als du und ich, muss er doch kein Fremder sein. Im Gegenteil. Vulcor ist sein Land, und wir waren einst die Fremden, die in es eingedrungen sind. Das war der Schamane der Pferdeleute. Sie haben schon lange vor uns diese Gegend besiedelt.“ „Hat er Winger heilen können?“, fragte Trygar. „Er hat alles für ihn getan, was möglich war, sagt er. Den Rest muss die Zeit heilen. Winger muss noch für einige Wochen das Bett hüten. Er ist schwach, und es wird dauern, bis er sich vollständig erholt hat. In einigen Tagen wird er wieder nach ihm sehen. Jetzt geht er zurück zu seinen Leuten.“ „Der Heiler der Yauqui! Ich muss unbedingt mit ihm sprechen.“ Cora wollte dem kleinen Mann nacheilen, aber Gormen hielt sie zurück. „Falls du von ihm lernen willst, so muss ich dir leider sagen, er wird seine Kenntnisse nicht mit dir teilen. Spar dir also die Mühe, ihn auszufragen.“ 46 Cora schien enttäuscht. „Aber warum macht er ein Geheimnis daraus? Alle Heiler sollten ihr Wissen miteinander teilen, um den Kranken und Verwundeten besser helfen zu können.“ „Es hat etwas mit seiner Religion zu tun. Das Pferdevolk glaubt an Naturgötter. Thishi ist der Gott der Erde, Rakh beherrscht das Wasser, Roghon die Luft. Und unter diesem Dreigestirn tummeln sich noch Tausende geringerer Götter: in jeder Wurzel, jedem Strauch, jeder Quelle wohnt ein Geistwesen, das die heilsamen Kräfte des von ihm Beseelten an die Schamanen weitergibt. Die Tränke, Rezepte, Arzneien und Rituale wirken aber nur, wenn der Heiler an die ihnen innewohnenden Gottheiten glaubt. Deshalb macht es für einen Schamanen keinen Sinn, seine Geheimnise Andersgläubigen zu offenbaren. Die Heilmittel wären wirkungslos, vielleicht sogar schädlich.“ Kurz darauf waren sie alle um das einzige Bett im Krankenzimmer versammelt, in dem ein totenblasser Winger lag. Er schien die Nähe seiner Gefährten zu spüren. Flatternd öffneten sich seine Augenlider. Ein schwaches Lächeln stahl sich auf seine Lippen, als er zu dem über ihn gebeugten Trygar aufblickte. Er wandte mühsam den Kopf und sah nun auch seine anderen Freunde einträchtig neben den Schwarzen Mönchen stehen. Das Lächeln verschwand. Ängstlich versuchte er, sich zu erheben, sank aber gleich wieder geschwächt in sein Kissen zurück. „Was ist geschehen?“, fragte er mit kaum vernehmlicher Stimme. Gormen antwortete in beruhigendem Tonfall: „Habe keine Angst. Du bist hier unter Freuden. Es ist alles in Ordnung. Mache dir keine Sorgen. Deine Fragen sollen beantwortet werden, sobald du dich etwas kräftiger fühlst. Wir alle sind froh, dass du wieder genesen wirst.“ König Bredos war einst ein großer Mann gewesen, von wahrhaft königlich Erscheinung: fast sieben Fuß groß und muskulös, mit strahlenden Augen und einem Vertrauen erweckenden Lächeln, hatte er das Charisma des geborenen Führers. Das Volk betete ihn seit seinem glorreichen Sieg über Orinokavo an, als er selbst die Armee in die entscheidende Schlacht geführt hatte. Seine diplomatischen und politischen Fähigkeiten konnten mit seiner Beliebtheit nicht mithalten, aber er besaß wenigstens genug Menschenkenntnis, sich gute Berater auszusuchen und auf sie zu hören. Deshalb war er in der Vergangenheit ein erfolgreicher Herrscher gewesen, einer der sich seinen Platz in den Geschichtsbüchern ehrenvoll verdient hatte. Doch das war lange her. Sein Niedergang hatte vor fünfzehn Jahren begonnen. Damals hatte ihm seine Frau den lang ersehnten Thronfolger geschenkt, starb aber im Kindbett am Fieber. Bredos war außer sich. Seine Trauer war tief und echt, obwohl er jedes halbwegs ansehnliche weibliche 47 Wesen, das am Hof Dienst tat, in sein Bett geholt hatte. Alle wussten, dass der König ein Schürzenjäger ohnegleichen war, dennoch hatte er seine Frau geliebt. Nach ihrem Tod entsagte er den körperlichen Gelüsten vollständig und nahm nie wieder eine andere zu sich. Der zweite schwere Schlag lag erst zwei Jahre zurück: sein Sohn stürzte bei einem Jagdausflug vom Pferd und brach sich den Hals. Wieder war Bredos verzweifelt. Gramgebeugt alterte er schnell und verfiel immer mehr. Er weigerte sich, dem Rat der Hofbeamten zu folgen und wieder zu heiraten, und selbst wenn er sich eine neue Frau genommen hätte, er wäre nicht mehr in der Lage gewesen, ein Kind zu zeugen. Das Reich hatte keinen Thronerben. Nach seinem Tod würde das Haus der Lords zusammentreten und einen neuen König aus seiner Mitte wählen. Die Messer wurden schon gewetzt. Als der König alt und halb senil geworden war, begannen einige der mächtigen Fürsten, seine Berater und Hofbeamten zu bestechen und zu kaufen. Man konnte ja nicht wissen, wie lange der alte Mann noch lebte. Bis zu seinem sehnsüchtig herbei gewünschten Ende durfte nicht alles aus der Bahn laufen, der Machtwechsel musste gut vorbereitet sein. Die Berater entmündigten den greisen König fast und herrschten an seiner statt, gelenkt von Marionettenfäden, die die mächtigsten der Fürsten in den Händen hielten. Und natürlich versuchten die, einander auszustechen. Bald kam es zum offenen Machtkampf zwischen ihren Handlangern am Hofe, die sich gegenseitig ausmanövrierten und absetzten. Das war der Zeitpunkt, als Aturo Pratt, gesandt von Lord Gadennyn, an den Hof kam. Pratt war gerissen und sein Herr mächtig, und so stieg er rasch in der Hierarchie der Hofbeamten auf. Im Gegensatz zu den anderen Intriganten, die den schwachen König bei ihren Entscheidungen einfach ignorierten, schlich sich Pratt in dessen Vertrauen ein, bekundete ihm patriotische Loyalität. Er berichtete Bredos von den Intrigen und Machtkämpfen, die sich hinter seinem Rücken am Hofe abspielten, wie das Land vor die Hunde ging, die sich schon um die Knochen stritten, welche noch gar nicht vom Tisch gefallen waren. Der alte Herrscher hatte ab und zu noch lichte Momente, und in einem dieser selten gewordenen Augenblicke erkannte er, wie sehr man ihn hinterging. Da wurde er wütend. Er raste vor Zorn, und noch einmal war seine frühere Autorität zu spüren. Er entließ die meisten der illoyalen Beamten, jagte die Berater vom Hof und ernannte Aturo Pratt zum Kanzler einer neuen Regierung. Der ehemalige Sekretär Gadennyns, seinem früheren Herrn durch dessen Wissen über den Mord an Wingers Frau zu Gehorsam verpflichtet, hatte nun freie Hand. Die Fürsten schäumten. Aber Gadennyn war vorsichtig. Es war noch viel zu früh, die Konfrontation zu suchen. Er hatte Pratt deshalb in die Nähe des Königs beordert, um 48 diesen zu schützen. Lebend war er Gadennyn mehr wert als tot, denn zum jetzigen Zeitpunkt würden ihn die Provinzfürsten nicht zu dessen Nachfolger wählen. Gadennyn war ihnen zu mächtig, und sie hatten Angst vor ihm, Angst davor, dass er als Herrscher die Fürstenversammlung entmachten würde. Diese Bedenken musste er zuerst zerstreuen. Er machte ihnen klar, dass er auf ihrer Seite stand, dass es ihm darum ging, die Fürsten als ausgleichenden Machtfaktor gegenüber dem Monarchen zu stärken, und dass er nicht selbst den Handschuh in den Ring werfen, sondern einen aus ihrer Mitte bei der Königswahl unterstützen würde. Er instruierte Pratt, mit dem Haus der Lords zusammenzuarbeiten und sein Kabinett von ihm absegnen zu lassen. Die Fürsten waren beruhigt. Das Reich wurde wieder stabil regiert, und sie sahen jetzt sogar einen Vorteil darin, dass alle rivalisierenden Beamten entfernt worden waren, denn gegen jeden der von ihnen selbst gekauften hatte eine Übermacht von in Diensten ihrer Konkurrenten stehender Hofschranzen gestanden. Jetzt war das Kräfteverhältnis wieder ausgeglichen. Pratt unterstand Gadennyn, und dieser war neutral und – so glaubten sie – nicht an der Macht interessiert. Die Kontrahenten um den Thron fingen jetzt an, um die Gunst des Fürsten von Shoala zu buhlen, der plötzlich zum Königsmacher aufgestiegen war. Alles lief so, wie Gadennyn es geplant hatte. Nun war es Zeit für den nächsten Schritt. Die beiden Wachen vor dem zweiflügeligen Tor zum Thronsaal hatte Aturo Pratt selbst ausgesucht. Sie waren ihm treu ergeben. Mit einer Verbeugung öffnete einer von ihnen die Tür. Pratt trat ein. Er ging den langen Säulenhof entlang und bewunderte die marmornen Säulen zu beiden Seiten, die das Spitzgewölbe stützten. Der Königspalast war ehemals ein Tempel gewesen, bis die Schulden des Klerus’, der stets über seine Verhältnisse gelebt hatte, bei Hofe so groß geworden waren, dass der Vater des jetzigen Königs das prächtige Gebäude kurzerhand enteignet hatte. Nun schritt der Kanzler über einen kunstvollen, aus kleinen bunten Steinen zusammengesetzten Mosaikboden, der Motive aus der ruhmreichen Vergangenheit des Alten Königreichs zeigte. Das aus den hohen Buntglasfenstern über der Galerie eintretende Licht wies mit farbigen Fingern auf die Schlachtenszene unter Pratts Füßen und ließ sie aufleuchten. Er näherte sich dem Thron. Der schwere, aus Malachit und Bergkristall zusammengesetzte Stuhl stand auf einer fünfstufigen mit einem Baldachin überdachten Empore. Der alte Mann, der einst ein strahlender Held gewesen war, kauerte darin. Seine gelbe Haut war altersfleckig und spannte sich straff um seinen knochigen Schädel, der in einem Kissen an der Lehne des Throns ruhte. Ein wenig Speichel troff aus dem offen stehenden Mund. Die schweren Lider waren tief herabgesunken. Ob er schlief oder sich in einem geistlosen Dämmerzustand befand, war nicht auszumachen. Auf seinem 49 schneeweißen Haupt saß eine kleine Krone, die, welche er als Kind getragen hatte. Die große, goldene und mit prächtigen Edelsteinen verzierte Amtskrone war ihm zu schwer geworden. Sie ruhte auf einem Samtkissen neben dem Thron. Der alte König war allein. Außer seinem Mundschenk, dem Leibarzt und zwei Dienern besuchte ihn nur noch Aturo Pratt. Die anderen Bediensteten des Hofes hatten strikte Anweisung, den Thronsaal nicht zu betreten, um ihren gebrechlichen und kranken Herrscher nicht zu stören. Pratt räusperte sich: „Verzeiht, dass ich Euren Schlummer unterbreche, Majestät.“ Die Augenlider flatterten und öffneten sich. Der lange dünne Mann, der einem zerbrechlichen Gerippe in einer pergamentenen Hülle glich, nur durch Sehnen und Bänder zusammengehalten, sah den Kanzler an, wie es schien, ohne ihn zu erkennen. Aber Pratt wusste, dass Bredos heute einen guten Tag hatte. Der Mundschenk hatte ihm berichtet, der alte Herrscher habe ihn herumkommandiert und angebrüllt, sich über das ungenießbare Essen beschwert und sich sogar an den Namen des Kochs erinnert, den er federn und teeren lassen wollte. Der Diener war erfreut über die ungewohnten Lebenszeichen, denn er liebte seinen Herrn und wusste, dass er es nicht ernst meinte. Für Pratt hingegen war nur von Bedeutung, dass der König heute ansprechbar war. „Majestät, ich habe Besorgnis erregende Kunde erhalten. Meine Agenten haben heute einen Brief abgefangen, ohne Adressat und Absender. Der Bote sollte ihn persönlich überbringen, doch er hat ihnen leider nicht gesagt, für wen der Brief bestimmt ist und wer ihn schrieb. Der Mann wurde eingesperrt und hat sich bedauerlicherweise in seiner Zelle entleibt, sodass wir von ihm nichts mehr erfahren werden.“ Das Interesse des Königs schien geweckt. „Bist du sicher, dass sich der Bote selbst umgebracht hat, oder haben ihn deine Leute beim Verhör zu hart behandelt?“ Oh ja, Bredos war heute hellwach, dachte Pratt. „Zum Verhör ist es gar nicht erst gekommen, Majestät. In Eurem Interesse hätten meine Leute nie zugelassen, dass der Mann ums Leben kommt.“ „Jedenfalls nicht, bevor er seinen Auftraggeber preisgegeben hätte“, meinte der alte Mann. „Lies mir den Brief vor. Du weißt ja, dass meine alten Augen nicht mehr gut sehen.“ Der Kanzler holte ein gefaltetes Stück Papier aus seinem Ärmel, entfaltete es, räusperte sich und begann zu lesen: „Krähe: Rufe die anderen Schwarzgefiederten zusammen. Es ist soweit. Drei von uns – du weißt, wen ich meine – wollen nicht länger warten. Silberhelm kann hundert und mehr Jahre alt werden, so wie Pratt ihn hütet und pflegt. Wir müssen ihn in die Unterwelt schicken. Ich werde euch ver- 50 künden wann, wo und wie. Auch Gadennyn kann uns nicht aufhalten. Wir treffen ins in drei Tagen im Horst. Der Brief ist unterzeichnet mit ‚Kolkrabe’.“ Bredos schaute versonnen durch Pratt hindurch. Beide wussten, wer mit Silberhelm gemeint war. Schon in frühester Jugend hatte der Herrscher silberweißes, dichtes Haar gehabt, dessen Schopf ihn aus der Ferne wie einen strahlenden Helden mit silbernem Helm aussehen ließ. „Was vermutest du?“, fragte der alte Mann. Pratt legte nachdenklich den Finger auf die Stirn und sah sinnend zu Boden. „Der Rabenbund. Ihr habt gewiss schon vom ihm gehört, Majestät. Es ist ein Geheimbund innerhalb des Hauses der Lords. Niemand weiß, wer dahinter steckt und wer dazu gehört. Es gibt natürlich Gerüchte, aber beweisen lässt sich nichts.“ „So glaubst du also, der Rabenbund will mich umbringen lassen?“ „Das steht leider außer Zweifel, Majestät, doch wir sind gewarnt. Es wird Euch nichts geschehen.“ „Kolkrabe“, sinnierte der König. „scheint ihr Anführer zu sein. Er will mir den Thron stehlen, bevor meine Zeit gekommen ist. Finde heraus, wer es ist.“ „Das werde ich, Majestät.“ Eine Weile waren sie bei Winger geblieben, hatten ihm Tost und Zuversicht gespendet. Auf seine Frage, ob Nunoc Baryth tot sei, hatten sie wahrheitsgemäß mit ja geantwortet. „Wathan sei Dank“, hatte der Verwundete gemurmelt, bevor er erschöpft ins Kissen zurückgesunken und eingeschlafen war. Seine Freunde waren übereingekommen, ihm erst später zu erzählen, was wirklich geschehen war. Nun waren die Schwarzen Brüder und die Koridreaner wieder im Meditationsraum versammelt. Gormen sagte: „Bevor wir zu Winger gingen, sprachst du von jemandem, der uns helfen könnte und von einem Ablenkungsmanöver. Wie sieht dein Plan aus, Spin?“ Der Angesprochene antwortete: „Wie ich schon sagte: Semanius dürfte andere Magier als Gefahr betrachten, deshalb solltet ihr, Gormen, Duna und Trygar, die ihr die Magie beherrscht, durch die Länder des Alten Königreichs ziehen und auf eurem Weg nach Shoala auf Menschenfang gehen.“ „Menschen fangen?“, fragte Cora. Teuben schaltete sich ein und griff den Vorschlag Spins auf. Er legte Nachdruck in seine Worte: „Ja, denn allein stellt ihr kaum eine Bedrohung für Semanius dar. Deshalb müsst ihr jedem von dem wiedergeborenen Lordmagier und seinen 51 Eroberungsplänen erzählen und so viele Anhänger rekrutieren wie möglich, am besten Tausende. Es können Fürsten und Gelehrte sein, einfache Bauern und Soldaten, Hauptsache, sie sind zahlreich. Nur eine Armee verleit euch das Gewicht, unseren Feind zu beunruhigen.“ Dremion fand, das sei keine gute Idee: „Wäre es nicht besser, in einer kleinen Gruppe nach Süden zu ziehen, heimlich, ohne dass Semanius Wind davon bekommt? Schließlich hatten wir mit dieser Methode auch…“ Er verstummte. „Du meinst Erfolg?“, fragte Duna scharf. „Ja, ihr habt es geschafft, Nunoc Baryth zu töten, aber der war kein Geistmagier!“ „Semanius soll ja gerade wissen, dass ihm eine Gefahr droht“, sagte Spin. „Er soll seine ganze Aufmerksamkeit auf eine von Gormen und den Schwarzen Kämpfern angeführte Armee richten, die nach Süden zieht und immer größer wird. Das wird ihn ablenken. Während ihr den Köder spielt, werde ich denselben Weg zurückgehen, auf dem wir hergekommen sind. Ich hoffe, Cora, Boc und Dremion begleiten mich, denn ihr werdet sie nicht benötigen bei eurem Feldzug. Wir werden Zpixs finden und um Hilfe bitten. Es wird schwer werden, ihn zu überreden, aber ich hoffe, es gelingt uns. Wenn es zur Konfrontation zwischen euch und Semanius kommt, wird der Xinghi zur Stelle sein. Nur er kann ihm das Amulett abnehmen.“ Gormen, Teuben und die anderen Mitglieder des Schwarzen Ordens blickten den Waldläufer verständnislos an. Darauf berichteten die Gefährten, wie sie Zpixs kennen gelernt hatten, und über welche magischen Fähigkeiten das kleine Wesen verfügte. „Er kann den Fluss der Zeit verändern?“ Teuben war skeptisch. Doch als er alles erfahren hatte, schwieg er beeindruckt. Eine Weile diskutierten sie über Spins Vorschlag, bis auf den in Gedanken versunkenen Gormen, der sich an dem Gespräch nicht beteiligte. Schließlich fiel es Cora auf, dass der Ordensführer schwieg. Sie sagte: „Gormen, Ihr habt uns in den Orden aufgenommen, Ihr seid unser Führer und sollt eine der Hauptrollen in dem Plan spielen. Was sagt Ihr dazu?“ Der Stellvertreter des getöteten Abts sah auf. „Verzeiht mein Schweigen, ich musste erst eine Weile darüber nachdenken. Aber Spins Plan ist gut, ja, er gibt uns eine wirkliche Chance, Semanius’ Pläne zu durchkreuzen. Nur müssen die richtigen Leute am richtigen Platz sein, damit er gelingt. Darüber habe ich nachgedacht, und ich bin zu folgendem Entschluss gekommen: Duna und Trygar: ich weiß, ich verlange viel von euch, wenn ich euch bitte, die Gruppe, die nach Süden zieht, anzuführen. Die Schwarzen Kämpfer werden euch begleiten. Es ist keine einfache Aufgabe, den Part des Köders in Spins Plan zu spielen. Aber ich habe vollstes Vertrauen in euch.“ 52 Er wandte sich an Spin, Cora und Boc. „Ich aber werde mit euch in die Ostlande gehen. Es ist besser, wenn ihr auf diesem gefahrvollen Weg auf die Kräfte eines Magiers zählen könnt.“ Er blickte den Soldaten mit der Narbe auf dem Schädel an. „Dremion, ich bitte dich, im Kloster zu bleiben. Jemand muss sich um Winger kümmern. Wir können nicht so lange warten, bis es ihm besser geht.“ Schließlich wandte er sich an seinen Stellvertreter: „Teuben: unter diesen Umständen kann ich nicht für das Amt des Abtes kandidieren. Ich werde Monate, wenn nicht Jahre fort sein. Ich bitte dich, mir diese Last abzunehmen.“ Ohne die Antwort auf seine Entscheidungen abzuwarten, erhob er sich. „Die Einzelheiten werden wir noch ausarbeiten. Doch jetzt ruft das Abendgebet.“ Nach dem Gebet und dem gemeinsamen Mahl trafen sie sich erneut. Doch diesmal schlug Gormen vor, nach draußen zu gehen. Er führte die Gesellschaft durch das Klostertor hinaus, und sie wanderten zwischen den Feldern, Wiesen und Weiden hindurch bis zu einem schmalen Weg, der den Osthang des Tals hinauf führte. Sie folgten ihm bis zu einem kleinen, felsigen Plateau. Von hier aus hatte man über die niedrigen Höhenzüge des Vorgebirges hinweg einen atemberaubenden Blick auf die weiten Grasebenen Vulcors. In der Ferne sahen sie eine große Herde grasen. Um welche Tiere es sich handelte, war nicht zu erkennen. Die Sonne stand nur noch vier Handbreit über dem Horizont und begann sich langsam rötlich zu verfärben. Sie setzten sich auf die abgerundete Spitze eines großen Findlings, den ein längst geschmolzener Gletscher hierher geschoben haben musste. Gormen betrachtete die Versammelten, zuerst die fünf aus Koridrea: Trygar, Spin, Cora, Boc und den Soldaten Dremion, der sich gerne Spaltschädel nennen ließ, und danach die fünf Schwarzen Ordensmitglieder: Teuben, seinen treuen Freund, Duna, die ungestüme junge Feuermagierin, die er wie eine Tochter liebte, Methor, den Anführer der Schwarzen Kämpfer, ein beeindruckender Mann, hart wie ein Fels, und seine beiden Untergebenen und Freunde, Seyn und Legis, die Zwillingsbrüder, die man nur auseinander halten konnte, weil Seyn ein Ohrläppchen fehlte. Gormen Helath musterte diese Menschen, die dem furchtbaren Lordmagier die Stirn bieten sollten, lange. Schließlich sagte er: „Der Plan kann nur gelingen, wenn jeder von uns die ihm zugedachte Rolle frohen Herzens, vorbehaltlos und mit Überzeugung annimmt. Ich möchte daher hören, was ihr dazu meint. Falls ihr mit eurer Rolle nicht einverstanden seid, so äußert eure Bedenken – jetzt.“ 53 Sie schwiegen, aber Gormen sah, wie es in einigen arbeitete. Du musst ihnen mehr Zeit geben, dachte er. Doch Dremion unterbrach die Stille. Seine Stimme klang bitter: „Ihr traut mir nicht, Gormen, nicht wahr? Deshalb soll ich hier bleiben, während Ihr mit meinen Weggefährten in den Kampf zieht. Nun, Ihr hattet ja auch Anlass genug zum Misstrauen. Ich stand bis zum Schluss auf der Seite Hauptmann Gothers und war stets ein treuer und loyaler Soldat Gadennyns. Ich würde an Eurer Stelle nicht anders handeln. Ich stelle ein Risiko dar.“ Er senkte den Blick und sah traurig auf den glatt geschliffenen Fels, auf dem sie saßen. Gormen erwiderte: „Du bist ein Mitglied des Ordens, Dremion. Du hast den Eid geschworen. Ich würde jedem Bruder und jeder Schwester unseres Ordens mein Leben anvertrauen. Nein, ich betrachte dich nicht als Risiko. Du bist von Gadennyn und Gother ebenso getäuscht worden, wie deine Freunde. Ich dachte, es wäre dir recht, im Kloster zu bleiben, ich glaubte, du wolltest etwas wiedergutmachen.“ „Etwas wiedergutmachen?“ „Es stimmt, was du sagst: du hast Gother mehr vertraut als alle anderen, doch du konntest nicht anders, denn du hattest ihm als deinem Vorgesetzten einen Treueid geleistet. Aber Gother war es, der Winger fast umgebracht hat! Wir werden euren Freund, den Baumeister, zurücklassen müssen. Wie, glaubst du, wird er sich fühlen, allein unter den Schwarzen Brüdern und Schwestern? Er, der einen Mörder befreit hat, der glaubt, er habe während eurer ganzen Mission immer nur versagt, habe stets das Falsche getan, trage die Schuld an allem, was schief gegangen ist. Sobald er erfährt, dass Nunoc Baryth ein unschuldiges Opfer war, Gadennyn der wahre Feind der Menschheit ist, und dass Gother, der Mörder, der Dank seiner Hilfe entkommen konnte, jetzt Semanius warnen kann, wird er in tiefe Verzweiflung fallen. Dann wäre niemand da, ihm zu helfen. Einer von euch muss um seinetwillen hier bleiben!“ Dremion brauchte eine Weile, um darüber nachzudenken, dann nickte er: „Ihr habt Recht, Abt Helath. Ich sollte etwas davon wiedergutmachen, was der, dem ich vertraute, angerichtet hat. Ich werde bleiben und mich um Winger kümmern. Aber sobald er genesen ist, folge ich Trygar, und ich denke, Winger wird mit mir kommen.“ „Ich danke dir, Dremion“, sagte Gormen. „Aber ich bin – ungeachtet deiner Anrede, mit der du mich ehren wolltest – nicht der Abt des Ordens.“ Teuben ergriff das Wort: „Das ist ein Punkt, der mich nicht froh stimmt, Gormen. Du bist zwar nicht unser Abt, aber du solltest es werden. Ich verstehe, dass du diesen Kampf auch zu deinem machen willst, aber dennoch: du bist unser zukünf- 54 tiger Führer! Nunoc Baryth hat dich ausgesucht. Du musst den Orden leiten. Wenn du fortgehst, will ich als dein Stellvertreter das Kloster bis zu deiner Rückkehr führen, aber ich bin nicht für dieses Amt ausersehen.“ „Niemand ist dazu ausersehen, Teuben. Der Abt unseres Ordens wird gewählt und nicht ernannt. Ja, Nunoc hat mich vorgeschlagen, aber er wollte damit niemals den Orden bevormunden. Du warst es, der ihn drängte, einen Stellvertreter zu benennen! Erinnerst du dich? Und du weißt auch, warum er mich vorgeschlagen hat. Es hatte nichts damit zu tun, dass er mir mehr vertraute oder mich für befähigter hielt als einen anderen unseres Ordens. Du wärest in vielen Punkten geeigneter für das Amt: du bist älter, klüger, erfahrener. Wäre Nunoc Baryth in seiner Entscheidung frei gewesen, hätte er dich vorgeschlagen. Doch leider ließ er sich von einer nutzlosen Tradition leiten. Der Abt sollte ein Magier sein.“ „Nutzlose Tradition? Es hat noch nie einen Nichtmagier als Führer unseres Ordens gegeben, Gormen. Ich bin kein Magier, und deshalb bin ich für das Amt nicht geeignet!“ „Du weißt wie ich, Teuben, dass die Zeit der Magier bald vorbei sein wird. Diese Fähigkeit ist selten geworden in unseren Tagen, und das ist vielleicht ganz gut so. Magier vereinen zuviel Macht in sich. Ein Einziger wie Semanius kann zur Bedrohung für die ganze Welt werden. Irgendwann muss die Führung des Ordens in andere Hände übergehen. Angenommen, ich stürbe auf unserer Mission, wer sollte dann die Verantwortung übernehmen? Die einzige Person, die der Tradition entspricht, wäre Duna, aber die ist noch viel zu jung. Zwar beherrschen auch die Schwarzen Kämpfer die Magie, aber auf eine andere Weise, und es ist nicht bloß eine unbegründete Tradition, sondern eine unumstößliche Regel unserer Ordensstatute, dass ein Kämpfer den Schwarzen Orden nicht führen darf. Ich bin der festen Überzeugung: Du, Teuben, bist in jeder Hinsicht der am besten Geeignete von allen, unser nächster Abt zu sein. Ich bitte dich ja lediglich zu kandidieren. Nur, wenn unsere Schwestern und Brüder meine Auffassung teilen, wirst du auch gewählt werden.“ Teuben gab nach: „Nun gut. Ich denke zwar immer noch, dass du der bessere Abt wärest, aber wenn du von der Kandidatur zurücktrittst, muss ein anderer die Verantwortung übernehmen. Ich werde mich der Wahl stellen.“ Gormen bedankte sich bei ihm. Dann blickte er in die Runde als Aufforderung an die anderen, ihre Bedenken zu äußern. Methor meldete sich als Nächster: „Wenn alle Schwarzen Kämpfer mit Duna und Trygar nach Süden ziehen, bleibt das Kloster ungeschützt zurück. Das gefällt mir überhaupt nicht. Lass mich zu den Yauqui gehen und sie um Hilfe bitten, Gormen. Sie sind 55 sehr wehrhaft und furchtlos. Ich könnte beruhigt aufbrechen, wenn ich drei dutzend ihrer Reiter im Kloster wüsste.“ „Ein guter Vorschlag“, lobte Gormen. „Handele ganz nach deinem Ermessen.“ „Verzeiht, Gormen, auch ich habe noch eine Frage“, ergriff die Heilerin aus Brenton das Wort. Der große Mönch lächelte. „Die ich dir gerne beantworten will, Cora. Aber zunächst bitte ich euch Koridreaner, mich nicht so förmlich anzusprechen. Ihr gehört jetzt zum Orden. Wir alle hier haben unterschiedliche Aufgaben und Verantwortung. Und dennoch sind wir gleich. Selbst der Abt, ich spreche jetzt von Nunoc Baryth, wurde von jedem Pferdeknecht und jeder Dienstmagd mit dem vertraulichen Du angesprochen, denn wir alle sind Brüder und Schwestern. Bitte macht mir die Freude und seht mich so, nicht als einen Führer, der ich ja noch nicht einmal bin.“ Cora errötete leicht. „Gut, Gormen. Was ich wissen will, hat nichts direkt mit unserem Plan zu tun, sondern mit dem, was Ihr … du gerade gesagt hast: wir Koridreander haben den Eid geschworen und gehören jetzt zum Orden. Aber Trygar wurde von dir in den Rang eines Schwarzen Kämpfers erhoben. Muss er deshalb nicht tätowiert werden?“ Wieder lächelte Gormen: „Du hast Recht, es gibt noch viel zu tun, bevor wir aufbrechen können: Die Totenfeier für Nunoc Baryth und Jela, die Wahl des Abtes und natürlich die Weihe Trygars zum Schwarzen Kämpfer. Das alles hat seine Bedeutung und ist sehr wichtig, aber ich hätte es fast vergessen. Gut, dass du mich daran erinnerst. Natürlich wird dein junger Freund die Zeichen tragen. Es wird morgen geschehen.“ Als die anderen aufbrachen, um den Hang zum Kloster hinabzusteigen, blieb Trygar auf dem Findling sitzen. „Geht ihr schon“, sagte er. „Ich möchte noch ein wenig hier bleiben.“ Keiner bot sich an, ihm Gesellschaft zu leisten, denn es war offensichtlich, dass er allein sein wollte. Die Sonne hatte sich zu einem orangeroten Oval verformt, breiter als hoch, und berührte den flirrenden Horizont. Keine Wolke stand am Himmel. Die Luft war glasklar. Vor der leuchtenden Feuerscheibe sah er einen Schwarm Vögel auf ihrem Flug nach Süden vorbeiziehen, die ersten Wanderer, die vom Ende des Sommers kündeten. Wie eine rot glühende Metallkugel, die sich ihren Weg durch schmelzendes Eis bahnt, versank die Sonne in der lehmfarbenen Erde. Danach verfärbte sich der westliche Himmel purpurn, schließlich violett. Trygar warf einen Blick nach Osten. Die hohen, schneebedeckten Berge waren noch in rotes Licht gebadet, doch der Himmel über ihnen war schon dunkelgrau wie mattes Eisen, und die ersten hellen Sterne glitzerten am Firmament. 56 Die letzten drei Tage waren wie im Traum vergangen. Ein Traum, dessen Sinn Trygar noch nicht die Zeit gefunden hatte, nachzurätseln. Sein Leben war auf den Kopf gestellt worden. Ausgesandt, um einen Feind der Menschheit zu vernichten, hatte er einen Unschuldigen getötet, war fast in Flammen umgekommen und nach einem Aufenthalt in der Unterwelt auf die Welt der Lebenden zurückgekehrt. Statt ihn zu bestrafen, hatte ihn der Orden aufgenommen und zu einem der Seinen gemacht. Und nun schmiedete er Pläne gegen seinen früheren Herrn. Es war zu viel, um es zu fassen. Trygar befand sich in einem seltsamen Gemütszustand. Kurz nach seinem Erwachen nach der Tat war er verzweifelt gewesen. Der Traum und die furchtbare Schuld hatten noch in seiner Seele nachgehallt wie der Donner eines abziehenden Gewitters. Doch jetzt fühlte er nichts mehr davon. Er bereute natürlich seine Tat, aber seine innere Beteiligung war schwach. Es schien, als habe das Schicksal oder eine Gottheit seinen Weg vorgezeichnet. Wenn er sich zurückbesann, schien alles Geschehene unausweichlich gewesen zu sein. Niemals hatte er wirklich die Freiheit besessen zu entscheiden, was er tun wollte. Stets hatte man vom ihm verlangt, seine Pflicht zu erfüllen. Und nun war es wieder so. Er hatte – ohne ausreichende Zeit, darüber nachzudenken – einen Eid geschworen, der ihn abermals in die Pflicht nahm. Aber den anderen ging es kaum besser, auch sie wurden vom Malstrom des Schicksals mitgerissen. Zum Weg, der nun vor ihnen lag, gab es offenbar keine Alternative. Trygar wünschte sich, sein Vater wäre hier und er könnte mit ihm über alles sprechen. Die Dämmerung sank wie ein dunkles Tuch über die Welt. Immer mehr Sterne wurden sichtbar. Ein schwaches, milchiges Band bog sich hoch über den Himmel wie ein Regenbogen. Meteore ritzten schnell wie Blitze schnurgerade Furchen in das Firmament. Was hätte sein Vater ihm gesagt? Als Trygar ein Kind war, war ihm Daedor Tathe ein strenger, aber stets gerechter Vater gewesen. Wenn der Junge etwas angestellt hatte, wurde er erst bestraft, nachdem Daedor ihn nach seinen Beweggründen gefragt hatte. „Warum hast du das getan? Erklär es mir.“ Manchmal waren Trygars Gründe gut genug gewesen, um der Strafe zu entgehen. Und in den anderen Fällen bewirkte die Frage immerhin, dass der Junge über seine Taten nachdachte und erkannte, dass er einen Fehler begangen hatte. Daedor hatte ihm gesagt, er sei für sein Tun verantwortlich und habe die Folgen zu akzeptieren, aber jeder Mensch müsse Fehler begehen, denn ohne Fehler könne er nicht lernen, im Leben zurechtzukommen. Aber das hieße auch, dass man einen Fehler nicht zweimal begehen sollte, denn dass zeige, dass man nichts aus ihm gelernt habe. Heute hätte er seinem Sohn wahrscheinlich den Rat gegeben, sein Handeln nicht nur auf das Vertrauen zu einem einzelnen Menschen zu gründen. Gadennyn hatte dieses Vertrauen missbraucht. Manche Taten waren so 57 folgenschwer, dass man nur handeln durfte, wenn man absolut sicher war. Trygar fragte sich, ob er jetzt nicht in die gleiche Falle lief. Konnte er Gormen, Duna und den anderen des Schwarzen Ordens trauen? War das Tagebuch von Semanius ein Beweis? Konnte es Nunoc Baryth nicht gefälscht haben, um ihn wieder zu täuschen? Dagegen sprach die Tatsache, dass der Schwarze Abt ja nicht wissen konnte, dass Trygar und seine Freunde kommen würden um ihn zu töten. Wieso sollte er dann Beweise fälschen? Nein, das Tagebuch musste echt sein. Außerdem hatte Gother ja zugegeben, dass Gadennyn Semanius war. Diesmal konnten kein Irrtum und keine Täuschung vorliegen. Sein Vater hätte ihm sicher gesagt, dass es für Menschen, die ein Gewissen haben, oftmals keine freie Wahl gibt. Sie müssen das tun, was ihr Gewissen ihnen befiehlt. Aber das Gewissen allein konnte nicht immer zur richtigen Entscheidung führen. Trygar war klar: Hätte er auf die erste innere Stimme gehört, die seiner Grundüberzeugung, dass es falsch ist, einen Menschen zu töten, wäre Nunoc Baryth jetzt noch am Leben. Aber Gother hatte ihn – wahrscheinlich unbewusst – manipuliert. Der Hauptmann hatte sich bei seinem Anschlag auf den Schwarzen Abt selbst in die Gefahr begeben, von diesem getötet zu werden und hatte Trygar so in einen Gewissenskonflikt gestürzt. Und der hatte sich leider falsch entschieden. Er sah jetzt seinen Weg klar vor sich: Die Tatsachen belegten, dass Gadennyn Semanius war und dass dieser die Gefahr darstellte, die er selber beschworen hatte. Trygars Gewissen konnte sich darauf stützen. Er würde dem vorgezeichneten Weg folgen. Inzwischen war es sehr dunkel geworden. Der Mond war noch nicht aufgegangen, und er fragte sich, wie er ohne zu stürzen die Böschung hinabsteigen sollte. Da sah er das flackernde Licht einer bewegten Fackel, deren Träger eben diesen Hang hinaufkletterte. Die tanzende Flamme erreichte den Rand des Plateaus und kam direkt auf ihn zu. Ihr Lichtschein beleuchtete eine zierliche Gestalt in einer grauen Kutte. Die Kapuze war zurückgeschlagen, und Trygar erkannte Duna. Einen Augenblick später stand sie vor ihm. „Ich dachte, ich hole dich ab, bevor du dir in der Dunkelheit ein Bein brichst“, sagte sie. Sie saßen nebeneinander auf dem großen, runden Felsen. Duna hatte die Fackel in die Erde am Fuß des Findlings gesteckt. Sie lieferte dort unten kaum Licht und keine Wärme. Trygar fröstelte in der Kühle der Nacht. Der jungen Frau schien die Kälte hingegen nichts auszumachen. Sie zog die Knie bis ans Kinn, legte die Arme um ihre Unterschenkel und blickte ihn an. 58 „Du solltest nicht alleine grübeln. Ich weiß, wie schwer alles für dich ist. Lass uns darüber reden.“ Trygar war überrascht. Verbittert lachte er auf. „Aber du magst mich nicht. Wie könnte ich jemandem mein Herz ausschütten, der mich, den Mörder deines Herrn und väterlichen Freunds Nunoc Baryth, hasst und verachtet?“ Duna seufzte. „Ich hasse dich nicht, Trygar. Ich habe über das, was geschehen ist, lange nachgedacht. Du hast einen schweren Fehler begangen, indem du einen Unschuldigen getötet hast. Aber wie könnte ich dich verurteilen, da ich doch beinahe den gleichen Fehler gemacht hätte?“ „Den gleichen Fehler? Was meinst du damit?“ „Ich wollte dich töten, nicht nur umbringen, sondern qualvoll verbrennen! Dein Tod sollte eine grausame Strafe für dein Verbrechen sein. Aber deine Magie hat das Feuer von deinem Körper abgehalten. Du hast den Flammen die Nahrung genommen, indem du die Luft zur Seite gedrückt hast. Sie konnten deinen Körper nicht erreichen, aber gleichzeitig hast du dir damit die Luft zum Atmen genommen und bist ohnmächtig geworden.“ „Ich habe mich mit Magie verteidigt? Das war mir gar nicht bewusst. Ich glaubte, du hättest mich verschont.“ „Nein, ich hätte dich getötet, wenn ich gekonnt hätte. Als du zu Boden stürztest, dachte ich, du wärest tot, und habe die Flammen erstickt. Umso überraschter war ich, dass du kaum verletzt warst. Lediglich ein paar Haare waren angesengt. Gut, dass Gormen in diesem Moment hereinkam, sonst hätte ich dich doch noch umgebracht.“ „Aber welchen Fehler hast du denn gemacht? Ich verstehe immer noch nicht.“ „Ich sagte doch: den gleichen Fehler wie du. Ich habe versucht, einen Menschen zu töten, ohne zu wissen, ob er den Tod verdient hat. Ich habe mich nur von meinen Rachegefühlen, nicht von den Tatsachen leiten lassen.“ Trygar nickte nachdenklich. „Dann haben wir beide etwas daraus gelernt. Glaub mir, ich würde alles dafür geben, um Nunocs Tod ungeschehen zu machen.“ „Und ich hatte lediglich Glück, dass ich weniger erfolgreich war als du. Ich habe meine Meinung über dich geändert, Trygar. Du bist zwar nicht schuldlos, aber deine Schuld ist, in Anbetracht der Täuschung durch Gadennyn und des Verrats von Gother an euch, gering. Mir steht es zwar nicht zu, dir zu vergeben, denn ich hätte an deiner Stelle kaum anders gehandelt, aber Nunoc würde dir verzeihen, da bin ich sicher. Wir müssen jetzt in die Zukunft schauen. Wir beide sollen gemeinsam die Schwarzen Kämpfer nach Süden führen und Tausende von Gleichgesinnten um uns scharen. Wir 59 sollen eine Armee gegen Gadennyn aufstellen. Deshalb müssen wir uns vertrauen und uns auch … mögen.“ Trygar blickte die junge Feuermagierin an. Im schwachen Schein der Fackel konnte er ihre Gesichtszüge kaum erkennen, aber ihre Augen glänzten weich. Eine warme Welle der Zuneigung überflutete ihn. „Ich mag dich, Duna! Ich glaube, ich habe dich schon gemocht, als wir uns das erste Mal begegnet sind. Weißt du noch? Es war in Shoal. Ich habe gleich gemerkt, dass du eine Magierin bist. Du ahnst gar nicht, welche Hochgefühle das in mir geweckt hat. Ich war auf einmal nicht mehr allein, konnte mit jemandem sprechen über diese Kraft, die von denen, die sie nicht beherrschen, als dämonisch verurteilt wird. Es war, als hätte ich in der Wüste eine Quelle gefunden. Als du plötzlich verschwunden bist, war ich sehr enttäuscht. Ich habe dich überall in der Stadt und außerhalb gesucht. Ich habe mir so sehr gewünscht, dich wieder zu finden. Und endlich, da es mir gelungen war, stand auf einmal der Tod Nunoc Baryths zwischen uns. Ich habe mich dafür verflucht.“ Ihre Zähne glitzerten im Dunkeln. Sie lächelte. „Hätte ich in Shoal gewusst, dass du… aber lassen wir das. Was vorbei ist, ist vorbei. Nun wiederhole ich, was ich zu Beginn sagte: Du solltest nicht alleine grübeln. Lass uns darüber reden.“ Trygar sah hinauf zu den funkelnden Sternen, die rätselhafte Zeichen bildeten. „Ich mache mir Gedanken darüber, was es bedeutet, ein Mitglied des Schwarzen Ordens zu sein. Sieh mal, Duna: Ich weiß kaum etwas über die Schwarzen Brüder und Schwestern. Niemand hat mich gefragt, ob ich einer von euch sein will. Ich war zwar bereit, den Eid zu leisten, aber völlig unvorbereitet, als Gormen mir mitteilte, ich sei nun ein Schwarzer Kämpfer. Morgen werden rote Zeichen auf mein Gesicht tätowiert, und ich weiß noch nicht einmal, was sie bedeuten.“ „Ich werde dir sagen, was sie bedeuten. Es sind Wörter, die in einer alten Sprache verfasst sind, einer Sprache, die schon lange vor der Gründung des Alten Königreichs nicht mehr gesprochen wurde. Erschrick nicht: Es sind die Worte Wathan-Khas.“ Aber Trygar erschrak doch. “Ihr betet die böse Seite des Weltenerschaffers an?“ „Nein, Trygar. Wir trennen nicht zwischen beiden Aspekten Gottes. Und wir beten ihn auch nicht an. Im Gebet und in der Meditation sprechen wir mit uns selbst, mit dem Teil von ihm, der in uns ist. Wir müssen uns dabei immer und immer wieder bewusst machen, dass Welt und Gott mit ihren sämtlichen Schattierungen zwischen grau und bunt eine Ganzheit sind. Alles – jedes Ding, jedes Lebewesen – besitzt zwei Pole, zwischen denen es pendelt. Wir können nicht verhindern, dass unser Leben immer mal wieder 60 zur Seite Wathan-Khas ausschlägt. Aber wir müssen es erkennen und – so weit es in unseren Kräften steht – wieder gut machen. Wir stehen auf einem schmalen Grat zwischen einem steilen Hang hinauf zur Erlösung und einem tiefen Abgrund hinunter zur Verdammnis. Unsere Aufgabe im Leben ist es, das Gleichgewicht zu halten. Manchmal rutschen wir ab und müssen uns wieder hinaufarbeiten. Wenigen von uns gelingt es, ein kleines Stück den Hang hochzuklettern. Aber vor dem tiefen Abgrund müssen wir uns hüten. Die roten Zeichen stehen für Angst und Schmerz, als Gegensatz zu Freude und Glück, Hass als Gegenteil zur Liebe, Entbehrung, als Gegensatz zum Genuss, Einsamkeit als Gegenstück zur Geselligkeit, Ichbezogenheit und Selbstsucht als Widerpart der Nächstenliebe. Diese schlechten Gefühle hat jeder von uns einmal, aber wir müssen alles daran setzen, das Pendel wieder in die andere Richtung ausschlagen zu lassen. Daran sollen uns die Zeichen erinnern. Es ist nichts Dämonisches dabei. Aber es gibt noch ein weiteres Zeichen, man nennt es RHA. Es steht für den Tod. Dieses Pendel können wir nicht zurückschlagen lassen. Wenn wir bis zu unserem Tod nicht das richtige Gleichgewicht im Leben gefunden haben, ist es um uns geschehen. Daran müssen wir uns stets erinnern.“ Trygar nickte. „Ich verstehe jetzt ein wenig besser. Aber manches ist noch unklar. Warum trägt Athlan Gadennyn die Zeichen nicht? Er ist doch ein Magier, und als solcher hätte er in den Schwarzen Orden aufgenommen werden müssen?“ „Ja, das war vorgesehen, aber Nunoc Baryth hat es ihm zu Recht verwehrt. Er erkannte, dass der junge Novize niemals das Gleichgewicht zwischen beiden Aspekten Wathans finden würde. Athlan tendierte eindeutig zu Wathan-Khas Seite.“ „Ja, bis auf eine einzige Sache.“ „Was meinst du damit?“ „Ich meine den Tod. Er hat das Pendel zurückschlagen lassen und wurde wiedergeboren. Er hat ihn überwunden.“ „Nein, das siehst du falsch, Trygar. Das Zeichen RHA steht nicht für das körperliche Ableben, es steht für die ewige Verbundenheit zu Wathan-Kha. Wer diesen spirituellen Tod erlitten hat, kommt nie mehr zurück, auch wenn sein Körper wiedererweckt wurde. Er ist Wathan-Bejhi so fern, wie man es nur sein kann.“ 61 Gothers Flucht Das Pferd blieb einfach stehen. Gother trieb ihm die Hacken in die Flanken, doch es nützte nichts. Das erschöpfte Tier ließ den Kopf sinken und stellte die Vorderbeine weit auseinander, so, als ob es trinken wolle. Es zitterte am ganzen Körper. Sein Reiter erkannte schnell, dass es nicht mehr weiter konnte. Es war am Ende. Er stieg ab, löste den Sattelgurt, nahm Sattel, Decke und Zaumzeug ab und gab ihm einen Klaps auf die Hinterhand. Doch statt befreit davonzulaufen, brach die Stute einfach zusammen. Gother ließ sie liegen, schulterte den Sattel und ging zu Fuß weiter. Es konnte nicht mehr weit sein bis Helmseth. Vor einer knappen Stunde hatte er im Licht der untergehenden Sonne noch einen Blick auf die ferne Silhouette grauer Türme und Stadtmauern erhaschen können und sich die Richtung gut eingeprägt. Jetzt fragte er sich, ob er vielleicht doch in der Finsternis vorbeigeritten war. Die Stadt war bestimmt noch nicht zu Bett gegangen. Aber der Schein der Fackelbäume, die rund um den Marktplatz standen, und der Öllaternen hinter den Fenstern der Wirtshäuser wurde abgeschirmt durch die hohen Mauern. Es blieb ihm nichts weiter übrig als weiterzugehen. Zweihundert Schritt später stieß er auf eine Straße. Genauer gesagt, handelte es sich um einen unbefestigten, durch Randsteine markierten Reitund Fahrweg, tief gefurcht von den eisenbeschlagenen Rädern schwerer Fuhrwerke. Er folgte ihm in die Richtung, in die er die Stadt vermutete, und tatsächlich türmte sich bald ein massiver Schatten vor ihm auf, der die horizontnahen Sterne verdunkelte: die Stadtmauer. Das Tor war verschlossen. Er legte den Kopf in den Nacken und rief hinauf zum Torturm: „Hallo Torwächter, ein müder Wanderer bittet um Einlass.“ Er hörte das Klappern eines Ladens. Jemand hielt eine Fackel heraus. „Das Tor wird bei Sonnenuntergang geschlossen. Du kommst zu spät.“ „Mein Pferd hat sich ein Bein gebrochen, deshalb habe ich es nicht rechtzeitig geschafft. Es soll dein Schaden nicht sein, wenn du mich einlässt.“ „Was hast du da auf der Schulter?“ „Meinen Sattel.“ „Hm, da du kein Pferd mehr hast, brauchst du ihn ja wohl nicht mehr.“ „Du hast Recht. Ich schenke ihn dir, wenn du das Tor öffnest.“ „Nein, das Tor darf ich so spät nicht öffnen. Komm zum Fuß des Turmes, dort ist eine Tür. Ohne dein Reittier wirst du ja wohl hindurchpassen.“ Eine knappe Stunde später hatte Gother eine Schweinshaxe mit frischem Brot gegessen, einen Humpen Bier getrunken und sich einen verstaubten Heuboden zum Schlafen gesucht. Natürlich war er nicht so dumm gewesen, 62 ein Zimmer in einem Wirtshaus zu mieten, denn dort würden sie zuerst nach ihm suchen. Bevor er einschlief, dachte er noch an seinen Ausbruch und die Flucht aus dem Kloster. Er bedauerte nicht den Tod des Mönchs, der ihn bewacht hatte, wohl aber, dass er Winger hatte umbringen müssen. Aber es war notwendig gewesen. Er fühlte sich nicht als Mörder. Die bedingungslose Loyalität zu seinem Herrn rechtfertigte es, Menschen zu töten, die diesem im Weg standen. Ohne Gewissensbisse schlief er ein. Das leise kratzende Geräusch der Mäuse auf dem Holzboden weckte ihn. Durch ein Astloch stach ein Lichtbalken in den dunklen Raum. Er klopfte sich den Schmutz aus den Kleidern und kletterte die Leiter hinauf zur Dachluke. Kurz darauf stand er auf dem Dach und schaute hinab in die engen Gassen, durch die sich schon Ströme hastender Menschen schoben. Etwa eine Stunde blieb er, gedeckt durch einen Schornstein, dort stehen und beobachtete die Hauptstraße. Schließlich entdeckte er ihn, wie er es erwartete hatte: einen großem Mann in schwarzer Robe, das Gesicht von einer Kapuze geschirmt, einen Kampfstab auf dem Rücken. Er trat gerade aus einem Wirtshaus und sah sich suchend auf der belebten der Straße um. Natürlich war er nicht allein gekommen. Gother vermutete drei oder vier Verfolger. Als der Mann die Straße hinunterging, verfolgte ihn der Hauptmann über die flachen Dächer der dicht beieinander stehenden Häuser. Einmal erschreckte er eine Frau, die zwischen zwei Schornsteinen Wäsche auf eine Leine hängte. Doch er lächelte sie freundlich an, sodass ihr Argwohn verflog. Er hatte Recht gehabt: es waren drei. Sie trafen sich auf dem Marktplatz und beratschlagten eine Weile miteinander. Danach trennten sie sich wieder. Zwei folgten der Hauptstraße nach Westen, einer ging auf das östliche Stadttor zu. Gother ahnte, was sie vorhatten. Sie vermuteten ihn richtigerweise in Helmseth, sahen jedoch im Gewimmel der vielen Tausend Menschen keine Möglichkeit, ihn zu finden. Deshalb wollten sie die Stadttore bewachten, um ihn zu erwischen, wenn er die Stadt verließ. Der Hauptmann kletterte in einen dunklen Hinterhof hinab und verließ ihn durch eine schmale Gasse. Im Schatten der Häuser umrundete er den Marktplatz und trat bald darauf durch einen gemauerten Durchgang, über dem ein riesiges Schild mit der Aufschrift Karawanserei prangte, in den Innenhof eines großen Gebäudes. Der Hof war überfüllt mit hoch beladenen Zugwagen. In einer Einhegung, die von einem Holzzaun umgeben war, drängten sich zahlreiche nervös tänzelnde Pferde. In einem anderen Pferch standen dicht gedrängt etwa zwanzig Zugochsen, die mit stoischer Ruhe die Enge ertrugen. Offensichtlich bereitete sich hier eine Handelskarawane auf ihre Abreise vor. Gother trat durch eine offene Tür in die Eingangshalle der 63 Karawanserei, die von den Stimmen zahlreicher Menschen widerhallte. Kaufleute zählten ihre Waren, überprüften die Frachtlisten, brüllten ihren Unergebenen Anweisungen zu. Er quetschte sich an dem Strom der Träger vorbei, die schwer beladen mit Gütern zu den im Hof geparkten Karren wankten. In einer Ecke stand ein kleiner Tisch, dahinter saß ein Mann mit einer Feder in der Hand, der emsig einen großen Papierbogen beschrieb. Gother wandte sich an ihn. „Wohin geht die Karawane?“, fragte er. Der Mann sah unwirsch auf. „Dahin, wohin sie alle gehen: natürlich zum Meer, zum Hafen, zu den Schiffen. Was dachtest du denn?“ Der Hauptmann ignorierte den unhöflichen Ton. „Wann bricht sie auf?“ „Morgen früh. Bist du ein Händler?“ „Nein, ich suche eine Mitreisegelegenheit.“ „Dann stiehl nicht meine Zeit, sondern wende dich an den Kaufmann Om Gauzas. Das ist der in dem dicken Mantel, der am lautesten schreit. Es ist seine Karawane“, wimmelte ihn der Schreiber ab. Gother wandte sich um und ging auf den dicken Mann zu, auf den der Finger des Schreibers deutete. Der Mann sah tatsächlich so aus, wie sich ein armer Gassenjunge einen reichen Kaufmann vorstellte: Auf dem fetten Kopf trug er einen roten Turban, verziert mit Silberkettchen und Amethysten. Der Mantel war aus dunkelgrünem Brokat, reich bestickt und am Kragen mit feinem Pelz besetzt. Darunter lugte eine seidene Pumphose hervor. Die zierlichen Füße, von denen sich Gother kaum vorstellen konnte, wie sie ein Gewicht, das dem zweier Männer entsprach, tragen sollten, steckten in goldenen Schnabelschuhen. Der Karawanenführer hatte kleine, eng beieinander stehende Augen, wie schwarze Kiesel, die in den Fettwülsten seines unförmigen, teigigen Gesichts fast verschwanden. Der mürrisch verzogene Kleinmädchenmund wurde von einem dünnen Oberlippenbart und einem Spitzbart am Kinn umrahmt. Vor dem Dicken wartete geduldig eine Reihe schwer beladener Träger. Er verglich ihre Last mit den Punkten einer Frachtliste, die er in der Hand hielt. Gerade fuchtelte er wild mit den Händen herum und schnauzte den ersten in der Reihe, der ein blaues Stoffbündel trug, an: „Du hirnloser Idiot! Ich sagte: die smaragdfarbene Seide, nicht die saphirfarbene! Hast du noch nie einen Edelstein gesehen? Bring das Bündel wieder ins Lager zurück und pass auf, dass du den Stoff nicht mit deinem Schweiß versaust! Wenn du noch einmal mit falscher Fracht auftauchst, lasse ich dir das zweite Ohr auch noch abschneiden.“ Der Untergebene machte sich davon. Als er an Gother vorbeikam, sah dieser, dass dem Mann die rechte Ohrmuschel fehlte. 64 Der Hauptmann sprach den protzig gekleideten Dicken an: „Seid Ihr Om Gauzas, der Kaufmann?“ Der Mann wandte sich unwillig zu ihm um und sagte in barschem Ton: „Was willst du von mir?“ „Zuerst bitte ich Euch, mir die gleiche Höflichkeit zu erweisen, wie ich sie Euch entgegenbringe. Duzt mich nicht, sonst schneide ich Euch ein Ohr ab“, sagte er ruhig. Gauzas riss die Augen auf. Ein Hauch von Rot färbte seine Wangen und sein Mund wurde rund wie der eines Fisches, doch schnell gewann er seine Fassung wieder, und er grinste: „Oh, natürlich, Euer Gnaden. Verzeiht meine Gedankenlosigkeit, Euer Gnaden. Ich habe Euch nicht gleich erkannt. Ihr seid natürlich… oh, wie heißt Ihr noch gleich?“ „Mein Name ist Hauptmann Gother. Ich möchte Euch meine Dienste anbieten – falls Ihr sie bezahlen könnt.“ „Eure Dienste? Wobei könntet Ihr mir zu Diensten sein?“ „Beim Schutz Eurer Karawane. Ich bin ein guter Kämpfer.“ „Ein Ritter, der sein Schwert verloren hat, deucht mir.“ Gauzas blickte sinnend auf die leere Scheide an Gothers Gürtel. „Gebt mir eines, und ich zeige Euch, wie ich damit umgehen kann.“ Der Mann kniff die Augen zusammen. Er schien amüsiert. „Ist das Euer Ernst?“ Gother schwieg. „Na gut, du – verzeiht, ich meine: Ihr – sollt Euren Willen haben.“ Er wandte sich an einen seiner Träger. „Hol Osiris. Und ihr anderen: räumt einen Platz als Arena frei.“ „Wartet!“, sagte Gother. „Nicht hier.“ „Oh, ich verstehe. Vor so einer großen Menge wollt Ihr Euch nicht blamieren. Das kann ich natürlich verstehen. Aber keine Angst. Nach dem Kampf dürfte die Blamage Eure geringste Sorge sein.“ „Ich will kein Aufsehen erregen“, sagte Gother. „Einige Leute in der Stadt brauchen nicht zu wissen, dass ich Helmseth mit Eurer Karawane verlasse.“ „Ich fürchte, Ihr werdet nicht in der Lage sein, meine Karawane zu begleiten. Entweder Ihr dreht Euch jetzt um und geht, oder Ihr kämpft und tragt die Konsequenzen daraus.“ „Ich werde kämpfen, gegen wen Ihr wollt, doch nur zu meinen Bedingungen. Erstens: nicht in aller Öffentlichkeit. Zweitens: wenn ich gewinne, stellt Ihr mich ein.“ „Wie Ihr wünscht. Kommt mit.“ Gauzas gab noch einige Anweisungen und ging dann voran. Gother folgte ihm zu einer Treppe, die auf das flache Dach der Karawanserei führte. 65 „Hier kann Euch von unten keiner sehen“, sagte der Kaufmann. Kurz darauf erschienen drei Männer auf dem Dach. Der erste von ihnen war einer der Träger, dem Gauzas vorhin einen Befehl zugeraunt hatte. Er überreichte Gother ein schlankes Schwert. Gother überprüfte die Schärfe der Schneide und den Schwerpunkt. Zufrieden nickte er. Danach musterte er seinen Gegner, den zweiten Mann. Er war zwei Köpfe größer als der Hauptmann und trug das gewaltigste Schwert, dass er jemals gesehen hatte: einen mannslangen Zweihänder mit einer breiten Schneide. Gother bezweifelte, dass er selbst die Kraft haben würde, die Waffe zu schwingen. Dennoch: vor ihm stand ein langsamer, hirnloser Muskelprotz. Bevor dieser überhaupt ausgeholt haben würde, wäre der Kampf schon zu Ende. Doch er hatte sich in der Person seines Gegners gewaltig geirrt. „Stell dich vor, Osiris“, sagte der Karawanenführer. Neben dem Hünen wirkte der dritte Mann schmächtig wie ein Knabe. Er mochte um die fünfzig sein, war braungebrannt, hatte graue Augen und einen aschfarbenen Stoppelbart. Seine Gesichtszüge waren heiter und gelassen. Er war in einfaches, grobes Leinen gekleidet. An der Seite hing ein schlanker, leichter Säbel. Er nickte Gother zu: „Säbelmeister Osiris Egeth. Zu Euren Diensten, Herr. Ich hörte, Ihr wollt Euch mit mir messen?“ Osiris strahlte Zuversicht und Selbstvertrauen aus. Gother erkannte, dass er nicht den Fehler machen durfte, den Mann zu unterschätzen. Der ist ein viel gefährlicher Gegner als das muskelbepackte Monstrum, dachte er. „Hauptmann Gother“, stellte er sich vor. „Ich bedaure, dass ich Euch verletzen muss, aber Euer Herr will einen Beweis dafür, dass ich kämpfen kann, bevor er mich einstellt.“ Gauzas brüllte vor Lachen. „Ihr wollt Osiris verletzen? Köstlich! Nun, Osiris: schneide ihm die rechte Hand ab.“ Gother stellten sich die Haare im Nacken auf. Hatte er einen folgenschweren Fehler gemacht? Es war nicht zu ändern. „Lass uns beginnen“, sagte er und stellte sich in Kampfposition, eine möglichst geringe Trefferfläche bietend, das Schwert ausgestreckt. Osiris Egeth nahm eine ähnliche Haltung ein. Er tänzelte ein wenig auf den Fußballen und musterte Gother, so wie eine Gottesanbeterin ihr Opfer fixiert, bevor sie zuschnappt, um es in Stücke zu zerschneiden. Gother ahnte, sein Gegner würde schnell sein, sehr schnell. Gegen einen überlegen schnellen Kämpfer gab es nur eine Strategie, die der minimalen Bewegung. Für jemand, der langsam war, kostete eine weit ausholende Bewegung Zeit. Dies galt gleichermaßen für Angriff wie Verteidigung. Ein Angriff auf die Körpermitte war immer mit einer weit führenden Stoß- oder Schlagbewegung verbunden. Gother würde also nicht versuchen, seinen Gegner dort zu treffen. Er würde auch nicht zur Seite springen, wenn Osiris 66 angriff. Stattdessen würde er sich darauf konzentrieren, dessen Waffe mit einer möglichst kleinen Bewegung, die wenig Zeit kostete, abzuwehren, um dann Osiris’ Waffenarm zu treffen. Beide Gegner umkreisten einander, Osiris dabei tänzelnd, Gother breitbeinig und mit schlurfendem Schritt. Unvermittelt kam der Angriff des Säbelmeisters. Obwohl ihn der Hauptmann äußerst konzentriert erwartet hatte, wurde er dennoch beinahe überrascht, so blitzartig wurde er vorgetragen. Im letzten Moment gelang es ihm, seine Klinge vor die andere zu bringen. Klirrend schlugen die Waffen aneinander. Wie eine Hornisse stach Gother zurück. Er erwischte Osiris fast am Arm, aber eben nur fast. Der kleine drahtige Kämpfer war jetzt gewarnt. In diesem Moment wusste Gother: er würde verlieren. Da trat Osiris einen Schritt zurück und senkte den Säbel. „Nehmt den Mann, Om. Er ist gut.“ „Was? Ich sagte doch, du solltest ihm die Schwerthand abschneiden!“ „Es wäre eine Verschwendung. Nehmt Gother. Wir können jeden guten Mann gebrauchen. Ich rechne wieder mit Überfällen der Banditen.“ „Soll das heißen, er ist besser als du? Hast du Angst vor ihm?“ Osiris lächelte. „Nein. Er ist gut, sonst hätte er den ersten Angriff nicht überlebt. Ihr werdet in diesem Haufen von so genannten Kämpfern, die ich die Ehre habe, als Eure Eskorte zu befehligen, keinen finden, der ihm gewachsen wäre. Wenn Ihr meinen guten Rat wollt, dann stellt ihn ein. Wenn nicht, so lasst ihn gehen. Ich werde ihn jedenfalls nicht verletzen, und ich wage zu bezweifeln, dass es ein anderer könnte.“ „Du wagst es, dich meinem Befehl zu widersetzen?“ Osiris lächelte immer noch. „Ihr verkennt Eure Möglichkeiten, Om. Ihr könnt mir nichts befehlen. Ich arbeite für Euer Geld. Wenn Ihr noch einmal auf die Idee kommen solltet, mir einen Befehl erteilen zu wollen, suche ich mir einen anderen Arbeitgeber. Es gibt viele Karawanenführer und Kaufleute, die sich um meine Dienste reißen würden.“ Gauzas schien nicht gewohnt zu sein, dass man ihm widersprach, aber er sah auch, dass er zu weit gegangen war. Er versuchte, sein Gesicht zu wahren, aber die Wut ließ seine Stimme zittern. „Soviel Geld wie bei mir kannst du woanders gar nicht verdienen. Aber ich will deinem Rat folgen.“ Er wandte sich an Gother: „Findet Euch morgen in aller Frühe in der Karawanserei ein. Ihr werdet ein Pferd bekommen. Die Waffe könnt Ihr behalten. Reittier und Schwert gelten als Bezahlung für Eure Dienste. Wenn die Karawane Khor erreicht hat, zieht Eures Weges.“ 67 Er wandte sich um und watschelte zur Treppe. Der Hüne und der Mann, der Gother das Schwert gebracht hatte, folgten ihm. Nur Osiris blieb bei dem Hauptmann zurück. Der wandte sich an den kleineren Mann: „Ich danke Euch. Ihr wisst wie ich, wie der Kampf ausgegangen wäre. Ich gebe zu, ich hatte Angst, meine Hand zu verlieren.“ „Beinahe hätte ich meine verloren. Ihr habt mich wirklich überrascht, Hauptmann.“ Gother nickte. „Ich habe noch eine Bitte, Osiris. Ich möchte nicht, dass meine Abreise bekannt wird. Ich will Helmseth unerkannt verlassen. Seid so freundlich und besorgt mir ein paar andere Kleidungsstücke.“ Osiris lachte. „Habt Ihr die Frau eines anderen geschwängert? Gut, folgt mir. Wir werden Euch ein wenig verkleiden.“ Grom konnte kaum die Augen offen halten. Die ganze Nacht hatte er am westlichen Tor gewacht, und das, obwohl es über Nacht verschlossen war. Er hatte nicht riskieren wollen, dass Gother die Nachtwache bestäche, ihn hindurchzulassen. Aber der Hauptmann war nicht erschienen. Seit der Öffnung des Tores bei Morgengrauen herrschte reger Verkehr: zahlreiche Reiter, Fuhrwerke und Fußgänger verließen die Stadt. Groms Aufmerksamkeit wurde durch einen langen Zug von Wagen geweckt, der sich auf der Hauptstraße näherte: eine große Karawane, begleitet von einer Eskorte von Reitern. Er war alarmiert. Wenn sich Gother in einem der Wagen versteckt hätte, könnte er entkommen! Der Zugführer würde einem der in der Stadt nicht gerade beliebten Schwarzen Kämpfer kaum erlauben, die Karren zu durchsuchen. Der erste Reiter näherte sich dem Tor: ein kleiner Mann mit grauem Haar. Grom hatte ihn schon einmal gesehen. Osiris Egeth, der Säbelmeister, war bekannt wie ein bunter Hund. Er war der beste Fechter weit und breit und befehligte oft die Eskorten der großen und mit reichen Gütern beladenen Handelskarawanen, die zur Küste unterwegs waren. Die Überfälle der über die Grenze zu Pheldae eingesickerten Banden, die in ihrer eigenen Heimat kaum noch lohnende Beute fanden, wurden immer dreister und gewaltsamer. Schon manche unbewachte Karawane war ausgeraubt und die Reisenden waren brutal ermordet worden. Die Eskortenreiter wurden von Osiris handverlesen und stammten fast ausnahmslos aus dem kriegerischen Nomadenvolk der Heret. Diese dunkelhäutigen Reiter trugen ihre einheitliche Stammestracht: graue Hose und Hemd, einen gleichfarbigen Umhang und einen weißen Turban, mit dessen Tuchbahn sie ihr Gesicht verhüllten, sodass nur noch ein Sehschlitz übrig blieb. Sie waren gute Reiter und Kämpfer, und seitdem sie unter der Führung des kleinen Säbelmeisters die Karawanen beschützten, hatte es nach 68 einem für die Banditen fehlgeschlagenen und mit vielen Opfern bezahlten Versuch keine weiteren Überfälle mehr gegeben. Grom musste ohnmächtig zusehen, wie die Karawane der sechsundvierzig voll beladenen Wagen mit über hundert Personen auf den Kutschböcken und Ladepritschen durch das Tor fuhr. Wie viele Menschen mochten noch unter den Planen oder zwischen den Bündeln versteckt sein? Obwohl die Chance, Gother zu entdecken, gering war, musterte der Schwarze Kämpfer jedes einzelne Gesicht auf den vorbeiziehenden Karren. Die dunkelhäutigen Heret-Reiter beachtete er hingegen kaum, und so fiel es ihm nicht auf, dass einer von ihnen helle Augen hatte. Nachdem der letzte Wagen das Stadttor passiert hatte, verließ Grom seinen Posten und durchquerte die ganze Stadt, bis er zum östlichen Tor kam, wo er die beiden anderen Schwarzen Kämpfer Neb und Lobo traf, die diesen Ausgang bewachten. Sie schüttelten den Kopf. Nein, sie hatten niemanden gesehen, der eine nur entfernte Ähnlichkeit mit dem Entflohenen hatte. Grom erzählte ihnen von der Karawane. „Er kann entweder noch in der Stadt sein, oder er ist uns entkommen, sei es, mit der Karawane oder auf einem anderen Weg. Unsere Chancen schwinden mit jedem Augenblick, den wir länger hier verweilen. Lasst uns nach Khor aufbrechen. Ich denke, du hast Recht, Neb. Er wird dorthin gehen. Wir müssen sein Schiff vor ihm finden und werden ihn stellen, wenn er an Bord geht.“ Aturo Pratt, der Kanzler, verbeugte sich vor dem greisen König, der in letzter Zeit viel öfter wach und klar bei Verstand war, als in den Wochen zuvor. Der Herrscher saß einigermaßen aufrecht auf seinem Thron und strahlte ein gewisses Maß an Würde aus. Pratt würde sich vorsehen müssen. Der alte Mann war heute nicht leicht zu übertölpeln. „Ich bringe leider keine guten Nachrichten, Majestät. Es ist meinen Männern nicht gelungen, mehr über den Geheimbund der Raben herauszufinden. Nur so viel scheint gewiss: ein Großteil des Hauses der Lords ist darin verwickelt. Es gibt offenbar viel mehr Abtrünnige, als ich vermutet habe. Zwar gehören nicht alle von ihnen zum Rabenbund, der dürfte ein eher kleiner Kreis sein, aber sehr viele der Lords scheinen von ihm zu wissen und mit ihm zu sympathisieren. Mit diskreten Ermittlungen werden wir nichts über die Identität von Kolkrabe herausfinden, jedenfalls nicht schnell genug. Euer Leben ist weiterhin in Gefahr.“ Der alte Herrscher blickte seinen Kanzler mit trüben Augen an. „Was schlägst du vor?“ „Wir sollten in die Offensive gehen und die Lords mit einem großen Schlag ausschalten. Lasst sie alle verhaften, Majestät, unter der Anschuldi- 69 gung des Hochverrats. Doch nicht jetzt gleich. Die Fürsten sitzen bewacht und behütet in ihren Palästen und Burgen. Aber in zwei Wochen werden sie alle zur jährlichen Ratsversammlung hierher nach Inay kommen. Dann lasst uns zuschlagen. Wir können sie anschließend getrennt verhören, und einige der Festgenommenen werden reden, um ihre Haut zu retten. So werden wir den Rabenbund entlarven. Lasst seine Mitglieder hinrichten. Die anderen sollen Euch Treue schwören, oder sie werden verbannt.“ „Sie alle verhaften lassen? Auch Athlan, der mir doch treu ergeben zu sein scheint? Es wird einen Aufstand des Volkes geben, Aturo. Einige der Fürsten, wie Lord Gadennyn oder Lord Rhome, sind bei ihren Untertanen sehr beliebt.“ „Wir werden die Unschuldigen von den Schuldigen trennen, Majestät. Es wird sich sehr rasch herausstellen, wer loyal zu euch steht. Diese werden natürlich sofort frei gelassen und entsprechend belohnt. Dem Volk wird klar werden, dass Ihr kein willkürliches Recht ausübt, sondern Gerechtigkeit walten lasst.“ Bredos wiegte nachdenklich den Kopf hin und her. Sein silbernes Haar wogte wie Schaum auf der Brandung. „Ich weiß nicht. Ich will keinen Bürgerkrieg riskieren.“ „Mit Verlaub, Majestät: der würde mit Sicherheit ausbrechen, wenn ihr nicht handeltet. Sollte Kolkrabe nicht mit Hinterlist und Meuchelmord an die Macht kommen, wird er die offene Konfrontation mit Euch suchen. Zweifellos würde er einen Grund finden, Euch als schlechten Herrscher dastehen zu lassen. Hinter ihm stünden die meisten der Lords und deren Untertanen, also der größte Teil des Volkes.“ Der König schien auf einmal sehr müde zu sein. Er sackte in sich zusammen und sah nicht länger wie eine Ehrfurcht gebietende Person aus. Pratt hätte vielleicht Mitleid mit ihm gehabt, wenn er zu einem solchen Gefühl fähig wäre. „Ich werde darüber nachdenken. Lass mich jetzt allein.“ Spin erwachte mit Kopfschmerzen. Zuerst wunderte er sich, denn er hatte am Vorabend weder dem Wein zugesprochen noch einen Schlag auf den Kopf erhalten. Dann hörte er den krachenden Donner und den prasselnden Regen. Seine Wetterfühligkeit hatte ihm diesen unerhofften und lästigen Kater beschert. Er erhob sich und sah, dass die Mehrzahl der Pritschen im Schlafsaal leer war. Die letzten der Mönche standen gerade auf und streiften ihre Kutten über. Boc, der neben ihm geschlafen hatte, saß auf seinem Bett, kratze sich am Kopf und gähnte. „Guten Morgen, Spin. Der Herbst steht vor der Tür. Nicht gerade die richtige Zeit, um in die wilden Ostlande zu reisen.“ 70 „Noch reisen wir nicht ab. Heute steht zuerst Trygars Zeichnung als Schwarzer Kämpfer und morgen die Bestattung von Nunoc Baryth und dem anderen Mönch, den Gother ermordet hat, auf dem Plan. Auch muss noch der neue Abt gewählt werden, bevor wir endlich aufbrechen können. Ich schätze, eine Woche werden wir noch die Gastfreundschaft des Schwarzen Ordens genießen“, meinte der Waldläufer, dessen Kopfschmerz langsam abklang. „Vergiss nicht, wir sind jetzt selbst Ordensbrüder“, ermahnte ihn Boc. „Komm, lass uns mit unseren Brüdern und Schwestern frühstücken. Wo steckt der Junge überhaupt?“ Der Vermisste saß im Totenraum auf einer Bank, vor dem aufgebahrten Leib Nunoc Baryths. Es war dunkel in der von nur zwei Kerzen beleuchteten Kammer, und der schwache, süßliche Geruch der beginnenden Verwesung lastete wie ein unsichtbares Leichentuch auf Trygar. Er atmete schwer. Die Schuld am Tod des Abtes war wie ein Fallbeil auf ihn herabgesaust, kaum, dass er den Raum betreten hatte, hatte ihn tief getroffen und seinem Herzen eine klaffende Wunde beigebracht. Er hätte alles darum gegeben, mit dem Menschen in dem Sarg zu sprechen, ihm erklären zu können, wie Leid es ihm tat. Doch das ging nicht mehr. Nunoc war jetzt in der Unterwelt. Lange würde er dort nicht verweilen. Sein Platz war bei Wathan, mit dem sich seine Seele vereinen würde. Doch diese Erkenntnis nahm Trygar nicht die Last von den Schultern, linderte nicht seine Gewissensqual. Die Ordensleute hatten ihm verziehen, sogar Gormen und Duna, die Nunoc Baryth näher gestanden hatten als alle anderen. Aber Trygar konnte sich selbst nicht vergeben. Er hasste sich für seine Tat, die schlimmste von allen, die er begangen hatte. Beinahe wäre er dafür freiwillig in die Unterwelt gegangen. Aber etwas hatte ihn von dort zurückgeholt: die Pflicht, die Folgen seiner Tat ungeschehen zu machen oder wenigstens zu lindern. Doch jetzt war er verzweifelt und mutlos. Was konnte er schon tun? Er wollte nicht mehr töten, aber welchen anderen Weg gab es? Er bezweifelte, dass Spins Plan aufgehen konnte. Zpixs würde sich niemals in die Angelegenheiten der Menschen mischen. Also würde es an ihm, Trygar, liegen, Semanius das Amulett zu entreißen. Natürlich würde er dabei den Tod finden. Dem mächtigen Lordmagier war er nicht gewachsen. Trygar stand auf und blickte in den Sarg. Das wächserne Gesicht des Toten sah entspannt und friedlich aus. Er erfasste die Hand des Mannes, den er getötet hatte, nahm sie in die seine. Doch keine Kraft floss auf ihn über, kein erhofftes Gefühl des Trostes oder der Zuversicht ging von dem kalten Fleisch der Gestalt in dem Sarg aus. Nunoc Baryth war weg. Dies war nur seine verstorbene Hülle. Trygar ließ die Hand des Toten wieder los. Er wandte sich ab und ging hinaus. 71 Das polternde Geräusch weckte den Greis aus einem angenehmen Traum, dessen Inhalt eine Episode aus seiner glorreichen Vergangenheit war. Er schrak auf, und sein Herz raste. Sein Schlafzimmer war nicht völlig dunkel. Eine dicke Kerze brannte auf einem Tischchen neben seinem breiten Bett. Er setzt sich auf. Vielleicht war nur ein Buch aus einem Regal gefallen? Wo war Harberth? Wieder krachte es. Der alte König sah, wie die schwere Eichentür erzitterte, die den einzigen Zutritt zu seinen privaten Gemächern bot. Jemand hatte sich offenbar mit seinem ganzen Gewicht gegen die Tür geworfen und versuchte, mit Gewalt einzubrechen! Doch der eiserne Riegel hielt stand. Noch. Wo waren die Wachen vor seiner Tür? Was ging da draußen vor? Sollte er um Hilfe rufen? Eine Bewegung von links ließ ihn furchtsam zusammenschrecken. Doch es war nur sein Kammerdiener Harbeth, der in der kleinen Nebenkammer geschlafen hatte und jetzt mit schreckensgeweiteten Augen im Durchgang stand. Seine mageren, blaugeäderten Beine lugten aus dem langen Nachthemd hervor, das seine dürre Gestalt wie ein Leichensack einhüllte. Bredos legte einen Zeigefinder auf die Lippen und winkte ihn herbei. Plötzlich erklangen Schreie und Rufe von draußen. Waffen klirrten. Die beiden von Geburt so ungleichen und sich in ihrer Angst doch so ähnlichen Alten hörten, wie jemand wegrannte und von mehreren anderen Personen verfolgt wurde. Die Geräusche entfernten sich. Ein erstickter Schrei, dann war es still. König und Diener saßen nebeneinander auf dem baldachinüberdachten Bett des Monarchen und hielten sich an den Händen wie furchtsame Kinder. Sie warteten. Endlich klopfte es, und die vertraute Stimme eines Wachoffiziers bat höflich um Einlass. Der alte Diener schob den Riegel zurück, und ein großer Mann in der Rüstung der Palastwache trat ein. „Majestät, ein Mann hat versucht, in Eure Gemächer einzudringen. Er hat die beiden Wachen, die vor Eurer Tür standen, ermordet. Doch die Geräusche, als er versuchte, die Tür aufzubrechen, verrieten ihn. Eine Magd wurde wach und hat uns geholt. Wir haben den Eindringling gestellt und im Kampf getötet. Wie es aussieht, kennt niemand den Mann. Er scheint nicht zum Hof zu gehören.“ Der König war bleich. Seine aufgerissenen Augen stachen an dem Mann vorbei durch die leere Türöffnung. Er sah einen Arm in einer Blutlache liegen. Der Ärmel gehörte zu einem Gewand der Palastwache. „Hol den Kanzler, jetzt gleich“, sagte er. 72 Die Machtergreifung Aturo Pratt legte mit einem dünnlippigen Lächeln den vom König unterzeichneten Haftbefehl für die Mitglieder des Hauses der Lords in das geheime Fach seines Schreibtischs. Aus dem gleichen Fach holte er die vorbereiteten Briefe. Gadennyn hatte sie schon vor Wochen unterschrieben und mit seinem Siegel versehen. Alles lief genau nach Plan! Er verschloss die Geheimtür und klingelte nach seinem Sekretär. „Hast du die Boten sorgfältig ausgesucht?“ „Ja, Exzellenz. Es handelt sich um verschwiegene Burschen und hervorragende Reiter. Ihre Pferde sind wie befohlen gesattelt und sie zum sofortigen Aufbruch bereit.“ Pratt gab seinem Untergeben die Briefe. „Sie sollen sich sofort auf den Weg machen. Ich erwarte, dass alle Nachrichten bis spätestens übermorgen bei ihren Empfängern eintreffen.“ Drei Tage später brach Lord Rhome das Siegel Gadennyns und las mit gerunzelter Stirn die wenigen Zeilen. Mylords, etwas Schlimmes ist im Gange, eine Intrige, die das Haus der Lords aufs Schwerste bedroht. Ich bitte Euch: Kommt sofort auf meine Burg. Reist verkleidet und unerkannt und nehmt nur verschwiegene Männer als Eskorte mit. Ich erwarte Euch in fünf Tagen. Gebt auf keinen Fall das Ziel Eurer Reise bekannt. Am besten, Ihr vertraut euch niemandem an. Athlan Gadennyn, Lord von Shoala Die Adressaten waren alle gekommen: Rhome, Sagris, Golderhat, Whiney, Mulder, Bradley, Dage, Parrish, Froding, Amberline und Emmerlake. Nur Frye, Cunston, Merle, Getherdyle und Limbtower waren nicht erschienen. Kein Wunder: sie wussten nichts von dem Geheimtreffen. Gadennyn hatte ihnen keine Briefe geschickt. Die Versammelten saßen an der großen Tafel in der Felsenhalle, die der Lord von Shoala wieder hatte öffnen lassen. Die sprudelnde heiße Quelle sorgte für eine gleichmäßige, angenehme Temperatur. Die zahlreichen Fackeln an den Wänden rauchten kaum, und die Felsenhalle war in warmes Licht gebadet. Der Burgherr hatte seine engsten Berater ein wenig düpiert, als er auf ihre Teilnahme an der Versammlung verzichtet hatte. Er saß allein am Kopfende der Tafel und blickte auf die mächtigsten Männer Koridreas, die seinem Ruf gefolgt waren und nun miteinander tuschelten, offenbar voller Neugier, warum sie Gadennyn eingeladen hatte. Der erhob sich. 73 „Mylords, ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid und mir damit Euer Vertrauen geschenkt habt. Ich will Euch nicht lange auf die Folter spannen, sondern Euch gleich einen geheimen Erlass des Königs vorlesen, der mir in die Hände gefallen ist.“ Er rollte ein Pergament auf, dessen Siegel gebrochen war, und las: „Ich – Bredos, Lord von Inaysha, König von Koridrea – verfüge hiermit: Bei der diesjährigen Versammlung des Hauses der Lords in Inay sind alle seine Mitglieder am ersten Sitzungstag wegen des dringenden Verdachts des Hochverrats zu verhaften und unverzüglich in getrennten Räumen des Falkenturms unterzubringen. Blutvergießen ist bei der Festnahme zu vermeiden. Den Lords darf nichts geschehen. Ihre Eskorten sind zu entwaffnen und ebenfalls in Gewahrsam zu nehmen. Die Stadt wird vorläufig abgeriegelt. Sämtliche Tore sind zu verschließen. Es wird ein Ausgeh- und Versammlungsverbot verhängt. Diese Verfügung ist unbedingt geheim zu halten. Es sollen sechs Abschriften davon angefertigt werden, die folgenden Personen zuzustellen sind: Aturo Pratt, Kanzler Major Botho Landon, Befehlshaber der Palastwache, General Derec Winsten, Oberbefehlshaber der Armee, Retho Nasser, Leiter des königlichen Geheimdienstes, Duncan Broadway, Befehlshaber der Stadtwache, Leif Rowbart, Bürgermeister von Inay. Planung und Durchführung der Maßnahmen unterliegen dem Kanzler. Alle seine Anweisungen sind zu befolgen. Die übrigen Adressaten dieser Verfügung werden angewiesen, die entsprechenden Schritte vorzubereiten, bis auf weiteres aber keine Untergebenen oder andere Personen über diesen Befehl zu informieren. Stattdessen sollen sie als Grund für die Vorbereitung eine Übung zum Schutz des Landes und Herstellung der Sicherheit angeben. Eine entsprechende königliche Anweisung wird vorbereitet und ihnen in Kürze zugestellt. Seine königliche Hoheit, Bredos von Inaysha, am zweiundsiebzigsten Tag nach der Sommersonnenwende des Jahres 1692.“ Stille klang laut durch die Felsenhalle. Aus weiter Ferne – irgendwo in den tiefer gelegenen Höhlen – hörte man Tropfen von den Stalaktiten auf den Felsboden fallen, Tropfen, die seit Jahrtausenden Kalk zu Stalagmiten aufschichteten. Sonst war kein Laut zu vernehmen, nicht einmal das Atmen der am Tisch Sitzenden. Es war, als hätten die Anwesenden die Luft angehalten. Endlich räusperte sich Lord Rhome. Seine Stimme knarrte wie eine ungeölte Türangel. „Lasst mich bitte den Befehl sehen.“ 74 Gadennyn ging hinüber zu dem alten Löwenkopf, um dessen braune, lockige Mähne, die trotz seines hohen Alters nur wenig Grau zeigte, ihn manche Frau beneidete, und gab ihm das Pergament. Der Lord prüfte das gebrochene Siegel. „Es ist zweifellos echt. Woher habt Ihr es?“ „Natürlich von Aturo Pratt, dem Kanzler.“ „Eurem loyalen Diener.“ „Nein, Mylord, nicht meinem Diener, sondern dem Diener des Reiches. Aturo Pratt ist loyal, ja, aber diese Loyalität gilt vor allem unserem Land und Volk, danach erst dem König und dem Haus der Lords gleichermaßen. Der Kanzler hat sofort erkannt, dass der König mit diesem Befehl einen Bürgerkrieg heraufbeschwört. Deshalb hat er mir seine Abschrift geschickt. Und ich habe Euch sofort benachrichtigt.“ Lord Mulder, der neben Rhome saß und an den dieser das Pergament weitergereicht hatte, meldete sich zu Wort: „Zeitlich scheint mir das unstimmig zu sein, Lord Gadennyn. Wie ich aus dem Datum des Erlasses sehe, habt Ihr die Briefe an uns bereits zwei Tage danach abgeschickt. Wie konntet Ihr so schnell von dem Befehl erfahren?“ Gadennyn stieß einen Pfiff aus. Ein geflügeltes Etwas schoss aus einer dunklen Nische und ließ sich auf der mit einem dicken Lederstück gepolsterten Schulter des Lords nieder. Es war ein Falke. „Das ist der Bote, Mylords, mit dem ich Nachrichten mit Pratt austausche. Er benötigt zwölf Stunden von Inay bis hierher.“ Mulder nickte. Inzwischen war das Schriftstück von Hand zu Hand weitergereicht worden und lag nun wieder vor dem Gastgeber, der auf seinen Platz zurückgekehrt war. Er nahm den Vogel von seiner Schulter und warf ihn in die Luft. Das Tier breitete die schlanken Flügel aus und flog in seine Nische zurück. Amberline ergriff das Wort. Seine Stimme klang schrill. „Was um alles in der Welt ist in Bredos gefahren? Ist er schon so senil, dass er halluziniert? Wie kommt er auf Hochverrat? Vielleicht ist das nur ein Vorwand, um das Haus der Lords zu entmachten? Vielleicht will er sich zum Despoten aufschwingen? Wie auch immer: wir müssen ihm zuvorkommen!“ „Er ist der Hochverräter!“, polterte der bärenhaft wirkende Parrish, Lord von Tatsouhana. „Er gefährdet den Frieden des Königreichs, indem er die Gewaltenteilung zwischen König und Haus der Lords aufheben will.“ Fast alle Fürsten standen auf, schrieen lautstark durcheinander, hieben mit der Faust auf den Tisch oder machten ihren Unmut auf andere Weise Luft. Nur Rhome, Fürst der ländlichen Provinz Sandaba, der Älteste der 75 Anwesenden, blieb ruhig und scheinbar unbeteiligt sitzen. Nachdem der Tumult endlich abgeklungen war, fragte ihn Gadennyn: „Was sagt Ihr dazu, Lord Rhome?“ Der Angesprochene war ein großer, kräftiger Mann, der die Siebzig weit überschritten hatte, doch das sah man ihm nicht an. Sein wettergegerbtes, von der braunen Lockenpracht umrahmtes Gesicht konnte als das eines Fünfzigjährigen durchgehen. Seine Manneskraft war legendär. Er war bereits zum sechsten Mal verheiratet und hatte gerade sein neunzehntes Kind gezeugt, die Anzahl der Bastarde, die er jungen Bäuerinnen und Mägden seines kleinen Reiches gemacht hatte, gar nicht mitgezählt. Rhome war, wenn man die ärmliche Provinz, über die er herrschte und die nicht einmal eine Hauptstadt besaß, seine winzige Burg, den mickrigen Hofstaat und seine gerade einmal dreißig Bewaffneten betrachtete, der am wenigsten Mächtige unter den Fürsten, aber er war sehr klug, besaß ein Charisma wie kein anderer der Lords und war ausnehmend beliebt. Er war auch der Einzige, dessen Intellekt dem Gadennyns ebenbürtig war. Jetzt blickten seine braunen Augen den Gastgeber der Runde unverwandt an. „Bredos ist zwar alt und bisweilen recht verwirrt, aber ich kann mir nicht vorstellen, dass er am Ende seiner Herrschaft, ohne Thronfolger dastehend, die ganze Macht an sich reißen will. Wenn er Glück hat, währt sein Leben noch ein bis zwei Jahre. Warum sollte er jetzt auf einmal so machtgierig werden? Was hätte er davon? Nach seinem Tod würde das Land im Bürgerkrieg verbluten, wenn er jetzt alle möglichen Nachfolger beseitigte. Nein. Ich glaube nicht, dass Ihr Recht habt, Amberline, und er sich unter einem Vorwand zum Despoten aufschwingen will. Es gibt nur zwei vorstellbare Gründe für den Haftbefehl: Entweder hat ihm jemand aus Eigennutz in den Kopf gesetzt, dass es Verräter unter uns gibt, oder es ist wirklich so.“ „Was meint Ihr damit?“, fragte Bradley. „Ihr glaubt doch nicht, dass unter uns Umstürzler sind?“ „So ein Unsinn!“, polterte Sagris. „Irgendjemand am Hof plant da eine Intrige und hat es Bredos eingeflüstert.“ Gadennyn erhob sich wieder. „Mylords, Rhome hat leider Recht. Vor wenigen Tagen wurde ein Mordanschlag auf den König ausgeübt, dem dieser nur knapp entgangen ist. Ich weiß nicht, wer der Urheber dieses Attentats ist, aber dem Geheimdienst des Königs ist der folgende Brief, von dem mir Pratt eine Abschrift zugesandt hat, in die Hände gefallen. Sein Inhalt dürfte Euch gleichfalls interessieren.“ Der Lord von Shoala holte ein zusammengefaltetes Stück Papier aus seinem Ärmel, entfaltete es und las vor: 76 Krähe: Rufe die anderen Schwarzgefiederten zusammen. Es ist soweit. Drei von uns – du weißt, wen ich meine – wollen nicht länger warten. Silberhelm kann hundert und mehr Jahre alt werden, so wie Pratt ihn hütet und pflegt. Wir müssen ihn in die Unterwelt schicken. Ich werde euch verkünden wann, wo und wie. Auch Gadennyn kann uns nicht aufhalten. Wir treffen uns in drei Tagen im Horst. Der Brief ist unterzeichnet mit ‚Kolkrabe’.“ „Verdammt. Der Rabenbund!“, fluchte Golderhat. „Ich habe seine Existenz immer für ein Gerücht gehalten.“ Gadennyn hätte beinahe laut aufgelacht, doch er beherrschte sich im letzen Moment. Der Idiot Golderhat ahnte nicht, dass er selbst der Grund für die Entstehung des Gerüchts gewesen war. Der Geheimbund hatte natürlich nie existiert. Vor zwei Jahren war Gadennyn die Legende zugetragen worden. Seine Nachforschungen hatten schnell zum Erfolge geführt. Urheber war ein erfolgloser, damals in Shoal lebender Hofdichter, der verbittert war über seinen ehemaligen Mentor Golderhat, welcher ihn entlassen hatte, weil ihm seine Gedichte zu feinsinnig waren und dem Lord zu wenig ‚Lebensfreude’ ausstrahlten. Sein Nachfolger dichtete recht deftig über schöne und willige Frauen und das, was der große Golderhat mit ihnen anstellte, was diesem natürlich viel besser gefiel als die langweilige Minnekunst des verstoßenen Poeten. Der war deshalb über den Lord sehr vergrämt und gab auf seinen Kneipenzügen und Saufgelagen die Geschichte vom Bund der Raben zum Besten, einem bösen Geheimbund, an dessen Spitze ein mächtiger Fürst stünde. Der Dichter meinte damit natürlich seinen früheren Herrn Golderhat, doch er hütete sich, einen Namen zu nennen. Die Fabel von dem gefährlichen Rabenbund verbreitete sich schnell in Koridrea und wurde von zahlreichen Möchtegernpoeten weiter ausgeschmückt. Damals entstand in Gadennyns Kopf die Idee, die zum sorgfältig ausgearbeiteten Plan führte, dem er heute nachging. Die Mär vom Rabenbund kam ihm sehr zupass, deshalb verschwand der Dichter in einem mit Steinen beschwerten Sack im Meer, zwei Meilen vor der Küste von Shoala. Natürlich glaubten weder die Fürsten, noch die Hofbeamten und der Geheimdienst an die Existenz des Geheimbundes, jedenfalls nicht bis heute. Gadennyn ergriff wieder das Wort. „Dieser Brief belegt, dass der Bund der Raben wirklich existiert. Leider weiß ich nicht, wer ‚Kolkrabe’ ist noch wo sich der ‚Horst’ befindet. Allerdings habe ich eine Vermutung. Wie Ihr ja unschwer bemerkt haben dürftet, sind einige der Fürsten heute nicht anwesend. Ich habe sie nicht eingeladen. Der Grund ist: der abgefangene und getötete Bote der Nachricht hatte eine Tätowierung am Arm, die das Wappen von Deadren zeigt.“ 77 Deadren war ein ehemaliges Fürstentum, das einst fast ein Drittel des östlichen Koridrea eingenommen hatte. Vor mehr als hundert Jahren hatte der Lord von Deadren versucht, sich an die Macht zu putschen. Der Aufstand war von der königlichen Armee blutig niedergeschlagen und der Fürst hingerichtet worden. Danach wurde Deadren in fünf kleine Provinzen aufgeteilt, die den Lords unterstanden, die heute nicht mit an der Tafel saßen. „Ihr meint also, Limbtower, Merle, Frye, Cunston und Getherdyle könnten den Bund der Raben bilden?“, fragte der fette Froding. „Es wäre möglich, aber wir können nicht sicher sein“, antwortete Gadennyn. „Wenn ich ehrlich sein soll, Mylords, vertraue ich angesichts der Umstände keinem mehr, nicht einmal den Anwesenden. Ich hoffe, Ihr verzeiht mir das.“ Rhome nickte. „Ihr habt Recht. Die Tätowierung des Boten ist kein Beweis. Wahrscheinlich gehören einige von denen, die hier nicht am Tisch sitzen, zum Rabenbund, aber wer sagt, dass das alle sind? Es ist gut möglich, dass sich Kolkrabe oder einer seiner Mitverschwörer in diesem Raum befindet. Aber mit diesem Problem müssen wir uns später befassen. Zunächst sollten wir uns mit dem nahe Liegenden beschäftigen. Ich für meinen Teil weiß, dass ich unschuldig bin, und habe nicht vor, mich verhaften zu lassen. Was schlagt Ihr also vor, Gadennyn? Ich wette, Ihr habt schon einen Plan.“ „Nun, vielleicht eine Idee. Ich sehe die größere Gefahr aber in dem Mann, der sich Kolkrabe nennt, nicht in dem alten, senilen König. Natürlich steht Pratt auf unserer Seite, wieso hätte er uns sonst gewarnt? Ich denke, er wird einen Grund finden, unsere Verhaftung zu verhindern. Ich habe vor allem die Befürchtung, dass Kolkrabe, wer immer hinter diesem Decknamen steckt, einen alternativen Plan ausgeheckt hat, nachdem der von ihm befohlene Mordanschlag auf den König gescheitert ist. Er wird zweifellos in Kürze zuschlagen, um die Macht zu ergreifen. Kolkrabe ist offenbar ein skrupelloser Mann, dem man das Reich nicht anvertrauen darf. Was würde geschehen, nachdem er den Thron erobert hätte? Er würde – mit der Armee im Rücken – versuchen, auch das Haus der Lords zu entmachten. Seine Anhänger unter den Fürsten gingen dann gestärkt hervor und würden wahrscheinlich mit Ämtern am Hof, Ländereien oder Gold belohnt werden. Aber den Lords, die dem Rabenbund nicht angehören, dürfte es schlecht ergehen. Das dürfen wir nicht zulassen! Ich habe Euch gebeten, hierher zu kommen, um einen Nachfolger für König Bredos zu wählen.“ Ein Raunen ging durch den Raum. Was Gadennyn da vorschlug, schien Hochverrat zu sein. 78 „Ihr meint, wir sollten Kolkrabe zuvorkommen, Bredos entmachten und einen von uns auf den Thron setzen?“, fragte Lord Dage. „Nein, Mylords. Natürlich soll der König herrschen, solange es Wathan gefällt. Aber wir müssen wachsam sein. Im Fall eines Putsches durch den Bund der Raben sollten wir uns einig sein. Zusammen – und mit Pratt als Verbündetem – sind wir stark genug, die Machtübernahme zu verhindern und den König zu schützen. Sollte es Kolkrabe aber dennoch gelingen, Bredos töten zu lassen oder mit anderen Intrigen vom Thron zu stoßen, müssen wir bereit sein. Wir dürfen nicht erst dann damit beginnen, um die Nachfolge zu streiten. Kolkrabe wird uns keine Zeit dafür lassen und unsere zu erwartende Zerstrittenheit ausnutzen, um schnell die Macht zu ergreifen. Wenn wir hier und heute die Nachfolge festlegen, und den Mann, der die Thronfolge antreten wird, mit allen unseren Mitteln unterstützen und beschützen, können wir die Machtergreifung durch Kolkrabe verhindern. Natürlich wird dieser Nachfolger erst zum rechtmäßigen Herrscher werden, wenn Bredos stirbt oder freiwillig zurücktritt. Ich will keinen Putsch, sondern einen geordneten Übergang, der das Reich zusammenhält und die Teilung der Macht im Sinne des Volkes beibehält. Bedenkt, wir stellen heute die Mehrzahl des Hauses der Lords. Unsere Wahl wäre nach dem Gesetz rechtsgültig, obwohl nicht alle Mitglieder anwesend sind. Natürlich wird der Bund der Raben davon erfahren, selbst wenn wir das Glück hätten, dass keines seiner Mitglieder heute an diesem Tisch säße – was ich übrigens nicht glaube. Aber er könnte kaum etwas tun, um die Wahl rückgängig zu machen, außer, den Gewählten zu ermorden. Deshalb bedarf der unseres Schutzes. Ich werde dem, der gewählt wird, einhundertfünfzig Männer meiner Burgwache zur Verfügung stellen.“ In der nächsten Stunde berieten die Lords Gadennyns Vorschlag. Nicht alle waren damit einverstanden, und es entwickelte sich eine kontrovers geführte Diskussion. Sagris und Whiney gerieten gar in einen heftigen Streit. Doch Whiney, der gegen die Wahl eines Nachfolgers von König Bredos war, sah sich bald allein. Schließlich gab er nach. „Na gut, ich füge mich der Mehrheit. Doch wen sollen wir wählen? Gadennyn sagt, einer oder mehrere der Raben könnten unter uns sein. Ich traue keinem von Euch.“ Sagris lachte: „Ihr seid ein gebranntes Kind, Whiney, weil Euch Mulder und Dage unter den Tisch getrunken und Ihr eine Wette verloren habt. Ich gebe zu, wir alle haben gelacht, als wir erfuhren, dass Mulders Mundschenk Ziegenpisse in Euren Wein getan habt, von der Euch so schlecht wurde, dass Ihr kotzen musstet. Aber das waren Streiche, die sich auch ehrenwerte Männer gelegentlich spielen.“ Whiney wurde rot im Gesicht, vielleicht vor Ärger, vielleicht aus Scham. Doch Gadennyn nahm den Genarrten in Schutz: 79 „Lord Whiney hat leider Recht. Ich weiß selbst nicht, wen wir wählen sollten. Ursprünglich wollte ich Lord Rhome vorschlagen, doch jetzt – verzeiht Mylord – traue ich auch Euch nicht mehr voll und ganz. Kolkrabe ist sehr klug und ein guter Stratege. Ihr besitzt diese Fähigkeiten ebenfalls.“ Rhome lächelte. Er schien sich nicht beleidigt zu fühlen. „Ihr ehrt mich, Gadennyn. Vielleicht sollten wir dann Lord Golderhat wählen. Sein schlichtes Gemüt kann kaum das eines gerissenen Verräters sein.“ Die Hälfte der Lords brach in Gelächter aus. Golderhat schaute verdutzt. Ihm fehlte die schnelle Auffassungsgabe. Er hatte doch tatsächlich gedacht, Rhome wollte ihn als Kandidaten unterstützen. Doch der hob die Hand und brachte die Lacher zum Schweigen. „Trotz Eurer Vorzüge, die vor allem aus Milde und Gutmütigkeit bestehen, glaube ich aber nicht, dass Ihr für das Amt des Monarchen geeignet seid, Golderhat. Das soll keine Herabsetzung sein. Ihr seid mir allemal lieber als… Doch lassen wir das. Ich selbst habe keine Ambitionen auf den Thron, obwohl ich jedenfalls meine Nachfolge garantieren könnte, wobei mir einfällt, dass Ihr eine meiner hervorstechendsten Fähigkeiten zu erwähnen vergaßt, Lord Gadennyn: meine Zeugungsfähigkeit. Immerhin stünden mir elf Söhne als Thronfolger zur Verfügung.“ Sagris stieß ein Kichern aus: „Hervorstechend ist gut, hihi. Ihr seid ja wirklich ein allbekannter Stecher, Rhome. Jede ehemalige Jungfrau in Sandaba weiß ein Lied von Eurem gewaltigen Stechwerkzeug zu singen.“ Wieder grölten die Lords, bis Rhome ungerührt fortfuhr: „Aber natürlich kennen wir alle einen Mann, dem wir bedingungslos vertrauen können. Den Mann, der uns gewarnt und das Komplott aufgedeckt hat, den Mann, den Kolkrabe in seinem Schreiben an Krähe als seinen Gegner bezichtigt. Ich spreche von unserem Gastgeber, Lord Gadennyn. Er, der gleichermaßen loyal zum Monarchen wie zum Haus der Lords steht, dem das Wohl unseres Landes über seine eigenen Ansprüche geht, der daher bescheiden auf eine Kandidatur verzichtet hat, wäre wie kein anderer geeignet, unser König zu sein.“ Die Vorbereitungen für die jährliche Versammlung des Hauses der Lords liefen mit voller Kraft. Die Stadt war geschmückt und herausgeputzt wie jedes Jahr um diese Zeit. Den ganzen Tag über trafen die Fürsten ein, begleitet von ihren Eskorten aus Rittern in schimmernden Rüstungen, die auf mächtigen Schlachtrössern vor und hinter den prunkvollen Wagen ihrer Herren durch die von jubelnden Menschen gesäumte Hauptstraße zum Palast paradierten. Am lautesten jubelte die Menge, als sie das Banner von Lord Rhome sah, der sich trotz seines hohen Alters nicht in einer Kutsche 80 chauffieren ließ, sondern an der Spitze seiner Männer durch das Stadttor einritt. Fast ebenso umjubelt war die späte Ankunft von Lord Gadennyn, dessen Tigerbanner wie schmelzende Glut in der tief stehenden Sonne brannte. Heute Nacht würde ein Fest gefeiert werden. Die Einwohner von Inay nahmen die jährliche Versammlung der Lords in der Hauptstadt traditionell zum Anlass, um zu tanzen, zu musizieren und zu trinken. Auf jedem Platz waren Stände und Bühnen errichtet worden. Musiker stimmten bereits ihre Instrumente. Wein- und Bierfässer wurden angestochen. Voller Vorfreude zogen die Menschen durch die Straßen, warfen Blicke auf die vornehm gekleideten Ritter, die, nachdem ihre Herren ihre Zimmerfluchten und Suiten im Königspalast bezogen hatten, vom Dienst frei gestellt waren und durch die Stadt flanierten. Die Lords würden heute Nacht auf einem prächtigen Ball im Palast die offizielle Eröffnung der diesjährigen ordentlichen Sitzungsperiode feiern, bevor diese morgen begänne. Der Kanzler würde sieben vom König genehmigte neue Gesetze vorlegen, und die Fürsten würden eine Woche lang darüber debattieren, hier und da eine Kleinigkeit verändern und schließlich abstimmen. Es gab keine Streitpunkte im Vorfeld. Die Bevölkerung rechnete mit einem harmonischen Verlauf. Die Menschen waren stolz auf Koridrea, das vom König und den Lords so weise regiert wurde. Natürlich wusste man um die zunehmende Demenz des alten Herrschers, aber Aturo Pratt war genau zum richtigen Moment Kanzler geworden. Er füllte das durch die Senilität Bredos’ entstandene Machtvakuum klug aus. Nach wie vor liebte das Volk den alten König und sah ihm seine Schwäche nach. Doch keiner seiner Untertanen ahnte, dass er in Lebensgefahr schwebte, dass ein Putsch geplant war und dass heute Nacht eine Ausgangssperre verhängt werden würde. Niemand sah auch nur im Geringsten das aufziehende Chaos voraus. Nur zwei Menschen wussten, was geschehen würde: Athlan Gadennyn und Aturo Pratt. Der Kanzler war äußerst nervös. Wenn etwas schief ginge, würde es allein an ihm hängen bleiben. Doch er hatte keine Wahl. Er befand sich völlig in Gadennyns Hand. Sollte er dem mächtigen Lord die Gefolgschaft verweigern, würde er wegen eines Mordes an einer Frau aus dem gemeinen Volk am Galgen gehenkt. Dieses Weib zu begehren, die Frau eines Zimmermanns, der zum persönlichen Baumeister des Lords aufgestiegen war, war der größte Fehler gewesen, den Pratt je begangen hatte. Sie hätte ihn an Winger verraten, soviel stand fest. Ihr Tod war deshalb unvermeidlich gewesen. Pratt war in den letzten Tagen enorme Risiken eingegangen, und er fragte sich, ob das gut gehen konnte. Er hatte die ursprünglichen Haftbefehle des Königs nicht an die vorgesehenen Adressaten weitergeleitet, sondern neue Befehle verfasst, die im Wesentlichen mit dem Schluss der königli- 81 chen Verfügung übereinstimmten. Befohlen war nun eine geheime Übung zum Schutz des Landes und zur Herstellung der Sicherheit. Stadtwache und Palastwache waren darauf vorbereitet, einen Aufstand niederzukämpfen und die Stadt abzuriegeln. Doch natürlich ahnten sie nicht, dass das heute Nacht wirklich geschehen würde. Pratt hatte die letzten Tage mit der Angst verbracht, der König würde einen der Befehlsempfänger, etwa Major Botho Landon, Befehlshaber der Palastwache, zu sich rufen, um mit ihm weitere Einzelheiten der bevorstehenden Verhaftung der Fürsten zu besprechen, oder um sich zu vergewissern, dass alles nach Plan lief. Deshalb war er täglich mehrmals beim König gewesen, um ihm selbst von den getroffenen Vorkehrungen zu berichten und ihm zu versichern, dass er alles im Griff hatte. Zum Glück war der König wieder in eine seiner kindlichen Phasen gefallen. Sein Desinteresse an Pratts Berichten war unübersehbar. Nur noch diese Nacht, dann war alles überstanden. Jetzt stieg der Kanzler mit einer rußenden Fackel in der Hand eine steile, ausgetretene Wendeltreppe hinab und verzog das Gesicht, als ihm der heraufsteigende Modergeruch in die Nase stieg. Unten angekommen, folgte er einem Gang, dessen Wände mit ekelhaftem, grünem Schimmel überzogen waren, und erreichte ein altes, längst nicht mehr genutztes, feuchtes Verliesgewölbe, weit unterhalb des Palastkellers. Rechts und links zweigten morsche Eichentüren zu Zellen ab, in denen seit Jahrzehnten nur noch die Ratten hausten. Er öffnete eine knarrende Tür und betrat eine Kammer, in der ein Tisch und einige Stühle standen. Es handelte sich um Pratts privaten Ort für konspirative Treffen. Kein anderer Bewohner des Palastes kannte diesen Raum. Der, den er dorthin bestellt hatte, wartete schon auf ihn. „Hat dich jemand auf dem Weg hierher gesehen?“, fragte der Kanzler. Der Mann schüttelte den Kopf. Er war sehr klein, kaum größer als ein zwölfjähriger Knabe. Sein Gesicht war eine ausdruckslose Maske. „Hast du ihn besorgt?“ Der andere nickte stumm. Aus einer Tasche, die an einem Riemen über seiner Schulter hing, holte er ein Messer und legte es auf den Tisch. Der Dolch trug auf seinem Griffknauf ein landesweit bekanntes Wappen. Der Kanzler nickte grimmig und holte einige Schriftstücke aus seinem Ärmel. Es waren zwei versiegelte Briefe und zwei weitere Schreiben: eine Schenkungsurkunde, ausgestellt auf ein Stück Land, und eine kurze Notiz, auf der ein Ort und eine Stunde genannt und ein Weg über ein Dach zu einem bestimmten Schornstein beschrieben war. Der Kanzler hatte sie bei einem der besten Fälscher inkognito in Auftrag gegeben, der jede Handschrift täuschend echt kopieren konnte. Er gab die beiden versiegelten Briefe dem kleinen Mann. Der sah ihn fragend an. Pratt schüttelte den Kopf. 82 „Was darin steht, geht dich nichts an. Verstecke sie bloß an den Orten, die ich dir genannt habe.“ Er reichte ihm auch die Schenkungsurkunde. „Ich will, dass du das bei dir trägst, wenn es soweit ist.“ Der Mann nickte. Zum Schluss gab ihm Pratt die Notiz. „Um den Kammerdiener mach dir keine Sorgen. Er wird durch einen Schlaftrunk außer Gefecht gesetzt sein. Aber es wird schwierig werden, hineinzukommen. Hast du damit ein Problem?“ Die schmächtige Gestalt las die Wegbeschreibung genau durch, dann schüttelte sie verneinend den Kopf. Pratt nickte zufrieden und überreichte dem Mann einen kleinen, aber schweren Beutel. „Du wirst sehr großzügig entlohnt, Spinne. Du weißt ja, um welche Summe es sich handelt. Deine Frau und deine Tochter werden damit bis zu ihrem Lebensabend ein gutes Auskommen haben. Aber vergiss nicht: Solltest du versagen, wird deine Familie dafür büßen!“ Der mit dem Namen ‚Spinne’ Angesprochene sagte nichts. Er nahm den Dolch in die Hand und blickte Pratt nur an. In seinen Augen loderte der Wahnsinn. Der Kanzler bekam es mit der Angst zu tun, als ihm auf einmal bewusst wurde, welch gefährlichem Mann er gegenüberstand. Der andere steckte den Dolch und die Papiere in seinen Beutel und verließ wortlos die enge Kammer. Pratt, der die Luft angehalten hatte, atmete tief aus und ließ sich auf einen Stuhl sinken. Er wusste, weshalb die Spinne in der einseitigen Unterredung stumm geblieben war: ein Arzt hatte dem Mann vor zwei Monaten die vom Krebs überwucherte Zunge herausgeschnitten, aber damit die bösartige Krankheit nicht aufhalten können. Inzwischen war sein Körper voller Geschwulste. Die Tumore bereiteten ihm unerträgliche Schmerzen, die er selbst mit starken Rauschmitteln kaum noch betäuben konnte. Das Feuer in seinen Augen war nicht das der Wut auf den Kanzler, sondern das der unsäglichen Qual gewesen. Er war dem Tod geweiht, doch er würde nicht abwarten, bis der ihn holte. Heute Nacht würde die Spinne ihren letzten Auftrag ausführen und danach in den Freitod gehen. Die ganze Sorge des schmächtigen Mannes, einem gefürchteten und äußerst erfolgreichen Auftragsmörder, galt seiner Familie, die dann ohne Ernährer dastünde. Und so hatte er Pratts Order angenommen und viel Geld dafür bekommen. Die Sterne funkelten über den Dächern der feiernden Stadt. Hier oben konnte man kaum etwas von dem fröhlichen Treiben und den Klängen der Musik auf den Plätzen, in den Straßen und Gassen hören. Die Luft war schwülwarm. Der sterbende Sommer bäumte sich noch ein letztes Mal ge- 83 gen die kalten Herbstwinde auf. Der kleine Mann war nass geschwitzt, als er endlich den First erreichte. Er war an der rückwärtigen Wand des Palastes hinaufgeklettert, hatte sich an Simsen und Mauervorsprüngen emporgezogen und dabei steinerne Löwenköpfe und Dämonenfratzen, die die Fassade verzierten, als Steighilfen benutzt. Er blickte sich suchend um. Es gab wohl ein Dutzend Schlote hier oben, doch keiner sah aus wie der andere. Auf dem Zettel, dem Pratt ihm gegeben hatte, war der Schornstein genau beschrieben, und so fand er ihn schnell. Aber noch war es zu früh. Er setzte sich, lehnte sich an das warme Gemäuer des Kaminschlots und dachte über den Abschied nach. Tränen liefen über seine Wangen. Den größten Teil seines unnützen Lebens hatte er der Kunst des Tötens gewidmet, bekannt und gefürchtet unter dem Decknamen ‚die Spinne’. Kaltblütig, gefühllos und gut bezahlt, hatte er Auftragsmorde ausgeführt. Die Spinne war ein Schemen, ein Geist, der blitzschnell zuschlug und wieder verschwand. Bis heute hatte er jeden direkten Kontakt zu seinen Auftraggebern gemieden. Natürlich wusste keiner, wer er wirklich war. Dann traf er Helana. Sie veränderte sein Leben völlig. Das Wort Liebe war für ihn bis dahin, wie fast alle anderen Gefühle, außer dem der Befriedigung, die ihm seine Arbeit bereitete, eine inhaltsleere Worthülse gewesen. Und auf einmal traf ihn der Blitz der Liebe mit aller Macht und zerschmetterte den Panzer der Gefühllosigkeit, legte sein Innerstes frei. Er heiratete Helana, und bald wurde ihre Tochter Sinas geboren. Natürlich gab er seine furchtbare Kunst auf, verkapselte die Taten seiner schlimmen Vergangenheit in einem unzugänglichen Bereich seine Geistes, weit ab von dem sich mit der Verantwortung für Frau und Kind entwickelnden ungewohnten neuen Gefühl namens Gewissen. Er zog mit seiner kleinen Familie fort und begann ein neues Leben. Ein Leben in Glück und Zufriedenheit, das volle zwölf Jahre währte – ein Geschenk, von dem er heute wusste, dass er es nicht verdient hatte. Als er den Krebs bekam, brach alles zusammen. Die furchtbare Krankheit ließ ihn nicht mehr aus den Krallen. Alles Geld, das er sich mit den Meuchelmorden verdient hatte, war inzwischen aufgebraucht, verschleudert an Chirurgen, Ärzte, Heiler, Kräuterhexen und andere Quacksalber. Er war ein sterbender Habenichts. Die Zukunft von Helana und Sinas war aufs Höchste gefährdet. Er brauchte noch einmal einen lukrativen Auftrag. Und so unterrichtete er die entsprechenden Kanäle davon, dass er beabsichtigte, wieder zu arbeiten. Es dauerte nicht lange, bis er über einen Mittelsmann Kontakt zu Pratt bekam. Der Kanzler war der erste Auftraggeber, dem er direkt gegenübertrat, denn seine Anonymität war ihm nun nicht mehr wichtig. Der Abschied von Frau und Tochter lag zwei Stunden zurück und war furchtbar gewesen. Er hatte ihnen das Geld gegeben, eine unvorstellbar 84 große Summe, mehr als er mit all seinen anderen Aufträgen vorher verdient hatte. Er hatte ihnen auf einen Zettel aufgeschrieben, dass er nicht mehr wiederkommen würde, dass sie die Stadt und am besten auch das Land verlassen sollten. Sie hatten geweint, geschrieen und gebettelt, er solle bei ihnen bleiben. Alles würde wieder gut. Doch er hatte den Kopf geschüttelt, die beiden, die er über alles liebte, und die ihn umklammerten, weggestoßen und war gegangen. Es war Zeit. Er rollte das Seil auf, das er um seine Hüfte gebunden hatte und befestigte es an dem Schornstein. Dann ließ er es vorsichtig hinab. Bevor er in den Schlot kletterte, versicherte er sich zum wiederholten Male, dass er den Dolch, die Notiz mit Wegbeschreibung, Ort und Stunde und die Schenkungsurkunde bei sich trug. Die beiden Briefe hatte er in den Quartieren der Fürsten, deren Namen ihm Pratt gegeben hatte, so versteckt, dass man sie ohne Probleme finden würde. Es war nicht schwer gewesen, in die Räume einzudringen. Pratt hatte dafür gesorgt, dass sie unbewacht blieben, während sich ihre Bewohner im Ballsaal vergnügten. Der einzige Weg in die Gemächer des Königs war sehr viel schwerer. Bredos lag vermutlich jetzt schon in tiefem Schlaf, infolge des starken Mittels, das ihm Pratt im Wein verabreicht hatte. Die Spinne zog die dicken Lederhandschuhe an, ließ sich vorsichtig in das dunkle, quadratische Loch hinab und packte das Seil. Der Schornstein war sehr eng, und ein Mann normaler Größe wäre darin stecken geblieben, doch der Mörder bewegte sich wie eine Schlange und ließ das Seil durch seine ledergeschützen Hände rutschen. Seine Füße landeten in der erkalteten Asche des Kamins. Pratt hatte dafür gesorgt, dass er heute nicht befeuert wurde. Der Mörder sah sich im Raum um. Die Tür zum Gemach des Dieners war geschlossen. Von ihm drohte keine Gefahr. Der Mann war tief im Reich der Träume. Die Spinne huschte zur nach draußen führenden und von innen verriegelten Haupttür und lauschte. Leise Stimmen waren von draußen zu hören. Behutsam schob er den Riegel beiseite. Dann streifte er die Handschuhe ab und ging hinüber zum Bett des greisen Monarchen. Das wallende weiße Haar des alten Königs war über das dunkelrote Kissen ausgebreitet und sah aus wie Schnee in einer Blutlache. Er schnarchte leise. Der Mann betrachtete ihn und fühlte aufrichtiges Bedauern. Zum letzten Mal würde er eine große Schuld auf sich laden. Er wusste, er würde in die Unterwelt hinabgehen und diesen garstigen Ort der Leere, Kälte und Einsamkeit nie mehr verlassen. Er war verdammt. Einen Augenblick zweifelte er. Doch dann dachte er an Helana und Sinas. Lebend würde er diesen Ort nicht mehr verlassen können, denn es war unmöglich, sich in dem engen Schornstein Hand über Hand emporzuhangeln, weil nicht genug Platz war, um die Arme an den Körper ziehen. Der einzige Ausgang aus diesem Raum 85 war die Tür, vor der seit dem letzen Attentat auf Bredos sechs bewaffnete Wachen standen. Der Mann, den man Spinne nannte, beschloss, es endlich hinter sich zu bringen. Er setzte die Spitze des Dolches auf eine Stelle knapp links vom Brustbein des Königs zwischen zwei Rippen und drückte leicht zu. Bredos spürte den leichten Pieks und wachte auf. Seine Augen weiteten sich vor Schreck, als er im schwachen Licht der Kerze seinen Mörder über sich gebeugt sah. Er schrie. Die Spinne stieß mit aller Kraft zu. Der ausgemergelte, alte Körper bäumte sich noch einmal auf, und ein leises Röcheln entfuhr der Kehle, dann lag er still. Die schwere Tür wurde aufgerissen, schlug mit lautem Krachen gegen die Wand, und die Wachen, alarmiert vom Todesschrei ihres Herrschers, stürmten mit gezogenen Schwertern herein. Mit einem Ruck riss die Spinne den Dolch aus dem Herzen des Königs und wandte sich den angreifenden Männern zu. Endlich ist es vorbei, dachte er noch, als eine scharfe Klinge seine Kehle durchbohrte und er spürte, wie ihm das Blut in einer Fontäne aus dem Hals sprudelte. Dann versank sein Bewusstsein in ewiger Nacht. Der König hatte den Ball früh verlassen. Er war sehr müde gewesen, kein Wunder nach dem starken Schlafmittel, mit dem sein Wein versetzt war. Gadennyn dachte an den Empfang zurück und musste dem alten Monarchen Respekt zollen. Der greise Bredos war in recht guter Verfassung gewesen, anders als die Tage zuvor. Er hatte die Ehrerbietungen der Fürsten huldvoll entgegen genommen, man hatte ihm aber die Anspannung deutlich angemerkt. Der König nahm ja an, von Verrätern umgeben zu sein und glaubte, dass in dieser Nacht die Palastwache ausschwärmen, die Zimmerfluchten der Lords stürmen und diese verhaften würde. Der ehrlichen Haut war es daher schwer gefallen, die Maske der Freundlichkeit aufrecht zu erhalten. Dennoch war er über eine Stunde auf dem Fest geblieben, hatte mit den Fürsten gespeist, sich mit seinen Tischnachbarn Gadennyn und Golderhat unterhalten. Seine fortschreitende Senilität war heute kaum zu spüren gewesen. Ab und zu hatte er Namen verwechselt oder sich nach dem Wohlergehen eines längst verstorbenen Lords erkundigt, doch den Rest der Zeit überstand er mit Anstand, bis schließlich seine Aufmerksamkeit stark nachließ, er mehrfach gähnte und Pratt ihm riet, seine Gesundheit zu schonen und sich in seine Gemächer zurückzuziehen, einen Rat, den König Bredos dankbar annahm. Nach seinem Abgang wurde das Fest nach und nach ausschweifender. Die ersten Fürsten waren bald hinreichend betrunken, um unflätige Scherze zu reißen und den anwesenden Tischdamen anzügliche Anträge zu machen. Die Tafel wurde abgeräumt, Musiker spielten auf und die Lords suchten sich ihre Tanzpartnerinnen aus. Gadennyn fand eine junge Schönheit mit 86 blauschwarzem Haar und sinnlichen, braunen Augen. Er wusste natürlich, dass es sich bei den Frauen nicht um Hofdamen, sondern um von Pratt ausgesuchte Edelhuren handelte, die im Gegensatz zu Straßendirnen über Manieren verfügten. Solche gingen so manchen der Lords ab. Getherdyle beugte sich gerade vor und versenkte seine nasse Zunge im tiefen Décolleté seiner Tanzpartnerin. Froding hatte bereits einen Ständer und rieb sich im Tanzen an einer kichernden, drallen Blondine. Selbst der schwule Merle war gut versorgt. Er turtelte mit einem goldlockigen, blauäugigen Knaben von fast mädchenhafter Schönheit. Plötzlich erschien ein aufgeregter Wachsoldat und flüsterte Pratt, der sich gerade mit Whiney unterhielt, etwas zu. Dieser stand auf und folgte ihm hastig hinaus. Zufällig führte ihn sein Weg an Gadennyn vorbei, der seine Partnerin beim Tanzen in den Armen wiegte. Der Lord sah das fast unmerkliche Kopfnicken des Kanzlers. Endlich, dachte er. Es ist soweit. Aber Gadennyn musste noch zwei Tänze lang warten, bis der Augenblick, auf den er seit langer Zeit hingearbeitet hatte, gekommen war. Pratt erschien wieder, und auf sein Zeichen hörten die Musiker auf zu spielen. Die Anwesenden wandten sich ihm überrascht zu. Gadennyn musste zugeben, dass sein ehemaliger Sekretär seine Rolle sehr überzeugend spielte. Sein Gesicht war blass und von Gram zerfurcht. Er schien ehrlich erschüttert, als er sagte: „Mylords, etwas Furchtbares ist geschehen. Der König ist ermordet worden!“ Die Stille war so vollkommen wie die Finsternis eines tiefen Stollens in einem verlassenen Bergwerk, doch sie währte nur einen Augenblick. Frodings draller Blonden entfuhr ein nervöses Kichern, und der Lord gab ihr dafür eine schallende Ohrfeige. Dann brach ein Tumult ohnegleichen los. Die blonde Hure heulte auf, und der schöne Jüngling ließ vor Schreck sein Glas fallen. Mehrere Frauen stießen spitze Schreie aus, und eine fiel gar in Ohnmacht. Die Lords brüllten durcheinander, bildeten eine Traube um Pratt und bestürmten den Kanzler mit Fragen. In dem Lärm bemerkte keiner außer Gadennyn, dass zwei Dutzend Wachsoldaten in den großen Saal strömten und an den vier Wänden entlang Aufstellung nahmen. Die beiden Türflügel wurden verschlossen, und davor postierten sich vier weitere Palastwachen. Endlich konnte sich Pratt wieder Gehör verschaffen. „Meine Herren, bitte hört mir zu!“ Das aufgeregte Durcheinander der Stimmen verebbte. Pratt fuhr fort: „Mylords, leider ist das noch nicht alles. Wir haben Grund zur Annahme, dass sich der Auftraggeber des Meuchelmörders, der gestellt und getötet wurde, hier im Raum befindet.“ 87 Der erneut ausbrechende Tumult stand dem ersten in nichts nach. Einige der Fürsten zogen sogar ihre Waffen, prunkvolle Zierdolche, die nicht zum Kampf gedacht, sondern allenfalls dazu geeignet waren, einem Apfel zu schälen. Da aber traten die Palastwachen vor, und die Lords sahen sich plötzlich umringt von Bewaffneten. Keiner von ihnen war so betrunken, den Ernst der Situation nicht zu begreifen. Als der Kanzler wieder die Hand hob, schwiegen sie und steckten die Dolche in die Scheiden. „Mylords, zu Eurer eigenen Sicherheit muss ich Euch bitten, den Saal nicht zu verlassen, bis der Mord aufgeklärt ist. Wir haben einige Spuren und Hinweise gefunden, denen wir nachgehen müssen.“ „Was sind das für Hinweise?“, wollte Merle wissen. „Habt noch etwas Geduld, Lord Merle. Major Landon wird gleich hier erscheinen und Euch unterrichten.“ Wie abgesprochen, trat der Befehlshaber der Palastwache ein. Er war ein großer, dunkelhäutiger Mann mit schwarzen Locken und einem gepflegten Kinnbart. Pratt erteilte ihm das Wort. Landon blickte mit unergründlichem Gesichtsausdruck in die Runde: „Mylords, ich muss Euch davon in Kenntnis setzen, dass zurzeit Eure Quartiere durchsucht werden.“ Wieder wurde es unruhig im Ballsaal. Gadennyn hörte Sagris fluchen und vernahm, wie sich Frye bei Cunston über die Unverschämtheit von Pratt beschwerte, die Regeln der Gastfreundschaft zu brechen. Der Lord von Shoala spielte den Aufgebrachten und zischte den beiden zu: „Verdammt, Frye, der König ist ermordet worden! Es herrscht der Ausnahmezustand. Pratt hat jedes Recht der Welt auf seiner Seite. Er kann uns sogar alle verhaften lassen!“ Der erschrockene Blick von Frye amüsierte Gadennyn. Wenn du wüsstest, was dir bevorsteht, lieber Frye, würde dir das Herz in die Eier rutschen, dachte er. Landon hielt inzwischen ein Papier in der Hand: „Das, Mylords, ist der Mordauftrag, ausgestellt von einer Person mit dem Decknamen ‚Kolkrabe’. Ort und Zeitpunkt des Anschlags, sowie der Weg in des Königs Gemächer sind darauf genau beschrieben. Wie Ihr wisst, vermutet der Geheimdienst des Königs schon lange die Existenz eines Geheimbundes, der sich ‚Bund der Raben’ nennt. Nun, heute hat sich dieser Verdacht durch die ruchlose Tat leider bestätigt.“ „Und Ihr glaubt, dass Kolkrabe einer von uns ist?“, fragte Rhome. „Ja, Mylord, und wir wissen auch, um wen es sich handelt. Nur seine Komplizen, die Raben, sind uns noch unbekannt.“ „Und wer ist der Schurke? Nennt uns seinen Namen, dass wir ihm den Wanst aufschlitzen können!“, brüllte Frye. 88 Major Landon sah ihn an. Eine Zornesfalte spaltete seine Stirn, und er hatte Mühe, seine Fassung zu wahren. Mir kaum unterdrückter Wut sagte er: „Ich würde an Eurer Stelle nicht so vorlaut sein, Frye!“ Der Angesprochene fauchte: „Lord Frye für einen, der weit unter mir steht! Was maßt Ihr Euch eigentlich an? Wollt Ihr etwa andeuten, ich steckte hinter dem Mordanschlag? Für diese Frechheit werdet Ihr büßen!“ Der Major nahm ein zweites Schriftstück zur Hand und hob es hoch: „Liegt der Bezirk Redigan etwa nicht in Eurer Provinz, Frye?“ Er betonte den Namen und machte dadurch das absichtliche Weglassen des Titels umso deutlicher. „Na und?“, zischte der herabgewürdigte Lord. „Dies ist eine Übereignung von eintausend Morgen Weideland in Redigan an den Attentäter. Das Land gehört Euch, und Euer Siegel ist auf dem Papier! Wie jeder sehen kann, stimmen die Handschriften der bei dem Mörder gefundenen Schriftstücke mit diesem Bittgesuch an den König überein, das Ihr ihm letztes Jahr geschickt habt.“ Er hob einen weiteren Brief zum Beweis hoch. Frye wurde blass. Ihm schien es die Sprache verschlagen zu haben. Dann zeigte Landon das letzte Beweisstück, einen blutigen Dolch. „Und das ist die Mordwaffe. Seht her, Frye. Der Knauf trägt Euer Familienwappen.“ Alle sahen den Lord an. Frye stand einfach da, seine Unterlippe zitterte, dann rannen die ersten Tränen über seine Wangen. „Verhaftet ihn!“, befahl der Major. Als er von vier Soldaten gepackt, in die Mitte genommen und aus dem Saal geführt wurde, fand Frye endlich die Sprache wieder: „Das ist ein Komplott! Ich bin unschuldig!“, kreischte er mit sich überschlagender Stimme und wehrte sich heftig gegen den harten Griff der Wachleute. „So helft mir doch, Mylords. Lasst nicht zu, dass…“ Sein Gejammer verebbte, nachdem man ihn hinausgeschleift und die Flügel des schweren Eingangsportals wieder verschlossen hatte. Landon fuhr fort: „Wir wissen, dass der Rabenbund mindestens sieben Mitglieder hat. Vielleicht sind einige davon unter den Hofbeamten zu finden. Auch ein Richter wird verdächtig. Wir werden dem nachgehen. Aber vieles weist auch darauf hin, dass neben Frye weitere Mitglieder des Hauses der Lords zu diesem verbrecherischen Geheimbund gehören. Bevor die Tat nicht vollständig aufgeklärt ist, muss ich Euch leider arrestieren, Mylords.“ 89 Ein Sturm der Entrüstung brach los. Während die Fürsten lautstark protestierten, wurde die Tür ein weiteres Mal geöffnet, ein Soldat der Wache trat ein und übergab dem Major zwei neue Schriftstücke. Dabei flüsterte er ihm etwas zu. Landon warf einen Blick auf die Papiere, dann hob er die Hand und gebot Schweigen. „Mylords. Hiermit ist der Mord vollständig aufgeklärt. Ich kann die meisten von Euch gleich in die Freiheit entlassen. Meine Leute haben gerade diese beiden Briefe gefunden. Es handelt sich um ein Schreiben von Kolkrabe an zwei Mitglieder des Rabenbunds. Ich lese ihn Euch vor: Diesmal wird es gelingen. Ich habe den besten Mann dafür gefunden, den man sich denken kann. Ihr habt alle von ihm gehört. Er nennt sich die Spinne. Er kann an senkrechten Wänden emporklettern und in jede noch so stark gesicherte Festung eindringen. Die Spinne hat schon zweimal für mich gearbeitet, und zwar zu meiner vollsten Zufriedenheit. Vor ein paar Jahren hat er das einträgliche Geschäft des Tötens aufgegeben und ist untergetaucht. Doch vor kurzem hat er mich wissen lassen, dass er wieder seinen Beruf ausübt. Er ist skrupellos, aber als ich ihm das Ziel des Anschlags nannte, lehnte er zunächst ab und deutete seine patriotische Gesinnung an. Ich habe ihn ausgelacht und ihm mehr Geld angeboten. Aber er wollte stattdessen Land. Wir wurden uns schließlich handelseinig. Inzwischen habe ich keinen Kontakt mehr zur Spinne. Sie ist wieder untergetaucht und bereitet alles im Geheimen vor. Bei weiteren Nachforschungen über die Person habe ich erfahren, dass der Mann unheilbar krank ist und bald sterben wird. Das überschriebene Land ist für seine Familie, die er versorgt wissen will. Stellt euch vor: ein liebender Meuchelmörder! Wenn er tot ist, werde ich mir seinen Lohn zurückholen. Aber das weiß er nicht, und deshalb wird er, so zuverlässig wie die Nacht auf den Tag folgt, seinen Auftrag ausführen, und zwar während des Eröffnungsballs zur Sitzungsperiode des Hauses der Lords. Wir werden es also aus erster Hand erfahren. Ich gehe davon aus, dass die Sitzungsperiode verlängert werden wird, bis Silberhelm pompös unter die Erde gebracht ist. Dann wird die erbitterte Schlacht um seine Nachfolge beginnen, und wir können unsere nächsten Trümpfe ausspielen. Wir treffen uns in drei Tagen in Inay. Bis dahin und vor allem dort: meidet jeden konspirativen Kontakt mit einander und mir. Versteckt dieses Schreiben sorgfältig, doch vernichtet es nicht. Ich werde Euch zu gegebener Zeit einen Boten schicken, einen Südländer, der Euch nicht kennt. Vor ihm müsst Ihr Euch mit diesen Zeilen ausweisen. Er wird Euch zu einem geheimen Ort bringen. Ihr werdet staunen, welche Überraschung ich dort auf Lager habe. 90 Die Zukunft, das Reich und die Macht sind unser! Kolkrabe. Soweit der Inhalt des Briefes. Ich sehe jetzt klarer, warum wir so eindeutige Beweise auf Frye entdeckt haben. Der Mann, den man die Spinne nannte, und der uns als einer der besten Auftragsmörder bekannt war, war kein Schwachkopf. Er hätte die Hinweise nicht bei sich gehabt, wenn er nicht gewollt hätte, dass wir sie finden.“ „Er wollte Frye damit belasten?“, fragte Rhome. „Warum?“ „Weil er wusste, dass er sterben würde. Ich denke, Frye hat die patriotische Gesinnung des Mannes unterschätzt, hat ihn gar dafür ausgelacht. Das war ein Fehler. Die Spinne empfand zwar kein schlechtes Gewissen, als sie König Bredos ermordete, aber sie wusste, wie Frye das Land regiert hätte, wenn er an die Macht gekommen wäre.“ „Ihr glaubt, der Mörder habe seinen Auftraggeber aus patriotischer Gesinnung verraten?“ Rhome runzelte skeptisch die Stirn. „Das leuchtet mir nicht ganz ein. Davon abgesehen, bleiben noch viele Fragen offen: wer ist der Südländer, von dem in den Briefen die Rede ist? Welche Überraschung hat Frye noch geplant?“ „Dem werden wir nachgehen, und ich hoffe, dass wir bald die Antworten auf diese Fragen finden. Eine Frage, die Ihr nicht gestellt habt, ist aber bereits beantwortet. Die Briefe beweisen eindeutig, dass Frye Komplizen im Haus der Lords hatte. Wir haben diese Schreiben in den Quartieren von Lord Cunston und Lord Getherdyle gefunden. Mylords, Ihr seid hiermit festgenommen.“ Diese Nacht sollten die Bürger von Inay sobald nicht vergessen. Ihr Fest wurde abrupt beendet. Die Stadtwache marschierte in zwei Hundertschaften auf und forderte die Menschen auf, sofort in ihre Häuser zu gehen und diese bis zum Sonnenaufgang nicht zu verlassen. Die Tore wurden geschlossen. Die Soldaten trieben die Besucher, die von auswärts gekommen waren, zusammen und sperrten sie in den Tempel. Mehrere Einwohner der Stadt wurden ohne Angabe von Gründen verhaftet. Die Menschen waren ängstlich, verunsichert und ratlos. Dann breitete sich das Gerücht rasend schnell wie ein Steppenbrand aus: Ein Putschversuch. Der König war ermordet worden! Manche Angst wandelte sich in traurige Wut. Ein paar Dutzend der Feiernden, die noch nicht in ihre Häuser zurückgekehrt waren, versammelten sich in der Hauptstraße, skandierten laut ‚Tod den Verrätern’ und wollten zum Palast ziehen, doch die Stadtwache hatte Inay bereits fest im Griff. Schnell und mit Einsatz blanker Waffen löste sie den Protestzug auf. Bald waren die Straßen leergefegt. 91 Es war am frühen Morgen. Die Lords standen immer noch im Tanzsaal herum und debattierten miteinander über die unglaublichen Geschehnisse der Nacht. Gadennyn hatte Recht gehabt: Frye, Cunston und Getherdyle gehörten zu denjenigen, die der Lord von Shoala im Verdacht gehabt hatte, zum Rabenbund zu gehören, und die er deshalb nicht zum Geheimtreffen auf seiner Burg eingeladen hatte. Merle und Limbtower erfuhren jetzt natürlich davon und waren zunächst beleidigt, weil Gadennyn auch ihnen misstraut hatte. Sie hörten von der geheimen Wahl Gadennyns zum Thronfolger und forderten sofort eine neue Abstimmung, da sie nicht dabei gewesen waren. Sagris, Mulder und Bradley redeten gemeinsam auf sie ein, beschwichtigten sie und machten ihnen klar, dass es am Ergebnis nichts ändern würde. Nachdem sie eine Weile darüber nachgedacht hatten, schlossen sie sich der Mehrheit an. Pratt trat ein. Er sah übermüdet und gramgebeugt aus, als er das Wort ergriff: „Mylords, Ihr müsst Euch mit dem Gedanken vertraut machen, noch eine Weile in Inay zu bleiben. Die Sitzungswoche wird natürlich verschoben bis nach der feierlichen Bestattung unseres geliebten Königs Bredos Silberhelm. Auch die Tagesordnung der Sitzung muss selbstverständlich geändert werden. Statt der Beratung der Gesetzesvorlagen muss das Haus der Lords einen neuen König für unser Vaterland ernennen. Das wird sicher eine schwierige Entscheidung für Euch. Damit das Land nicht zulange in einem Machtvakuum verharrt, möchte ich Euch bitten, schon jetzt über Kandidaten nachzudenken, die Ihr vorschlagen möchtet. Jeder von Euch…“ „Macht Euch darüber keine Sorgen, Kanzler“, unterbrach ihn Sagris. „Der neue Monarch von Koridrea ist bereits gewählt. Es ist seine Majestät König Athlan Gadennyn, Lord von Shoala.“ Trennung und Aufbruch Cora saß allein auf dem Felsplateau am Hang des Tals und fröstelte, aber nicht wegen der Kühle. Zwar würden bald die kalten Südostwinde des Herbstes erwachen, doch heute war noch einmal ein warmer Tag. Sie fror, weil sie an den morgigen Abschied dachte. Drei Wochen war das Kloster mit seinen freundlichen Bewohnern ihr Heim gewesen, und sie wäre gerne 92 noch viel länger geblieben. Sie bedauerte, dass sie das einfache, aber dennoch heimelige Leben im Orden gegen den bevorstehenden rauen Überlebenskampf in den Ostlanden aufgeben musste, die sie zum zweiten Mal durchqueren würden. Aber noch viel mehr bedauerte sie die Trennung von Trygar. Sie hatte den jungen Mann wie einen Bruder lieb gewonnen. Die Episode, als sie sich körperlich geliebt hatten, konnte diese tiefe, freundschaftliche Beziehung nicht beeinträchtigen. Es war einmalig und schön gewesen, doch dafür hatte sie Boc, den sie auf ganz andere Weise liebte. Nein, deshalb würde sie Trygar nicht vermissen. Aber wegen seiner Traurigkeit, die den Instinkt in ihr erweckte, ihn zu trösten und zu beschützen, wegen seiner leider verlorenen Fröhlichkeit, die früher so ansteckend gewesen war und sie zum Lachen gebracht hatte, und wegen der Ernsthaftigkeit, mit der er seine Aufgabe anging und versuchte, die Bürde, die ihm auferlegt war, zu tragen. Cora hoffte, dass das Mädchen Duna ihm dabei helfen konnte. Die beiden schienen einander zugeneigt zu sein. Cora als Frau spürte das. Sie dachte zurück an die vergangenen Wochen: Trygar hatte bei der rituellen Tätowierung zum Schwarzen Kämpfer große Schmerzen gelitten und sie tapfer ertragen. Die Zeichen auf seiner Stirn und seinen Schläfen leuchteten noch frisch und rot, und es würden ein paar Monate vergehen, bis sie etwas verblassten. Er war im Kampf mit dem magischen Stab ausgebildet worden und konnte nun noch besser damit umgehen als vorher. Er trug jetzt Schwarz wie die anderen Kämpfer: halblange Reitstiefel, weite, wollene Hosen, Hemd und eine Kutte mit Kapuze, die sein Gesicht weitgehend verbarg. Trygar hatte sich verändert. Er war zum Mann geworden und nun viel reifer, als es den wenigen Jahren entsprach, die ihm das Leben bisher geschenkt hatte. Cora hoffte, dass es ihm noch viele weitere schenken würde und er seine jungenhafte Unbeschwertheit eines Tages wiedergewänne. Gleichzeitig hatte sie große Angst um ihn. Seine Aufgabe war höchst gefährlich. Er und Duna waren es, auf die Semanius seine ganze Aufmerksamkeit richten würde, sie waren die Köder für die Falle. In den Tagen, nachdem sie den Plan gefasst hatten, war viel geschehen: Nunoc Baryth war beerdigt worden, und erst an seinem Begräbnistag ging Cora auf, wie sehr die Schwarzen Brüder und Schwestern, aber auch die anderen Bewohner des Klosters, ihn geliebt hatten. Sie spürte die überwältigende Trauer, der die Menschen nach Tagen des Schocks und lähmender Empfindungslosigkeit endlich nachgeben konnten. Umso mehr war sie überrascht, dass ihnen, den Fremden aus dem fernen Koridrea, die für den Tod des Abtes verantwortlich waren, keine Spur von Hass entgegenschlug. Nach diesem traurigen Ereignis fühlte sie sich, ebenso wie ihre Gefährten, 93 leer und niedergeschlagen. Sie war nicht in der Lage, Trygar, dem es noch viel schlechter ging, zu trösten. Am nächsten Tag war Teuben auf Gormens Vorschlag von den Grauen und Schwarzen zum neuen Abt gewählt worden. Es war auch der Tag, an dem Winger erfuhr, was wirklich geschehen war. Sie brachten ihm schonend bei, dass Nunoc Baryth, der getötete Abt, unschuldig gewesen war und Gadennyn sie hinters Licht geführt hatte. Sie klärten ihn auch über die Rolle Gothers bei diesem perfiden Spiel auf, und der von seiner Wunde geschwächte Baumeister verzweifelte fast daran, dass er den Hauptmann befreit hatte und damit nach seiner Meinung Mitschuld am Tod von dessen Bewacher trug. Sie erzählten ihm von dem Plan, den sie geschmiedet hatten, und in dem er aufgrund seiner schweren Verletzung, die noch für Wochen der Behandlung bedurfte, keine Rolle spielen würde. Ein Trost für ihn war immerhin, dass sich Dremion bereit erklärt hatte, bei Winger zu bleiben. Der Zimmermann schwor, dass er Trygar folgen würde, sobald es seine Kräfte zuließen, und sie konnten ihn nicht davon abbringen. Gother blieb verschwunden. Dass seine Verfolger nicht zurückgekehrt waren, ließ aber vermuten, dass sie ihm nach wie vor auf den Fersen waren. Nun hatten sie alle denkbaren Vorbereitungen getroffen. Das Wetter war noch gut, die Dinge im Orden waren geregelt, die Ausrüstung zusammengestellt und die Pläne hundertmal besprochen und abgestimmt. Morgen würden sie sich trennen: Trygar, Duna und die Schwarzen Kämpfer würden zunächst die Nomadenstämme in Vulcor, danach die Stadt Helmseth aufsuchen, um Unterstützer für ihre Mission und Begleiter für die lange Reise nach Süden zu gewinnen. Gormen, Spin, Boc und sie wollten in die Ostlande aufbrechen, um Zpixs zu suchen. Sie würden keine weiteren Begleiter mitnehmen. Cora warf einen letzten Blick auf die weite, braune Grasebene von Vulcor, danach schaute sie in die andere Richtung, auf die hohen, schneebedeckten Berge, die sie umgehen würden, um in das Land der Ostländer, der Krim und Xinghi, der Schattentiger und der Raubechsen zu gelangen, das Land, in dem Zaphir sein Leben gelassen hatte. Sie war froh, dass Boc und Spin bei ihr waren, wenn sie die Ostlande wieder durchqueren musste. Die junge Frau stand auf, klopfte den Staub von ihrer Hose und machte sich auf den Abstieg ins Tal, wo bereits die Schatten der Vorhügel die Gebäude des Klosters in Graublau badeten. Dunas Bewusstsein stieg gerade wieder aus der Tiefe der Kontemplation auf, als Cora leise den Meditationsraum betrat und sich auf ein Kissen neben ihr niederließ. Obwohl sie in sich selbst versunken war, spürte die Feuermagierin die Anwesenheit der Frau aus Koridrea, und zwar sehr viel deutlicher als die der anderen, die mit ihr meditierten. Sie fühlte diesen 94 wachen, störenden Geist, der um ihre Aufmerksamkeit heischte. Sie seufzte und öffnete die Augen. Die andere, diese wunderschöne Rothaarige, um deren Sinnlichkeit sie Duna beneidete, bat sie um Verzeihung. Ihr war wohl bewusst, dass sie eine Andacht gestört hatte. Duna blickte in grünen und mit goldenen Punkten gesprenkelten Augen. „Du bist gekommen, um Trygar in meine Obhut zu geben, nicht wahr? Komm, lass uns irgendwo anders hingehen. Hier stören wir nur.“ Die beiden Frauen verließen den Meditationsraum, und Duna führte Cora hinaus in den Hof. Sie überquerten ihn und betraten einen Stall, der nach frischem Stroh und Pferdemist roch. Die Feuermagierin öffnete eine Koppel zu einem kleinen Verschlag, in dem ein herrlicher Hengst stand und an einem Ballen Heu knabberte. Als Duna auf ihn zutrat, hob er den Kopf, wieherte und rieb seine weiße Blesse an ihrer Schulter. Sie tätschelte ihm den Hals. „Das ist Flink, mein Pferd. Ich liebe ihn.“ Coras Gesichtsausdruck verriet Bewunderung. „Was für ein wunderbares Tier!“ „Komm, setzen wir uns ins Heu“, schlug Duna vor. „Hier können wir uns ungestört unterhalten.“ Sie ließ sich nieder, und Cora tat es ihr gleich. Der Hengst beachtete sie nicht weiter, und bald vernahmen sie das mahlende Geräusch, mit dem er die Halme zwischen seinen Backenzähnen zerkleinerte. „Ich wollte dich nicht beim Gebet stören“, begann Cora. „Das hast du nicht getan. Ich habe nicht gebetet, sondern meditiert.“ Die Heilerin aus Koridrea schien ein wenig ratlos. „Es schien, als ob du traumlos schliefest. Deine Augen waren offen, aber du warst sehr weit weg. Wo warst du?“ „Nirgends und überall, in mir selbst und in der Leere. In der Meditation gibt es keinen Ort außer dem tief in dir. Du ziehst dich dorthin zurück, zurück vom Alltag, von den wirren und trügerischen Eindrücken, die du dort empfängst, von dem ewigen Geschnatter der Gedanken, die um Nebensächliches und scheinbar Wichtiges kreisen, das Wahre aber niemals auch nur berühren, von den Sorgen und Ängsten, den unkontrollierbaren und verwirrenden Gefühlen, die wie Wellen im Sturm in dir branden und schäumen, ziehst dich zurück aus den Zwängen des Lebens, dem Verlangen des Körpers und des Geistes, ganz tief zurück in deine Seele. Erst, wenn du das Wort Ich nicht mehr denkst, wenn du dein Selbst für einen Augenblick verleugnen kannst, wenn du nicht mehr unterscheidest zwischen dir und der Welt um dich herum, wenn du dich als Teil von Allem empfindest, dann erkennst du vielleicht den dünnen Faden, der dich mit Wathan verbindet, den Teil von ihm, der in dir wohnt.“ 95 Cora sah Duna mit großen Augen an. „Das ist dir gelungen?“ „Oh, noch lange nicht. Es bedarf jahrelanger Übung. Nur Nunoc Baryth, Gormen Helath und zwei, drei andere des Ordens haben dieses zweite Stadium des Meditierens bisher erreicht. Aber ich habe schon große Fortschritte gemacht. Die Meditation hat mich bereits verändert. Ich bin ausgeglichener geworden, bin nicht mehr so wütend wie früher, nicht mehr so impulsiv. Ich urteile weniger schnell über Menschen. Ich kann mich besser in ihre Lage versetzen, verstehe ihre Wünsche und Sorgen wenigstens zum Teil. Und meine Magie hat sich verbessert.“ „Deine Magie?“ „Die magische Kraft ist wie ein kompliziertes Werkzeug. Es muss alles stimmen, um sie richtig einzusetzen. Du musst Stärke haben und Geschicklichkeit, Entschlusskraft und Geduld, vor allem aber die richtige Balance. All diese Eigenschaften müssen in Einklang zueinander stehen. Dabei kann dir die Meditation helfen.“ Nachdenklich sagte Cora: „Trygar sollte vielleicht auch lernen zu meditieren. Er hat Probleme damit, die Macht der Magie richtig zu beherrschen. Sie gerät ihm manchmal außer Kontrolle, bisweilen versagt sie ihm den Dienst.“ „Er hat es schon versucht, unter Gormens Anleitung, und leider war er noch nicht sehr erfolgreich. Trygar ist zu ungeduldig. Er wird es schon noch lernen. Auch ich habe mehr als ein paar Wochen gebraucht, um die erste Stufe der Meditation zu erreichen. Es wird vielleicht noch viele Jahre dauern, bis ich die zweite Stufe beherrsche.“ „Die zweite Stufe? Wie viele gibt es denn?“ „Drei. In der zweiten Stufe verlierst du dein Ich. Das ist eine sehr schmerzhafte, für den einen oder anderen gar zerstörerische Erfahrung. Mancher, der diese furchtbare Leere erfahren hat, hat danach nie wieder meditiert. Doch erst, wenn du dein Ego freiwillig auflöst, wenn du bereit bist, deine Existenz als Individuum aufzugeben, wenn du nicht mehr die ganze Welt um dich kreisen lässt, sondern dich auf dem dir von Wathan zugewiesenen Platz in ihr einfügst, kannst du die dritte Stufe, die der Erleuchtung finden. Von allen, die ich kenne, hat das nur Nunoc geschafft. Aber keine Angst, ich bin zwar kein so guter Lehrer wie Gormen, der morgen mit euch gehen wird und den Unterricht nicht mehr fortsetzen kann, aber ich werde mein Bestes tun. Trygar wird bestimmt bald Fortschritte machen.“ Nach einer Weile des Schweigens fuhr Duna fort. „Verzeih, wenn ich so offen bin, aber deine Beziehung zu Trygar ist mir nicht ganz klar. Liebst du ihn?“ 96 „Ja natürlich, wir alle lieben ihn. Er ist ein liebenswerter, guter Junge. Wenn ich einmal einen Sohn haben sollte, so wünschte ich mir, er wäre wie Trygar. “ „Hm, das meinte ich nicht. Ich meine, wie eine Frau einen Mann liebt.“ Cora lachte. „Du meinst, körperlich? Nun, ich kann dich beruhigen, ich habe dem Jungen nicht die Unschuld geraubt. Nein, Boc ist der, den ich auf diese Weise liebe. Wir sind Frau und Mann, selbst wenn uns noch kein Priester Wathans seinen Segen gegeben hat. Und du – du magst doch Trygar auch, oder?“ „Ja.“ „Dann passe bitte gut auf ihn auf. Versprichst du mir das?“ „Deshalb bist du doch zu mir gekommen, Cora, nicht wahr? Ja, ich verspreche es!“ „Ich danke dir, Duna.“ Wieder herrschte eine Weile Stille. Beide Frauen waren in ihre eigenen Gedanken versunken. Schließlich blickte Duna Cora an. In ihrem Blick stand eine unschuldige Verlegenheit, als sie fragte: „Hat er eine… du weißt schon.“ Cora lachte. „Eine Geliebte? Ein Mädchen, das irgendwo auf ihn wartet? Tut mir Leid, Duna, aber das musst du ihn schon selbst fragen.“ Spins Blick glitt immer wieder hinüber zu dem Bogen, der mit aufgespannter Sehne in der Ecke des Raumes stand. Was für eine prächtige Jagdwaffe! Er war stolz darauf, denn er hatte die letzten fünf Tage darauf verwendet, sie herzustellen, und sie war ihm besser gelungen als sein alter Jagdbogen. Er hatte dieses Stück Ebenholz unter vielen Brettern, Balken und grob gehobelten Rundhölzern in der Zimmermannswerkstatt des Klosters gefunden und gleich erkannt, dass es einen idealen Bogen abgeben würde. Der Mönch, dem die Werkstatt unterstand, erlaubte ihm, es zu bearbeiten. Gestern war das gute Stück fertig geworden, und er verbrachte Stunden damit, den Bogen einzuschießen, bis er dachte, seine Schultermuskeln würden zerreißen, wenn er die Sehne nur noch ein einziges Mal spannte. Nach einigen kleinen Veränderungen an der Balance hatte er endlich das richtige Gefühl dafür, und alle Schüsse trafen ihr Ziel. Heute schmerzte ihn jeder Muskel im rechten Arm, und dennoch war er wieder bei der Arbeit. Er schäftete die Pfeilspitzen, die Boc für ihn in der Schmiede hergestellt hatte. Der Schmied aus Brenton half ihm dabei. Bisher hatten sie zwei Dutzend Pfeile hergestellt. Am schwierigsten war es, die Stabilisierungsfedern richtig einzusetzen. Jede Ungenauigkeit würde den Pfeil in der Luft instabil machen. Diese Arbeit machte Spin lieber 97 selbst. Boc befestigte dafür die scharfen Eisenspitzen in den Kerben der Schäfte und umwickelte diese mit einer festen Hanfschnur. „Glaubst du, wir schaffen es, Zpixs zu finden und rechtzeitig in Shoala einzutreffen?“, fragte der Schmied. „Wir müssen es schaffen. Morgen ist die Tag- und Nachtgleiche, das Ende des Sommers. Wir wollen uns mit Trygar, Duna und den Schwarzen Kämpfern treffen, wenn die Sonne wieder zwölf Stunden am Himmel steht, zu Frühlingsbeginn, haben also ein halbes Jahr Zeit. Was Zpixs betrifft, so werden wir nicht ihn, sondern er wird uns finden. Er wird es sofort erfahren, wenn wir das Land der Xinghi betreten. Da sehe ich kein Problem. Ob wir ihn allerdings davon überzeugen können, uns gegen Semanius beizustehen, ist eine andere Frage. Sorgen macht mir auch der Thet-Pass. Wir müssen ihn im Winter passieren, was eigentlich völlig unmöglich ist.“ „Gibt es denn keine andere Möglichkeit, das Gebirge zu überqueren?“ „Doch, den Pass im Wolfszahngebirge, im Gebiet der Krim. Doch erstens dürfte der bei Schnee genauso unpassierbar sein wie der Thet-Pass, und zweitens möchte ich nicht noch einmal mit den Krim zu tun bekommen.“ „Das sieht nicht gut aus.“ „Du sagst es, Boc. Aber wir werden es schaffen, irgendwie.“ Gother war nass geschwitzt und keuchte wie ein Schwindsüchtiger. Seit einer Stunde übte er nun das Fechten mit Osiris Egeth, dem Säbelmeister. Sie standen sich in der Mitte der Wagenburg der Karawane gegenüber. Die Karren waren zu einem Kreis aufgestellt, der eine leichte Verteidigung gegen die das weite Land zwischen den beiden größten Städten Vulcors verunsichernden Banden ermöglichte. Bisher waren sie nicht belästigt worden, und die Hafenstadt Khor war nur noch zwei Tagesreisen entfernt. Die beiden Männer waren so etwas Ähnliches wie Freunde geworden, auch wenn Gothers Gefühlsarmut wahre Freundschaft mit ehrlicher Zuneigung zum anderen nicht zuließ. Aber sie respektierten sich auf eine Weise, die über die Kameradschaft und den gebotenen Zusammenhalt einer Reisegemeinschaft hinausging. Der Hauptmann hatte in den vergangenen Tagen und Wochen oft mit Osiris gefochten, und die anfängliche Überlegenheit des wieselflinken, kleineren Mannes war geringer geworden. Sie waren sich fast schon ebenbürtig. Auch Osiris schnaufte. Er blickte Gother vorwurfsvoll an, der sein Übungsschwert aus Holz vor sich gestreckt hielt. „Du machst mir mehr und mehr zu schaffen, Gother. Aber es steht immer noch sechzehn zu zwölf Treffer für mich. Lass uns für heute Schluss machen, ich bin müde.“ 98 Der Hauptmann war nicht nur müde, er fühlte sich, als habe ein Pferd auf ihm gelegen. Jeder Muskel tat weh, die Lunge brannte, und er hatte unzählige Blutergüsse, aber er grinste und sagte: „Schlappschwanz! Noch eine Runde.“ „Gnade, Gother. Ich treffe dich zwar öfter, aber deine Hiebe sind härter. Heute hast du mir fast den Arm gebrochen. Sie nur, wie mein Handgelenk geschwollen ist. Ich kann das Schwert kaum noch halten.“ „Na gut, lass uns einen Humpen trinken.“ Die Karawane hatte ein Wirtszelt, das jeden Abend aufgeschlagen wurde. Tische und Bänke machten es zu einer richtigen Schänke. Hier aßen und tranken die Reisenden. Die Küche war gut und das Bier noch besser, auch wenn es Gother meist zu warm war. Sie setzten sich an einen Tisch und bestellten zwei Krüge davon. „Hast du deine Verfolger heute gesehen?“, fragte Osiris. Gother hatte ihm von den Schwarzen Mönchen erzählt, die hinter ihm her waren, und eine Geschichte als Begründung erfunden, die natürlich mit der Wahrheit nichts zu tun hatte. In Osiris’ Augen war Gother ein atheistischer Freidenker, der von den verbohrten und fundamentalistischen Mönchen deshalb verfolgt wurde, weil er einen von ihnen in einem Wirtshaus in Helmseth beleidigt und dessen Glauben verhöhnt hatte. Die drei hätten geschworen, Gother dafür zu töten. „Nein“, antwortete er. „Keine Spur von Ihnen. Aber sie werden erst aufgeben, wenn ich Vulcor verlassen habe.“ „Ich verstehe nicht, warum du dich von diesen schwarzen Vogelscheuchen ins Bockshorn jagen lässt und fliehst. Wir beide zusammen könnten sie in die Unterwelt schicken.“ „Ich fliehe nicht vor ihnen. Ich habe dir doch erklärt, dass ich in einer wichtigen Mission in Vulcor unterwegs bin. Ich muss nun zurück zu meinem Herrn, Lord Gadennyn, und ihm Bericht erstatten. Natürlich könnten wir sie töten, aber ich will kein Aufsehen erregen. Es wäre meiner … äh … diplomatischen Mission abträglich, wenn sich herumspräche, dass ein Soldat aus Koridrea drei einheimische Mönche getötet hat. In Khor wartet ein Schiff auf mich, dann bin ich die drei los.“ Osiris nahm einen großen Schluck Bier und wischte sich den Schaum von den Lippen. „Hm. Sei vorsichtig, wenn wir in die Stadt kommen. In der Karawane bist du sicher. Hier kommt keiner deiner Feinde an dich heran. Aber die Hafenstadt ist wie ein Ameisennest, es wimmelt da vor Menschen. Könnte sein, dass dir in einer belebten Straße jemand von hinten ein Messer zwischen die Rippen rammt. Ich werde dich jedenfalls zum Hafen begleiten und aufpassen, dass du sicher auf dein Schiff gelangst.“ 99 „Und dafür bin ich dir dankbar, wie überhaupt für alles, was du für mich getan hast. Ohne deine Hilfe hätte mich der Fettsack Om Gauzas nie mitgenommen. Ich würde dich gerne fürstlich belohnen, aber mein Geld ist fast aufgebraucht. Aber wenn ich das Pferd verkaufe, mit dem mich Gauzas für meine Dienste bezahlt…“ „Vergiss es. Glaub mir, Gauzas ist zwar geizig, aber bei mir wagt er es nicht, seinen Goldbeutel zuzuklemmen. Ich bekomme genug Geld von ihm, wenn ich nach Helmseth zurückgekehrt bin.“ Der fette, reiche Kaufmann hatte seine Karawane nicht begleitet, sondern war in der Stadt, von der sie aufgebrochen waren, zurückgeblieben. „Komm doch einfach mit mir, Osiris“ schlug Gother vor. „Koridrea ist ein viel schöneres Land als diese verfluchte Graswüste namens Vulcor. Gadennyn könnte einen wie dich gut gebrauchen. Und glaub mir: es stehen große Zeiten für den Lord bevor. Er wird Macht und Ruhm erringen, wie kein Mann zuvor seit den Zeiten des Alten Königreiches. An seiner Seite zu stehen, kann für dich nur von größtem Vorteil sein.“ Doch Osiris schüttelte den Kopf. „Vulcor ist meine Heimat, Gother. Ich würde das Grasmeer und den Wind vermissen, die weite Ebene und die Blütenpracht im Frühjahr. Ich weiß, was du andeuten willst: Dein Herr will das Alte Königreich wieder erstehen lassen und plant einen Eroberungsfeldzug. Doch glaube mir, er ist zum Scheitern verurteilt. Euer König ist kriegsmüde. Er wird nicht darauf eingehen. Und auch wenn Gadennyn selbst der König wäre: vielleicht könnte er noch einmal Orinokavo erobern und bis nach Pheldae vordringen, doch bis dort wird sich seine Armee verdünnen müssen, um die eroberten Länder zu besetzen und zu halten und den Nachschub zu sichern. Bis nach Vulcor käme sie erst gar nicht. Und selbst wenn: die Nomadenstämme haben schon so manche Eroberer vertrieben. Dein Herr ist größenwahnsinnig.“ Gother zuckte mit den Schultern. „Wie du meinst, Osiris. Lass uns nicht streiten. Dann geht eben jeder seines Weges. Aber wenn ich eines Tages mit Gadennyns Armee zurückkomme, reiche ich dir die Hand, obwohl du dich jetzt falsch entscheidest. Du bist stets bei uns willkommen.“ Tag und Stunde waren gekommen. Coras Gesicht war tränenüberströmt, als sie Trygar in die Arme nahm. Sie küsste ihn auf den Mund und hielt ihn umklammert, als wollte sie ihn nie wieder loslassen. Auch Trygar hatte Tränen in den Augen und einen Kloß im Hals. „Cora, ich…“, stammelte er, doch verstummte gleich wieder, weil ihm die Worte des Abschieds nicht über die Lippen kamen. Und so sagten beide nichts. 100 Sie waren draußen vor dem Tor des Klosters versammelt. Spin und Boc saßen schon auf ihren Pferden. Gormen Helath hielt sein und Coras Reittier an den Zügeln. Von Winger, der zu schwach war, aufzustehen, und den Menschen im Kloster, von denen viele zu Freunden geworden waren, hatten sich die vier bereits verabschiedet. Danach waren sie von Trygar, Dremion, Duna, dem neuen Abt Teuben und Methor, Seyn und Legis, den Schwarzen Kämpfern, nach draußen begleitet worden. Es war früh am Morgen, und ein kalter See aus Nebel füllte das Tal. Die Sonne hing blass wie ein Gespenst am Himmel. Tautropfen perlten an den noch nicht abgeernteten Winteräpfeln der kleinen Obstplantage des Klosters. Es war sehr still, so als wäre der Tag noch nicht erwacht. Eines der Packpferde schnaubte ungeduldig, und als wäre das ein Zeichen der Aufforderung, zog Cora schniefend die Nase hoch und ließ Trygar los. Sie nahm Duna noch einmal kurz in die Arme und stieg auf ihr Pferd. Trygar ließ den Blick über seine drei besten Freunde schweifen. Cora hatte die Lider gesenkt, sah blass und erschöpft aus. Ihre Augen waren gerötet vom Weinen. Ihr sonst so leuchtend rotes, glänzendes Haar schien heute matt. Spins Züge waren angespannt und seine Lippen hart zusammengepresst. Er wirkte müde; er hatte in der Nacht vor der Abreise kein Auge zugetan. Als er Trygars Blick auf sich spürte, rang sich der Waldläufer ein schwaches Lächeln ab. Boc wirkte ruhig und gelassen wie immer. Doch Trygar ahnte, dass in ihm dasselbe vorging wie in jedem von ihnen. Sie würden sich für lange Zeit nicht mehr wieder sehen, wenn sie ihre Abenteuer überhaupt überlebten. Es war vielleicht ein Abschied für immer. Es war Gormen, der die letzten Worte sprach: „Teuben, du wirst den Orden führen, wie es auch Nunoc nicht besser gekonnt hätte. Dennoch wünsche ich dir Glück. Du wirst es brauchen. Wenn wir versagen sollten, wird ein Sturm heraufziehen, der selbst dieses abgeschiedene Kloster verschlingen kann. Gadennyn wird wissen, woher seine Feinde kommen. Duna und Trygar, auf euch und den Schwarzen Kämpfern, die ihr anführt, liegt eine große Verantwortung. Ihr habt wohl die schwierigste Aufgabe von uns allen. Ihr müsst die Menschen vor der Bedrohung warnen und sie davon überzeugen, Gadennyn Widerstand zu leisten, in diesen Zeiten des Friedens, lange bevor sich Semanius als der Eroberer offenbaren wird, ohne plausible Beweise, allein durch die Kraft eurer Worte. Es ist, als ob ihr die Menschen an einem schönen Sommertag vor einem furchtbaren Unwetter warnen müsstet. Viele werden euch nicht glauben. Ihr braucht Gefolgsleute und Geld, um eine Armee auszurüsten. Aber die Länder sind zerstritten, und jeder denkt nur an sich selbst. Niemand, ob mächtige Lords oder nachrangige Burgherren, ob die Stammesführer des Nordens oder die reichen Kaufleute der freien Städte, wird leicht zu überzeugen sein. Und 101 selbst wenn ihr es schafft, ein Heer aufzustellen, das Gadennyn fürchten muss, so müsst ihr dennoch Kampf und Schlacht vermeiden, denn um keinen Preis, selbst nicht um den des Sieges über Semanius, darf ein Krieg ausbrechen, ein Krieg, der Tausende das Leben kosten könnte.“ Diese Abschiedsworte waren nicht gerade erhebend und zuversichtlich, und dennoch verstand Trygar, warum Gormen so gesprochen hatte. Seine Rede war weniger an ihn und Duna als vielmehr an die Schwarzen Kämpfer gerichtet, unter denen ehemalige Söldner und Soldaten, ja, sogar hochrangige Offiziere waren. Der Versuchung, den Kampf gegen Gadennyn mit einer schlagkräftigen Armee militärisch gewinnen zu wollen, wäre für sie leicht nachzugeben. Gormens Worte hatten noch eines klar gemacht: es waren Duna und Trygar, zwei junge, unerfahrene Menschen, deren Entscheidung für die anderen bindend war. Eine Kröte, an der vor allem Methor, der Anführer der Schwarzen Kämpfer, ein ehemaliger General, zu schlucken haben würde. Doch er stand loyal zu Gormen Helath, und dessen unausgesprochene Bitte, die beiden jungen Magier zu unterstützen, war ihm ein Befehl. Auch Gormen stieg jetzt auf sein Pferd. Teuben, der Abt, hob die Hand zum Segensgruß. „Wathan-Bejhi sei mit euch.“ Die vier wendeten ihre Reittiere und ritten davon, gefolgt von den beladenen Packpferden, deren Zügel an den Gurten von Spins und Bocs Sätteln festgebunden waren. Trygar sah ihnen nach, bis ihre Konturen verwischten, die Farben ihrer Kleider und des roten Haarschopfes von Cora im Nebel verblassten und sie schließlich verschwunden waren. Die achtzehn Reiter boten einen seltsamen Anblick: ganz in Schwarz mit wallenden Umhängen und Kapuzen, die ihre Gesichter in Schatten hüllten. Es waren siebzehn Männer und eine Frau. Sie allein trug keinen Kampfstab auf dem Rücken. Wer Feuerlanzen und hell lodernde Flammenpfeile mit den Händen erzeugen und ins Ziel schleudern konnte, hatte das auch nicht nötig. Wenige Stunden nach dem Abschied von den vieren, die in die Ostlande aufgebrochen waren, hatte es Winger nicht mehr im Bett ausgehalten. Geschwächt und auf Dremion gestützt, stand er am Klostertor und sah Trygar, Duna und den schwarzen Reitern nach. Vor dem zweiten Abschied hatte er ihnen nochmals geschworen, dass Dremion und er ihnen folgen würden, sobald es dem Baumeister besser ginge. „Weißt du“, sagte er jetzt zu dem Soldaten, auf den er sich lehnte, und kratzte sich dabei in seinem verfilzten Bart, „vielleicht ist es doch besser, dass wir nicht mit ihnen ziehen. Stell dir vor, wie wir unter diesen schmucken Schwarzen Kämpfern ausgesehen hätten in unseren einfachen, grauen 102 Kutten. Statt geheimnisvoller roter Tätowierungen haben wir nur rote, hässliche Narben zu bieten.“ Dremion lachte: „Anscheinend hast du deinen Humor wieder gefunden. He, sieh mal dort.“ Er zeigte auf die sich weiter entfernenden Reiter, die sich langsam dem Ende des Tals näherten. Dort war plötzlich ein weiterer Trupp von Berittenen erschienen, etwa zwei Dutzend an der Zahl. Die beiden Gruppen trafen sich und verhielten einen Moment, bevor die Schwarzen Kämpfer ihren Weg zum Talausgang fortsetzten. Die anderen Reiter näherten sich dem Kloster. „Wer ist das?“, fragte Winger leicht beunruhigt. „Ach, ich vergaß, dir zu erzählen: Das ist unsere Schutztruppe vom Stamm der Yauqui. Sie werden uns in Abwesenheit der Schwarzen Kämpfer gegen Räuber, Diebe und andere Bösewichter verteidigen.“ Inzwischen verschwanden Trygar, Duna und ihre Begleiter hinter einer Biegung des Tals. „Gute Reise“, murmelte der Baumeister. Dann fragte er Dremion: „Die groben Züge von Spins Plan habt ihr mir ja erzählt, nicht aber die Einzelheiten. Wo liegt ihr erstes Ziel?“ „Dort, wo die Yauqui herkommen“, antwortete der Soldat. „Der Stamm stellt ihnen zwölf weitere Reiter und Mitkämpfer zur Verfügung. Mehr kann ihr Führer nicht entbehren, denn sie müssen ihre Herden vor Beginn des Winters auf die Weiden im Süden bringen, und dazu brauchen sie jeden Mann.“ Es hatte nicht allzu lange gedauert, bis Grom, Neb und Lobo, die Verfolger Gothers, im Hafen von Khor herausgefunden hatten, welches Schiff nach Koridrea fahren sollte. Es war die ‚Lindia’, ein sehr seetüchtig aussehender Dreimaster. Die drei hatten sich längst ihrer schwarzen Tracht entledigt und trugen jetzt die einfache Kleidung von Schafshirten. Kapuzen verbargen die Zeichen ihrer Bruderschaft auf Stirn und Schläfen. Man sollte meinen, dass Schafshirten in einer Hafenstadt irgendwie auffällig wären, heute war dies jedoch nicht der Fall. Eine große Herde der Woll-, Milch- und Fleischlieferanten war gerade eingetroffen und in ein dickbauchiges Schiff verladen worden, das nach Orinokavo fuhr. Viele Tiere würden die lange Reise in engen Pferchen unter Deck nicht überleben und auf dem Schiff geschlachtet werden. Ihr Fleisch würde man salzen und pökeln, damit es nicht verdarb, aber auch auf diesem Wege würden die Tiere den Reichtum des Kaufmanns, der die Herde erworben hatte, und die des Reeders vergrößern. Fleisch und Wolle waren knapp in Orinokavo. Die Tracht eines Schafshirten war daher heute nicht ungewöhnlich in Khor. Und so wunderte sich der Matrose der Lindia, der gerade über das 103 Fallreep an Land ging, auch nicht, als ihn einer der nach Wolle stinkenden Landratten ansprach. „Das ist ein sehr schönes Schiff. Ich hörte, es segelt nach Shoal in Koridrea. Das ist ein verdammt weiter Weg.“ „Jo“, sagte der Matrose. „Das is’er.“ „Wir haben auch einen langen Weg über ein Meer hinter uns, von den nördlichen Ausläufern des Vulcatgebirges bis hierher. Glaub mir, es war nicht einfach, es mit einer riesigen Herde zu überqueren.“ „Red’ kein Quatsch. Wo soll’n da ein Meer sein?“ „Hast du noch nie vom Grasmeer von Vulcor gehört? Ein weites Land, über das der Wind Wellen wie über einen richtigen Ozean treibt. Du solltest es mal sehen.“ „Land? Ich brauch Salzgeruch in der Luft und Gischt, und zwar bald. Vom Land hab ich genug. Wir lieg’n schon über’n Monat hier.“ „Die Stürme kommen doch bald, warum seid ihr denn nicht längst losgesegelt?“ „Wegen so ’ner dämlichen Landratte, die der Käpt’n mitnehmen soll, irgend so’n hohes Tier von dem Fürst, der wo in Shoal regiert. Doch der Staubkopf taucht einfach nicht auf! Wenn er bis übermorn nich da is, hat der Käpt’n gesacht, stechen wir ohne ihn in See. “ Grom wusste genug und verabschiedete sich höflich von dem o-beinigen Matrosen. Gother hatte sein Pferd in der Karawanserei von Khor verkauft, gleich, nachdem die Karawane in der Hafenstadt eingetroffen war. Er saß zusammen mit Osiris im Schankraum, und sie tranken ein letztes Bier. „Ich muss jetzt aufbrechen, mein Freund. Das Schiff wird nicht ewig warten.“ Er wollte sich erheben, doch der Säbelmeister legte ihm eine Hand auf die Schulter. „Warte noch eine Stunde, Gother. Ich werde mal zum Hafen gehen und mich ein wenig umsehen. Wie hieß das Schiff noch gleich? Linda?“ „Es ist die Lindia.“ „Na schön, ich werde mal nachschauen, ob deine Koje schon bereit ist. Du wartest hier.“ Bevor Gother widersprechen konnte, war er aufgestanden und verschwunden.“ Wer sich in einem geschäftigen Hafen nicht bewegte, sondern einfach nur herumstand, war Osiris Egeth grundsätzlich verdächtig. Und so dauerte es nicht lange, bis er einen Schafshirten ausmachte, der nahe am Pier herumlungerte, wo der stattliche Dreimaster angelegt hatte. Der Mann kaute auf einem langen Grashalm und ließ scheinbar gelangweilt den Blick über die 104 Menschen schweifen, die die Schiffe beluden oder auf andere Weise zu tun hatten. Osiris betrat eine Schenke und kaufte sich eine offene Flasche Wein. In einer dunklen Ecke des Hafens goss er einen Teil davon weg und etwas über seine Kleidung. Dann taumelte er mit der Flasche in der Hand über den Pier und grölte ein Sauflied. Er näherte sich dem Mann, der ihn angewidert ansah. Der Schafshirte wich ein wenig zur Seite, um den Betrunkenen vorbeizulassen. Dieser stolperte plötzlich, machte einen Ausfallschritt, um nicht zu stürzen und hielt sich mit der linken Hand am grob gewebten Umhang des Hirten fest. Doch noch immer hatte er sein Gleichgewicht scheinbar nicht gefunden. Seine rechte Hand ließ die Flasche fallen, die zu Füßen der beiden Männer zerplatzte und Wein über sie spritzte, fuchtelte verzweifelt umher, um einen Halt zu finden und streifte wie unbeabsichtigt die Kapuze des anderen vom Kopf. Der stieß den Alkoholbeseelten grob von sich, und die Augen in dem entblößten Gesicht funkelten wütend unter der roten Tätowierung auf seiner Stirn. Nachdem er sich wortreich und lallend entschuldigt hatte, taumelte Osiris davon. Das Schiff wurde also bewacht. Wo einer war konnten die anderen nicht weit sein. Osiris hielt sich nicht damit auf, sie zu suchen. Gother würde nie ungesehen auf die Lindia kommen. Nein, es musste einen anderen Weg geben. Eine Stunde später war er wieder zurück in der Schenke der Karawanserei, wo der Hauptmann ungeduldig auf ihn wartete. „Jetzt brauche ich doch das Geld, das du mit dem Verkauf deines Gauls erzielt hast, Gother. Ich habe dir nämlich gerade eine Passage auf einem Schafsfrachter nach Lankoma in Orinokavo gebucht.“ Das Zelt des Herrn der Yauqui war riesig, fast so groß wie das des Tyrannen Amaran, doch im Gegensatz zu diesem war es schlicht und bestand nur aus einem einzigen Raum, der genügend Platz für alle bot. Alle, das waren die sieben Ältesten des Nomadenstammes: drei Frauen und vier Männer, und die achtzehn Schwarzen Kämpfer, sowie einige Bedienstete, die die Speisen auftrugen. Die Nomaden und ihre Gäste saßen am Boden auf einem dicken, bunten Teppich. Vor jedem der Essenden standen eine kleine Schüssel mit Wasser, ein Tuch und ein Becher mit gegorener Ziegenmilch. Die Platten und Schüsseln mit den Speisen wurden von Hand zu Hand weitergereicht, und sie nahmen sich in Kohlblätter gerolltes Gemüse, eine Handvoll Reis mit Sojasprossen oder Spieße mit gebratenen Fleischwürfeln und aßen mit bloßen Händen. Nach jedem Gang wuschen sie sich die Hände und trockneten sie mit dem Tuch ab. 105 Inmitten der Stammesältesten saß ihr Oberhaupt, der Herr der Yauqui, Khanam Soth. Wie Trygar erfahren hatte, war Khanam nicht Teil seines Namens, sondern ein Titel, der Vater bedeutete. Der Khanam betrachtete sich als geistigen Vater seiner Leute, für deren Wohlergehen er die Verantwortung trug. Soth war lang und dünn, etwa sechzig Jahre alt, sein Gesicht war wettergegerbt und erinnerte mit der großen, scharfrückigen und gebogenen Nase an das eines Raubvogels. Auf dem Kopf saß ein Turban aus schreiend gelbem Tuch. Der kurze Bart war rituell ausrasiert und zeigte haarlose verschlungene Furchen, die wie zwei miteinander kämpfende Schlangen aussahen. Er trug eine grüne Tunika, darüber eine blaugrüne, reich mit Stickereien verzierte Weste und eine weit geschnittene gelbe Hose. Er hatte diese Festkleidung ausschließlich zu Ehren der Gäste angelegt, wie Methor Trygar zugeflüstert hatte. Ansonsten bevorzugte Khanam Soth Reiterkleidung aus Fell und Leder. Rechts neben ihm saß eine Frau, die seine Zwillingsschwester hätte sein können: groß, hakennasig und hart aussehend. Sie war ebenso gekleidet wie der Herr der Yauqui und sah daher aus wie ein bunter Papagei. Nur an der leichten, doppelten Wölbung unter der Tunika war zu erkennen, dass sie kein Mann war. Diese Andeutung einer weiblichen Brust und die Tatsache, dass sie etwas kleiner war und keinen Bart trug, unterschied sie von dem Khanam. Zu seiner Überraschung hatte Trygar erfahren, dass die beiden nicht verwandt, sondern verheiratet waren. Khanam Soths Ehefrau hieß Welga. Zur Linken des Herrn der Yauqui erblickte er ein bekanntes Gesicht, das des kleinen Schamanen, der sich um Winger gekümmert hatte, als dieser mit dem Tode rang. Die übrigen vier Ältesten, zwei Frauen und zwei Männer, trugen graue Turbane und waren einfacher gekleidet als das Herrscherpaar. Die Reste des Mahls wurden abgeräumt. Endlich war die Zeit gekommen zu reden. Weder Duna noch Trygar beherrschten die Sprache der Nomaden, und so musste einer der Schwarzen Kämpfer namens Tegres, ein ehemaliges Stammesmitglied, übersetzen. Duna wartete ungeduldig, bis sich der Khanam und seine Frau eine lange Pfeife angezündet und die ersten Rauchwolken ausgestoßen hatten. Nach dieser Prozedur nickte ihr der kleine Schamane als Aufforderung zum Sprechen zu. „Ihr habt ja von Gormen Helath erfahren, welche Gefahr uns allen droht, und ich bin dir dankbar, Khanam, dass du uns einige deiner Leute zum Schutz des Ordens und weitere zu unserer Begleitung zur Verfügung gestellt hast. Aber zwölf sind bei weiten nicht genug. Ich weiß auch, dass du nicht mehr entbehren kannst, deshalb möchten wir dich bitten, eine Shegra, eine Versammlung der Stammesfürsten, einzuberufen. Wir müssen die an- 106 deren Stämme um Hilfe bitten. Nicht nur unser Land, sondern auch eures ist in höchster Gefahr.“ Der schrill gekleidete Nomadenführer paffte ein paar Züge, bevor er in seiner melodisch klingenden Sprache antwortete: „Keine Bedrohung für uns. Das Grasmeer ist weit. Armeen gehen in ihm verloren wie Flotten im Ozean, wenn der Sturm über sie kommt.“ „Ja, jetzt liegen noch Tausende von Meilen zwischen Semanius und euch, aber bald wird er Orinokavo angreifen und schnell erobert haben, dann liegt nur noch Pheldae zwischen seinen Armeen und deinen Nomaden, ein Land, das sich nicht wehren kann, denn es ist vom Bürgerkrieg aufgerieben. Und ihr müsst eure Herden im Winter nach Süden treiben, fast bis an die Grenzen von Pheldae, dann habt ihr kein Grasmeer, das euch von ihm trennt.“ „Er wird uns nicht angreifen, wenn er klug ist. Aber wenn er die Dreistigkeit besitzt, werden wir ihm zeigen, dass wir besser kämpfen können, als alle, die seine Soldaten besiegt haben, zusammen. Noch nie hat jemand Vulcor erobert.“ Methor mischte sich ein: „Bisher hatte auch noch niemand Interesse daran. Vulcor hat keine Bodenschätze und Reichtümer, die einen Krieg lohnen würden. Aber Gadennyn ist nicht an Kriegsbeute interessiert. Nein, ihm geht es ausschließlich um die Macht. Glaube mir, er wird euch vernichtend schlagen.“ „Sollten seine Armeen tatsächlich an unserer Grenze auftauchen, wäre immer noch Zeit für die Shegra. Die Stämme würden beschließen, sich zu vereinen und ihm entgegenzutreten. Gegen unsere Reiter wären seine Fußsoldaten im Grasland verloren. Wir bräuchten es nur anzuzünden und wegzureiten, und sie würden alle verbrennen.“ Trygar war verzweifelt über soviel Ignoranz. „Und was wollt ihr gegen seine Magie ausrichten? Er wird euer Feuer auspusten, wie ein Sturm über eure Reiter fegen, er wird eure Herden vernichten, euch jagen und in alle Winde zerstreuen, er ganz allein. Dafür braucht er keine Soldaten. Nur wir können ihn aufhalten, doch dazu benötigen wir eure Hilfe.“ Eine Falte des Grimms bildete sich auf der Stirn des Khanam. „Magie? Unsere Götter und Geister werden uns davor beschützen. Wir sind hier im Land von Thishi, Rakh und Roghon, die niemals zulassen würden, dass ein Fremder die Kräfte der Dämonen gegen unser Volk anwendet. In jedem Felsen, jeder Quelle, jedem Busch und jedem Baum wohnt einer ihrer Diener, Geister, deren Macht der dieses Mannes namens Semanius gewachsen, nein, überlegen sind.“ Trygar stand auf, ein Affront gegen die Gastgeber, der Methor aufstöhnen ließ. Zornige Blicke der Nomaden richteten sich auf ihn, als er sagte: 107 „Verzeih, Khanam, aber da du mir nicht glaubst, muss ich es dir beweisen. Bitte folgt mir hinaus.“ Ohne die Entgegnung abzuwarten, machte er kehrt und verließ das Zelt. Draußen angekommen, lief er hinüber zu der Einfriedung, in der ihre Pferde grasten, und führte seine Stute hinaus. Als er sich in den Sattel schwang und sein Pferd umwendete, sah er den Zug der Menschen, angeführt von den hohen, bunt gekleideten Gestalten des Herrn der Pferdemenschen und seiner Frau. Dahinter folgten die Ältesten, dann Methor und Duna und die übrigen Schwarzen Kämpfer. Trygar wartete, bis sie bei ihnen eingetroffen waren. Methors Gesicht war ein einziges Fragezeichen. Seyn und Legis, die Zwillinge, schienen äußerst beunruhigt. Nur Duna lächelte schwach. Sie schien zu ahnen, was Trygar vorhatte. Der Khanam sagte mit gerunzelter Stirn: „Wohin sollen wir dir folgen?“ Der Reiter deutete nach Osten. „Etwa eine Meile von hier liegt ein kleiner Hügel, übersäht mit einigen Felsen und Bäumen. Kennt ihr ihn?“ „Ja.“ „Dann treffen wir uns dort.“ Im leichten Trab ritt er los, quer durch das Nomadenlager, zwischen den weit auseinander stehenden Zelten hindurch, den Pferdekoppeln, den Schafs- und Ziegenherden, die das braune Gras im Lager kurz hielten. Ein paar Augenblicke später holte ihn Duna ein. Ihr Hengst Flink hatte die kurze Distanz im schnellen Galopp zurückgelegt. Sie zügelte ihn, bevor er an Trygar vorbeiraste. „Eine kleine Demonstration?“, fragte sie und blickte ihn wissend an. „Ja, genau das habe ich vor.“ „Bist du denn wütend genug?“ „Ich war es, doch der Zorn ist verraucht. Ich fürchte, ich werde mich blamieren. Hilfst du mir?“ „Natürlich. Soll ich dich beleidigen und verfluchen?“ „Nein, das würde mich nur zum Lachen bringen, und ich brächte überhaupt keine Magie mehr zustande. Ich werde an Gadennyn, an seinen Betrug an uns, an den Tod von Nunoc Baryth, an den Verräter Gother, an Amaran und seine Unmenschlichkeit, an meinen Vater und das, was ihm der Krieg angetan hat, denken. Glaub mir, dann werde ich wütend genug sein.“ Der halbe Stamm war seinem Führer gefolgt. Nur die Ältesten, wenige andere Nomaden und die Schwarzen Kämpfer waren beritten, der Rest war zu Fuß gekommen. Eine Meile schien es nicht wert, ein Pferd zu satteln. Hundert Schritte vor dem kleinen Hügel erwarteten Duna und Trygar die 108 Menge. Diesmal war es Welga, die Frau des Herrn der Yauqui, die Trygar ansprach: „Was willst du uns beweisen, Junge.“ Die Bezeichnung ‚Junge’ war natürlich eine Beleidigung, eine Antwort darauf, dass Trygar die Gastgeber mit seinem Benehmen brüskiert hatte. Diese Beleidigung war notwendig, um das Gesicht zu wahren, gleichzeitig eine Geste an Trygar, dass damit der Ehre des Khanam genüge getan war. Er akzeptierte sie. „Ich will zeigen, Welga, dass euch eure Götter und Geister nicht beschützen können. Dieser Hügel hinter uns, ist er von Geistern bewohnt?“ Diesmal antwortete der Khanam selbst: „Oh ja, ein Hügel in der Weite des Grasmeeres, dazu noch mit Felsen übersäht und Bäumen bewachsen, ist etwas ganz Besonderes. Nur die Götter können ihn geschaffen haben.“ Trygar musste ihm Recht geben. Dieser kleine Tafelberg mit den steinernen Monolithen, die sich wie Masten aus einem Schiffsdeck erhoben, mit einem kleinen Wäldchen aus Kiefern obenauf, wirkte fremd und deplaziert in der flachen Ebene, wie aus der Ferne hierhin verpflanzt. Welga fuhr fort. „Mächtige Geister wohnen hier. Erzürne sie nicht, sonst müssen wir heute deine Gebeine begraben.“ Trygar stieg von seinem Pferd ab, gab ihm einen Klaps auf die Hinterhand, und die Stute trottete davon, zurück zum Nomadenlager. Duna tat es ihm gleich und schickte ihren Hengst Flink fort. Sie wandte sich an die übrigen. „Lasst eure Reittiere besser frei. Sie sind dem nicht gewachsen, was ihr gleich erleben werdet.“ Die Reiter sahen sie unschlüssig an. Erst als der Khanam von seinem großen Hengst abstieg, folgten die anderen seinem Beispiel. Nur drei der Nomaden blieben trotzig in den Sätteln. Trygar sah Duna an. Diese nickte ihm zu. Er schloss die Augen. Die folgenden Minuten gerannen zu Sirup und flossen so träge dahin, dass sie Duna wie Stunden vorkamen. Endlich riss er die Augen auf. Die Feuermagierin erkannte den Zorn in ihnen, aber auch tiefe Trauer. Sie wusste, dass er wieder in die Unterwelt hinabgestiegen war, in seine eigene Unterwelt. Es begann. Etwas, das keiner der Anwesenden jemals vergessen würde. Eine der grauen, aufgetürmten, regenschweren Herbstwolken, die über ihnen hing, wurde herabgesogen, formte sich zu einer Windhose, wuchs zu einem Wirbelsturm, einem brodelnden schwarzen Trichter, der sich in die Bäume auf dem Plateau senkte und sie ausriss, als handele es sich um kleinwüchsiges Unkraut. Die Stämme brachen mit lauten Knacken und flogen auf, in den Sog des Wirbels hinein. Dann half Duna Trygar. Blitze 109 krachten aus der dunklen Wolke herab, es regnete Flammen und Feuer, der Rest des kleinen Wäldchens, das noch nicht vom Sturm umgepflügt war, verbrannte in einer gewaltigen Feuersbrunst. Trygar überließ das Brennbare der Feuermagierin und wandte sich den Monolithen zu. Krachend zerbarst der erste. Felsen wurden umhergeschleudert, in alle Richtungen mit Ausnahme der, wo die Menschen warteten. Ihre Reittiere, die in der Nähe gegrast hatten, waren längst geflohen. Die übrigen Pferde, auf denen noch einige Nomaden saßen, wieherten, rollten rasend vor Angst mit den Augen, bäumten sich auf und warfen ihre Reiter ab. Dann machten auch sie sich davon. Der zweite Monolith zersplitterte wie sprödes Glas. Gesteinsbrocken wurden in den schwarzen Wirbel emporgerissen, Flammenzungen und Elmsfeuer leckten an den zerborstenen Felsen und hüllten sie in blaues, gelbes und rotes Licht. Der Boden unter den Füßen der Menschen wankte und zitterte, die Luft war mit Donner erfüllt und drückend schwer, sodass sie kaum atmen konnten. Von der Klippe des Tafelberges brach ein großes Stück ab, und eine Lawine aus Erde und Steinen rollte an seiner Flanke herab. Dann war es vorbei. Der wütende Wirbelsturm zog sich in die Wolken zurück. Die Blitze hörten auf. Das Plateau auf dem Hügel war leergefegt. Kein Baum, kein Fels, kein Monolith war mehr übrig. Trygar war kreideweiß. Er musste sich an Duna festhalten, um nicht zusammenzubrechen. Die junge Feuermagierin wandte sich zu den Nomaden, die starr vor Schreck und mit aschfahlen Gesichtern dastanden. Der Khanam blickte sie und Trygar an, als seien sie übernatürliche Wesen. Welga war auf die Knie gesunken. „Was ihr gesehen habt, ist das, was zwei durchschnittlich begabte Magier anrichten können. Haben die Geister des Hügels ihren Wohnort verteidigt? Haben euch die Götter geholfen? Nein! Und wir sind nichts, wahrlich NICHTS gegen Semanius, den größten aller Magier. Ihr könnt euch nicht einmal vorstellen, was ER euch antun würde.“ 110 Helmseth Drei Tage danach fühlte sich Trygar immer noch, als habe ihn eine Riesenspinne in ihrem Netz gefangen, in einen Kokon eingesponnen und bei lebendigem Leibe ausgesaugt. Er war kraft- und antriebslos. Die Demonstration der magischen Macht an dem kleinen Hügel beim Lager des Stammes der Yauqui hatte ihm das Letzte abverlangt. Auch Duna war danach müde gewesen, jedoch längst nicht so sehr wie der junge Magier. Luft und Feuer waren vergleichsweise einfach zu manipulieren. Um harten Fels zu sprengen, sind aber ungeheure Energien erforderlich, deren Entfesselung und Lenkung einen Magier außerordentliche Kraft kostet. Er hatte das nur geschafft, weil er über alle Maßen wütend gewesen war, und diese Erkenntnis bedrückte ihn noch immer. Der Zorn war nämlich nicht aus einem konkreten Anlass entstanden, sondern seit Wochen und Monaten sorgfältig aufgestaut worden, ein riesiger See, nur zu dem Zweck geschaffen, einen Damm zum Brechen zu bringen und ein Inferno auszulösen. Wogen von Hass hatten den Wall der Selbstbeherrschung zertrümmert und dämonische Kräfte freigelassen. Die steinernen Monolithen auf dem Tafelberg waren nacheinander zu all den Menschen geworden, die ihn gewollt oder ungewollt verletzt hatten: seine Mutter, die kurz nach seiner Geburt gestorben und ihn damit verlassen hatte, sein Vater, dessen Träume ihn immer noch quälten, die Menschen in seinem Dorf, die ihn in seiner Kindheit und Jugend wegen seiner magischen Talente verachtet, verfolgt und schließlich verjagt hatten, Horlu und Cora, weil sie ihn verführt hatten, ohne ihm gleichzeitig ihre Liebe zu schenken, Zaphir, weil er sich in den Tod davongestohlen und die Gemeinschaft im Stich gelassen hatte, all seine Freunde, weil sie ihn nicht davon abgehalten hatten, einen Mord zu begehen, und natürlich Amaran, der Tyrann, und Gother, der Verräter, vor allem aber Gadennyn, der sich hinterlistig seine Loyalität erschlichen und sich als Ausgeburt des Bösen herausgestellt hatte. Doch die zerstörerischste Gewalt hatte Trygar entfesselt, als er sich selbst vor seinem inneren Auge sah, diesen zum Mörder gewordenen Jungen, der einmal geschworen hatte, die destruktiven Kräfte der Magie nicht einzusetzen und diesen Eid ein ums andere Mal gebrochen hatte. Duna hatte auf ihn eingeredet und ihn beschworen, nicht in Selbstmitleid und Gram zu versinken. Sie hätten doch ihr Ziel erreicht: Khanam Soth, der Herr der Yauqui, hatte zugesagt, eine Shegra, eine Versammlung der Führer der Nomadenstämme, einzuberufen. Sie konnten möglicherweise auf Unterstützung durch die Steppenvölker hoffen. Doch es mochten noch Wochen, vielleicht Monate vergehen, bis sich ihnen eine größere Zahl der Nomaden anschließen würde. Die von dem Khanam schon vorher zugesagten zwölf Begleiter waren zunächst bei ihrem Stamm geblieben und sollten 111 sich später zu den Schwarzen Kämpfern gesellen. Denn diese waren jetzt unterwegs nach Helmseth, und die Bewohner der Steppe mieden die Enge der Städte. Der Weg zu dem Handelszentrum im Norden von Vulcor war nicht mehr weit und die graue Linie der Stadtmauer schon zu erkennen. Sie ritten im strömenden Regen. Der bleigraue Himmel hatte seine Schleusen geöffnet, und das von Windböen gepeitschte Wasser klatschte ihnen ins Gesicht, sodass es Mensch und Tier schwer fiel, die Augen offen zu halten und zu atmen. Das hohe, braune Gras der Steppe bog sich unter der Last von Wasser und Wind und lag an einigen Stellen wie frisch gemäht am Boden. Endlich erreichten sie das offene Stadttor. Keine Wache sprach sie an. Auf der einem Schlammpfuhl gleichenden Hauptstraße von Helmseth war kein Lebewesen zu sehen. Selbst streunende Hunde und Katzen hatten sich in die geschützten Winkel im Windschatten der Häuser zurückgezogen. Die Schar schwarzer Reiter lenkte ihre Tiere in den Innenhof eines großen Gasthauses. Der Stallbursche, der es sich unter dem überdachten Vorbau der Stallungen gemütlich gemacht hatte, kam nur unwillig und mit ängstlichem Gesichtsausdruck ins Freie, um sich um die Pferde der neu angekommenen Gäste zu kümmern. Das Gasthaus war so gut wie leer, und der Wirt begrüßte sie mit misstrauischen Blicken. In ihren triefend nassen schwarzen Kutten und den Kapuzen, die ihre Gesichter verhüllten, mit den merkwürdigen Kampfstäben auf den Rücken, sahen die Ankömmlinge wie eine finstere Räuberbande aus. Nachdem sie aber die Kapuzen zurückgeschlagen hatten und freundlich Essen und Unterkunft bestellten, freute sich der Schankwirt über die Reisegruppe, der er gleich sechs Schlafsäle und eine kleine Kammer, in der Duna schlafen würde, vermieten konnte. Nachdem sie ihr Gepäck in den engen Unterkünften verstaut und sich häuslich eingerichtet hatten, trafen sich die achtzehn Schwarzen Kämpfer am frühen Abend im Schankraum. Der Wirt hatte einen langen Tisch aufstellen lassen und ließ ein einfaches, aber wohlschmeckendes und reichliches Mahl auftragen, das aus frischem Brot, Käse und knusprigen Scheiben eines Schweinebratens bestand. Zum Trinken gab es Wasser, Milch und Bier. Nach und nach füllte sich der Raum mit anderen Gästen. Einige von ihnen verließen die Schenke gleich wieder, als sie die schwarz gekleidete Gruppe erblickten, sie befürchteten wohl Ärger, doch die meisten blieben und schauten neugierig und miteinander tuschelnd zu den seltsamen, tätowierten Fremden herüber. Duna unterhielt sich mit Seyn, der neben ihr saß, und Trygar hörte den beiden zu. „Glaubst du, wir finden hier wirklich Soldaten, Söldner oder mutige Menschen, die sich unserem Kampf anschließen wollen?“, fragte die junge 112 Frau den großen Mann, dem ein Ohrläppchen fehlte. Er hatte einmal erzählt, sein Vater habe es ihm selbst abgeschnitten, weil er ihn sonst nicht von seinem Zwillingsbruder Legis habe unterscheiden können. „Das glaube ich kaum. Soldaten gibt es in ganz Vulcor nicht, dafür umso mehr Söldner, die von den Kaufleuten und Karawanenführern zum Schutz vor den Räuberbanden aus dem Süden angeworben werden. Dafür verlangen sie eine Menge Geld. Ich habe manchmal den Verdacht, dass einige von ihnen selbst zu den Banden gehört und die Seiten gewechselt haben, weil sie so mehr verdienen können. Jedenfalls sind sie skrupellos und geldgierig. Für unsere Sache werden wir sie nicht gewinnen können. Vielleicht wird sich uns der eine oder andere einfache Mann anschließen, der in Helmseth keine Zukunft für sich sieht oder einfach ein Abenteuer erleben will. Aber selbst ein ganzes Heer von Bettlern, Bauern oder halben Kindern, die noch grün hinter den Ohren sind, wird Gadennyn nicht schrecken.“ „Aber was tun wir dann hier? Wäre es nicht besser, gleich weiter nach Süden zu ziehen?“ „Es gibt einen Grund, warum wir das nicht machen: wir müssen die Shegra abwarten. Die Stämme sind jetzt noch weit über Vulcor verstreut. Bald aber brechen sie zu ihren Winterweiden südlich des großen Stroms auf. Die Zugwege nähern sich einander bis auf weniger als einen Tagesritt und treffen an der Furt gar zusammen. Das erleichtert die Einberufung der Shegra. Sie wird frühestens stattfinden, wenn die Nomaden den Fluss erreicht haben. Das wird drei bis vier Wochen dauern. Bis dahin können wir unser Glück in Helmseth versuchen. Es gibt durchaus etwas, was wir außer Mitkämpfern noch benötigen, nämlich Geld.“ „Um Söldner anzuwerben?“, warf Trygar ein. „Nein. Methor traut den Söldnern nicht, und das mit Recht. Sie würden zu Gadennyn überlaufen, wenn er den richtigen Preis zahlte. Ich hege keinerlei Zweifel, dass wir auch ohne die Söldner ein großes Heer aufstellen können. Ihr seid beide jung, ihr müsstet es doch wissen: Es gibt so viele junge Glücksritter und Abenteuerlustige, denen man nur einen Grund, sei er gut oder schlecht, geben muss, um mit Freuden in den Krieg zu ziehen. Sie täten es auch ohne Sold, denn sie kennen die Gräuel des Krieges nicht. Diese Möchtegern-Krieger werden enttäuscht sein, wenn es uns gelingt, eine Schlacht zu vermeiden. Ich hoffe, dass die Nomaden, von denen eine Hundertschaft tausend grüne Waghälse aufwiegt, uns ebenfalls in großer Zahl unterstützen. Wir brauchen das Geld nicht, um diese Menschen zu bezahlen, sondern um sie zu ernähren, ihnen Waffen und Kleidung zu kaufen, um ein Begleittross mit vielleicht fünfzig oder hundert Ochsen- und Pferdewagen aufzustellen, für Lebensmittel, Zelte, Wasserfässer, Schafsund Ziegenherden, die wir kaufen müssen, zur Bezahlung der Weide- und 113 Wegrechte, wenn unser Heer Land in fremdem Besitz kreuzt, Geld zur Benutzung von Brunnen, ja selbst Geld für Huren, denn viele Männer, die sich uns anschließen, können nur so auf dieser endlosen Reise durch Kälte, Schnee, Regen und Schlamm bei Laune gehalten werden. Der Nachschub und Tross für ein großes Heer verschlingt Unsummen, Beträge, die der Orden niemals aufbringen kann.“ „Und von wem sollen wir dieses Geld bekommen?“, fragte Duna. „Von den begüterten Kaufleuten in Helmseth. Manche von ihnen sind wirklich unverschämt reich. Doch sie zu bewegen, uns zu finanzieren, wird keine leichte Aufgabe sein.“ „Warum sollten sie es denn tun?“ Duna runzelte zweifelnd die Stirn und zog die Nase kraus. „Weil sie ihren Reichtum behalten wollen, Kind.“ „Nenne mich nicht Kind!“, fauchte die junge Frau aufgebracht. „Schon gut, Duna. Immerhin bist du halb so alt wie ich. Ich habe es nicht herablassend gemeint. Du und Trygar, ihr seid unsere Anführer. Aber hier müsst ihr unserer Erfahrung trauen. Von Geschäften, Verhandlungen und Diplomatie versteht ihr nichts.“ „Das begreife ich nicht“, mischte sich Trygar ein. „Du glaubst, sie würden uns Geld geben, um ihren Reichtum zu sichern?“ „Ganz recht. Seht mal: Das Schlimmste, was einem Kaufmann passieren kann, ist Krieg. Warum? Kriegsherren kaufen nichts. Sie konfiszieren und nehmen sich, was sie brauchen. Der normale Handel kommt zum Erliegen. In Kriegszeiten kann keine Karawane mehr durch ein paar Söldner geschützt werden. Kein Handelsschiff würde aus dem Hafen von Khor auslaufen. Wenn schon Krieg, dann bitte weit weg von uns, denken die Kaufleute. Am besten im Land des Feindes. Wenn wir ihnen klar machen können, dass Gadennyn und seine Soldaten nach Vulcor kommen werden, falls wir ihnen nicht entgegenziehen, werden sie unser Heer hoffentlich finanziell unterstützen. Doch davor muss noch viel Überzeugungsarbeit geleistet werden. Eine Aufgabe, für die weder ich noch ihr geeignet seid. Glücklicherweise sind einige unter uns, die Erfahrung auf diesem Gebiet haben.“ „Und wer ist das?“, wollte Cora wissen. „Lorth war früher selbst ein Kaufmann, bevor er dem Schwarzen Orden beigetreten ist. Er besaß ein Handelskontor in Khor. Baldures war Diplomat in Orinokavo, und Methor, der auch aus diesem Land stammt, befehligte als ehemaliger General ein Heer im letzten Krieg gegen Koridrea. Nachdem er eine entscheidende Schlacht unter großen Verlusten verloren hatte, änderte er sein Leben, verließ Orinokavo und fand uns schließlich. Er kann wohl am besten die Gefahren darstellen, die von einem Krieg ausgehen und wird den potentiellen Geldgebern klarmachen, dass, falls der Krieg 114 zu ihnen kommt, Helmseth geplündert und seine Einwohner massakriert werden, gleichgültig, ob sie Widerstand leisten oder sich ergeben. Doch wir dürfen nichts überstürzen. Wir werden einige Tage in Helmseth bleiben, damit sich die Einwohner an uns gewöhnen. Wir sollten noch nichts von unserer wahren Mission erzählen. Der Orden braucht Vorräte, wir sind also offiziell hier, um einzukaufen. Sind erst einmal Kontakte zu den Kaufleuten geknüpft, werden Lorth und Baldures schnell wissen, wer von ihnen uns behilflich sein könnte. Am besten könnt ihr helfen, wenn ihr freundlich zu den Menschen hier seid, euch von niemandem provozieren lasst. Es ist nicht so, als ob der Orden hier verfolgt wird, aber die Städter sind doch äußerst misstrauisch gegenüber den Schwarzen Brüdern und Schwestern. Viele mögen uns nicht oder haben Angst vor uns.“ Orec war ein hübscher, junger Bursche mit blauen Augen, die scheinbar voll unschuldiger kindlicher Neugier funkelten, einem offenen, freundlichen Gesicht, das meist von einem herzlichen Lächeln geschmückt wurde. Er war groß und muskulös, trug sein Haar in langen, blonden Locken, die ihm auf die Schultern fielen. Orec war der Schwarm aller Mädchen und Frauen, der Kumpel und Freund, den sich viele Männer wünschten, bis auf die Tatsache, dass er sich schlecht als Saufkumpan eignete, weil er keine alkoholischen Getränke anrührte. Orec war ein Reisender, ein Fremder, zu dem man schnell Vertrauen fasste, wenn er die Stadt oder das Dorf betrat. Die meisten Menschen erkannten ihren Irrtum erst, wenn es zu spät war, denn Orecs Freundlichkeit war eine täuschende Maske. In ihm brodelte ein Vulkan aus Bitterkeit, Wut und Hass. Ein Vulkan, der von Zeit zu Zeit ausbrach und seine Opfer forderte. Orec war das Kind einer Schneiderin, die ihren Sohn allein aufzog. Seine Mutter lebte in der Burg eines Ritters und nähte dessen und seiner Familie Garderobe. Sie hatte ein gutes Auskommen, denn der Ritter war reich. Seine Frau und seine Töchter hielten die Schneiderin unentwegt beschäftigt. Der kleine Orec durfte bei den Anproben immer dabei sein, denn er war ja noch ein Kind, und die Mädchen der Ritterfamilie neckten ihn immer und zeigten ihm so manches mal ihre geheimen, süßen Körperteile, die Knospen ihrer Brüste, die sanften Rundungen ihres Gesäßes, oder sie hoben mit einem nervösen Kichern ihren Rock, um ihn einen kurzen Blick auf das pelzige Dreieck zwischen ihren Beinen werfen zu lassen, natürlich nur, wenn seine Mutter nicht im Raum war. Mit zwölf Jahren wurde er zum ersten Mal von der jüngsten Tochter verführt. Kurz darauf schlief er mit allen. Sein Ruf als kindlicher Liebhaber sprach sich rasch unter den Damen und weiblichen Bediensteten der Burg herum. Als er fünfzehn war, holte ihn die Frau des Ritters in ihr Bett. Orec wurde in den Liebesdiensten gut ausgebildet, manchmal war ihm diese Pflicht zuviel, doch er genoss das 115 Leben natürlich auch. Allerdings war sein geheimer Wunschtraum, eines Tages ein berühmter Ritter zu werden. Mit den Knappen, Pagen und Küchenjungen übte er den Schwertkampf, wann immer es seine Pflichten zuließen. Der Junge war inzwischen als Stallbursche angestellt. Er konnte gut mit Pferden umgehen und reiten wie kein anderer im Gefolge des Ritters. Mit sechzehn Jahren gewann er ein ‚Turnier’, das die Jungen der Burg mit Duldung des Ritters austrugen. Der Burgherr hielt zwar nichts von den unbeholfenen Kämpfen mit zusammengezimmerten Rüstungen aus Fässern, Holzplanken als Schwertern und Besenstielen als Lanzen, doch als sein einziger Sohn unbedingt daran teilnehmen wollte, schaute er widerwillig zu. Im Lanzenduell wurde er jedoch von dem Sohn der Schneiderin aus dem Sattel gehoben, der ihm als Revanche einen Schwertkampf anbot. Der Sohn des Ritters, seit drei Jahren vom Schwertmeister der Burg aus- und entsprechend eingebildet, was seine Fechtkünste anbelangte, ging auf das Angebot des Stalljungen ein und wurde nicht nur besiegt, sondern geradezu gedemütigt. Der Ritter runzelte die Stirn und verließ kommentarlos die kleine Arena im Innenhof der Feste. Einen Tag später ließ der Burgherr die Schneiderin zu sich kommen, um ihr zu sagen, dass ihr Lohn überhöht und er nicht mehr gewillt sei, so viel zu bezahlen. Wenn sie weiter für ihn arbeiten wolle, dann nur noch zum halben Lohn. Natürlich war Orecs Mutter gezwungen, darauf einzugehen, wollte sie sich und ihren Sohn ernähren können. Am gleichen Tag warf der Stallmeister Orec hinaus. Er sei zu faul und verstünde nichts von Pferden, war die Begründung. Traurig ging er zum Gebäude der Bediensteten zurück, doch als er es betreten wollte, fiel eine Bande von Jungen über ihn her, zerrte ihn in eine dunkle Ecke und verpasste ihm die schlimmste Tracht Prügel seines Lebens. Ihr grinsender Anführer war der Sohn des Burgherrn. Für eine kurze Weile ließen sie Orec in Ruhe. Er fand eine Arbeit außerhalb der Burg bei einem Schmied, wobei ihm seine jetzt schon beachtliche Körperkraft zustatten kam. Eines Tages befahl ihn die älteste Tochter des Ritters zu sich, um seine Dienste als Liebhaber zu beanspruchen, doch Orec, der mit dem Burgherrn und seiner Familie nichts mehr zu tun haben wollte, weigerte sich. Am nächsten Morgen wurde er verhaftet und für drei Tage in ein dunkles Loch gesperrt, ohne dass er wusste, was er sich zuschulden kommen lassen haben sollte. Dann begann der Prozess. Wie üblich saß der Burgherr selbst zu Gericht. Die Anklage war niederschmetternd: Über Jahre habe er die Töchter des Ritters in der Nähstube der Schneiderin missbraucht, ihnen gedroht, sie zu ermorden, falls sie sich jemandem offenbaren sollten. Seine Mutter habe dabei zugesehen. Die Frau des Burgherrn sagte aus, ihre Töchter wären nur sehr ungern zu der Schneiderin gegangen, und sie habe sie mit Bestimmtheit dazu auffordern müssen, denn schließlich seien sie als 116 Töchter einer solch hoch angesehenen Person wie ihrem Ehemann verpflichtet gewesen, angemessen gekleidet zu sein. Hätte sie, die Mutter, aber gewusst, welche Schrecken und Demütigungen in der Schneiderei auf die armen Mädchen warteten… Orec wurde nicht einmal die Gelegenheit gegeben, sich zu verteidigen. Jedes Mal, wenn er den Mund aufmachte, um eine dieser Ungeheuerlichkeiten zurückzuweisen, klatschte eine Peitschenschnur auf seine Rücken und riss einen blutigen Striemen. Er wurde zu zwanzig Jahren Haft im Kerker verurteilt und nach der Verkündigung sofort in seine dunkle und enge Zelle zurückgebracht. Seine Mutter sah er nie wieder. In den Wochen, Monaten und Jahren in diesem stinkenden Loch wuchs sein Hass auf den Burgherrn und seine Familie, sowie auf alle Ritter, ins Unermessliche. Irgendwann konnten die Töchter des Ritters dem wachsenden Druck ihres quälenden Gewissens nicht mehr standhalten, und sie gestanden ihrem Vater die Wahrheit. Der wollte eine Haftverschonung verfügen, doch sein Sohn bestand darauf, dass Orec weiter im Gefängnis blieb. Zwei Jahre musste Orec noch ausharren, dann setzten die Töchter ihrem Vater so massiv zu, dass der sich über den Willen seines Sohnes hinwegsetzte, der inzwischen die Burg verlassen hatte und am Hof des Provinzfürsten Dienst tat, und den Gefangenen frei ließ. Orec wurde mitten in der Nacht aus dem Schlaf gerissen und nach draußen vor das Burgtor gezerrt. Dort ließ man ihn einfach liegen, abgemagert, verdreckt, mit verfilztem Haar und Bart und mit zerlumpten Kleidern. Am nächsten Morgen bat er um Einlass in die Burg, um seine Mutter zu sehen, doch man sagte ihm, er solle sich trollen. Die Schneiderin sei längst gestorben. Tagelang irrte er durch die Wälder, ernährte sich von Schnecken und Würmern, Nüssen und Bucheckern, bis eine Bande von herrenlosen Söldnern ihn fand. Ihr Anführer hatte Mitleid mit ihm, und so wurde er von ihnen aufgenommen. Ein paar Monate später war Orec der beste Kämpfer unter den Söldnern. Sie hatten sein Talent schnell erkannt und ihn ausgebildet. Orecs Truppe wurde von einem reichen Bauern verpflichtet, dessen Dorf immer wieder von Banditen überfallen und ausgeraubt wurde. Die Söldner räumten schnell mit der Plage auf. Dabei lernte Orec nicht nur zu kämpfen, sondern auch zu töten. Zwischen beiden Dingen bestand nämlich ein großer Unterschied. Doch der brodelnde Hass in seinem Innern machte es ihm leicht. Er brauchte sich nur vorzustellen, sein Gegner wäre ein Ritter. Die Lava des Hasses kochte immer heißer in ihm, und er konnte es nicht länger aushalten. Deshalb verließ er die Söldner, kehrte zurück zu der Burg, die sein Zuhause gewesen war, drang verkleidet und unerkannt ein, 117 schlich sich nachts in das Zimmer des Burgherrn, töte dabei lautlos zwei Wachen und schnitt seinem Peiniger im Schlaf die Kehle durch. Dann wartete er. Es dauerte zwei Wochen, bis die Kunde vom Tod des Burgherrn in die Provinzhauptstadt gelangte und der Sohn des Ritters sich aufmachte, sein Erbe anzutreten. Orec lauerte ihm an der Straße zur Burg in einem Wäldchen auf. Er fuhr wie ein wildes Raubtier zwischen die fünf Männer, die den jungen Ritter begleiteten. Augenblicke später lagen sie tot am Boden. Der zitternde Ritter stand vor ihm und winselte um Gnade, seine Hose wurde im Schritt feucht. Orec zwang ihn niederzuknien und schlug ihm mit einem einzigen Streich den Kopf ab. In der folgenden Zeit zog er ziellos durch das Land. Der Hass brannte immer noch gnadenlos in ihm, und so musste er sich immer neue Opfer suchen. Wo er hinkam, gelang es ihm auf seine äußerlich freundliche und sympathische Art, Bewunderung auf sich zu ziehen, was unweigerlich zum Neid einiger nicht von der Natur so mit Jugendlichkeit, Schönheit und Anmut ausgestatteten Männern führte. Er ließ sich zunächst nicht provozieren, und mit seiner sanften, friedlichen Art erregte er den Ärger seiner Widersacher noch mehr, lockte sie damit in die Falle. Von einem Augenblick zum anderen verwandelte er sich in eine rasende Bestie, und wenn der Kampf vorbei und der andere tot war, konnte niemand behaupten, Orec habe mit dem Streit angefangen. Und so blieb er von den Nachstellungen der Stadtwachen oder Dorfbüttel verschont, die es lieber sahen, wenn er bald darauf verschwand, als ihm den Vorwand für einen weiteren Kampf zu bieten. Solche Siege bereiteten Orec wenig Befriedigung, und so begann er, an offenen Turnieren teilzunehmen, solchen, zu denen sowohl Ritter und Adelige als auch Kämpfer niederen Ranges zugelassen wurden. Natürlich gab es da Regeln, die er nicht einfach missachten konnte. Jemanden absichtlich zu töten, wurde als Mord geahndet, aber unabsichtlich konnte das in der Hitze eines Kampfes natürlich geschehen. Zu Beginn jedes Turniers suchte sich Orec einige Ritter aus, von denen er einen töten wollte. Es hing natürlich von der Auslosung ab, ob er auf eines seiner Opfer traf, aber aus diesem Grund studierte er die Setzliste genau, fragte die Leute aus, wer die besten Kämpfer waren und auf wen die höchsten Wetten abgeschlossen wurden. Die Vorrundengegner besiegte er immer leicht, wobei er darauf achtete, dass es so aussah, dass ihm das Glück beistand, denn er wollte nicht in den Ruf eines unbesiegbaren Kämpfers geraten. Kam es zum von ihm erwünschten Duell, so flüsterte er seinem Gegner während des Nahkampfes, wenn sie einmal keuchend und sich umklammernd aneinander lehnten, zu, dass er beabsichtige, ihn zu töten. Danach sah er erst Ungläubigkeit, dann Angst in den Augen des anderen. Irgendwie passierte es: Orec stolperte, einen Hieb abwehrend ungeschickt nach vorne, und sein Schwert drang zufällig durch den engen Spalt zwischen Brustpanzer und Halsberge. 118 Manchmal wurde er danach vom Turnier ausgeschlossen, doch er hatte sein Ziel erreicht. Ein paar Tage lang spürte er dann die Hitze in seinem Innern nicht mehr. Orec legte weite Reisen zurück. Oft lagen Hunderte von Meilen zwischen den Turnierorten. Er wollte nicht, dass er von einem fahrenden Ritter, der ebenfalls die Turniere bereiste und wie er davon lebte, wieder erkannt wurde. Manchmal traf er doch auf einen Gegner, der ihm schon einmal begegnet war. In diesem Fall achtete er darauf, dass er verlor, und er verließ den Ort vorzeitig. Jetzt war er zur Hauptstadt Inay unterwegs. Er hatte gehört, dass das Winterturnier dort von vielen Rittern und Söldnern besucht wurde. Am Morgen nach ihrer ersten Nacht in der Herberge „Zum Wüstenwolf“ saßen die achtzehn Schwarzen Kämpfer gerade beim Frühstück in der Schankstube, die ansonsten leer war, als sich die Tür öffnete und gerüstete und bewaffnete Soldaten der Stadtwache eintraten. Es waren nur sechs, doch durch die offene Tür konnte man sehen, dass zwei weitere Dutzend, die nicht mehr in die enge Schenke passten, draußen warteten. Einer der Ankömmlinge, anhand seiner Helmverzierung als Offizier zu erkennen, baute sich breitbeinig vor dem Tisch auf, an dem Trygar und die anderen saßen, und schnauzte sie in herrischem Ton an: „Wer ist euer Anführer?“ Trygar und Duna hatten mit Methor vereinbart, dass er das Sagen haben sollte, solange sie sich in Helmseth befanden. Deshalb stand der Führer der Schwarzen Kämpfer auf. Sein Ton blieb höflich, als er antwortete: „Das bin ich, Hauptmann. Was wünscht ihr von uns?“ „Wer seid ihr, und was wollt ihr in der Stadt?“, kam es barsch zurück. „Wir sind Mönche eines Ordens am Fuß der Berge“, antwortete Methor nicht ganz wahrheitsgemäß, denn sie gehörten zwar dem Orden an, Mönche waren sie jedoch nicht. Doch es schien ihm diplomatischer, sich nicht als Kämpfer erkennen zu geben. „Wir sind hier, um einige Vorräte für unseren Orden zu kaufen“, fuhr er fort. „Euer Schwarzer Orden ist Mughdim Mondo, dem Bürgermeister, wohl bekannt. Und er hat unerfreuliche Dinge über euch gehört. Man sagt, ihr gebraucht die Magie des Bösen. Ein Reisender, der heute Morgen in die Stadt gekommen ist, berichtete, er sei in einem Lager der Eingeborenen, drei Tagesritte von hier gewesen. Diese harmlosen, dummen und rückständigen Hirten haben ihm von Stürmen, Blitzen, Feuern und anderen dämonischen Kräften erzählt, die ein Trupp schwarzer Reiter nahe ihres Lagers entfesselte. Ein ganzer Berg soll zertrümmert worden sein und Tote soll es gegeben haben. Wart ihr das?“ 119 Methor, der ein großer und eindrucksvoller Mann war, schien noch ein Stück zu wachsen. Seine Augen fixierten den Hauptmann mit unergründlichem Blick. „Und wenn?“, fragte er nur. „Willst du uns deshalb verhaften?“ Der Soldat, der eben noch selbstsicher und überlegen schien, wurde bleich. „Der Bürgermeister bittet euch nur, die Stadt zu verlassen, er möchte keinen Ärger.“ „Wir gehen, sobald wir unsere Angelegenheiten hier erledigt haben. Richte Mughdim Mondo aus, wir sind gerne bereit, eine Abordnung zu ihm zu schicken, und ihm unsere Pläne zu erläutern.“ „Aber er hat gesagt, ich soll euch zum Tor geleiten. Wir sind fast fünfzig bewaffnete Männer. Ihr solltet besser keinen Widerstand leisten.“ Dem Hauptmann brach bei diesen Worten der Schweiß aus, und er musste blinzeln, weil ihm dieser in den Augen brannte. „Wir sind freie Bürger von Vulcor“, antwortete Methor. „Wir haben dieser Stadt keinen Anlass gegeben, uns zu fürchten – bisher jedenfalls.“ Das Wort bisher hatte er absichtlich betont. „Gehe nun zu deinem Herrn und richte ihm Folgendes aus. Erstens: Wir werden niemandem etwas tun, solange man uns nicht behelligt und angreift. Zweitens: Wir werden nicht länger als zehn Tage bleiben. Sobald wir unsere Angelegenheiten erledigt haben, verlassen wir Helmseth. Drittens: Ich und zwei weitere Ordensbrüder werden den Bürgermeister heute Abend aufsuchen und höflich unsere Aufwartung machen. Wenn es ihm recht ist, dann eine Stunde nach Sonnenuntergang. Wir erwarten keine gastliche Bewirtung, sondern nur die Bereitschaft zu einem offenen Gespräch.“ Stumm drehte sich der Soldat um und rannte in seine eigenen Leute hinein, die hinter ihm standen. Es dauerte nur wenige Augenblicke, bis sich die Stadtwachen hastig hinausgedrängt hatten. „Damit sind unsere Pläne, uns unauffällig zu verhalten, zunichte“, sagte Methor. „Jetzt wird das Gerücht, wir seien mächtige und böse Magier, wie ein Lauffeuer durch Helmseth gehen. Aber vielleicht ist das ja gar nicht so übel. Es kann möglicherweise nichts schaden, wenn sie Respekt und ein wenig Angst vor uns haben. Wir müssen sie allerdings davon überzeugen, dass wir nicht böse sind, sondern auf ihrer Seite stehen, wenn der Sturm losbricht.“ Sechs Tage waren nach ihrem Eintreffen in Helmseth vergangen. Duna, Trygar und die Schwarzen Kämpfer, die noch immer in dem Gasthof einquartiert waren, wurden inzwischen nicht mehr auf der Straße angestarrt. Die Leute, anfangs überaus ängstlich, hatten sich an sie gewöhnt. Sie er- 120 warteten nun nicht mehr, dass die Schwarzen Kämpfer ihre Stadt in Schutt und Asche legen würden. Lorth, Baldures und Methor hatten dem Bürgermeister ihre Aufwartung gemacht. Es war nicht leicht gewesen, den übernervösen, kleinen und schmächtigen Mann mit der hohen Fistelstimme davon zu überzeugen, dass sie im Lager der Yauqui kein Unheil angerichtet hatten. Mughdim Mondo hatte sich dazu überreden lassen, einen Boten zu Khanam Soth zu schicken. Der war heute zurückgekehrt und hatte dem Bürgermeister berichtet, dass der Khanam ein Bündnis mit dem Schwarzen Orden geschlossen hätte, weil er eine Invasion aus dem Süden befürchtete. Er habe deshalb die Schwarzen Kämpfer aufgefordert, ihm ihre magischen Mächte zu demonstrieren. Niemand sei dabei zu Schaden gekommen. Mughdim Mondo war alarmiert und erschien persönlich im Gasthof, um mit Methor zu sprechen. Was für eine Invasion, wollte er wissen. Der Zeitpunkt war nun gekommen, die Helmsether auf den möglicherweise bevorstehenden Krieg vorzubereiten. Methor bat den Bürgermeister, eine dringliche Ratssitzung einzuberufen, wohl wissend, dass die einflussreichsten Männer Helmseths dem Rat angehörten. Der reichste von ihnen, Om Gauzas, war die eigentliche Macht in der Stadt, der den Bürgermeister wie eine Marionette am Gängelband führte. Sein Geld benötigten sie, um die Armee zu finanzieren, die den Heeren Semanius’ entgegentreten sollte. Der Ratssaal von Helmseth war kreisrund und wie ein Tempel von einer Kuppel gekrönt. Unter dem kugeligen Gewölbe schien das Licht durch einen Säulenkranz. Die schlanken, marmornen Säulen trennten eine umlaufende Galerie in Höhe des ersten Stockwerks ab, auf der in öffentlichen Sitzungen die Bürger standen, um den mächtigen Ratsherren und ihrem Palaver um Steuerhebungssätze, Marktgebühren und andere wichtige Dinge zuzusehen. Heute waren jedoch keine Zuschauer erwünscht. In der Außenmauer der Galerie befanden sich hohe Fenster dicht an dicht, deren Licht zwischen den Säulen durchsickerte und auf die kostbaren Wandteppiche eine Etage tiefer fiel. In der Mitte des Saales befand sich eine ringförmige Tafel, die an einer Stelle durch einen Einschnitt unterbrochen war. Außen an der Tafel aus edlem Holz saßen die Ratsherren, die – wie vor jeder Sitzung – ein Festmahl genossen. Durch die Lücke im Tisch eilten die Mundschenke und Diener und trugen Speisen und Getränke von innen auf. Die Tafel bot genug Platz, um neben den Stadtoberen einige Gäste bewirten zu können. Diese waren Methor, Lorth, Baldures, Duna und Trygar. Der Bürgermeister war erstaunt gewesen und hatte ein wenig die Nase gerümpft, als Methor die jungen Leute mitgebracht hatte. Trygar kaute an seinem gerösteten und mit mariniertem Gemüse belegten Brot und musterte die Ratsherren. Ihren Reichtum sah man ihnen an. Sie waren in kostbare Seide und Brokat gekleidet. Lediglich Mughdim 121 Mondo, der kleine, spindeldürre und stets nervöse Bürgermeister, dessen Kopf sich wie der eines Vogels ruckartig hin und her bewegte, trug seine graue Amtstracht. Om Gauzas war so fett, dass er sich eigens einen extrabreiten Sessel hatte herbringen lassen. Seine Schweinsäuglein waren auf die riesige Fleischkeule in seinen Händen geheftet, in die er gerade seine kleinen Zähne grub und einen Fetzen herausriss. Sein Spitzbart troff vor Fett. Seinen Turban hatte er abgelegt, sodass seine Glatze wie eine polierte Marmorkugel glänzte. Die Sitzung wurde erst eröffnet, nachdem Gauzas seine Hände in einer Wasserschüssel, die auf seinen Wink von einem Diener gebracht wurde, gereinigt und einen lauten Rülpser ausgestoßen hatte. Dies war das Zeichen, dass das Mahl beendet war. Der Bürgermeister sprang auf wie von einer Wespe gestochen, klopfte auf den Tisch und hielt eine kurze Ansprache. Er stellte Methor, Lorth und Baldures als Vertreter des Schwarzen Ordens vor und ignorierte Duna und Trygar geflissentlich. Dann sprach er vom bevorstehenden Krieg und erteilte dem Anführer der Schwarzen Kämpfer das Wort. „Was für ein Krieg?“ Gauzas Stimme klang schläfrig. Er gähnte ausgiebig, wobei einige Zahnlücken und schwarze Zähne sichtbar wurden. Methor erhob sich: „Meine Herren. Ich danke Euch, dass ich heute vor diesem ehrenwerten Rat der glorreichen Stadt Helmseth sprechen darf. Sicher habt Ihr schon eine Menge beunruhigender Gerüchte vernommen. Ich muss Euch leider sagen, dass sie den Tatsachen entsprechen. Ja, es ist wahr: Das südlichste Land des längst vergangenen Königreiches rüstet wieder zum Krieg. Doch diesmal soll die Front nicht in Orinokavo enden, sondern Koridreas Heere wollen durchmarschieren bis nach Vulcor. Wer soll sich ihnen entgegenstellen, wenn nicht wir? Orinokavo wurde vor einigen Jahrzehnten vernichtend besiegt, seine militärische Macht zerschlagen. In Pheldae herrscht Anarchie. Das Land liegt danieder und ist zur Gegenwehr unfähig. Dennoch: Nach allem was wir wissen, hat der Feind seine Heere noch nicht aufgestellt, seine Kräfte noch nicht mobilisiert. Noch ist Zeit genug, die Verteidigung zu organisieren.“ Einer der Ratsherren, ein großer, dünner Mann mit brustlangem, schwarzem Bart, warf ein: „Woher habt ihr diese Informationen?“ Methor nickte leicht, so als ob er diese Frage erwartet hätte. „Der Abt unseres Ordens vermutete es schon lange. Lord Gadennyn, einer der mächtigsten Fürsten von Koridrea, war in seiner Jugend zur geistigen Ausbildung in unserem Kloster. Der Abt erkannte, dass Gadennyn ein großer Magier ist, vielleicht der größte unserer Zeit. Im Besitz des jungen 122 Novizen befand sich ein uraltes Tagebuch, das später als das des berüchtigten Lordmagiers Semanius erkannt wurde. Gadennyn machte keinen Hehl aus seiner Absicht, dem furchtbaren Magier nachzueifern und die Macht im ganzen Alten Königreich zu erobern. Damals konnte man dies noch als Hirngespinste eines jungen Mannes abtun. Inzwischen ist Gadennyn aber in der Lage, seine Pläne zu verwirklichen. Er hat Macht und Einfluss am Hof des Königs von Koridrea und magische Kräfte, die alles übertreffen, was Ihr Euch vorstellen könnt. Nichts desto weniger war die Bedrohung bis vor kurzem noch nicht real, sondern lediglich denkbar. Dann aber wurde unser geliebter Abt ermordet.“ Trygar erschrak. Aber der große Schwarze Kämpfer warf einen raschen Seitenblick zu ihm hinüber, nickte ihm fast unmerklich beruhigend zu, bevor er mit der halben Wahrheit fortfuhr: „Der Mörder war ein enger Vertrauter Gadennyns. Er wurde gefasst und gestand, dass der Lord die Absicht habe, die Länder des ehemaligen Königreichs zu unterjochen.“ „Nun, diese Absicht dürfte schwer in die Tat umzusetzen sein“, meinte der einflussreiche Om Gauzas. „Er ist nur der Lord von Shoala, nicht der Herrscher von Koridrea. Er hat keine Befehlsgewalt über die Armeen Koridreas. Ich bezweifele, dass der König… was ist?“ Ein Diener war durch den Ratssaal gehastet, hinter Gauzas getreten und hatte sich vernehmlich geräuspert. Jetzt flüsterte er dem fetten Kaufmann, der ob der Störung ungehalten schien, etwas ins Ohr. Der runzelte die Stirn und schickte den Mann mit einem leise erteilten Befehl wieder weg. „Meine Herren, soeben erfahre ich, dass einer meiner Leute, der eine Karawane nach Khor begleitet hat, von dort zurückgekehrt ist und mich dringend zu sprechen wünscht. Nach seinen Andeutungen habe ich Grund zur Annahme, dass seine Nachricht in Zusammenhang mit den Vermutungen unseres Gastes Methor steht. Ich habe deshalb nach ihm schicken lassen.“ Kaum waren seine Worte verklungen, öffnete sich die Tür, und ein kleiner, grauhaariger Mann trat ein. Er war braungebrannt, trug derbe Reisekleidung, einen Säbel an der Seite und sagte respektlos: „Hallo, Om. Deine Karawane ist gut in Khor angekommen und hat mehr Profit gemacht, als du es erwartet hast. Ich bringe dir einen Haufen Säcke gefüllt mit Gold.“ Gauzas fuhr sich mit einem Finger über den dünnen, fetttriefenden Schnurrbart und verbarg darunter sein erfreutes Grinsen. „Ist das alles, Osiris? Oder gibt es noch andere Neuigkeiten?“ Der kleine Mann sah erst jetzt die am anderen Ende der Tafel sitzenden Schwarzgekleideten. Seine Miene verfinsterte sich. „Wer sind diese Krähen?“ Gauzas schlug auf den Tisch. 123 „Ich habe dich etwas gefragt!“ „Schon gut. Ja, es gibt durchaus seltsame Neuigkeiten. Als ich in Khor war, traf ein schnelles Segelschiff aus Orinokavo ein. Die Leute dort sind beunruhigt, sagt man. Der König von Koridrea wurde offenbar ermordet und noch am selben Tag ein neuer Herrscher gekrönt. Sein Name ist Gadennyn.“ Ein Raunen erhob sich. Methor sprang auf. „Da seht ihr es: es hat bereits angefangen!“ „Was hat angefangen, und wer ist der dort?“, verlangte Osiris zu wissen und zeigte mit ausgestrecktem Finger auf den Mann in der schwarzen Robe. „Ihr gehört doch zu der Brut, die sich Schwarzer Orden nennt. Drei von euch sind mir schon einmal in die Quere gekommen.“ Diesmal erhob sich der Bürgermeister. „Osiris, dieser Rat tagt nicht, um über Fleischpreise und Wegezölle zu verhandeln. Es herrscht Kriegsgefahr. Wir haben gerade erfahren, dass Lord Gadennyn plant, Vulcor und die anderen Länder zu erobern, und nun hören wir von Euch, dass er sich zum Herrscher hat krönen lassen!“ Bevor Osiris darüber nachdenken konnte, stand Duna auf. „Ihr seid dreien von uns schon einmal begegnet? Wo war das?“ „Seit wann führt eine Frau im Rat der Freien Stadt Helmseth das Wort, ohne dass sie jemand zum Sprechen aufgefordert hat?“, brauste der Säbelmeister auf. Zustimmendes Gemurmel seitens einiger Ratsherren war zu hören. „Genug jetzt!“ Methors kräftige Stimme brachte das Getuschel zum Schweigen. „Beantwortet die Fragen, die wir stellen, Mann! Ihr seid hier, um Bericht zu erstatten und nicht als Teilnehmer dieses Rates. Wann und wo seid Ihr drei Schwarzen Mönchen begegnet?“ Der Anführer der Schwarzen Kämpfer hatte ziemlich dick aufgetragen und anscheinend vergessen, dass er und die anderen Ordensmitglieder nur als Gäste an der Beratung teilnahmen, doch die befehlsgewohnte Stimme des ehemaligen Generals und das Wissen um die magischen Kräfte der Gäste schüchterten die Ratsherren ein. Selbst Osiris war beeindruckt. „Sie waren hinter einem Freund von mir her. Glücklicherweise konnte er ihnen entkommen. Er war übrigens in diplomatischer Mission unterwegs, und wie mir scheint, ist sein Herr seit neuestem ein König.“ „Gother!“, entfuhr es Trygar. „Ja, das ist sein Name. Was wollten eure schwarzen Freunde von ihm?“ „Sie jagten einen Mörder. Und du halfst ihm zu entkommen“, fauchte Duna. 124 Der dicke Om Gauzas stand auf. Sein Gesicht war kreidebleich. Er keuchte: „Der Gother, den ich auf Osiris’ Rat eingestellt habe, meine Karawane zu schützen? Dieser Mann ist der Mörder eures Abtes?“ In der nächsten Stunde wogten die Argumente hin und her, und es formten sich drei Gruppen, zwei davon bildeten abstoßende Pole, die dritte pendelte wie eine rotierende Kompassnadel dazwischen. Der eine Pol, angeführt vom Bürgermeister, bestand aus sieben der zwölf Mitglieder des Stadtrates, der andere aus den Schwarzen Kämpfern um Methor. Fünf Stadträte hatten sich bisher noch keine Meinung gebildet. Zu ihnen gehörte Om Gauzas, der aufmerksam dem Disput lauschte, und dessen Miene nicht verriet, welcher Seite er eher zugeneigt war. Die Mehrheit des Stadtrates um Mughdim Mondo wollte nicht an den bevorstehenden Krieg glauben. Sie hielt die Beweise für zu dünn. Ein altes Tagebuch, die Aussage eines flüchtigen Mörders, der sich vielleicht nur aufspielen wollte, und der Verdacht seines verblichenen Opfers reichten ihnen nicht aus. Ihre Gegenargumente schienen überzeugend: Vulcor hatte einem denkbaren Eroberer nichts zu bieten. Es war arm und besaß keine Bodenschätze. Warum sollte ein Heer zweitausend Meilen zurücklegen und sich mit nichts als ein paar Schafen und Ziegen zufrieden geben? Na gut, sie, die Kaufleute von Helmseth, Khor und Yaga, den drei Handelszentren Vulcors, besäßen natürlich bescheidene Vermögen, aber welcher Adler würde sein eigenes, reiches Jagdrevier verlassen, um in die Wüste zu fliegen und dort einen kleinen, hartschaligen und bitter schmeckenden Käfer zu erbeuten? Denn gegen die Reichtümer Koridreas seien ihre eigenen Besitztümer doch nicht mehr als trockene Brotkrumen unter einer gedeckten Tafel. Methor, der ehemalige General, widersprach: In einem Krieg ginge es nicht nur um reiche Beute, sondern vor allem um Macht. Ein großes Staatsgebiet bedeutete mehr Macht. Und es ginge um strategische Vorteile: auf dem Plan Gadennyns stünde ja nicht nur die Vereinigung des Alten Königreiches, sondern auch die Eroberung der gesamten bekannten Welt. Den Anfang wollte er mit den Ost- und Südlanden machen. Letztere waren Seemächte, die man über das Meer kaum erobern konnte, ihre nördliche Flanke, die an die unbekannten Ostlande grenzte, war aber verwundbar. Ein Überraschungsschlag von dort konnte den Krieg entscheiden. Und den einzigen Schlüssel zu den Ostlanden bot Vulcor. Nur hier konnte eine große Armee die Berge umgehen. Und wenn schon, sagten die anderen. Lasst uns erst einmal abwarten, ob der Krieg überhaupt ausbricht. Zeit für Gegenmaßnahmen sei noch genügend. Der kommende Winter und der Puffer aus den Ländern Orinokavo 125 und Pheldae würden Vulcor schützen. Und sollte Gadennyn im Frühjahr wirklich ein Heer losschicken, so würden es der lange Marsch und die Kämpfe in den anderen Ländern aufreiben. Es konnte ein Jahr vergehen, ehe die ersten Soldaten aus Koridrea die Grenze Vulcors überschritten. Wiederum falsch, sagte Methor. Natürlich griffe Gadennyn im Winter nicht an, aber im Frühjahr konnten seine Kriegsgaleeren in wenigen Wochen Khor erreichen. Schließlich hätte Vulcor keine Seestreitkräfte, um sich zu verteidigen, genauso wenig wie Landstreitkräfte, ergänzte er. Ob die Nomaden die Städte schützten, sei noch längst nicht ausgemacht. Sie seien zwar gute Reiter und Kämpfer, aber sie würden nur eine Allianz eingehen, wenn die Städte sich ebenfalls auf den Krieg vorbereiteten und ihren Teil zur Verteidigung beitrügen. Die Nomaden vertrauten dem Schwarzen Orden und seien bereit zu kämpfen. Aber Kämpfer allein reichten nicht, um Vulcor zu retten. Sie müssten gut ausgebildet und ausgerüstet werden. Es müssten Pläne geschmiedet werden. Zum ersten Mal griff der mächtige Om Gauzas in die Debatte ein. Ob er, Methor, denn schon Pläne zur Verteidigung von Vulcor habe, fragte er. Der ehemalige General sah den dicken Kaufmann an und antwortete ihm: „Es gibt viel zu bedenken. Wenn ich mit der Verteidigung Vulcors betraut wäre und die nötigen Mittel dazu hätte, würde ich dreierlei tun. Erstens: Die Küste von Vulcor ist schroff und bietet keine Möglichkeit für eine Invasion einer größeren Flotte, außer über den natürlichen Hafen von Khor. Ich würde Khor stark befestigen, Truppen unter einem fähigen Kommandanten aufstellen, die die Stadt schützen und die Hafeneinfahrt zuschütten, sodass allenfalls ein einzelnes Schiff einfahren kann. Das würde eine Seeinvasion sehr erschweren. Zweitens: Eine gängige Strategie mit Erfolgsaussicht ist es, dem Feind entgegen zu marschieren und ihn möglichst weit entfernt von der eigenen Landesgrenze zu stellen. Ich würde daher möglichst rasch ein Heer aufstellen und damit nach Süden marschieren. Und zwar im Winter, wenn Gadennyn noch nicht damit rechnet. Es würde ein harter und entbehrungsreicher Marsch, aber wir könnten es schaffen, denn die Männer und Frauen von Vulcor kennen die Kälte der Steppe, die eisigen Winde, Schnee und Eis viel besser als die Soldaten von Koridrea, wo der Winter meist kurz und mild ist, und sie wissen sich viel besser dagegen zu schützen. Drittens: Gadennyn ist ein sehr mächtiger Magier, mit großer Wahrscheinlichkeit der wiedergeborene Lordmagier Semanius! Gegen seine Macht sind Armeen nutzlos. Wir werden ihm deshalb zwei Magier entgegenstellen, die ihm einzeln zwar nicht gewachsen sind, zusammen aber hoffentlich schon. Diese Magier sind Duna und Trygar, unsere jungen Begleiter. Wenn ihr wissen wollt, welche Kräfte sie entfesseln können, so fragt die Nomaden vom Stamm der Yauqui.“ 126 Es herrschte einige Aufruhr im Saal, und Om Gauzas hob die Stimme, um sich Gehör zu verschaffen: „Gadennyn soll eine Inkarnation von Semanius sein? Wo habt ihr denn das wieder her?“ „Er hat es selbst vor Nunoc Baryth, unserem ermordeten Abt, zugegeben. Auch Gother hat es uns gestanden, als er noch in unserem Gewahrsam war. Jedenfalls trägt Gadennyn das magische Amulett des Lordmagiers, das diesem seine unglaublichen Kräfte verlieh. Lest sein Tagebuch. Ich kann es Euch gerne leihen, Gauzas. Aber ob Gadennyn Semanius ist oder nur glaubt, es zu sein, spielt keine Rolle, denn er verfügt über dieselbe Macht und den gleichen, bösen Ehrgeiz. Wenn Ihr unsere Warnungen nicht ernst nehmt, werden finstere Zeiten anbrechen, Zeiten, von denen zukünftige Geschichtsschreiber sagen werden, es handele sich um die dunkelste Ära der Menschheit.“ Gauzas erhob sich ächzend. Sein Gewicht machte die Bewegung zu einer körperlichen Anstrengung. „Gehen wir einmal davon aus, Ihr hättet Recht mit allem, was Ihr sagtet. Warum sollten wir Kaufleute uns in die Politik einmischen? Unser Streben sind die Geschäfte. Die können wir genauso gut in einem Großkönigreich machen, vielleicht noch besser als jetzt.“ „Dazu müsst Ihr den Krieg überleben und Euren Reichtum behalten. Ihr werdet Leben und Geld aber verlieren, wenn Gadennyns Truppen Helmseth erreichen. Die Stadt wird geplündert und ihre Einwohner werden massakriert werden. Doch schon viel früher werdet ihr arm sein. Eine Seeblockade wird den Handel mit anderen Ländern unterbinden. Die Nomaden werden in den Krieg ziehen müssen, um Vulcor zu verteidigen. Sie werden alle Eure Reichtümer konfiszieren, um ihre Armee auszurüsten. Vermutlich werden sie, um ihr eigenes Volk zu schützen, die Städte selbst niederbrennen, damit dem Feind keine Kriegsbeute in die Hände fällt; sie werden Eure Kornspeicher vernichten und die Brunnen vergiften, obwohl sie nicht Eure Feinde sind. Wenn Ihr Glück habt, werden sie Euch und die anderen Städter mitnehmen und irgendwo mit ihren Frauen und Kindern im unwegsamen Gebirge in Sicherheit bringen, bevor sie Gadennyns Armee entgegentreten. Dann habt Ihr nichts als Euer nacktes Leben gerettet und seht in eine ungewisse Zukunft.“ Einen Augenblick lang stand der dicke Kaufmann wie erstarrt da, mit roten Flecken auf den bleichen, feisten Wangen. Sein wabbeliges Doppelkinn zitterte, und er sah aus, als ob er gleich in Tränen ausbrechen würde. Dann fragte er: „Und Ihr glaubt, dies alles verhindern zu können?“ „Ja“, sagte Methor mit fester Stimme. Er strahlte Zuversicht und Überzeugung aus. 127 Om Gauzas hatte sich wieder gefangen. „Was benötigt Ihr dazu?“ „Für den Anfang genügen ein paar Säcke.“ „Säcke? Natürlich. Alles, was Ihr wollt. Sagt nur, was ich hinein tun soll.“ „Es ist schon drin, was wir brauchen. Es handelt sich um die Goldsäcke, die Euch Osiris aus Khor mitgebracht hat.“ Duna und Trygar hatten ihre Schuldigkeit mit ihrer Vorstellung vor dem Stadtrat getan. Methor dankte ihnen und gab ihnen zu verstehen, sie sollten doch die nächsten Tage nutzen, um noch eine letzte, unbeschwerte Zeit zu genießen, bevor sie die Verantwortung übernehmen mussten. Helmseth sei zwar keine große und prächtige Stadt, böte dennoch einige Kurzweil. Sie sollten nun die weiteren Verhandlungen mit den Kaufleuten und Mächtigen den Experten überlassen. Damit waren natürlich er selbst, sowie Lorth und Baldures gemeint. Die beiden jungen Leute nahmen seinen guten Rat gerne an. Sie waren bescheiden genug um zu wissen, dass ihre mangelnde militärische und politische Erfahrung ihre Teilnahme an weiteren Ratssitzungen wenig sinnvoll erscheinen ließ. Während die drei Unterhändler des Schwarzen Ordens, unterstützt von Om Gauzas, Schwerstarbeit leisteten, um auch noch die letzten Zweifler und Geizhälse im Stadtrat davon zu überzeugen, dass sie ihre Geldbörse erleichtern mussten, um das drohende Unheil abzuwenden, während Pläne geschmiedet, Ausrüstungslisten erstellt, Boten mit Aufträgen zur Herstellung von Rüstungen und Waffen an die Schmieden der drei großen Städte und einiger kleinerer Gemeinden gesandt wurden, während man sich die Köpfe zerbrach über Versorgungsprobleme, Wagen und Pferde, richtige Winterkleidung, über Ausbildung Freiwilliger an Waffen, über Dolmetscher, die die Sprache der Nomaden sprachen, mit denen man sich verbünden wollte, während man Delegationen von Diplomaten zusammenstellte, die nach Khor und Yaga reisen sollten, um die dortigen Politiker vor dem Krieg zu warnen und um Unterstützung zu bitten, und während man gerade erst einen kleinen Teil der Probleme gestreift hatte, deren Lösung noch viele Tage, ja Wochen dauern würde, spazierten Duna, Trygar, die Zwillinge Seyn und Legis und einige andere der Schwarzen Reiter, manchmal getrennt oder in kleinen Gruppen, manchmal zusammen, durch die Stadt, durchstreiften die Basare, auf denen Händler exotische Handarbeiten der Nomaden, wunderschön gewebte Tücher und Decken, fein gearbeitete Sättel aus Rindsleder und Töpferarbeiten anboten, besuchten das Theater, in dem eine Truppe umherziehender Schauspieler eine Komödie darbot, lauschten ein paar Trommlern, die, umringt von ihren Zuhörern, auf einem kleinen Platz abseits der Hauptstraße aufspielten und in den Pausen den Sammelbeutel umgehen ließen, besuch- 128 ten dreimal am Tag den kleinen Tempel zum Gebet, saßen abends im Wüstenwolf oder einem anderen Gasthof zusammen, aßen gemeinsam, tranken den einen oder anderen Becher Wein, und unterhielten sich mit den Bürgern der Stadt. So vergingen zwei weitere Tage. Am dritten Tag, trafen Grom, Neb und Lobo, die erfolglosen Verfolger Gothers, aus Khor ein und waren überrascht, alle ihre Mitbrüder und Duna in der Stadt anzutreffen. Sie brachten keine guten Nachrichten, die jedoch auch keine neuen waren, denn von Osiris hatten die anderen Schwarzen Kämpfer ja schon erfahren, dass Gother entkommen und auf dem Weg nach Shoala war. Methor machte ihnen keine Vorwürfe. Er bat sie, nachdem sie sich einen Tag von ihrer anstrengenden Reise ausgeruht und die Pferde gewechselt hätten, zum Orden zurückzukehren und dort die Schutztruppen der Pferdeleute zu unterstützen. In der Mitte der zweiten Woche in Helmseth traf Trygar auf Osiris, den Säbelmeister, den er seit der Stadtratssitzung nicht mehr gesehen hatte. Er streifte gerade allein durch die Karawanserei, einen Ort, der ihn magisch anzog. An keinem anderen Platz in Helmseth spürte er mehr, dass er sich in einem fremden Land befand. Die Städter ähnelten denen von Koridrea, auch wenn sie eine andere Sprache sprachen, die der junge Magier mittlerweile sehr gut beherrschte, aber ihr Handeln und Streben, ihre Vorstellungen und Wünsche glichen denen der Menschen in seiner Heimat. In der Karawanserei jedoch fand er Leute, die völlig anders waren. Zu seinem Erstaunen befanden sich neben vielen Nomaden auch Ostländer und Südländer unter ihnen. Einige besaßen eine dunkle Hautfarbe wie Ebenholz. Unter ihnen waren große, dunkelhäutige Frauen. Sie erinnerten ihn an Horlu, und er spürte ein schmerzliches Ziehen in der Brust. Was wohl aus ihr geworden war? Trug sie sein Kind unter dem Herzen? War sie in Sicherheit? Hatte sie einen anderen gefunden? Er wusste noch immer nicht, was er eigentlich für sie empfand. Das schlechte Gewissen wühlte seine Seele auf wie ein Stein, der in einen trüben Tümpel fällt. Er hatte Horlu im Stich gelassen. In dieser traurigen Stimmung traf er auf den kleinen Säbelmeister. Plötzlich standen sie sich im Eingang des großen Schankraums der Karawanserei gegenüber. Der ältere Mann verließ ihn gerade, Trygar wollte eben eintreten. Stumm sahen sie sich an. Der Junge fühlte Ärger in sich aufsteigen. „Warum habt Ihr Gother geholfen?“, herrschte er Osiris an. „He, mein Junge, zügele deinen Ton, sonst werde ich dir beibringen, wie man einen älteren Mann respektvoll behandelt“, erwiderte der Säbelmeister scharf. 129 „Respekt? Vor einem, der einen Mörder schützte? Ich habe keinen Respekt vor Euch, kleiner Mann. Wenn Ihr mir welchen beibringen wollt, so stehe ich Euch gerne zur Verfügung!“ Osiris schien verblüfft. „Nun mal langsam, Junge. Du möchtest dich doch nicht mit mir duellieren? Oder willst du mich mit deinen Zauberkräften in die Knie zwingen? Das wäre nicht sehr fair. Aber genauso unehrenhaft wäre es, wenn ich es zuließe, dass du mir mit deinem lächerlichen Holzstöckchen gegenübertrittst. Ich vergreife mich nicht an Kindern.“ „Ich bin kein Kind mehr. Ich bin ein Mann.“ „Ein Mann bist du erst, wenn du getötet hast. Ich lehne es ab, meine Waffe gegen dich zu führen.“ „Wenn das Eure kranke Auffassung über das Mannsein ist, so sollt Ihr erfahren, dass ich schon mehr als einmal einen Menschen getötet habe. Und glaubt mir, wenn ich es rückgängig machen könnte, würde ich es tun, selbst wenn ich damit in Euren armseligen Augen ein Knabe wäre.“ Osiris schien erstaunt. „Du hast getötet? Wen denn?“ „Zuletzt einen Menschen, den ich heute verehre, einen Mann, den ich für einen anderen hielt. Es war Nunoc Baryth, der Abt des Schwarzen Ordens. Für diese Sünde werde ich nach meinem leiblichen Tod Jahrtausende in der Unterwelt verbringen.“ „Aber Methor sagte doch, Gother sei der Mörder des Abtes!“ „Er ist der Mörder, das stimmt, aber ich war seine Mordwaffe. Es war nicht das erste Mal, dass er mich mit Hinterlist dazu gebracht hat, einen Schwarzen Bruder zu töten. Sein Herz ist verrottet. Er ist der treueste Diener von Semanius, und Ihr habt ihm geholfen. Jetzt zieht Eure Waffe!“ Trygar nahm seinen Kampfstab von der Schulter und stellte sich in Position. Osiris wich zurück, in den Schankraum hinein, nicht ängstlich, sondern nur vorsichtig, um außerhalb der Reichweite Trygars zu bleiben. Der Junge folgte ihm. Die anwesenden Gäste hatten den Wortwechsel in der Türöffnung natürlich mitbekommen. Die Gespräche waren verstummt, und man bildete einen Kreis um die Kontrahenten. „Nein und nochmals nein! Osiris wird niemals zulassen, dass seine Ehre und sein Ruf als bester Kämpfer Vulcors durch ein Gefecht mit einem Knaben beschmutzt werden. Ich werde mich nicht mit deinem Blut besudeln. Schlage mich meinetwegen nieder, aber meinen Säbel werde ich nicht ziehen.“ „Feigling!“, schrie Trygar. Das war für Osiris zuviel. „Niemand nennt mich einen Feigling“, stieß er zwischen zusammengebissenen Zähnen hervor. Der Säbel flog aus der Scheide, stieß wie eine 130 Giftschlange zu und prallte, ohne Schaden zu hinterlassen, auf die ebenso blitzschnelle Parade von Trygars Kampfstab. Einen Wimpernschlag später sahen die gebannten Zuschauer nur noch die wirbelnde Bewegung des ebenholzfarbenen Stabs und das Aufblitzen des hin- und herzuckenden Säbels. „Halt!“ Die Stimme donnerte mit solcher Macht durch den Saal, dass die Kämpfer augenblicklich erstarrten und die Menschenmenge zusammenzuckte. Es war Legis, der Vertraute von Methor. „Was ist in dich gefahren, Trygar? Du bist dabei, unseren Eid zu verletzen. Wir benutzen unsere Waffen nur, um uns selbst oder andere zu schützen. Auf welche Weise immer Osiris dich beleidigt haben sollte, das ist kein Grund zu kämpfen!“ Trygar war mehr als beschämt, als ihm bewusst wurde, was er in seiner zügellosen Wut beinahe getan hätte. Er senkte den Kampfstab und den Blick und wollte am liebsten im Boden versinken. Sein Ärger war verraucht. „Und was dich betrifft, Osiris: Ich habe einen Teil eures Wortwechsel gehört. Du magst dich damit brüsten, viele Menschen getötet zu haben, und dich deshalb als richtiger Mann, ja als Held fühlen, aber Wathan wird bei seinem Urteil über dich genau wägen, und seine Maßstäbe sind sehr hoch. Es ist niemals gerecht, einen Menschen zu töten, allenfalls ausnahmsweise gerechtfertigt, um sein eigenes oder das Leben anderer Menschen zu retten. Dieser Mann, den du ein Kind nennst, weiß das viel besser als du selbst. Er steht zu seinen Taten und zu allem, was übel daran war. Er ist bereit, dafür das Urteil Gottes anzunehmen und zu büßen. Er ist mehr ein Mann als du!“ Eine Weile herrschte Stille in dem Raum. Weder Osiris noch Trygar wussten, was sie sagen sollten. Legis erlöste sie von der Peinlichkeit. „Kommt, lasst uns zusammen ein Glas trinken und miteinander reden. Zwiste können auch durch das Wort ausgeräumt werden.“ So war es. Trygar schwieg zunächst verstockt und mit grimmiger Miene. Aber Osiris bedauerte aufrichtig, dass er Gother geholfen hatte. Er habe dem Hauptmann, der ein guter Schauspieler sei und nach außen freundlich und aufrichtig schien, ebenso leichtfertig vertraut wie die Reisegefährten aus Koridrea. Der junge Magier sah schließlich ein, dass sich Osiris keine Schuld aufgeladen hatte. Nach zwei Gläsern Wein wandelte sich seine Meinung über den kleinen Mann, und seine Zunge lockerte sich. Er begann zu reden, und nach dem dritten Glas, das seinen Kopf leicht machte, sodass er das Gefühl hatte, er könne sich gleich von den Schultern lösen und davon schweben, redete sich alles von der Seele. Es musste einfach heraus. So breitete er vor seinem Freund Legis, dem großen Schwarzen Kämpfer, und vor dem kleinen Säbelmeister, den er gar nicht kannte, sein Leben aus, 131 angefangen mit seiner Kindheit, als er Fluch und Segen der Magie entdeckt hatte. Er erzählte, wie ihn sein Vater verstoßen musste, um ihn zu schützen, wie er dessen Träume vom Krieg erbte, wie er Gother begegnete und ihm vertraute, über sein Leben auf Gadennyns Burg, wie ihn sein Herr missbrauchte und betrog, indem er ihn auf Nunoc Baryth, den angeblichen Semanius, ansetzte. Er berichtete über die lange, gefahrvolle Reise mit seinen Gefährten, die Begegnungen mit Horlu, Zpixs und Amaran, seine aufkommenden Zweifel an Gadennyns Auftrag, und wie ihn Gother schließlich ein weiteres Mal betrog und ausnutzte, indem er ihn dazu brachte, den Abt zu töten. Und dann erzählte er von dem Aufenthalt seiner Seele in der Unterwelt, von der Dürre des Herzens, die er durchlebt hatte, und von der er bis heute noch nicht genesen war. Nach Trygars Geschichte saßen die drei Männer stumm und in Gedanken versunken am Tisch und drehten die geleerten Gläser in ihren Händen. Schließlich sagte Osiris: „Meine Männer und ich werden uns euch anschließen. Ich habe einen Fehler wieder gut zu machen.“ „Ihr seid Söldner, Osiris“, warf Legis ein. „Wir brauchen Freiwillige, solche, die sich um der Sache selbst an dem langen Marsch nach Koridrea beteiligen. Wir können und wollen euch nicht bezahlen.“ „Wir verlangen keinen Sold. Gebt uns nur, was ihr den anderen auch gebt: Wasser, Kleider und Nahrung. Waffen und Rüstungen haben wir selbst. Ihr werdet keine besseren Kämpfer in Vulcor finden.“ „Wirst du den Befehlen von Trygar und Duna gehorchen?“ Osiris riss die Augen auf. „Trygar und Duna? Ich dachte, Methor sei euer Anführer!“ „Was militärische Dinge betrifft, so hören sie auf seinen Rat, aber die beiden Magier sind die, die die Entscheidungen treffen. Gormen Helath, der Klügste und Beste des Schwarzen Ordens, hat das so bestimmt.“ „Der neue Abt?“ „Nein, Abt ist ein anderer geworden. Gormen wollte es so. Und dennoch ist er unser geistiger Führer.“ „Warum ist er dann nicht hier um euch anzuführen?“ „Er hat eine andere Aufgabe im Kampf gegen Semanius, doch darüber kann ich nicht sprechen. Du musst uns in dieser Sache vertrauen. Deshalb noch einmal meine Frage: Werden du und deine Leute Duna und Trygar als Anführer akzeptieren?“ Osiris überlegte einen Augenblick. „Sie sind beide noch sehr jung und unerfahren. Aber es muss einen Grund geben, warum der Schwarze Orden auf sie vertraut. Ich kann nur für mich sprechen, und meine Antwort lautet: fürs Erste ja. Ich werde euch einen Vertrauensvorschuss gewähren. Sollten deine Entscheidungen, Try- 132 gar, und die deiner jungen Freundin klug und den Umständen angemessen sein, so werde ich euch folgen. Allerdings kann ich es nicht auf Dauer versprechen. Wenn ich eines Tages zur Ansicht gelangen sollte, dass ihr der schweren Verantwortung nicht gerecht werdet, dann verlasse ich euch und gehe meiner eigenen Wege. Ich verspreche aber, dass ich euch nicht in den Rücken fallen werde. Was meine Leute angeht, so werde ich sie bitten, euch zu vertrauen und mich zu begleiten. Wer von ihnen das aber nicht will, den werde ich von seinen Pflichten entbinden.“ Eine Woche später brachen sie endlich auf: Sechzehn Schwarze Reiter, dreizehn Söldner unter der Führung Osiris’ und einhundertzweiunddreißig mit verrosteten Schwertern, Äxten, Knüppeln und Mistgabeln bewaffnete Männer und Frauen, die jüngste sechzehn, der älteste dreiundfünfzig. Nur wenige in diesem armseligen Heer waren beritten. Die, die keine Pferde besaßen, saßen auf Ochsenkarren oder gingen zu Fuß. Der Tross wurde begleitet von einigen Fuhrwerken, welche mit Lebensmittel, Wasser, Decken, Kleider, Kochgeschirr und Zelten beladen waren. Auf Lorth und Baldures, die in Helmseth zurückblieben, wartete eine organisatorische Aufgabe, die ihr ganzes Können erforderte: In den folgenden Wochen würden die überall im Land bestellten Waffen und Rüstungen eintreffen, Hunderte, vielleicht Tausende von Freiwilligen, die in den nächsten Tagen in den Dörfern und Städten durch Herolde über den drohenden Krieg informiert und angeworben werden sollten, würden sich in Helmseth versammeln. Sie mussten registriert und ausgerüstet werden. Ein Treck mit fünfzig oder mehr Wagen, alle, die in der Karawanenstadt noch übrig waren, musste zusammengestellt, beladen und gemeinsam mit den rekrutierten Soldaten den Schwarzen Kämpfern und ihren Begleitern nachgesandt werden. Die Verbindung zwischen dem Hauptstützpunkt Helmseth, den anderen Städten und dem nach Süden ziehenden und immer größer werdenden Heer sollte durch schnelle Meldereiter aufrechterhalten werden. Geld jedenfalls stand genug zur Verfügung. Nicht nur die Kaufleute von Helmseth hatten ihren Teil zur Mobilmachung aufgebracht: Om Gauzas’ Verbindungen in die anderen Städte sorgten dafür, dass auch die dortigen Reichen erhebliche Spenden für die Kriegskasse bereitstellten. Ganz Vulcor begann, sich für den Krieg zu rüsten. Einen Tagesritt von der Stadt entfernt, traf der armselige Heereszug, der von Helmseth aufgebrochen und inzwischen auf fast zweihundert Menschen angewachsen war, die zwölf Nomaden des Stammes der Yauqui, die ihnen Khanam Soth als erste Abordnung der Reiterstämme zur Verfügung gestellt hatte. Die Eingeborenen hatten in der Steppe am verabredeten Punkt gewartet, nachdem ihr Stamm nach Süden zu den Winterweiden aufgebrochen war. Die kleine Armee folgte den Nomadenstämmen zu den 133 Ufern des großen Stroms, der sich im Süden Vulcors von Osten nach Westen durch das Grasmeer wand. Und wie ein Reisigbesen sammelte sie den Staub ein: Tatendurstige und Begeisterungsfähige, aber auch umherstreifende Tagelöhner, Mitglieder versprengter Diebesbanden, Söhne armer Familien, die nicht genug besaßen, um alle durchzufüttern und froh waren, einige hungrige Münder loszuwerden, und so wurde das Heer Vulcors von Tag zu Tag größer, ohne dass es einen einzigen echten Soldaten gewonnen hätte. Doch es gab auch manche, die sich satt aßen, die von den Schwarzen Kämpfern verteilte Winterkleidung dankbar annahmen und dann des Nachts spurlos verschwanden: die ersten Fahnenflüchtigen. Das Land der Drachen Cora wandte sich im Sattel um und blickte zurück. Gormen war etwa fünfzig Schritte nach hinten gefallen. Er saß auf seinem Pferd wie auf einem Nagelbrett, erhob sich ab und zu in den Steigbügeln, und selbst aus dieser Entfernung konnte sie sein schmerzverzerrtes Gesicht sehen. „Wir müssen eine Pause machen. Gormen kann nicht mehr“, sagte sie zu Spin und Boc, die beide vor ihr ritten. Spin zog die Augenbrauen hoch. „Aber die letzte Rast liegt doch kaum einen halben Tag zurück.“ „Du siehst doch, wie schlecht es ihm geht“, erwiderte Cora. „Der Mann ist völlig ungeübt im Reiten. Schließlich ist er ein Mönch, kein Waldläufer.“ „Dann muss er endlich die Hosen herunterlassen“, sagte Boc energisch. Der Schwarze Ordensbruder und Magier litt schon seit einer Woche an ein seinem wund gerittenen Gesäß, und es wurde von Tag zu Tag schlimmer. Doch er hatte sich aus Stolz und Scham geweigert, sich von einer Frau an dieser intimen Stelle behandeln zu lassen. Boc hatte Recht. Cora musste endlich etwas tun. Sie stiegen ab und warteten auf Gormen Helath. Sein Gesicht verzerrte sich vor Schmerz, als er von seinem Reittier glitt. Er konnte kaum stehen. „Es ist soweit, Gormen“, sagte Spin. „Wir können nicht noch mehr Zeit verlieren, und wir brauchen dich in einem gesunden Zustand. Lege dich auf den Bauch!“ 134 Der Schwarze Magier protestierte nur halbherzig. Er sah wohl ein, dass er die Behandlung nicht länger hinauszögern konnte. Als Cora ihm die Hose herunterzog, schnappten sie und die beiden Männer nach Luft: Auf Gormens Gesäß hatte sich eine blutige und eitrige Beule von der Größe eines Apfels gebildet, an den übrigen Stellen war die Haut wund und gerötet. Cora erhitzte ihr kleines scharfes Messer über dem Docht einer Kerze und stach damit das Furunkel auf. Gormen stöhnte leise. Sie drückte den Eiter heraus und beschmierte das ganze Hinterteil mit einer bräunlichen, stinkenden Salbe. Zum Schluss verband sie die wunden Stellen mit einem Leinentuch. „Wir können so bald nicht weiter reiten. Es kann Tage dauern, bis Gormen wieder fähig ist, in den Sattel zu steigen. Wir müssen eine Weile hier bleiben“, sagte die Heilerin. „Das kommt überhaupt nicht in Frage. Mir geht es schon besser. Wenn ich nicht reiten kann, dann laufe ich eben“, protestierte der Mönch. „Du kannst jetzt auch noch nicht gehen, Gormen. Lass uns wenigstens einen Tag hier rasten. Vielleicht geht es dir dann schon besser.“ Gormen gab sich geschlagen. Die Sonne war gerade hinter den Kamm des schneebedeckten Vulcatgebirges gesunken. Weit im Süden, noch einen Tagesritt entfernt, glänzte das Band eines Nebenflusses des Stroms, der ihnen auf der Reise durch die Ostlande nach Vulcor ein treuer Führer und Begleiter gewesen war. Boc und Spin schlugen das Lager auf und versorgten die Pferde. Als die Dämmerung langsam heraufzog, knisterten und knackten die Holzscheite, die Boc mit seiner Axt gespaltet hatte, in einem kleinen Lagerfeuer. Cora kochte einen Sud aus Kräutern für Gormen, ein Mittel gegen Fieber und Schmerzen. Zum Schluss gab sie noch ein wenig Schlafmohn hinein. Der Schwarze Magier sollte eine ruhige Nacht haben. Nachdem sie gegessen hatten, zeigte Cora ihnen das Buch, das sie von Trygar geliehen hatte, der es seinerseits aus Harolds Bibliothek als Reiselektüre mitgenommen hatte. Es hieß „Die Mythen und Sagen des Alten Königreiches“. „He, ich werde euch eine Geschichte daraus vorlesen, die ihr noch nicht kennt. Sie heißt: Das Land der Drachen.“ Die Männer nickten zustimmend. Die junge Heilerin liebte das Buch, und ihre Begleiter fanden es unterhaltsam, wenn Cora ihnen an den Abenden nach einem anstrengenden Tagesritt damit die Zeit vertrieb, indem sie daraus vorlas. Sie begann: „Es war kaum zwei Monate her, dass Königin Kierande ihren Vater begraben hatte und selbst zur Herrscherin gekrönt worden war. Sie war das einzige Kind des verstorbenen Monarchen, und viele am Hofe sahen es gar nicht gerne, von einer jungen Frau regiert zu werden. Im ersten Jahr ihrer 135 Herrschaft würde sie es deshalb schwer haben, aber sie war klug und mutig und würde eine gute Königin werden, eine berühmte noch dazu, denn sie war es, die viele Jahre später dem Lordmagier Semanius die Stirn bot und ihn schließlich besiegte. Doch jetzt stand sie noch am Anfang ihrer Herrschaft. Der König oder die Königin wurde traditionell von der königlichen Garde beschützt, vierundzwanzig ausgewählten Rittern. Der Brauch wollte es, dass die Garde sich auflöste, wenn ein Herrscher verstarb, und der Thronfolger die Ritter für seine neue Garde selbst ernannte. Üblicherweise entließ der neue Monarch aber nur die ältesten Ritter, die dem Dienst nicht mehr gewachsen waren, in den ehrenvollen Ruhestand und ernannte nur wenige Nachfolger. Kierande machte es anders: sie behielt nur vier Ritter der alten königlichen Garde und wollte alle anderen durch junge, unerfahrene Männer ersetzen. Ein Aufschrei ging durch das Land, als sie die alt gedienten Recken so vor den Kopf stieß, aber sie setzte ihren Willen durch. Sie sandte an alle Fürsten des Landes, angefangen von kleinen Landlords bis zu den mächtigen Grafen, den Aufruf, ihre Erbfolger zum Hof zu schicken, damit sie unter ihnen auswählen konnte. So trafen denn dreiundsechzig junge Adelige ein, ausgebildet in sämtlichen Waffengattungen, gebildet und im Höfischen bewandert. Aus ihnen wollte sie die zwanzig auswählen, die ihr treu zur Seite stehen sollten. Sie empfing die Kandidaten in ihrem großen Thronsaal und lud sie zu einem Bankett ein. Nachdem sie gegessen hatten, hielt sie ihre Ansprache. Sie forderte die Männer auf, genau zu überlegen, ob sie ihr Leben in der königlichen Garde verbringen wollten, denn dies bedeutete, dass sie ihr Erbe nicht antreten durften, solange die Königin sie nicht entließ, möglicherweise sogar niemals. Sie mussten auf Reichtümer, Schlösser und Grundbesitz verzichten, würden immer nur am Hofe leben, durften keine Familie gründen, konnten das königliche Schloss nur verlassen, wenn es ihnen die Königin gestattete und mussten einen Treueid schwören, dessen Bruch mit dem Tode oder der Verbannung bestraft wurde. Die Königin sagte weiter, sie würde es verstehen, wenn einige der Männer eigene Pläne für ihr Leben hätten und dem Reich auf andere Weise dienen wollten. Jeder, der sich dazu entschlösse, könne nun aufstehen und in Ehren gehen. Einige der jungen Männer erhoben sich, verneigten sich vor der jungen Herrscherin und gingen. Doch der größte Teil blieb im Saal. Ich fordere noch etwas von euch, sagte Kierande. Wer mir dienen will, muss seine Loyalität und Treue beweisen, indem er eine tapfere Tat begeht, eine Tat, die eines Ritters der königlichen Garde würdig ist. Erst danach werde ich die Männer, die mir dienen sollen, auswählen. Ihr habt bis morgen früh Zeit, diese Bedingung anzunehmen und mir euren Vorschlag für eine ehrenhafte und schwierige Aufgabe zu unterbreiten. Diejenigen von 136 euch, die darauf eingehen wollen, bitte ich morgen früh einzeln zur Audienz. Den anderen, welchen meine Forderung zu weit geht, danke ich, dass sie sich hierher bemüht haben. Sie dürfen sich auf die Heimreise begeben. Am nächsten Tag waren noch vierzig Bewerber übrig geblieben. Sie wurden nacheinander zur Königin gerufen, und jeder von ihnen beschrieb, welche schwere Aufgabe zu Ehren Kierandes er zu erfüllen gedenke. Einer wollte den berühmtesten Ritter des Landes zum Duell fordern, ein anderer das verschollene Buch der Sieben Tage suchen und zurückbringen, ein dritter erklärte, er wolle der Königin das Fell eines Eisbären schenken, den er selbst töten würde. Jetzt stand der dreiundzwanzigste Bewerber vor ihr, ein Jüngling, der kaum sechzehn Jahre alt sein konnte, denn seine Wangen und sein Kinn waren noch glatt, nicht einmal ein Anschein von weichem Flaum war zu sehen, und seine Stimme war hell, obwohl er sich bemühte, in einer tieferen Lage zu sprechen, was ihm sichtlich schwer fiel. Etwas störte Kierande an ihm, aber sie wusste nicht zu sagen was. Wie ist dein Name, Junker? fragte sie. Der Jüngling antwortete nervös: Ich bin Jos Harim, Erbe des Minto Harim, Herr der Gemark Tetsel, Euer Majestät. Es wäre mir eine große Ehre, Euch dienen zu dürfen. Die Königin erinnerte sich. Tetsel war eine kleine, unbedeutende Baronie am Fuß des Wolfszahngebirges. Sie kannte Baron Harim nur vom Sehen. Er war ein oder zweimal zu einer Audienz bei ihrem Vater gewesen. Und welche ehrenvolle Aufgabe hast du dir ausgedacht, die du für mich erfüllen willst? Ich werde Euch das Herz eines Drachen bringen. Die Königin lachte. Aber es gibt keine Drachen, Jos. Das sind doch nur Kindermärchen! Verzeiht mir, wenn ich Euch widerspreche, aber ich bin mir sicher, dass es Drachen gibt, jenseits der Berge. Ein Wanderer erzählte mir davon. Ein Mann, der im Hause meines Vaters sehr geschätzt und alles andere als ein Lügner und Aufschneider ist. Sein Name ist Amrhed. Den Namen kannte Kierande. Amrhed war ein geachteter und berühmter Forscher und Weltreisender. Nun gut. Vielleicht gibt es ja Drachen. Aber denkst du nicht, du bist viel zu jung für solch eine Tat? Die Ostlande sollen rau und gefährlich sein, und wenn dort wirklich Drachen leben… Aber der junge Jos blieb dabei. Er wollte der Königin unbedingt ein Drachenherz bringen. Verzeiht meine Forschheit, Königin Kierande: aber wenn ich es schaffe, versprecht ihr mir, mich in Eure Garde aufzunehmen? 137 Die Königin wusste nicht, ob sie den Knaben je wieder sehen würde, wenn sie ihn in die Wildnis jenseits der Berge gehen ließ. Wenn er dort sein Leben verlöre, wäre sie dafür verantwortlich. Aber sie hatte keine Wahl. Die Tradition verlangte, dass sie das Angebot des Jungen annahm. Und so versprach sie es. Am Abend eines langen und ermüdenden Tages, nachdem sie alle Bewerber empfangen und gehört hatte, zog sie sich in ihre Gemächer zurück. Eine Dienstmagd half ihr gerade beim Entkleiden, während sie über die Bewerber grübelte. Immer wieder gingen ihre Gedanken zu dem jungen Jos. Da fiel es ihr plötzlich wie Schuppen von den Augen. Jetzt wusste sie, was mit ihm nicht stimmte! Sie warf sich einen Hausmantel über und beauftragte ihre Magd, Jos sofort zu holen. Die Magd war entsetzt, dass die Königin in halb entkleidetem Zustand einen jungen Ritter empfangen wollte, aber sie gehorchte. Wenig später stand Jos verunsichert vor Kierande. Die Königin musterte den jungen Menschen vor ihr genau. Sein Gesicht war rundlich und noch fast kindlich, aber er war groß und kräftig für sein Alter, so als ob er regelmäßig Körperertüchtigung betriebe. Breite Schultern und lange, muskulöse Glieder verdeckten fast das, was Kierande kaum aufgefallen war, aber dennoch diesen Zweifel in ihrem Unterbewusstsein hinterlassen hatte. Jetzt sah sie es wieder: die etwas zu breiten Hüften, die schmale Taille, der schlanke Hals und die kaum sichtbare Erhebung der Brüste. Du hast mich angelogen¸ sagte sie in strengem Ton. Du bist ein Mädchen! Jos erblasste und sagte: Ich würde Euch nie belügen, Majestät. Ja, Ihr habt Recht, ich bin eine Frau, aber ich habe nie vorgegeben, ein Mann zu sein. Die Königin runzelte die Stirn. Immerhin hast du versucht, mich zu täuschen. Die Männerkleidung, der Männername… Ich heiße wirklich Jos. Ich bin das einzige Kind meines Vaters, der mich wie einen Jungen aufgezogen hat. Ich habe das Reiten, Fechten und Bogenschießen erlernt. Ihr haltet mich vielleicht für jung, aber ich bin bereits zweiundzwanzig Jahre alt. Ich habe Euch nicht belogen. Ich hoffte, das Geschlecht spiele bei der Auswahl Eurer Garde keine Rolle, es käme nur auf Mut und Treue an. Kierande schmunzelte. Du hast mich nicht belogen, das ist wahr, aber vorsätzlich getäuscht. Es war dir ganz recht, für einen Jungen gehalten zu werden, denn du weißt natürlich genau, dass das Geschlecht doch eine Rolle spielt. Als Frau kann man vielleicht Königin werden, aber ein Ritter? Du hast gehofft, dass du mir zuerst deinen Mut und deine Kraft beweisen könntest, bevor du dich offenbaren müsstest. 138 Jos blickte beschämt zu Boden. Werdet Ihr mich jetzt fortschicken? Nein, mein Wort gilt. Aber ich gebe dir die Gelegenheit, von deiner Aufgabe zurückzutreten oder dir eine neue, weniger gefährliche auszusuchen. Nein, meine Königin. Ich werde mein Versprechen erfüllen. Eine Woche später war Jos wieder nach Hause, in die Burg ihres Vaters, zurückgekehrt. Sie hatte Glück: Amrhed, der Wanderer, war noch zu Gast in Tetsel. Der Mann kam und ging normalerweise, wie es ihm gefiel. Der Burgherr mochte Amrhed, den weit gereisten Forscher, Abenteurer und Geschichtenerzähler, und gewährte ihm gerne Unterkunft und Gastfreundschaft, wenn ihn seine Reise wieder nach Tetsel führte. Amrhed war ein hagerer, düster wirkender Mann mit wilder Haarpracht und langem Bart, der eher wie ein Bettelmönch denn wie ein Gelehrter wirkte. Aber er war ein hoch gebildeter Mann, der sieben Sprachen sprach, bewandert war in vielen Wissenschaften, fremde Länder bereiste und zauberhafte Bücher verfasste, in denen er exotische Pflanzen und Tiere, wilde und primitive Menschen, die von der Jagd lebten, und mächtige Reiche und große Kulturen beschrieb. Die Städte, in denen er gewesen war, überboten die Pracht der Hauptstadt des Königreiches, ihr Reichtum und ihr Wissensschatz schienen unermesslich. Er brachte Zeugnisse seiner Reisen mit: getrocknete Blätter von Riesenbäumen, eines so groß wie ein kleiner Teppich, die Felle von Tieren, die noch niemand im Königreich vorher gesehen hatte, Artefakte aus Gold und Silber, die ihm fremde Herrscher geschenkt hatten, und einen Zahn. Der Zahn hatte es Jos angetan. Er war doppelt so lang wie ihr Mittelfinger, leicht gebogen und kegelförmig spitz. Auf der konkaven Rückseite war er gezackt und schärfer als ein Doch, ein Zahn um zu töten und mächtige Brocken von Fleisch herauszureißen. Das dazugehörige Tier war, so versicherte Amrhed, ein Drache. Ein gewaltiger Drache, mehr als fünfzig Fuß lang und fünfzehn Fuß hoch, schwerer als zehn Ochsen, aufrecht auf zwei Beinen laufend. Nichts konnte ihm widerstehen, nicht einmal die doppelt so großen, tumben und schwerfälligen Tiere mit dem fassförmigen Leib, den säulenartigen Beinen, dem schlangengleichen Hals und kleinen Kopf, dem langen Schwanz, auf die er Jagd machte. Aber im Land der Drachen gab es nicht nur ihn, den Königsdrachen, wie ihn Amrhed nannte, sondern auch kleine und flinke Drachen, die in Rudeln jagten und schneller als Gazellen rennen konnten, mit sichelförmigen Klauen bewehrt, und fliegende Drachen mit leicht gebauten Körpern, großen Köpfen mit langen, zahnbewehrten Kiefern und riesigen, durchscheinenden, hautbespannten Flügeln, in denen man ein Netz roter Adern sehen konnte, wenn sie vor der Sonne vorbei flogen. 139 Amrhed war im Land der Drachen jenseits der Berge gewesen, und nun fragte ihn Jos, wo sie dieses Land finden könne. Nachdem sie ihm von dem Versprechen, das sie der Königin gegeben hatte, berichtet hatte, schaute sie der Forscher entgeistert an. Dieses Land ist das gefährlichste der Welt, Jos. Du würdest dort keinen Tag überleben! Aber du hast doch auch überlebt. Nun, ich bin ja nicht auf Drachenjagd gegangen. Ich war sehr vorsichtig und habe mich von den Biestern ferngehalten. Dort wohnt kein Mensch, aber die, welche an den Rändern des Drachenlandes leben, haben mich gewarnt. Der Zahn stammt vom Skelett eines Königsdrachen. Einem lebenden habe ich mich gerade mal auf Sichtweite genähert. Ich bin ein Forscher und Beobachter, kein Abenteurer, wie man mir gelegentlich nachsagt. Sag mir einfach nur, wie ich dorthin finde. Jos, du bist verrückt! Ich will nicht für deinen Tod verantwortlich sein. Ich werde zu deinem Vater gehen, und ihm von deinem selbstmörderischen Vorhaben berichten. Der kann mich auch nicht festbinden. Ich werde tun, was ich tun muss, sagte Jos trotzig. Dann erwarte keine Hilfe von mir! Natürlich half er ihr dennoch. Amrhed war ein gutherziger Mensch. Er konnte die junge Frau nicht allein ins Verderben gehen lassen, und so ritt er mit ihr, führte sie zum Fuße des Passes, an dem sie die Pferde zurücklassen mussten, und über die Berge. Einen Monat nach ihrem Aufbruch betraten sie das Drachenland. Ihre ersten Drachen erblickte Jos, als sie in einem Hain, verborgen von Büschen und niedrigen Bäumen, von einer Anhöhe hinab in die weite Ebene schaute. Doch bevor sie die Jäger entdeckte, sah sie ihre Opfer: eine Herde gewaltiger, gepanzerter Kolosse, die eine Schneise durch die Savanne pflügte, wie es die schwarze Wolke einer Heuschreckenplage nicht besser gekonnt hätte. Die grasenden Giganten glichen Schildkröten auf Säulenbeinen mit winzigen Köpfen und langen, stachelbewerten Schwänzen. Die Herde wurde verfolgt, wie Jos erst jetzt erkannte. Ein Rudel kleinerer, pfeilschneller, auf den Hinterläufen rennender Tiere versuchte, ein Kalb von der Herde abzudrängen. Die älteren Pflanzenfresser schwangen drohend ihre Schwänze, doch sie waren zu langsam, um das Drama zu verhindern. Während einige der zweibeinigen Jäger das Muttertier ablenkten, indem sie unter seinem Bauch hindurch rannten und ihm mit den Sichelklauen an ihren kurzen Armen blutige Wunden an der schwach gepanzerten Unterseite beibrachten, stürzten sich die anderen des Rudels auf das Jungtier, das so groß wie ein Ochse war. Wenige Augenblicke später war es tot, 140 und die Räuber saßen auf seinem dicken, tonnenförmigen Körper, rissen die Flanken auf und tauchten ihre Köpfe in das blutrote Fleisch. Das Muttertier erkannte wohl, dass jede Hilfe zu spät kam und brachte sich schwer verletzt in seiner Herde in Sicherheit. Rudeldrachen, sagte Amrhed. Kleiner als Menschen und doch ebenso gefährlich wie der Königsdrache. Was ihnen an Kraft und Größe fehlt, machen sie durch Zusammenarbeit, Grausamkeit und Schnelligkeit wett. Sie jagen im Grasland, deshalb werden wir nie dort hinunter gehen, sondern uns an das Hügelland halten. Sie wanderten durch die Erhebungen am Rande der Ebene und entdeckten noch weitere Drachen. Einige von ihnen waren größer als die Rudeldrachen, einsame Jäger und Aasfresser, manche von ihnen zehn Fuß hoch, die meisten auf Hinterbeinen gehend, die langen Schwänze zur Balance ausgestreckt. Ihre bevorzugten Opfer waren Wildrinder, große, massige mit dicker Wolle bedeckte Tiere, deren Waffen drei Fuß lange, spitze Hörner waren. Die Bullen umringten die Herde der Kühe und Kälber, und die Rudeldrachen machten einen großen Bogen um sie, denn diese Tiere waren wehrhaft und fast ebenso schnell wie sie. Selbst die großen Drachen näherten sich den Herden nur sehr vorsichtig. Sie waren geduldig, hielten sich in sicherer Entfernung und warteten, bis die Aufmerksamkeit und Vorsicht der Bullen nachließ. Oft griffen sie in der Nacht an oder in der größten Mittagshitze. Ein einzelnes Rind war für sie kein Gegner, selbst wenn es sich um einen großen Stier handelte. Ihre schiere Größe bewegte das Opfer zur Flucht, statt den Kopf zu senken und seine langen Hörner zur Gegenwehr zu nutzen. Die Drachen konnten auf kurze Entfernung recht schnell laufen und sogar ein flinkes Rind einholen. Sie schlugen ihrem Opfer die Zähne in die Flanken, rissen sie auf, sodass die Eingeweide in einem Strom herausquollen. Auch im Hügelland gab es Drachen. Sie waren kaum größer als Hühner und wie diese gefiedert, besaßen aber keine Schnäbel, sondern lange, mit kleinen, spitzen Zähnen bewehrte Schnauzen. Sie jagten zum Glück nur kleine Tiere und ließen die beiden Menschen in Ruhe. Andere schienen schon gefährlicher. Die hundegroßen Laufdrachen kamen aber nur vereinzelt vor. In Gruppen von dreien oder vieren könnten sie Menschen gefährlich werden, erklärte Amrhed. In den Hainen und kleinen Wäldern waren sie auch sicher vor den fliegenden Drachen, deren gellende Rufe weit über das Land schallten. Die kleinsten von ihnen waren so groß wie Adler, die größten besaßen Flügelspannweiten von mehr als dreißig Fuß. Sie kreisten unablässig über der Grasebene und lauerten auf Aas oder verwundete und kranke Tiere, die sich nicht mehr wehren konnten. 141 Es dauerte zwei Wochen, bis Jos die ersten Königsdrachen zu Gesicht bekam. Es war ein Muttertier mit zwei Jungen. Der große Drache war gewaltig. Selbst auf die Entfernung von dreihundert Schritten konnte die junge Frau noch den zahnstarrenden, riesigen Rachen erkennen. Der Drache war am ganzen Körper braunrot gescheckt, der Kopf trug einen knöchernen Kamm, die verkümmerten Arme schienen nutzlos am Körper zu hängen. Auf gewaltigen, muskulösen Hinterbeinen schritt die Bestie langsam dahin, den Schwanz waagerecht ausgestreckt, um das Gleichgewicht zu wahren, den Hals tief gesenkt und den Kopf nach vorn gerichtet, sodass die höchste Stelle ihres Körpers sich über den Hüften befand. Zur vollen Größe aufgerichtet, mochte sie achtzehn Fuß hoch sein. Die beiden Jungen waren etwa doppelt so groß wie Menschen. Selbst sie waren gefährliche Gegner. Die beiden Menschen folgten der Drachenfamilie in gebührendem Abstand, wobei Amrhed immer darauf achtete, dass der Wind ihren Geruch nicht zu den Drachen tragen konnte. Jos hatte eine riesige Lanze mitgebracht, wie sie die Walfänger auf hoher See benutzten. Sie war zehn Fuß lang und ihre Spitze messerscharf geschliffen. Um sie transportieren zu können, war der Schaft in drei Teile zerlegt, die zusammengesteckt und miteinander verriegelt werden konnten. Die lange Spitze aus Bronze war zusätzlich mit Blei beschwert. Aus kurzer Entfernung und mit voller Kraft geworfen, konnte die Lanze eine schwere Rüstung durchschlagen oder ein fünf Finger dickes Brett durchbohren. Jos hatte Stunden, Tage und Wochen mit ihrem Drachentöter, wie sie ihn nannte, geübt. Doch als sie sah, welche Beute sie damit erlegen wollte, schwand ihr der fast Mut. Dennoch war sie gewillt, dem großen Drachen gegenüber zu treten, aber Amrhed sagte: Es wäre so, als wolltest du versuchen, einen Menschen mit einer Nähnadel zu töten, Jos. Dein Drachentöter wird ihr allenfalls einen unbedeutenden Stich beibringen. Sieh doch endlich ein, dass es vergebens ist. Warum muss es denn ein Königsdrache sein? Drache ist Drache. Suchen wir uns einen kleineren. Nein. Ich will der Königin das Herz eines Königsdrachen bringen. Aber du hast Recht. Diesen – sie deutete auf die riesige Bestie, die weit vor ihnen durch das Unterholz stapfte, wobei Büsche niedergetrampelt wurden und Bäume erzitterten – kann ich nicht töten. Das könnte kein Ritter, vielleicht nicht einmal ein Magier. Aber die beiden kleineren sind ja schließlich auch Königsdrachen! Vergiss es. Du könntest die Mutter nie von den Jungen trennen. Doch als seine gute Nase den alten Drachen zu dem Kadaver einer Panzerechse geführt hatte und er mit seinen Jungen ein ausgiebiges Festmahl hielt, wobei man das Krachen der Knochen meilenweit hören konnte, hatte Amrhed einen Plan gefasst. 142 Königsdrachen sind kurzsichtig und langsam. Sie jagen deshalb meist Panzerechsen, deren Ausdünstung sie gut riechen können, und die noch langsamer sind als sie. Ein guter Läufer kann ihnen entkommen. Ich werde mich der Mutter bis auf Sichtweite nähern und sie weglocken. Du kannst dir eines der Jungtiere aussuchen und erlegen. Sie werden nach dem Fressen müde sein und schlafen. Versuche, einen der Jungdrachen zu dir zu locken, indem du seine Aufmerksamkeit erregst. Sie sind sehr neugierig. Doch bedenke: Auch die Jungdrachen sind gefährlich. Wenn dein Lanzenwurf nicht beim ersten Mal tödlich ist, dann renne um dein Leben. Wenn dich beide verfolgen, lasse dich nicht auf einen Kampf ein, sondern breche die Jagd ab. Das Muttertier lässt sich wahrscheinlich nicht lange von seinen Jungen ablenken. Achte also darauf, ob es vielleicht zurückkehrt. Falls es dir wirklich gelingt, einen der kleinen Drachen zu töten, so schneide ihm nicht gleich das Herz heraus. Das würde zu lange dauern, und der Blutgeruch könnte seinen Bruder oder die Mutter herbeilocken. Sie werden vermutlich eine Weile bei dem Kadaver bleiben und ihn schließlich doch verlassen. Wir warten in sicherer Entfernung, bis sie abgezogen sind, bevor wir uns die Trophäe holen. Jos wollte zuerst nicht auf Amrheds Vorschlag eingehen und ihn einer solchen Gefahr aussetzen. Sie schalt ihn dumm, sich ohne Waffe dem Drachen zu nähern, doch er überzeugte sie davon, dass er dem riesigen Tier leicht davonlaufen konnte. Schließlich willigte sie ein. Nachdem sie sich umarmt und voneinander verabschiedet hatten, als würden sie sich nie wieder sehen, was ja durchaus möglich war, trennten sie sich. Jos schlug einen weiten Bogen und näherte sich den schlafenden Drachen von der Windseite, was an dem widerlichen Gestank des verwesenden Aases zu merken war. Der große Königsdrache lag auf der Seite, seine Flanke hob und senkte sich in einem langsamen Rhythmus. Einer der beiden kleineren Drachen schlief in der Nähe des Kadavers, der andere saß auf seinen Hinterbeinen und döste in der Sonne. Ihm näherte sie sich vorsichtig, immer gedeckt von Büschen und kleinen Bäumen, die den lichten Wald bildeten, welcher die Lichtung säumte, in der sich die Drachen befanden. Der Aasgeruch hatte auch andere angelockt. Mit Schrecken stelle sie fest, dass sich nur wenige Schritte links von ihr ein kleiner Laufdrache befand, etwa so groß wie ein Wolf, dennoch mit Furcht einflößenden Klauen and den Vorderläufen. Doch er hatte keinen Blick für sie, sondern behielt die viel größeren Tiere im Auge. Er wartete wohl, bis sie abzogen und ihm die Reste des blutigen Mahls übrig ließen. Nachdem ihn Jos eine Weile sorgenvoll beobachtet hatte, kam sie zum Schluss, dass er sie wohl für einen anderen wartenden Jäger hielt. Er würde sie nicht angreifen, weil er damit die Aufmerksamkeit der großen Drachen auf sich ziehen würde. Im 143 Augenblick herrschte ein Waffenstillstand, der wohl erst beendet sein würde, falls Jos ihm den Kadaver streitig machen sollte. Sie schlich weiter auf die Lichtung zu. Dann sah sie, wie der Kopf der Mutter ruckartig nach oben fuhr. Die Nüstern des weiblichen Drachen blähten sich, und er starrte in eine Richtung, die von Jos weg wies. Langsam erhob sich die Bestie, den Kopf immer in die gleiche Richtung gewand, und stapfte mit großen, raumgreifenden Schritten fort. Jos’ Konkurrent um die Beute, der kleine Laufdrache, machte sich erschreckt davon. Die jungen Königsdrachen auf der Lichtung kümmerten sich nicht um die Mutter. Der eine schien fest zu schlafen, der andere blinzelte ab und zu träge. Jos nahm einen Stein und warf ihn. Er klatschte vor dem halbwüchsigen Drachen ins Gras, der erschrocken einen Schritt zurück wich. Jos bewegte die Äste des Busches, hinter dem sie stand, um das Tier anzulocken. Dessen Neugier war stärker als der Schreck, und es näherte er sich vorsichtig dem Versteck der jungen Frau. Jos’ Herz klopfte bis zum Hals. Der Schweiß brach ihr aus. Ihre Muskeln spannten sich an, dass die Sehnen und Adern hervortraten. Ihr Atem ging schnell und keuchend. Der Drache war jetzt nur noch zehn Schritt entfernt. Obwohl er jung war, erschien er ihr riesig. Trotz seiner gebückten Haltung war er fast zehn Fuß hoch, sein Kopf war so lang wie ihr Arm und sein Rachen starrte vor reißenden Zähnen. Er kam näher und näher, vorsichtig und neugierig zugleich. Als er nur noch sechs Schritt entfernt war, sprang Jos hinter dem Busch hervor ein paar Schritte zur Seite, sodass sich ihr seine Flanke darbot und schleuderte die Lanze mit aller Kraft. Der Drache brüllte, dass ihr die Trommelfelle zu platzen drohten, dann griff er an. Jos wandte sich um und rannte. Hinter sich hörte sie die Schreie der Jungdrachen, die sie jetzt beide zu verfolgen schienen, und das viel tiefere und lautere Brüllen des Muttertiers, das die Jagd auf Amrhed offensichtlich abgebrochen hatte und zurückkehrte, um seine Jungen zu beschützen. Jos rannte um ihr Leben. Sie drehte sich nicht um, sondern achtete nur darauf, wie laut das Brüllen hinter ihr war. Wie es schien, kamen die Verfolger näher. Sie verdoppelte ihre Anstrengung und glaubte schon, den Atem der Bestien in ihrem Nacken zu spüren. Ihre Füße berührten kaum den Boden und trommelten den rasenden Rhythmus der Todesangst. Sie lief, bis ihr die Lunge zu zerplatzen drohte, bis sie merkte, dass das Gebrüll hinter ihr verstummt war. Da endlich wagte sie, sich umzudrehen. Kein Verfolger weit und breit, Wathan sei Dank. Sie sank zu Boden und versuchte, ihren stoßenden Atem und ihr rasendes Herz zu beruhigen. Amrhed fand sie eine Stunde später. Er verscheuchte zwei hundegroße Laufdrachen, die sich bereits an die erschöpfte Frau herangeschlichen hatten, in der Hoffnung, dass sie krank und verletzt war und eine leichte Beute sein würde, und zog sie auf die Beine. 144 Komm, sagte er. Wir müssen hier weg. Glaube nicht, dass der Königsdrache so leicht aufgibt. Er kann unsere Fährte riechen und wird uns verfolgen. Zwei Tage später hatten die beiden Drachen, die Alte und ihr Junges, endlich das Gebiet verlassen und den dritten zurückgelassen, der an seiner schweren Verletzung verendet war. Die kleinen Aasfresser hatten sich schon an seinem Kadaver gelabt, aber sein Herz war noch nicht gefressen worden. Jos nahm es als Trophäe mit zum Schloss der Königin, und Amrhed, der über die Grenzen des Königreichs hinaus bekannte und geachtete Gelehrte, kam mit ihr und bestätigte, dass es sich um das Herz eines Drachen handelte. Uns so wurde Jos der erste und einzige weibliche Ritter in der Garde der Königin und diente ihr bis zu ihrem Tod.“ Cora beendete die Erzählung, klappte das Buch zu und sah zu den Männern hinüber, die ihr gebannt gelauscht hatten. „Ihr wisst, warum ich euch diese Geschichte vorgelesen habe?“ Spin nickte. „Morgen oder übermorgen werden wir die Grenze des Drachenlandes überschreiten“, sagte er. Die drei Koridreaner, die schon einmal das Land der Drachen durchquert hatten, und der Mönch aus Vulcor unterhielten sich über die seltsamen und Angst einflößenden Tiere. „Wir hatten Glück“, sagte Spin. Wir haben das Gebiet anscheinend nur gestreift, und dennoch sind wir einigen der Bestien gefährlich nahe gekommen. Ab morgen müssen wir sehr vorsichtig sein.“ „Warum leben sie bloß hier und nicht in anderen Landstrichen?“, fragte Boc, und der Waldläufer antwortete: „Sie scheinen hier gefangen zu sein. Im Westen liegen die hohen Berge, im Osten geht die Savanne irgendwo in eine Wüste über, im Norden liegt die raue eisige Tundra, und die Große Barriere im Süden verhindert, dass sie dorthin ziehen. Deshalb leben sie hier, in den fruchtbaren Landstreifen, die den großen Strom und seine Nebenflüsse säumen. Hier gibt es schnell wachsendes Gras, Bäume und Buschwerk für die Pflanzenfresser im Überfluss, und diese sind die Beute der kleinen und großen Raubdrachen.“ „Bist du sicher, dass wir ihr Land noch nicht erreicht haben?“, wollte Gormen wissen. Seine Stimme klang leblos vor Müdigkeit, seine Augenlider waren während Coras Erzählung immer wieder herabgesunken, doch er war wach geblieben, trotz des Schlaftrunks, den ihm die Heilerin eingeflößt hatte, denn er hatte das Ende der Geschichte um keinen Preis versäumen wollen. Spin antwortete: „Nun, das Gras ist hier dürr und saftlos. Ich denke, dass die großen Pflanzenfresser im Herbst nicht so weit nach Norden wandern. Doch der 145 Fluss ist nicht mehr fern. Dort werden sie sein, und wo sie sich aufhalten, sind auch die Drachen nicht weit.“ Es war kühl, aber die Zikaden in diesem rauen Land waren es gewöhnt. Ihr schrilles Konzert ertönte noch, als es schon dunkel war. Gormen schlief auf dem Bauch. Er hatte keine Schweißperlen mehr auf der Stirn und stöhnte nicht im Schlaf. Das Mittel schien zu wirken. Spin stocherte mit einem langen Ast in der Glut herum. Seine Augen flackerten im Widerschein der Flammen. Boc lag auf der Seite, und sein Schnarchen mischte sich mit den Zikadentönen zu einem seltsamen, rhythmischen Lied, zu dem Cora versucht war, den Takt zu schlagen. Der eintönige Rhythmus machte sie müde, und sie legte sich hin. Gedanken streiften ihr durch den Kopf: Trygar als Schwarzer Kämpfer, Trygar und Duna Seite an Seite nach Süden reitend. Wie sie den Jungen vermisste! Die Gedanken wurden immer wirrer, zerstoben zu Fetzen von Eindrücken, Erinnerungen und Träumen. Kurz darauf war sie eingeschlafen. Spin weckte sie. Nun war sie an der Reihe, Wache zu halten. Die Sterne glitzerten klar und frisch. Das Feuer flackerte nur noch schwach. Der Waldläufer gähnte, rollte sich in seine Decken und war kurz darauf in tiefen Schlummer gesunken. Cora fröstelte. Sie schlang ihre Decke fest um sich und setzte sich dicht an die Wärme spendende Glut. Die Zikaden hatten ihr dissonantes Lied beendet. Es war ruhig. Nur gelegentlich wisperte der Wind im Gras. Zwei Stunden musste sie ausharren, bis sie Boc wecken durfte. Es war klar, dass sie sich heute Nacht die Wache zu dritt teilten, den Gormen sollte seinen Genesungsschlaf haben. Sie stand auf, trat von einem Bein auf das andere, um die Muskeln ein wenig zu erwärmen. Im blassen Sternenlicht konnte sie die Dampfwolken ihres Atems sehen. Der Herbst war hier im Norden rauer, kälter und kürzer als in Koridrea. Schon bald konnte es den ersten Schnee geben. In der Nähe schliefen die Pferde im Stehen mit gesenkten Köpfen. Sie waren abgesattelt und mit einem langen Strick um den Hals an einen Baum gebunden, damit sie grasen konnten. Die vier Reisenden befanden sich in einer Steppe: gelbbraunes, hohes Gras bedeckte eine wellige Ebene, die von kleinen Wäldchen und Hainen durchbrochen war. Sie hatten ihren Lagerplatz in der Nähe eines solchen Wäldchens aufgeschlagen. Cora fragte sich, ob sie auf dem Hinweg hier auch vorbei gekommen waren. Wie auch immer: sie befanden sich wohl etwa einen Tagesritt nördlich des Gebiets der Drachen und Echsen. Sie dachte mit Schaudern daran. Wenn Gormen wieder reisefähig war, mussten sie es so schnell wie möglich durchqueren. 146 Sie zitterte. Warum sollte sie eigentlich in der kühlen Brise stehen und frieren? Sehen konnte man in dieser Dunkelheit ja sowieso kaum etwas. Sie setzte sich wieder dicht ans Feuer und hüllte sich in ihre Decke. Die Holzkohle in der Feuerstelle glühte immer noch hellrot und verbreitete etwas Wärme. Bald hörte sie auf zu zittern. Sie war ja so müde. Die schweren Lider sanken herab. Cora erwachte durch die Vibrationen des Bodens, die sie selbst durch die dicken Decken hindurch spürte. Er erzitterte wieder und kurz darauf noch einmal. Ein Erdbeben? Sie schlug die Augen auf und sah, dass auch Spin und Boc alarmiert aus dem Schlaf gerissen worden waren. Der Waldläufer reagierte als erster. „Schnell, wir müssen hier weg!“, sagte er leise, schüttelte die Decken ab und stand auf. Cora und Boc erhoben sich gleichfalls. Nur Gormen schlief weiter seinen Mohnsaftschlummer. Die Pferde hatten etwas gewittert, schnaubten und rollten ängstlich mit den Augen. Eines wieherte und versuchte sich loszureißen. Da rochen es auch die Menschen: Der strenge Geruch nach verwestem Fleisch hüllte sie wie eine faulige Wolke ein. Hinter den Pferden, die am Rand des kleinen Wäldchens festgebunden waren, erzitterte ein Baum so heftig, als habe ein Riese daran gerüttelt, dann brach ein alptraumhaftes Wesen durch das Dickicht. Es war dunkel, und so konnten die erstarrten Menschen nur seine schwarze Silhouette sehen, die sich turmhoch gegen den Sternenhimmel abhob. Die Bestie machte einen weiteren großen Schritt und trat ganz aus dem Wald. Die schwache Glut der glimmenden Scheite warf einen Schimmer auf den Königsdrachen, offenbarte seine geöffneten Kiefer mit den glitzernden Reißzähnen und die glänzenden Reptilienaugen. Die Ausgeburt der Unterwelt bückte sich, packte eines der wie rasend an seinem Strick zerrenden Pferde, hob es in seinem Rachen hoch und schleuderte es mit einer schnellen Kopfbewegung zwanzig Schritte durch die Luft. Das arme Tier lag schreiend mit hervorquellenden Gedärmen und gebrochenen Gliedern am Boden. Gemächlich schritt der Drache zu seinem noch lebenden Opfer und riss große Fleischfetzen heraus, die er am Stück hinunter schlang. Spin gewann endlich seine Fassung wieder. Er zog seinen Dolch, huschte im Rücken der Bestie rasch zu den sich vor Angst aufbäumenden und auskeilenden Pferden und schnitt die Stricke durch. Die Tiere rasten in die Dunkelheit davon. Boc bückte sich, um Gormen wachzurütteln, was vergebens schien. Cora eilte zu ihm, und gemeinsam versuchten sie, den Mönch auf die Beine zu zerren. Auch Spin war zum Feuer zurückgekehrt, um ihnen zu helfen. Doch die Bemühungen der drei Menschen erregten die Aufmerksamkeit des riesigen Drachen. Er drehte seinen gewaltigen Kopf 147 herum und stierte mit kurzsichtigen Augen zu ihnen hinüber. Eiszapfen schienen über Coras Rückrat zu gleiten, aber sie versuchte, ihre aufkeimende Panik zu unterdrücken und flüsterte: „Wir gehen jetzt ganz langsam rückwärts. Macht keine ruckartigen Bewegungen und rennt erst, wenn er uns entdeckt hat!“ „Entdeckt hat?“, fragte Boc entgeistert. „Das Biest sieht uns doch direkt an!“ „Aber er hat schlechte Augen und – nach allem, was ich darüber gelesen habe (und das war mehr als nur die eine Geschichte) – erkennt er nur Wesen, die sich bewegen. Vielleicht hält er uns ja für kleine Bäume.“ Unendlich langsam und mit kleinen Schritten rückwärts gehend, pirschten sie sich aus dem schwachen Lichtschein des fast erloschenen Feuers. Der Drache wandte sich wieder ab und fraß weiter. KNACK! Boc war auf einen trockenen Zweig getreten. Sie blieben wie erstarrt stehen. Der Drache drehte sich zu dem Geräusch um, vage in ihre Richtung blickend. Jetzt schien er das Bündel am Boden zu entdecken, das dicht am Feuer lag. Er setzte sich zögernd in Bewegung. Die Glut schien ihm nicht geheuer, aber der Wind trug nicht nur den Rauch, sondern auch den schwachen Geruch von Gormen Helath zu ihm, der nach wie vor regungslos dalag. Noch ein Schritt, der die Erde erbeben ließ, und ein weiterer. Die drei Gefährten mussten hilflos zusehen, wie der Drache seinen Kopf senkte und die formlose Gestalt des in Decken gewickelten Schwarzen Mönches beroch. Jeden Augenblick würde er seinen Rachen öffnen und ihren Freund fressen. Plötzlich sprang Boc mit einem lauten Schrei auf die Bestie zu, seine riesige Axt in beiden Händen über den Kopf schwingend. Der Drache hatte kaum Zeit, ihn ins Auge zu fassen, schon sauste die Axt herab und fuhr direkt zwischen die Nüstern des Scheusals. Das Tier hob seinen gewaltigen Kopf, in dessen Oberkiefer die Axt stecken blieb, und stieß ein Brüllen aus, das mit nichts vergleichbar war, das Cora je gehört hatte. Boc wandte sich um und rannte um sein Leben. Der Drache verfolgte ihn. Er lief nicht, sondern ging, allerdings mit solch raumgreifenden Schritten, dass er aufzuholen schien. Spin rannte zur Feuerstelle zurück und suchte seinen Bogen und seine Pfeile. Cora schrie aus Angst um ihren Geliebten, denn der war gerade gestolpert und gestürzt. Bevor er sich aufrappeln konnte, war die Bestie bei ihm und riss den Rachen auf. Ein hell leuchtender Kugelblitz schoss über das dürre Gras und entzündete es. Seine Geschwindigkeit war so hoch, dass Cora nur ein Schemen sah, das ein Nachleuchten auf ihrer Netzhaut hinterließ. Der Kugelblitz traf den Drachen am linken Hinterbein und explodierte in einem Feuerregen. Ein zweiter Kugelblitz fiel vom Himmel und hüllte den Kopf des Ungeheu- 148 ers ein, brannte ihm die Augen heraus. Das Gebrüll steigerte sich zum Inferno. Boc hatte sich inzwischen erhoben und rannte davon, aber der Königsdrache verfolgte ihn nicht. Er biss nach den blendend weißen Feuerkugeln, die jetzt von allen Richtungen auf ihn zurasten, doch die irrlichternden Feinde ließen sich nicht packen, sondern verbrannten nur seinen Rachen. Blind und taub – das Feuer hatte inzwischen seine Trommelfelle versengt – stolperte er brüllend umher und schlug mit dem Schwanz. Schließlich stürzte er. Die Erschütterung des Aufpralls war so stark, dass die Erde unter Coras Füßen schwankte wie die Planken eines Schiffes bei Sturm. Die Kreatur zuckte noch einmal, bevor sie regungslos liegen blieb und lichterloh brannte. Ihr Feuerschein beleuchte den Mann in der schwarzen Robe, der seine Arme hoch erhoben hatte, und dessen Gesicht wie ein bleicher Mond aus dem dunklen Schatten der Kapuze schien. Gormen, der Magier, war erwacht. Nach und nach erloschen die Flammen, die am brennenden Kadaver züngelten. Gormen, der noch wie in Trance war, versuchte die Mohnsaftmüdigkeit abzuschütteln, indem er sich Wasser über den Kopf goss. Prustend sagte er: „Es scheint, als wären es doch nicht mehr ein bis zwei Tagesreisen bis zum Drachenland. Cora, bitte flöße mir das nächste Mal nicht so viel Mohnsaft ein. Ich hätte ja beinahe das Beste verschlafen.“ „Dafür, dass du immer noch kaum aus den Augen gucken kannst, war dein Kugelblitzgewitter aber ziemlich beeindruckend“, sagte Spin kopfschüttelnd. „Ihr wart alle ziemlich beeindruckend“, meinte Cora beißend. „Du hast todesmutig zuerst die Pferde befreit, Spin, und du, mein tapferer Stier, bist mit einer Axt auf die größte und gefährlichste aller Bestien losgegangen. Ja wirklich sehr bemerkenswert. Man könnte auch sagen: bemerkenswert dumm!“ Spin blickte die Frau überrascht an. „Die Pferde waren angebunden, Cora. Wir nicht. Schließlich hast du uns vorgelesen, ein Königsdrache könne einen rennenden Menschen nicht einholen. Doch unsere Reittiere konnten nicht davonlaufen. Ohne sie kämen wir in den Ostlanden nicht sehr weit!“ „Ach, und wo sind die Pferde jetzt?“ Die Heilerin überspielte Schock und Erleichterung durch Bissigkeit. „Nun gut, sie sind fort, aber immerhin nicht tot. Vielleicht können wir sie ja wieder einfangen.“ Die Dämme brachen. Tränen schossen aus Coras Augen und flossen in kleinen Rinnsalen über ihre Wangen. Ihre Schultern zuckten. Boc nahm sie 149 in die Arme, bettete ihr Gesicht an seine muskulöse Brust und tätschelte ihren Rücken. „Weine nur, meine Kleine. Es ist alles vorbei. Wir leben noch, und ein paar verlaufene Gäule bringen uns nicht um.“ „Ich weiß, Boc, aber ich hatte so große Angst um dich. Ich bin nur erleichtert, das ist alles.“ Nachdem sich die junge Frau etwas beruhigt hatte, ergriff Spin wieder das Wort. „Wir müssen von hier verschwinden“, sagte der Waldläufer. „Der Aasgeruch wird bald andere Drachen anziehen. Nehmt alles mit, was ihr tragen könnt. Wir gehen nach Westen, zum Fuß der Berge. Auf den hügeligen Höhenzügen kommen wir zwar schwerer voran, aber dort sind wir vielleicht sicher.“ Schwer bepackt und keuchend sanken sie auf einem kargen, felsigen Buckel zu Füßen des Vulcatgebirges zu Boden. Die Sonne stand fast an ihrem höchsten Punkt am Himmel, und in der Ferne, etwa einen Tagesmarsch im Osten, konnten sie den Kadaver des Königsdrachen als kleinen Punkt sehen. Über ihm kreisten die Silhouetten von riesigen Flugdrachen. Wenn er noch andere Raubtiere angezogen hatte, so mussten es kleinere sein, denn sie waren aus dieser Entfernung nicht zu sehen. Neben der toten Bestie lag leider auch der Großteil ihres Gepäcks: Nahrung, Wasser, Winterkleidung und viele nützliche Dinge, die sie dringend brauchten. Sie hatten nur einen Notvorrat mitnehmen können. Nachdem sie sich eine Weile ausgeruht hatten, versorgte Cora das Geschwür am Gesäß von Gormen, der von dem langen Marsch sichtlich mitgenommen war. Spin kletterte auf einen zehn Fuß hohen Felsen, der die Kuppe krönte, auf der sie lagerten, nahm Harolds ausziehbares Fernrohr aus seiner Lederhülle und suchte damit den Horizont ab. „Da hinten grast eine große Herde. Schwer zu sagen, um was für Tiere es sich handelt. Es könnten Büffel sein.“ Er schwenkte das Teleskop ein Stück nach links und richtete es auf den mit bloßem Auge sichtbaren Punkt. „Ein Rudel kleiner Drachen macht sich an unserem Königsdrachen zu schaffen. Der König wandert gerade portionsweise in ihre Mägen. Das ist gut!“ „Wieso ist das gut?“, fragte Gormen. „Der Königsdrache liefert Fleisch für unzählige große und kleine Aasfresser. Umso mehr Räuber er anzieht, desto weniger werden bei der Herde sein. Und desto ungefährlicher ist es dort für mich.“ „Dort? Bist du verrückt?“, protestierte Cora. „Du wirst doch nicht zu der Herde laufen?“ 150 „Doch. Ohne schweres Gepäck und bergab kann ich es bis zum Sonnenuntergang schaffen.“ „Und was willst du dort tun?“, fragte Boc, dessen breites Gesicht sein Erstaunen ausdrückte. „Na, die Pferde holen, natürlich. Sie werden dort sein. Pferde sind Herdentiere. Wildpferde und Rinder grasen oft zusammen und benutzen die gleichen Zugwege über Steppen und Savannen. So schützen sie sich gegenseitig vor Raubtieren. Denn der Schutz einer Herde ist ihre schiere Größe. Die Aussicht eines einzelnen, gesunden und ausgewachsenen Tieres, von einem Räuber gerissen zu werden, ist recht gering. Nur die Alten, Kranken oder Neugeborenen sind wirklich in Gefahr.“ „Aber du wirst in Gefahr sein, denn du bist ein Einzelgänger, und ein langsamer dazu. Einem behäbigen Königsdrachen kann ein Mensch vielleicht entkommen, nicht aber einem Dutzend Rudeldrachen!“ Gormens Stimme drückte seine Beunruhigung aus. „Das Rudel frisst ja gerade am Kadaver unseres verbrutzelten Freundes. Ein zweites Rudel sollte es in der Nähe nicht geben, denn dafür ist das Revier nicht groß genug. Größere Räuber werde ich schon aus weiter Ferne erkennen und mich vor ihnen verstecken. Außerdem nehme ich Brandpfeile und ein Windlicht mit. Mit Feuer kann man sich gegen Raubtiere bestens verteidigen. Vergesst nicht, ich bin ein Waldläufer!“ „Und die Flugdrachen? Wie willst du dich gegen sie schützen?“ „Die sind zwar groß und sehen gefährlich aus, aber sie sind leichter als ein ausgewachsener Mann, sonst könnten sie nicht fliegen. Ich glaube nicht, dass sie so große Lebewesen wie Menschen angreifen. Vermutlich leben sie von kleineren Beutetieren und Aas.“ „Du hast wohl auf alles eine Antwort“, meinte Gormen resignierend. „Die beste Antwort ist, dass wir unsere Reittiere unbedingt brauchen. Ohne sie kommen wir nie rechtzeitig zu Zpixs. Außerdem müssen wir uns unsere Vorräte wiederholen. Aber dazu benötigen wir Packpferde.“ Der Waldläufer ließ sich nicht von seinem gefährlichen Vorhaben abbringen und schlug auch Bocs Angebot aus, ihn zu begleiten. Gormen gab ihm ein magisches Windlicht, eine ausgehöhlte, faustgroße Nuss, gefüllt mit einer brennbaren Flüssigkeit. Eine kleine Öffnung war durch einen Korkstopfen verschlossen. Wenn Spin Feuer brauchte, so musste er das Gefäß nur heftig schütteln und den Stopfen herausziehen. Dann entzündete sich eine kleine Flamme und brannte aus der Öffnung. Wenn er sie wieder verschloss, erlosch die Flamme. Spin nahm außerdem Zaumzeug für sein Pferd, drei Pechfackeln, einige Brandpfeile, seinen Bogen, sein Schwert und das Fernrohr mit und ging. Sie verfolgten ihn mit ihren Blicken und sahen ihn immer kleiner werden, bis er zu einem winzigen Punkt geschrumpft war, der sich kaum noch zu 151 bewegen schien. Schließlich konnten ihn auch Coras scharfe Augen nicht mehr entdecken. Spin war kein Held. Er spürte das Kribbeln der Angst, die ihn aufmerksam hielt, blickte sich vorsichtig immer wieder um, zog prüfend die Luft durch die Nase ein und ging die meiste Zeit gebückt, fast verborgen vom hohen Gras, das er so wenig wie möglich zu bewegen trachtete. Er hatte seine vielen einsamen Jahre in der Wildnis nur überlebt, weil er stets umsichtig plante und alles tat, um am Leben zu bleiben. Auch jetzt blieb er äußerlich ruhig, als er dem kapitalen Räuber begegnete. Es war ein Einzelgänger, ein ziemlich großer Rudeldrache, übersäht mit Narben zahlreicher Kämpfe. Eine der sichelförmigen Klauen an seinem rechten Vorderlauf war abgebrochen, die anderen waren furchtbare Waffen, so lang und scharf wie Dolche. Der Drache war etwa so hoch wie ein Mensch, seine Körperlänge von Kopf bis Schwanz mochte etwa das Doppelte der Höhe betragen. Die beiden Kontrahenten standen sich sechs Schritt gegenüber und musterten sich. Das Raubtier starrte den Menschen mit seinen leblosen Reptilienaugen ausdruckslos an. Spin wusste, dass Davonlaufen sinnlos war. Er würde auch keine Zeit haben, einen Brandpfeil anzuzünden und aufzulegen. Der Drache war viel schneller als er und würde ihn innerhalb eines Wimpernschlags erreicht haben, also zog er sein Schwert. Die Sonne spiegelte sich in der Klinge, und ein heller Lichtbalken fiel auf die Augen des Tieres. Das zuckte erschreckt zusammen, drehte sich um und rannte mit großen Sätzen davon. Spin atmete erleichtert aus. Der Drache und er hatten offenbar etwas gemeinsam: ein gesundes Maß an Angst, um unnötige Risiken und Auseinandersetzungen zu vermeiden. Etwa eine Stunde später stieß er auf einen Termitenhügel und kletterte an ihm empor. Aus sechs Fuß Höhe konnte er die Büffelherde erkennen, nur noch etwa eine Wegstunde entfernt. Ganz in der Nähe graste ein anderes Tier: es war mindestens so groß und schwer wie drei Bullen und trug ein gewaltiges Knochenschild im Nacken. Aus den Brauenbögen über seinen Augen wuchsen zwei drei Fuß lange, gefährlich aussehende Hörner. Ein drittes entsprang seiner schnabelartigen Schnauze. Spin glitt wieder auf den Erdboden hinab und umging das Tier in großem Bogen. Danach beeilte er sich, um vor Sonnenuntergang die Herde zu erreichen. Sie erstreckte sich, so weit er blicken konnte. Es mussten Tausende von Tieren sein: gewaltige Bullen, kleinere Kühe und Kälber. Etwa hundert Schritt von der Herde entfernt, ging er an ihrem Rand entlang. Die Tiere hatten ihn längst bemerkt, und ab und zu hob einer der grasenden Bullen 152 den Kopf und blickte zu ihm herüber, aber sie ließen sich von dem Zweibeiner nicht stören. Als die Sonne fast den Horizont erreicht hatte, entdeckte er endlich die Pferde. Wie er es erwartet hatte, standen sie am Rand der Büffelherde zusammen und zogen langsam mit ihr, während diese sich wie ein graubrauner Gletscher über die Ebene ergoss. Als er in ihrer Nähe war, pfiff er leise. Sein Reittier hob den Kopf, wieherte freudig und galoppierte zu seinem Herrn. Er streichelte seine Blesse und gab ihm ein Stück Zuckerrübe. Die anderen Pferde kamen auch zu ihm herüber und umringten ihn. Spin streifte seinem Tier den mitgebrachten Zügel über, schwang sich auf den sattellosen Rücken und ritt nach Westen. Die Reittiere seiner Gefährten folgten dem seinen willig. Es war tiefe Nacht, als er den Hügel erreichte und von seinen Freunden erleichtert und erfreut begrüßt wurde. Zwei Tage mussten sie noch warten, bis Spin mit seinem Fernrohr beobachtete, dass die Meute der Rudeldrachen abzog. Einige Stunden später trafen sie an dem fast fleischlosen Skelett des großen Drachen ein und konnten sich endlich ihre Ausrüstung wieder aneignen, die, unbeachtet geblieben von den gierigen Fleischfressern, neben der Asche des Lagerfeuers lag. Dann ritten sie zurück zum Fuß der Berge und machten sich an ihren sonnigen Hängen durch die grünen Hügel auf den Weg nach Süden. Inay Das Licht der Abendsonne wurde gesiebt durch die schmiedeeisernen Gitter vor dem Fenster zu Gadennyns Arbeitszimmer und zeichnete ein Muster von rötlichgelben Parallelogrammen auf die glänzenden Marmorkacheln. Der neue König saß an seinem Schreibtisch aus poliertem Walnussholz und setze sein Zeichen auf die letzte in einem Stapel von Verfügungen, die ihm sein Sekretär vorgelegt hatte. Gadennyn hatte einen anstrengenden Tag hinter sich, an dem er zahllose Repräsentanten der Regierung, der Verwaltung und der Handelsgilden empfangen hatte. Es war nicht leicht, ein Reich zu regieren. Schwere Entscheidungen lagen noch vor ihm. Er musste seine Pläne noch einmal in Ruhe durchgehen, Einzelheiten und Schritte abwägen, 153 um Fehler zu vermeiden, aber er konnte nicht klar denken, weil er so müde war. Bisher war alles nach seinen Wünschen verlaufen: Er hatte seine Macht in Koridrea gefestigt. Sein schärfster Widersacher, Nunoc Baryth, war tot und Gother, sein loyalster Getreuer, der einzige, der wusste, wer er wirklich war, seinen Verfolgern entkommen und auf dem Weg nach Hause. Gadennyn spürte seine Gedanken über Hunderte von Meilen. Der Hauptmann befand sich auf einem Schiff, das vor wenigen Tagen den Hafen von Lankoma in Orinokavo verlassen hatte. Der Dreimaster machte bald im Seehafen von Inay, dreißig Meilen vor der Hauptstadt, Zwischenstation, bevor er weiter nach Shoal segelte. Gadennyn würde Gother eine Ehreneskorte schicken. Der Hauptmann hatte seinen Auftrag erfüllt und seinem Herrn das vielleicht größte Hindernis aus dessen Weg zur Weltherrschaft geräumt. Ohne den Schwarzen Abt stellte der Orden keine nennenswerte Gefahr mehr dar. Oder vielleicht doch? Gab es jemanden unter den Schwarzen Brüdern, der es nur annähernd mit Nunocs Klugheit, Weitsicht und magischer Macht aufnehmen konnte? Gadennyn bezweifelte es, aber er war nicht gewillt, diesen Aspekt ganz beiseite zu schieben. Er nahm sich vor, einen Spion in den Norden zu schicken, um die Pläne der Ordensbrüder auszuforschen. Doch jetzt hatte er andere Probleme: Die bevorstehende Gerichtsverhandlung gegen die angeblichen Mitglieder des Rabenbundes machte ihm Sorgen. Die gefälschten Beweise gegen sie waren nicht gerade erdrückend. Und sie besaßen immer noch Rückhalt bei einigen Fürsten, sodass er es ihnen nicht hatte verweigern können, einen berühmten und tüchtigen Advokaten zu ihrer Verteidigung zu berufen. Würde das Lügengebäude einstürzen? Konnten sie ihre Unschuld beweisen? Das durfte der König auf keinen Fall zulassen, denn das würde erhebliche Zweifel an seinen Vorgehen und seinen Absichten wecken. Sein Sekretär, der immer noch vor dem Schreibtisch stand, trat von einem Bein aufs andere, und der in Gedanken versunkene Monarch nahm die Bewegung als Spiegelung auf der polierten Holzplatte wahr. Er blickte auf. „Gibt es noch etwas?“, herrschte er den Mann unwirsch an. „Ja, Majestät. Wenn ihr gestattet, möchte ich Euch an die Verabredung mit Lord Golderhat erinnern. Er wartet draußen.“ Den hatte Gadennyn völlig vergessen. Aber der Mann konnte seine Loyalitätsbezeugungen ein anderes Mal vorbringen. „Schicke ihn fort. Ich bin müde und werde ein wenig schlafen. Sorge dafür, dass Retho Nasser in einer Stunde hier erscheint. Und nun troll dich.“ Nachdem sein Sekretär den Raum verlassen hatte, stand der König auf und ging hinüber zu dem großen, gepolsterten Diwan, auf den er sich niederlegte. Kurz darauf war er eingeschlafen. 154 Er träumt. Er ist wieder der junge Athlan, den sein Vater fortgeschickt hat, um in einem Kloster zu lernen; nicht im Kloster des Schwarzen Ordens, sondern einem anderen. Athlan soll seinem Vater eines Tages als Lord von Shoala nachfolgen, und dieser ist der Auffassung, dass dazu eine besondere Ausbildung erforderlich ist. Außerdem will er, dass sein Sohn die Welt kennen lernt, und so hat er ihn gleich quer durch das Alte Königreich bis in das verhasste, öde und langweilige Vulcor geschickt. Der Junge findet sich mit seinem Schicksal ab, aber mit dem Herzen ist er nicht dabei. Er hat auf eine andere Ausbildung gehofft, die ihm der Lord versagt. Sein ganzes Interesse gilt der Magie, die er in Shoala auf Geheiß seines Vaters nicht ausüben darf. Seine Begabung wird nicht gefördert, und so beschließt er, seine Talente selbst weiter zu entwickeln und alles über die geheimnisvolle Kraft herauszufinden. Die Bibliothek des Klosters kommt ihm dabei gerade Recht. Sie ist eine Fundgrube des Wissens über Magie. In den Büchern sind einige Theorien über die Ursache und Quelle der geheimnisvollen Kraft dargestellt, und auch Mutmaßungen darüber, warum nur wenige die Begabung haben, sie zu nutzen. Er entdeckt unter den verbotenen Schriften Anleitungen zur Ausübung der Magie, ja, sogar Lehrbücher, und stürzt sich mit Eifer in die Übungen – insgeheim natürlich, denn die Magie hat leider einen schlechten Ruf und erweckt großes Misstrauen bei all denen, die sie nicht beherrschen. Athlan findet das nicht gerechtfertigt. Er ist ein aufgeweckter, kluger und ehrgeiziger Junge, aber weit davon entfernt, nach Macht zu streben. Er will ein großer Magier werden, um anderen Menschen zu helfen und die Welt besser zu machen. Warum sollte man ihm dies verwehren? Die Monate seines Lebens im Kloster ziehen im Traum an ihm vorbei: die langweiligen Rituale des immer gleichen und eintönigen Tagesablaufs, die Nächte in der Bibliothek, deren Schätze ihn atemlos immer neue Entdeckungen machen lassen, die Stunden, in denen er sich in den nahen Wald davonstiehlt und dort seine Kunst übt und verfeinert. Dann die öde Arbeit in dem feuchten Keller, der als Archiv dient, und schließlich die Entdeckung, die sein Leben verändert: das Tagebuch von Semanius. Sein Traum verlässt die Erinnerung an seine Jugend und treibt durch Raum und Zeit in eine Vision seiner Zukunft. Er ist am Ziel seiner Wünsche angelangt und der geworden, der er immer sein wollte: der Hofmagier in Diensten des Königs und dessen persönlicher Berater. Da der König seinem weisen Rat folgt, ist Athlan ein mächtiger und einflussreicher Mann. Jetzt wird er die Magie wieder rehabilitieren, Gutes tun und dafür Achtung, Liebe und Dankbarkeit der Untertanen ernten. Kann er sich mehr wünschen? 155 Aber er fühlt sich nicht glücklich, sondern schwermütig und verzagt, ohne zu wissen, warum. Er spürt eine schwere Last, ein Gewicht, das an einer Kette um seinen Hals hängt, die er aus einem unbekannten Grund nicht ablegen kann. Ein schwarzer, Licht verschlingender Stein hängt daran, ein Stein wie das Auge eines Basilisken, starr und lähmend. Er geht zu seinem König, um ihn um Rat zu bitten, sich von ihm seine düsteren Gedanken vertreiben zu lassen, aber auf dem Thron sitzt ein anderer, ein Mann, den er noch nie gesehen hat und dennoch sofort erkennt: Semanius. Der Lordmagier fixiert ihn mit seinem unergründlichen Blick. Du hast etwas, was mir gehört, sagt er. Gadennyn betrachtet die Gestalt, die verschwommen wirkt, sodass er ihre Züge nicht richtig erkennen kann, aber die Augen sieht er klar und deutlich, sie sind ebenso schwarz und tief wie der Stein in seinem Amulett. Bist du ein Teil von mir, oder bin ich du? fragt er. Der andere scheint zu lächeln, jedenfalls verfließen die Farbtöne des Scherenschnitts seiner Züge ein wenig. Eine Frage, die zu stellen in deiner Situation nur verständlich ist, antwortet Semanius. Als ich das Amulett trug, ging es mir ähnlich. War ich noch ich oder jemand oder etwas anderes? Bin ich jetzt ein Teil von dir, oder bin ich gar in dir wiedergeboren? Vielleicht. Aber glaube mir, es spielt keine Rolle. Deine eigenen Wünsche bedeuten nichts mehr. Du kannst dem Stein keinen Widerstand leisten, genauso wenig, wie ich es konnte, du musst dich dem Ziel unterordnen. Welchem Ziel? Dem Bestreben, alle magische Macht in dir zu vereinen. Du musst die Kraft zu einem gewaltigen Strom bündeln und sie in dich hineinfließen lassen. Es darf keinen anderen Magier mehr neben dir geben, der sie dir streitig machen kann. Und damit du dieses Ziel erreichst, musst du die Herrschaft der Welt erringen und jedes Wesen, das Magie beherrscht, vernichten. Dann wird dein Leben ebenfalls verlöschen, und ein neues Wesen wird aus dir heraus geboren werden, ein Wesen, das alles verschlingt. Aber das will ich nicht! Du hast keinen eigenen Willen mehr. Erwache! Als Gadennyn schweißgebadet aus dem Traum aufschreckte, versuchte er, seine Identität als der Mann, der er einmal gewesen war, bevor er das Tagebuch Semanius’ gelesen hatte, festzuhalten, aber sie entwand sich seinem geistigen Griff und verblasste. Wenig später hatte er keine Erinnerung mehr an den Traum und wusste nicht, wer er wirklich war. 156 Es klopfte an der Tür, und Retho Nasser, der Leiter des königlichen Geheimdienstes, trat ein. „Ihr habt nach mir geschickt, Majestät?“ Gadennyn erhob sich von seinem Diwan. „Auch wenn ich dich herbefohlen habe: Trete nie wieder ohne Aufforderung ein!“, fauchte er den Mann an. Doch Nasser hatte sich gut unter Kontrolle. Er zuckte nicht einmal zusammen und sagte lächelnd: „Verzeiht, Majestät. Ich dachte, ich habe Euch rufen hören.“ Der Mann hat Mumm, dachte der König, und er ist so skrupellos, mich zu belügen. Er kann mir noch nützlich sein. „Du musst einige Dinge arrangieren, die etwas heikel sind. Aber ich habe dir die Befehle dazu nicht erteilt. Verstanden?“ „Natürlich, mein König. Was immer Ihr wünscht, werde ich ausführen, indem ich Eure Gedanken lese.“ „Dann lies jetzt: Ich wünsche, dass Brioras, der Advokat, die Verräter nicht verteidigt. Ihm soll nichts geschehen, aber eine längere Unpässlichkeit wäre angebracht. Außerdem sprich mit dem Lordrichter. Die königliche Schatulle wird ihm eine erhebliche Summe spenden, wenn der Prozess schnell, unter Ausschluss der Öffentlichkeit stattfindet und mit einem Todesurteil endet. Ich will kein weiteres Aufsehen, und ich will nicht, dass die Verräter weitere Lügen verbreiten können. Es muss wieder Ruhe und Frieden im Reich einkehren. Das ist alles.“ „Ich habe Eure Gedanken wunschgemäß gelesen, Majestät. Betrachtet sie als erfüllt.“ Der Mann verließ den Raum. Gadennyn blieb mit dem nagenden Gefühl zurück, etwas Falsches, Schlimmes getan zu haben. Es war der junge Athlan in ihm, der Mensch, der er einst gewesen war, bevor er die Bürde des Amuletts tragen musste. Doch das Gefühl schwand sofort wieder, und er lächelte. Alles lief weiter nach Wunsch. Der Prozess dauerte nur einen Tag. Da Brioras, der berühmte Advokat, sein Mandat unerwartet wegen einer Erkrankung niedergelegt hatte, beauftragte der bestochene Richter einen anderen, weniger fähigen Rechtsgelehrten mit der Verteidigung der drei Angeklagten. Dieser Mann, ein wandelnder Weinschlauch und selten nüchtern, hatte weder Zeit noch Lust, sich in den Fall einzuarbeiten. Er schlief mehrmals während der Verhandlung ein, war zerstreut und unkonzentriert und schadete den Angeklagten mehr, als er ihnen nutzte. Ihre lauten Proteste über die ungerechten Vorwürfe und gefälschten Beweise, über die Inkompetenz ihres Verteidigers und die boshaften Unterstellungen des Anklägers verhallten wirkungslos. Niemand im Gerichtssaal war neutral oder gar auf ihrer Seite. Das Urteil stand offenbar 157 schon zu Verhandlungsbeginn fest und lautete schließlich: Tod durch das Henkerbeil. Nach seiner öffentlichen Verkündung gab es kaum Protest. Im Gegenteil: Die Massen jubelten und feierten, zogen skandierend durch die Straßen und verlangten eine öffentliche Hinrichtung. Lediglich Lord Rhome sprach beim König vor und bat ihn um eine Begnadigung, die Gadennyn jedoch ablehnte. Die Vollstreckung fand im Innenhof des Gefängnisses statt. Gadennyn wohnte ihr nicht bei. Neben dem Henker waren nur acht Wachsoldaten, der Richter, der Ankläger und Retho Nasser Zeuge der Ermordung der unschuldigen Lords. Nasser berichtete dem König später, dass Frye geschrieen, gejammert und sich mit Exkrementen besudelt hatte, Cunsten auf die Knie gefallen war und laut zu Wathan gebetet hatte, aber wenigstens Getherdyle wie ein Mann von Ehre gestorben war. Die Leichen der drei „Verräter“ wurden bis auf ihre Köpfe verbrannt. Diese spießte man auf Lanzen, welche auf einem Pferdefuhrwerk befestigt wurden. Begleitet von einer Eskorte aus Rittern, an deren Spitze der Richter mit seiner prächtigen, zobelbesetzten Amtsrobe ritt, fuhr die Kutsche durch die Stadt. Die Menschen von Inay, die sich betrogen fühlten, weil sie nicht der Hinrichtung hatte beiwohnen dürfen, bekamen nun eine Entschädigung für dieses entgangene Vergnügen. Für den Richter wurde es ein Triumphzug. Die Menge jubelte ihm zu, aber für die Köpfe der ermordeten Fürsten, deren Züge leer und schlaff waren und deren Augen traurig und gekränkt zu schauen schienen, wurde die Fahrt zu einer letzten Demütigung, als sie von faulendem Obst, verdorbenen Eiern und anderen Abfällen getroffen wurden. Gadennyn, der aus einem Fenster des Palastes zuschaute, wandte sich angeekelt ab. Die Versammlung im Ratssaal des Palastes war streng geheim. Außer den beteiligten Personen wusste niemand davon, abgesehen von den Dienst tuenden Palastwachen, die zum Stillschweigen verpflichtet waren. Gadennyn blickte auf die fünf Männer, die mit ihm an der kreisförmigen Tafel saßen und verloren am weiten Rund wirkten, das groß genug war, um dreißig Personen Platz zu bieten. General Derec Winsten, Oberbefehlshaber der Armee von Koridrea, hatte die Siebzig schon überschritten. Seine hohe Stirn war von einer Mähne weißer, wirrer Haare umsäumt, die Pupillen seiner wasserhellen Augen waren klein und stechend, und seine Untergebenen fürchteten diesen Schlangenblick. Sein Schnurrbart war an den Enden gezwirbelt und aufwärts gebogen, ohne die dünne Linie der blutleeren Lippen heiterer wirken zu lassen. Der Oberbefehlshaber war ein Held des letzten Krieges gegen Orinokavo, damals noch Adjutant des Generals, der die entscheidende 158 Schlacht gewonnen hatte. Jeder wusste aber, dass Winston selbst die Strategie entworfen und die richtigen taktischen Entscheidungen getroffen hatte. Sein weniger fähiger Vorgesetzter war so klug gewesen, den Rat seines Adjutanten anzunehmen. Neben dem alten General saß Duncan Broadway, der Befehlshaber der Stadtwache von Inay. Er hatte das Kommando über tausend Soldaten, die dem Bürgermeister unterstellt waren. Broadway war noch recht jung, aber dennoch ein guter Offizier, sehr beliebt bei seinen Leuten. Sein ziviler Vorgesetzter, Leif Rowbart, der Bürgermeister, war ebenfalls anwesend. Er machte den gutmütigen Eindruck eines dicklichen Lebemanns, der Frauen, Wein und Gesang mehr zugeneigt war als der Politik, aber sein Äußeres täuschte über seinen eisernen Willen, seine Selbstdisziplin und seinen Ehrgeiz hinweg. Rowbart behandelte jeden freundlich, der ihm nützlich sein konnte und förderte die, die loyal zu ihm standen, aber er war gnadenlos gegenüber denen, die seinem Ehrgeiz im Weg standen. Nicht umsonst war er Bürgermeister der Hauptstadt geworden. Zu den Versammelten gehörten auch zwei, deren Loyalität schon erprobt war: Retho Nasser und Aturo Pratt. Gadennyn blickte auf die Personen, denen er nun bedingungslos vertrauen musste, wollte er seine Pläne verwirklichen. Er hoffte, dass ihn seine Menschenkenntnis nicht trog. „Alles, was heute hier besprochen wird, dringt nicht aus diesem Raum. Ihr seid mit Eurem Leben dafür verantwortlich.“ Die Männer nickten. Der König sprach weiter: „Wir sind hier, um einen Feldzug vorzubereiten. Einen Feldzug, der das Alte Königreich wieder vereinen wird. Die vier Länder sollen wieder ein Reich werden, und dieses Imperium wird in alter Größe auferstehen und in früherem Glanz erstrahlen.“ Die Männer raunten. Gadennyn sah einen nach dem anderen an, suchte in ihren Gesichtern nach Zweifel und Widerspruch, doch er sah zunächst nur Verwunderung in ihren Augen, die aber bald in Freude und Zustimmung umschlug. Er wandte sich an Retho Nasser: „Ist Widerstand gegen diesen Plan zu erwarten?“ „In Koridrea wohl kaum“, antwortete der Leiter des Geheimdienstes. „Es wird einige wenige geben, die grundsätzlich gegen einen Angriff auf andere Länder sind, aber die können wir schnell mundtot machen, indem wir nicht von Krieg, sondern von Wiedervereinigung sprechen. Holen wir die armen, von Anarchie, Räuberbanden und unfähigen Herrschern gebeutelten Länder zurück ins Reich und bringen ihnen die Wohltaten einer stabilen Regierung, Reichtum und dauerhaften Frieden.“ 159 „Und außerhalb Koridreas? Welche Kräfte könnten die aufbieten, die sich uns widersetzen wollten?“ Des Königs Frage war an General Winsten gerichtet. „Keine nennenswerten, Majestät. Orinokavo hat keine ausgebildete Armee mehr, auf die sein machtloser Herrscher zurückgreifen könnte. Nach dem letzten Krieg gegen uns wurde eine Heimatwehr eingerichtet, um die Bevölkerung gegen marodierende Banden aus ehemaligen Soldaten und Söldnern zu schützen, die plündernd umherzogen, aber diese Truppe umfasst nur etwa tausend Mann und ist schlecht gerüstet und bewaffnet. In Pheldae gibt es auch kaum Widerstand zu erwarten. Die dortigen Parteien sind heillos miteinander zerstritten und bekämpfen sich gegenseitig. Lediglich die Nomaden von Vulcor könnten ein Problem darstellen.“ „Wie viel Mann stehen augenblicklich in Koridrea unter Waffen?“ „Nun, in Friedenszeiten ist die Armee etwa fünftausend Mann stark. Das reicht natürlich nicht, um die nördlichen Länder zu erobern und besetzen.“ „Wie viele Soldaten bräuchtet Ihr dafür?“ „Mindestens zehn-, besser zwanzigtausend, Majestät.“ „Gut. Stellt ein Heer von dreißigtausend Fußsoldaten und fünftausend Reitern auf. Geld spielt keine Rolle. Wie viel Zeit benötigt Ihr dafür, General?“ „Das wird mindestens vier bis fünf Monate dauern. Das Heer könnte frühestens nach der Schneeschmelze im Frühjahr losmarschieren.“ „Das ist ausreichend, denn vorher ist noch viel zu tun.“ Aturo Pratt ergriff das Wort: „Das wird kaum unbemerkt bleiben, Sire. So viele Männer können wir ohne die Fürsten nicht aufbieten. Außerdem muss das Haus der Lords zustimmen.“ „So weit sind wir noch lange nicht. Niemand außer uns darf vorläufig wissen, dass wir einen Eroberungsfeldzug planen. Wir gehen so vor: Retho, dein Geheimdienst wird ein paar ‚Beweise’ dafür vorlegen, dass der Bund der Raben immer noch Anhänger hat, die mich durch eine Revolte stürzen wollen. Gleichzeitig lässt du das Gerücht streuen, dass Orinokavo die unsichere Lage im Land ausnutzen will, um unsere Verteidigungsbereitschaft mit ein paar Grenzverletzungen herauszufordern und mich durch diese Nadelstiche zu demütigen. Diesen beiden drohenden Gefahren für unser Land muss der König begegnen. Deshalb werde ich die Reserve aktivieren, das königliche Heer um fünftausend Mann verstärken und an die Grenze verlegen. Um eine Rebellion im Landesinneren zu verhindern, brauchen wir aber weitere fünftausend Soldaten. Diese werden in Shoala und Inaysha rekrutiert, die Provinzen, die mir direkt unterstehen. So brauchen wir die Lords noch nicht um Hilfe zu bitten. Das neue Heer wird den Namen ‚Reichsgar- 160 de’ erhalten und für die innere Sicherheit zuständig sein. Es soll in den Fürstentümern Stützpunkte einrichten und sich in Bereitschaft halten, sodass es jederzeit einen Aufruhr niederkämpfen kann. Auf diese Weise haben wir schon fünfzehntausend Mann unter Waffen, ohne dass jemand ahnt, dass wir den Norden erobern wollen. Die scheinbaren Gefahren, die dieses Vorgehen gerechtfertigt erscheinen lassen, werden sich zwar in Luft auflösen, doch damit sind neue Tatbestände geschaffen, und keiner der Lords wird sich trauen zu verlangen, dass die Reichsgarde wieder aufgelöst und die Stärke der königlichen Armee verringert wird.“ Gadennyn erntete bewundernde Blicke. Außer Aturo Pratt, der ihm schon früher in Shoala gedient hatte, hatte noch keiner der Anwesenden die listigen politischen Winkelzüge Gadennyns kennen gelernt. Der Bürgermeister fasste es in Worte: „Majestät, der Plan ist großartig. Wenn Ihr erst fünfzehntausend Soldaten befehligt, wird keiner der Fürsten es wagen, Eure Vision von der Vereinigung des Königreichs unter Eurer Herrschaft anzuzweifeln. Aber verzeiht meine Neugier: Welche Rolle spielen Broadway und ich ihn Euren Plänen? „Es gibt ein paar Menschen, die mir in die Quere kommen könnten. Wahrscheinlich liegen zweitausend Meilen zwischen ihnen und Inay, aber es wäre denkbar, dass sie Spione schicken, um herauszufinden, was ich plane. Deshalb muss ich wissen, wer in die Stadt kommt und sie verlässt. Rowbart, Ihr werdet als Bürgermeister einen Erlass verfügen, nachdem jeder Fremde, der die Stadt betritt, ab sofort von den Herbergen an die Stadtwache gemeldet werden muss. Ihr werdet ferner Eure guten Beziehungen zu den zahlreichen Bewohnern von Inay nutzen, die Euch wegen irgendwelcher Wohltaten oder Protektionen verpflichtet sind. Sie sollen Augen und Ohren offen halten und Euch alle ungewöhnlichen Vorfälle, an denen Fremde beteiligt sind, melden. Ihr, Hauptmann Broadway, werdet die Stadttore ab jetzt scharf kontrollieren. Darüber hinaus sollen zwanzig Eurer Leute ihre Uniformen ablegen und in Zivil durch die Straßen patrouillieren. Wenn Euch der Bürgermeister oder einer seiner Zuträger verdächtige Personen meldet, so lasst sie beschatten, aber nehmt sie nicht fest. Alle Verdächtigen sind mir sofort zu melden.“ Zwei Tage nach der Geheimsitzung traf Gother in der Stadt ein. Der Hauptmann wollte ursprünglich erst in Shoal von Bord gehen, doch als das Schiff in Inays Seehafen anlegte, um einen Teil seiner Ladung zu löschen, kam eine Eskorte von Soldaten an Bord. Ihr Anführer, ein Offizier, der ranghöher als Gother war, grüßte ihn mit Ehrerbietung und berichtete dem maßlos erstaunten Passagier, dass sein Herr und König Gadennyn jetzt in Inay residiere und den Hauptmann bäte, ihn im Palast aufzusuchen. 161 Gother hatte auf dem Schiff natürlich nichts von der Ermordung des alten Herrschers Bredos und der Inthronisierung Gadennyns gehört. Er war sehr erfreut darüber. Noch am selben Tag erreichte er mit seiner Eskorte die Hauptstadt und wurde von seinem König empfangen. Ehrfürchtig kniete er vor ihm nieder. Doch Gadennyn stand auf, kam die drei Stufen von der Thronempore herab und zog seinen treuen Vasallen auf die Füße, um ihn zu umarmen. „Du hast hervorragende Dienste geleistet und wirst dafür belohnt werden. Komm, das Mahl wird gerade aufgetragen. Wir werden zusammen speisen, und dabei wirst du mir über deine Erlebnisse berichten.“ Und Gother berichtete mehr als zwei Stunden lang. Er erzählte von der Überquerung des Wolfszahngebirges, von dem Dorf der Frauen am Flussufer, dem geheimnisvollen Wesen Zpixs, das sie eine Weile begleitet hatte, von ihrer Gefangennahme durch die Ostländer unter der Führung von Amaran, von den tierhaften Krim, diesen schrecklichen Höhlenbewohnern, und von Zaphirs Tod. Schließlich hätten sie das Kloster des Ordens im Norden von Vulcor erreicht, berichtete der Hauptmann. Aber Trygar weigerte sich, den Schwarzen Abt Nunoc Baryth zu töten, und deshalb versuchte es Gother selbst, scheiterte aber an dessen Magie, deren Griff ihn bewusstlos würgte. Gother erwachte in einer Gefängniszelle. Zu seinem Erstaunen waren seine früheren Gefährten frei. Sie hatten inzwischen von den Schwarzen Mönchen erfahren, dass Lord Gadennyn sie hereingelegt hatte und selbst Semanius war. Deshalb schlugen sie sich auf die Seite des Schwarzen Ordens. Aber der Hauptmann erfuhr noch etwas sehr Wichtiges: Trygar hatte seine Aufgabe schließlich doch noch erfüllt: um Gothers Leben zu retten, hatte der Junge Nunoc Baryth getötet. Gother konnte entkommen, weil der dumme Winger versuchte, ihn zu befreien. Er ermordete ihn und floh. Die Schwarzen Kämpfer des Ordens verfolgten ihn bis zur Hafenstadt Khor. Dort aber nahm er nicht das von ihnen überwachte Schiff, sondern ein anderes und entkam ihnen endgültig. In der nächsten Stunde stellte Gadennyn seinem Hauptmann unzählige Fragen. Er hatte bedrohliche Dinge erfahren und wollte alles über das geheimnisvolle Wesen aus dem Stamm der Xinghi wissen, das den Lauf der Zeit verändern konnte. Jetzt wusste er, was ihn damals, vor vielen Jahren, so beunruhigt hatte. Er war beobachtet worden und hatte es gespürt. Zpixs war auf jeden Fall ein gefährlicher Feind. Er durfte das nicht vergessen. Auch die Geschichte von Amaran und den Ostmenschen war beunruhigend. Nie hätte er damit gerechnet, dass dieses Volk die gleichen Eroberungsgelüste haben würde wie er selbst. Was wäre gewesen, wenn der verrückte Gottkaiser mit seinen fünfzigtausend Soldaten Koridrea erreicht 162 hätte? Zum Glück hatte Trygar dem Einhalt geboten, indem er Amaran tötete. Gadennyn sah jetzt, dass die Eroberung der Länder des alten Königreichs eine Sache war, die der Ost- und Südlande aber eine ganz andere. Trygar machte ihn ebenfalls nachdenklich. Er hatte wenig von ihm erwartet und ihn unterschätzt. Jetzt stand der junge Magier auf der anderen Seite. Und die Schwarzen Mönche und Kämpfer waren selbst ohne Nunoc Baryth noch eine Macht, die er nicht verkennen durfte. Leider wusste Gother nicht, wer ihr jetziger Anführer war. Vielleicht war es der Stellvertreter Baryths, ein Mann namens Gormen Helath, der über magische Fähigkeiten verfügte, vielleicht auch ein anderer. Selbst die junge Frau – Duna, so hieß sie, sagte Gother – schien potentiell gefährlich, denn sie war eine Feuermagierin. Gadennyn hatte gehofft, die Gefahr aus dem Norden durch die Ermordung des Schwarzen Abts mit einem Schlag beseitigten zu können, doch jetzt musste er feststellen, dass an die Stelle eines toten Gegners viele neue getreten waren, einzeln vielleicht nicht so mächtig wie Nunoc Baryth, zusammen aber nicht zu unterschätzen. Noch ein anderer Teil von Gothers Geschichte ging ihm nicht aus dem Kopf: der von den Krim, die nach Zpixs’ Worten die Nachkommen von Menschen waren, welche der Lordmagier Semanius vor vielen Jahrhunderten in schreckliche Wesen verwandelt hatte. Er erinnerte sich an einen Abschnitt in Semanius’ Tagebuch, in dem der Lordmagier von einem Heer von Mutanten schrieb, die er erschaffen hatte. Das mussten die Vorfahren der Krim gewesen sein. Gadennyn hatte sich schon selbst einmal an dieser Form der Magie versucht: er hatte einen Hirtenhund in ein Dämonenwesen verwandelt. Der Lord hatte es dann so eingerichtet, dass ihn die Kreatur im Beisein Trygars angriff. Der inszenierte Zwischenfall sollte Trygar Glauben machen, Nunoc Baryth alias Semanius habe ein Wesen aus der Unterwelt gesandt, um seinen Widersacher Gadennyn zu ermorden. Das war ein riskantes Spiel gewesen! Nur einen Wimpernschlag, bevor der Lord sich mit Magie hätte verteidigen müssen, hatte der Junge eingegriffen und die Bestie getötet. Gadennyn kam eine Idee: Was er einmal getan hatte, konnte er ein weiteres Mal tun. Raubtiere vermochten große Entfernungen in viel kürzerer Zeit zurücklegen als Menschen, sie konnten ungesehen nachts laufen und brauchten weder Ausrüstung noch Nahrungsvorräte mitzunehmen. Sie waren als Tötungswerkzeuge zuverlässiger als menschliche Meuchelmörder, denn sie konnten weder überzeugt noch gekauft werden. Im Vergnügungsbezirk von Inay gab es eine Menagerie, in der exotische Raubtiere – Bären, Wölfe, Panther und Tiger – in kleinen, engen Käfigen ausgestellt wurden. Der Besitzer der Tierschau verdiente eine Menge Geld an den Neugierigen, die in vergnüglicher Furcht die Bestien angafften. Der König beschloss, 163 dem Mann einige seiner Tiere abzukaufen. Er würde sie in Alptraumwesen verwandeln, viel schlimmer als der Dämonenhund, und auf Trygar und die Leute des Schwarzen Ordens hetzen. Sie würden ihre Opfer finden, denn der Junge hatte vor seinem Aufbruch nach Norden einige persönliche Besitztümer in Koridrea zurückgelassen. Ein Kleidungsstück oder etwas, was Trygar am Körper getragen hatte, mehr brauchte Gadennyn nicht, um seinen Bestien die Witterung zu geben. Die Abtissin Duna erwachte im Zelt der Frauen. Das Heer Vulcors hatte inzwischen die Tausendermarke überschritten, aber der Anteil der Frauen, die ihm folgten, war gering: sieben Wäscherinnen, die die Kleider der Offiziere flickten und sie wuschen, wann immer das Heer an einem Fluss lagerte, vier Köchinnen, drei Heilerinnen, fünf Marketenderinnen mit hoch beladenen Wagen voller mehr oder weniger nützlicher Waren, und sechs Huren. Duna teilte das große Zelt, welches dreißig Menschen beherbergen konnte, mit nur vierzehn anderen Mitbewohnerinnen, denn die Marketenderinnen schliefen in ihren Fuhrwerken, die ihnen auch als Wohnstatt dienten, und die Huren hatten natürlich ihr eigenes Zelt mit durch Stoffbahnen abgetrennten Abteilen, wo sie die Freier empfingen. Die junge Feuermagierin fand es sehr ungerecht, dass sie nicht mit den anderen Schwarzen Kämpfern und Offizieren im Offizierszelt wohnen durfte, aber sie war nun einmal die einzige Frau in der Führungsspitze, und deshalb ins Frauenzelt „verbannt“ worden. Duna ärgerte sich die meiste Zeit über die – wie sie meinte – ungebildete Gesellschaft, mit der sie die Nächte verbringen musste. Die Frauen schwatzten über belanglose Dinge, kicherten wie dumme Gören, wenn sie über einen gut aussehenden Soldaten klatschten, und schnitten Duna, die sie für hochnäsig hielten. Außerdem fürchteten sie ihre magischen Kräfte und ihr manchmal überschäumendes Temperament. Als sich die Waschweiber einmal über sie flüsternd unterhielten und dabei hämisch kicherten, ließ die wütende Duna den Schal, an dem eine ihrer Zeltgenossinnen gera- 164 de strickte, in Flammen aufgehen. Kreischend sprangen die Frauen auf. Seitdem wagten sie es nicht mehr, sich über die Magierin lustig zu machen. Als Duna aufwachte, schnarchten die anderen noch auf ihren Pritschen. Sie wickelte sich aus ihren Decken, stand auf und merkte, wie sehr sie fror. Ihr warmer Atem bildete weiße Dampfwolken. Gedämpftes Licht schimmerte durch die dünnen Zeltwände. Es war ungewöhnlich still. Sie lauschte. Wo war das Gezwitscher der Vögel, das sonst immer die Morgendämmerung begleitete? Von draußen vernahm sie die Geräusche des erwachenden Heerlagers, hörte Rufe, das Klappern von Töpfen und wiehernde Pferde, aber alles klang seltsam dumpf. Sie fragte sich, ob etwas mit ihren Ohren nicht in Ordnung sei. Duna knöpfte die Zeltbahn am Eingang auf und steckte den Kopf hinaus. Eine weiße, staubige Wolke hüllte sie ein, als etwas Kaltes vom Zeltdach herabrutschte und auf sie fiel. Ihre Augen weiteten sich vor Staunen. Draußen war helllichter Tag. Die Sonne stand schon ein paar Handbreit über dem Horizont und strahlte an einem azurblauen Himmel, dessen Farbe am Zenith in das tiefblaue Leuchten von Lapislazuli überging. Gestern hatten sich die Hunderte von Zelten noch wie graue, pyramidenförmige Hügel aus dem grünbraunen Grasmeer erhoben, heute waren sie weiß in weiß. Von Horizont zu Horizont erstreckte sich eine weiße, gleißende Ebene, so hell, dass sie ihre Augen zusammenkneifen musste. Der erste Schnee war gefallen. Sie trat ins Freie und blickte sich um. Überall spieen die Zelte ihre Bewohner aus, und sie sah Soldaten, die sich wie kleine Kinder übermütig im Schnee wälzten oder einander mit Schneebällen bewarfen. Duna liebte Schnee, trotz der harten Winter, die in Vulcor herrschten, und dieser war früh gekommen. Aber die strahlende Schönheit des reinen Weißes, dieses frische Laken zu feinem Pulver gefrorenen Wassers, das zu sanft gerundeten und gischtbedeckten Wogen erstarrt schien, zwischen denen die schräg einfallende Sonne blaue Schatten warf, diese wunderschöne Wüste mit ihren kalten Dünen ließ ihr Herz jubilieren, und fröhlich rief sie ins Zelt hinein: „Wacht auf, ihr Hühner! Verschlaft nicht den herrlichen Tag.“ Wenig später saß sie mit den anderen Schwarzen Kämpfern im Zelt der Offiziere. Sie frühstückten zusammen. Methor konnte Dunas Begeisterung für den Schnee nicht teilen. „Der Winter kommt früh dieses Jahr, zu früh. Dieser Zuckerguss ist nicht weiter schlimm, aber wenn es erst richtig zu schneien beginnt, stecken wir fest. Schneehöhen von drei Fuß und mehr sind im Grasmeer keine Seltenheit. Wir müssen schnell weitermarschieren und sobald wie möglich die Furt am Fluss erreichen. Dort treffen wir auf die Nomadenstämme. Ich 165 hoffe, dass die Nachzügler aus Helmseth und der Versorgungstross noch durchkommen, bevor das Grasmeer unpassierbar wird.“ „Früher Schnee ist noch kein Winter. Es wird wieder tauen“, meinte Osiris, der kleine Säbelmeister. „Aber möglicherweise hält uns der aufgeweichte Boden auf. Wenn wir weiter der Wanderstraße der Nomaden folgen, auf der ihre Schafe, Ziegen und Pferde das Gras niedergetrampelt haben, wird sich diese nach der Schneeschmelze in einen Schlammpfuhl verwandeln.“ „Schlägst du vor, die Wanderstraße zu verlassen?“, fragte Seyn. „Nicht, solange sie noch passierbar ist. Aber in jedem Fall wird das Fortkommen von Tag zu Tag schwieriger. Wenn nicht der Schnee uns aufhält, dann der Regen und der Schlamm. Südlich des Flusses ist die Landschaft trockener. Von dort an sollte es wieder besser gehen.“ Osiris behielt Recht. Der Schnee schmolz rasch, und es regnete tagelang in Strömen. Die weite Schneise, die die ziehenden Nomaden im Grasmeer hinterlassen hatten, weichte immer mehr auf. Die Hufe der Pferde saugten sich im Schlamm fest und machten schmatzende Geräusche, wenn die Tiere sich bemühten, sie wieder herauszuziehen. Die schmalen Räder der Karren und Wagen versanken im Morast. Die tausend Männer, begeisterte junge Burschen, windige Abenteurer, Tagelöhner und Mitläufer, die sich nun Soldaten nannten und das kümmerliche Heer Vulcors bildeten, stapften verdrossen durch den Matsch und trotzten den Unbilden des Wetters. Schließlich gab Methor den Befehl, die Straße zu verlassen. Duna, die Kapuze weit ins Gesicht gezogen, blinzelte, weil ihr der Wind die Regentropfen in die Augen blies. Flink, ihrem Hengst, machte der Regen weniger aus. Sein dichtes Fell schützte ihn vor dem Wasser, während seine Reiterin bis auf die Haut durchnässt war und jämmerlich fror, trotz ihrer wollenen Winterkleidung, die sie unter der schwarzen Kutte trug. Trygar, der neben ihr ritt, ging es nicht besser. „Was für ein Wetter!“, schimpfte er. „In Koridrea ist es um diese Zeit viel wärmer. Zwar sind die Bäume schon entlaubt, und nachts wird es recht kühl, aber am Tag kann die Sonne die Luft noch so weit erwärmen, dass man keinen Mantel oder Umhang braucht.“ „Ich weiß“, sagte Duna unwirsch. „Schließlich habe ich dort einen großen Teil meines Lebens verbracht.“ Trygar musterte sie neugierig. „Warum bist du nach Vulcor gegangen?“, fragte er. „Das habe ich dir doch schon erzählt. Ich fühlte mich verfolgt und wollte endlich wieder meine Magie frei ausüben können.“ Trygar sah sie prüfend an. 166 „Du erzählst mir nicht die ganze Wahrheit. Auch in den Städten von Vulcor sind die Leute der Magie gegenüber nicht gerade aufgeschlossen. Eigentlich ist es wie überall in den Ländern des Alten Königreiches. Man begegnet uns Magiern mit Misstrauen und Angst. Warum also Vulcor?“ Duna funkelte ihn wütend an und sagte: „Das geht dich gar nichts an! Kümmere dich um deine eigenen Angelegenheiten.“ Stumm ritten sie nebeneinander her. Duna war noch ein wenig wütend über seine bohrende Frage, aber der Zorn klang schnell ab. Sie spürte, dass Trygar betroffen über ihre Abfuhr war. Die Missstimmung zwischen ihnen belastete sie, und es tat ihr Leid, so harsch geantwortet zu haben. Sie mochte ihn. Ihr schneller Sinneswandel vom Hass auf den Mann, der Nunoc Baryth getötet hatte, zu der Zuneigung, die sie jetzt für ihn empfand, verwirrte sie. Sie kam mit diesen Gefühlen nicht zurecht, und deshalb behandelte sie ihn manchmal abweisend. Sie wandte sich ihm zu: „Verzeih mir, Trygar. Ich wollte nicht…“ „Schon gut“, unterbrach er sie. „Du hast ja Recht. Es geht mich wirklich nichts an. Es ist nur… Ich habe dir viel von mir erzählt: von meinem Vater, meiner Kindheit, meinen Zweifeln, meinen schlimmen Träumen. Aber von dir weiß ich gar nichts. Ich… mag dich, Duna“, sagte er und wandte das Gesicht ab, blickte stur geradeaus ins Leere. Dann, stockend, fuhr er fort: „Weißt du, ich sollte ein glücklicher Mensch sein, denn ich habe Freunde. Es sind zwar nur wenige, aber ein echter Freund zählt mehr als hundert andere. Aber ich bin nicht froh, denn ich habe einen schrecklichen Fehler begangen, den ich mir nie verzeihen kann.“ Duna spürte seine Traurigkeit wie einen Stich in ihrem Herzen. „Aber deine Freunde haben dir verziehen, Trygar. Du musst dir selbst auch endlich verzeihen.“ „Und du, hast du mir denn verziehen, dass ich den Menschen, der dir am meisten bedeutet hat, getötet habe?“ Sie blieb stumm. Ihr Begleiter blickte sie an, und sie sah den verzweifelten Ausdruck in seinem Gesicht, als er die Verweigerung einer Antwort als Verneinung deutete. Heftig riss er am Zügel, stieß die Hacken in die Flanken seines Pferdes und stob davon. Wenig später hatte sie ihn wieder eingeholt. Sie lenkte Flink neben seine Stute und packte ihn an der Schulter. „Hör mir zu, du Dummkopf: Ja, ich habe dir verziehen, dass du Nunoc getötet hast. Ich habe geschwiegen, weil mich ein anderer Teil deiner Frage verwirrt hat. Ich musste erst darüber nachdenken, bevor ich sie beantworten konnte. Nicht Nunoc ist der Mensch, der mir am meisten bedeutet hat, sondern mein Vater. Nunoc ist nur an seine Stelle getreten.“ „Dein Vater? Ist er gestorben?“ 167 „Nein, er lebt noch. Doch mir ist Schlimmeres widerfahren als dir, Trygar. Dein Vater hat dich verstoßen, um dich vor dem Pöbel in deinem Dorf zu schützen, der abergläubisch die Magie als etwas Böses fürchtet. Mein Vater hat mich ebenfalls geächtet, doch aus einem anderen Grund. Er lastet mir den Tod seiner Geliebten, meiner Pflegemutter an!“ Sie spürte, dass ihr Tränen über die Wangen rannen, die jedoch sogleich vom Regen fortgespült wurden. Trygar konnte nicht sehen, dass sie still weinte, aber er bemerkte es doch. Sie hörte es seiner Stimme an, in der Mitgefühl schwang. „Duna, was immer er dir vorwirft. Ich weiß, dass du keine Schuld trägst. Willst du mir es nicht erzählen?“ Sie nickte. „Ich bin ein Bastardkind. Meine Mutter war die Geliebte eines mächtigen Mannes. Sie ist gestorben, als ich sechs Jahre alt war, überfahren von einem Pferdefuhrwerk. Ich kann mich noch gut an sie erinnern. Meine Tante, ihre Schwester, war im Kopf verwirrt und nicht imstande, für mich zu sorgen. Deshalb holte mich mein Vater. Aber er nahm mich nicht mit in sein Heim zu seiner Familie, wo ein uneheliches Kind kaum willkommen gewesen wäre. Vater, der viele Male verheiratet war, zahlreiche Geliebte und ein Dutzend oder mehr eheliche Kinder und Bastarde hat, gab mich einer seiner Mätressen als Pflegekind. Sie hatte selbst einen Sohn von ihm, meinen Halbbruder Elin. Meine Pflegemutter hieß Ela, und so nannte ich sie auch. Ich habe es nie über mich gebracht, sie Mutter zu nennen, denn ich mochte sie von Anfang an nicht. Warum, das weiß ich nicht. Vielleicht, weil sie eine Rivalin meiner toten Mutter gewesen war, und wir, Mutter und ich, die Zuneigung meines Vaters mit vielen anderen Frauen und Kindern hatten teilen müssen. Eigentlich sollte ich ihn dafür hassen und nicht diese schwache, elfengleiche Frau, die mich aufgezogen hat. Ich habe ihr Unrecht getan, denn sie war gut zu mir und tat alles, um meine Liebe zu gewinnen. Mein Vater besitzt ein Jagdhaus in einem seiner Wälder. Er benutzte es selten und ließ uns darin wohnen. Manchmal, wenn er von den Zwängen seines Lebens genug hatte, zog er sich dorthin zurück. Ela war ihm dann in der Nacht eine willige Geliebte – ihr wollüstiges Stöhnen war kaum zu überhören – und mit Elin ging er am Tag auf die Jagd. Mich beachtete er wenig. Mir liegt nichts daran, Tiere zu töten, die ich nicht essen will, aber Elin und ihm bereitete es Vergnügen. Abends kamen sie mit der erlegten Beute zur Hütte zurück, und meine Pflegemutter und ich halfen ihnen, die Trophäen zu präparieren: Felle, Geweihe oder Raubtierköpfe. Ich hasste die Tage, wenn mein Vater uns besuchte, denn Ela war in dieser Zeit anders als sonst. Sie versuchte, ihm zu gefallen wie ein kleines Mädchen und tat alles, damit er sich bei ihr wohlfühlte. Vielleicht hatte sie 168 Angst, auf seiner Skala der Gunst weiter abzusteigen, denn er kam nur noch selten zu uns. Jüngere und schönere Geliebte beanspruchten seine Aufmerksamkeit mehr als sie. Ich glaube, er kam überhaupt nur noch wegen Elin, den er liebte wie ein Mann einen Sohn nur lieben kann. Ela hatte in dieser Zeit nur noch Augen für meinen Vater und ihren Sohn, der ihr Faustpfand dafür war, dass Vater sie immer wieder besuchte. In ihren Augen war ich nur Luft, und ich verachtete sie für ihr kriecherisches Benehmen. Ich war gehässig und böse zu ihr und sagte unschöne Dinge über sie und meinen Vater. Oft hatte sie verweinte Augen, wenn er und mein Halbbruder von ihren Jagdausflügen zurückkehrten. Ela beklagte sich nicht über mich, aber natürlich wusste Vater, dass ich sie mehr und mehr verabscheute. Eines Tages hielt ich es nicht mehr aus und verließ die Hütte, nachdem die beiden Männer aufgebrochen waren. Eigentlich war Elin ja kaum ein halbwüchsiger Junge, aber mein Vater sprach von ihm immer als Mann und von mir, die drei Jahre älter war, als Mädchen! Ich zog den ganzen Tag herum, streifte durch die Wälder, beobachtete Tiere, badete in einem kleinen See und fühlte mich glücklich. Mir war es egal, dass Ela sich wahrscheinlich Sorgen um mich machte. Doch irgendwann musste ich zurückkehren. Und ich sollte es besser tun, bevor mein Vater und mein Bruder nach Hause kämen. Ich lief schnell, hatte keine Probleme damit, den Weg zu finden, denn ich konnte mich schon immer sehr gut orientieren. Ich war noch etwa eine Meile vom Jagdhaus entfernt, als die Vögel aufhörten zu singen und das Rauschen der Blätter verklang. Plötzlich brach ein schlimmes Gewitter los. Ich bin normalerweise nicht ängstlich, aber zwischen den Blitzen, die so hell waren, dass ihr grelles Licht das Laubdach durchdrang, und den heftigen Donnerschlägen lag kaum ein Augenzwinkern, und ich lief, so schnell ich konnte. Als ich die Lichtung vor der Hütte betrat, geschah es: Ein Blitz fuhr mit einem scharfen Knall in einen benachbarten Baum und sprang von dort über in das strohgedeckte Dach des Hauses, und das ging rasend schnell in Flammen auf. Ich wollte hinein, doch als ich kaum zehn Schritte entfernt war, versengte die Hitze meine Augenbrauen, und meine Lunge brannte. Ich musste zurück. Immer wieder schrie ich Elas Namen, aber sie antwortete nicht. Die Flammen schlugen hoch und setzten weitere Bäume in der Nähe in Brand. Als der Regen endlich losprasselte, war es zu spät. Er erstickte zwar das Feuer, aber das Haus war nur noch ein qualmender und dampfender Haufen verkohlter und zusammengestürzter Balken. Ich setzte mich an den Fuß einer Tanne, schlug die Arme um die Beine und wartete. Drei Stunden später kehrten sie zurück. Mein Vater stieß einen Schrei aus, sprang vom Pferd, rannte zu den verkohlten Trümmern und begann wie rasend, darin zu wühlen. Mein Bruder sah mich an, als wäre ich ein böser 169 Geist. Dann half er meinem Vater. Wenige Augenblicke später trug der ein verschrumpeltes, schwarzes Bündel in den Armen, kam zu mir und legte es vor meine Füße. Ich werde den schrecklichen Anblick von Elas Leiche nie vergessen. Ich war keines Gefühls fähig, wie tot, aber er schäumte, schrie, trat mich und schlug mir ins Gesicht. Zuerst erfasste ich den Sinn seiner Worte nicht. Erst, als er mich schüttelte wie eine Puppe, verstand ich sie: „Du böse Hexe“, brüllte er. „Du Mörderin! Warum hast du sie bloß so gehasst? Was hat sie dir getan, die dir immer eine gute Mutter sein wollte? Töte mich und Elin auch mit deiner verfluchten Magie oder geh fort aus meinen Augen und lass dich niemals wieder sehen!“ Ich war sprachlos. Er glaubte, ich hätte mit meiner Magie das Haus angezündet und meine Pflegemutter ermordet! Aber das Gewitter, er musste doch erkennen, dass… Mein Vater wusste, dass ich magische Fähigkeiten besitze und hat es gehasst. Natürlich hat er es mir streng verboten, Magie auszuüben, und wenn er mich dabei erwischte, dass ich eine kleine Flamme in der Luft schweben ließ, bestrafte er mich immer hart. Aber er konnte doch nicht glauben, dass… Er konnte es. Und diese Erkenntnis traf mich wie ein Schlag. Mein Vater würde mir nicht glauben, weil er es nicht wollte. Und so machte ich nicht einmal den Versuch, mich zu verteidigen, stand auf und ging. In den folgenden Tagen wanderte ich wie betäubt umher, mit zerrissenen Kleidern, verdreckt und halb verhungert, bis ich irgendwann zu mir kam. Meine Enttäuschung über ihn war so groß, dass ich beschloss, so viele Meilen, wie es nur ging, zwischen ihn und mich zu bringen. Aber zunächst ging ich zurück zum Schloss, in dem er wohnte. Ich war ein paar Mal als angebliche Nichte seines Jagdaufsehers mit ihm dort gewesen. Heimlich suchte ich die Dienstgemächer auf. Ich hatte mich bei meinen früheren Besuchen im Schloss mit einer Zofe angefreundet, die mir jetzt half. Sie ließ mich baden, gab mir einige von ihren Kleidern, soviel Geld, wie sie entbehren konnte und packte mir ein Wanderbündel. Während sie die Sachen zusammensuchte, erzählte sie mir, mein Vater ließe überall nach mir suchen. Was will er von mir, fragte ich mich. Mich bestrafen? Ich verließ das Schloss und danach meine Heimat für immer. Ich wanderte nach Shoal, um mich dort nach Norden einzuschiffen. Doch dafür brauchte ich mehr Geld als ich besaß, und so nahm ich am Wettbewerb der Feuertänzer auf dem Gauklerfest teil. Den Rest kennst du.“ Trygar schaute sie ungläubig an. „Wer ist dein Vater, Duna?“ „Lord Rhome, der Fürst von Sandaba“, sagte sie. 170 Drei Tage nach diesem Gespräch, das Trygar und Duna einander näher gebracht hatte, erreichte der Heereszug die Furt am Thes, des großen Stroms, der im Vulcatgebirge entspringt und Vulcor in eine große nördliche und eine kleinere südliche Hälfte teilt. Der Thes war hier sehr breit und flach, die Furt die meiste Zeit passierbar, außer nach der Schneeschmelze im Spätfrühling. Auf der anderen Seite des Flusses sahen sie Tausende von Zelten in allen Farben, und der überschaubare Uferstrich wimmelte von Menschen und Tieren. Die Stämme der Nomaden hatten sich dort getroffen und ihre Lager aufgeschlagen. Eine Abordnung von fünf Reitern kam ihnen entgegen. Das Flusswasser spritzte auf, als die Pferde durch das seichte Bett galoppierten. Die Nomaden zügelten die Tiere vor der Spitze des Heereszugs. Dort ritten die Schwarzen Kämpfer und die zwölf Männer vom Stamm der Yauqui, die schon kurz nach dem Aufbruch von Helmseth zum Heer gestoßen waren. Der Anführer der Delegation der Nomaden – sein Name war Toquaiquata, und er gehörte zum Stamm der Senai – hieß sie willkommen. Der Heereszug folgte der Abordnung der Pferdeleute über den Fluss, danach etwa eine Meile am Ufer entlang nach Westen. Dort war noch genug Platz, um das Lager aufzuschlagen. Hier würden sie solange bleiben, bis der Versorgungstross aus Helmseth mit der Ausrüstung und den neu angeworbenen Rekruten eintraf, und hier würden sie auch das Ergebnis der Shegra, der Versammlung der Stammesoberhäupter der Nomaden, abwarten. Gegen Abend machten Methor, der Führer des Heeres von Vulcor, die Zwillinge Seyn und Legis, Tegres, der Übersetzer, Osiris als Anführer der Söldner und Duna und Trygar ihre Aufwartung bei Khanam Soth und seiner Frau Welga. Der Häuptling der Yauqui empfing sie freundlich, und sie wurden reich bewirtet. Der Khanam teilte ihnen mit, dass die Shegra morgen beginnen und voraussichtlich zehn Tage dauern würde. Es gebe vieles zu besprechen und zu beschließen. Die Bitte der Schwarzen Kämpfer um Beistand im kommenden Krieg sei bei weitem nicht der erste und wichtigste Verhandlungspunkt. Deshalb müssten sie warten, bis die Shegra beendet sei. Am nächsten Tag versammelten sich die Schwarzen Kämpfer wieder auf dem Platz vor ihrem Zelt im Heerlager. Auch Osiris und die bisher ernannten Offiziere nahmen an der Besprechung teil. Methor führte das Wort: „Heute morgen ist ein Meldereiter gekommen und hat eine Mitteilung von Lorth und Baldures gebracht. Sie sind vor einigen Tagen aus Helmseth aufgebrochen mit einem zweiten Heer, das etwa zweitausend Mann stark ist. Sie führen fast siebzig Wagen mit sich, voll beladen mit Waffen, Rüs- 171 tungen und allen anderen Dingen, zu deren Beschaffung ich sie beauftragt habe. Der Treck ist gut unterwegs und wird noch vor Ablauf der Shegra hier eintreffen, sofern ihm das Wetter keinen unangenehmen Streich spielt.“ Das war eine gute Nachricht, die mit allgemeinem Jubel begrüßt wurde. Der General fuhr fort: „Allerdings macht mir auch manches Sorgen, am meisten, dass wir zwar viele Männer aber fast keine mit soldatischer Erfahrung haben. Wir sollten die Zeit nutzen, die wir hier verbringen müssen, und mit der Ausbildung beginnen.“ „Aber an welchen Waffen sollen wir sie ausbilden?“, fragte Legis. „Die meisten sind mit Mistgabeln, Holzfälleräxten und Sensen bewaffnet. Nur die wenigsten haben Schwerter. Wir müssen wohl warten, bis der Tross aus Helmseth eintrifft.“ „Nein. Für das Kampftraining reichen Übungsschwerter aus Holz. Da du gefragt hast, Legis, übertrage ich dir die Aufgabe, für eine ausreichende Menge von Holzschwertern und Schilden zu sorgen. Wende dich an die Zimmerleute der Nomaden. Borge von ihnen auch so viele Reiterbögen und Pfeile, wie du bekommen kannst. Wir ersetzen sie durch unsere eigenen Bögen, sobald der Versorgungstross angekommen ist. Wir werden drei Waffengattungen aufstellen: ein Fünftel mit Langbogen bewaffnete Bogenschützen, ein weiteres Fünftel Lanzenreiter und der Rest Fußsoldaten mit Hieb- und Stichwaffen. Seyn, du teilst die Ausbilder ein. Jeder der Schwarzen Kämpfer wird eine Hundertschaft Soldaten übernehmen. In zwei Tagen soll die Rekrutenausbildung beginnen. Platz zum Exerzieren gibt es hier genug. Trainiert wird von Sonnenauf- bis -untergang. Auch wenn Trygar nicht wünscht, das wir einen Angriffskrieg beginnen, so müssen wir uns wenigstens verteidigen können.“ Osiris schlug vor: „Setzt auch meine Männer und mich als Ausbilder ein, General Methor, dann braucht jeder von uns nur etwa fünfzig Männer zu trainieren und zu beaufsichtigen. Das ist weitaus effektiver.“ Methor nahm das Angebot dankbar an. Seyn hatte noch eine Frage: „Was ist mit den neuen Freiwilligen, die mit Lorth und Baldures kommen werden?“ „Sobald sie da sind, gliedert ihr sie in die Ausbildung ein. Bis dahin wird es schon eine Reihe von Männern in unseren Reihen geben, die das Wichtigste gelernt haben und begabt genug sind, um euch zu helfen.“ „Und was ist mit den Nomaden?“ „Um sie braucht ihr euch nicht zu kümmern. Die haben ihre eigenen Kampfmethoden. Sie können im wildesten Ritt vom Pferderücken aus einem Vogel das Auge ausschießen. 172 Wir werden einen Kommandostab einrichten: Seyn und Legis, ihr seid meine Adjutanten. Osiris, du vertrittst die Söldner. Jeder der Nomadenstämme, die uns Kämpfer stellen, wird einen Vertreter in diesen Heeresrat abstellen.“ Damit war die Besprechung beendet. Die Teilnehmer verließen die Versammlung. Methor fasste Trygar, der gerade gehen wollte, an der Schulter: „Warte. Hast du Lust auf einen kleinen Ausflug? Ich möchte dir jemanden vorstellen.“ Der General und der junge Magier stiegen auf ihre Pferde und ritten flussabwärts. Der Pfad folgte einem kleinen Hügel hinauf. Von dort oben hatten sie einen weiten Blick über die Lager der Nomaden und ihr eigenes. Das Heer von Vulcor wirkte geradezu winzig neben der riesigen Anzahl von Zelten der Pferdeleute. Auf der Rückseite des Hügels lenkte Methor sein Reittier nach Süden, einem schmalen Weg folgend. Trygar konnte seine Neugier kaum zügeln. Endlich hielt er es nicht mehr aus und fragte: „Wen willst du mir denn vorstellen, Methor?“ Der General lächelte geheimnisvoll. „Hab Geduld, Trygar. Es ist nicht mehr weit.“ In der hügeligen Ebene vor ihnen sah der auf diese Weise Vertröstete bald eine Anzahl von Gebäuden, die von einer hölzernen Palisade umgeben waren. Dem kleinen Wachturm nach konnte es eine primitive Burg sein, auf die sie zuritten. Vielleicht handelte es sich aber auch um ein befestigtes Dorf. Trygar wusste, dass sich die Banditen aus Pheldae, ohne Konsequenzen fürchten zu müssen, gelegentlich über die Grenze wagten und Ansiedlungen im dünn besiedelten Süden von Vulcor überfielen. Deshalb waren die meisten Dörfer durch Verteidigungswälle geschützt. Doch bald stellte sich heraus, dass es sich um ein großes Gehöft handelte, umgeben von bewirtschafteten Feldern und Weiden, auf denen Rinder standen. Als sie noch näher kamen, musste er seine Einschätzung ein weiteres Mal revidieren. Auf den Feldern arbeiteten ausschließlich Frauen, an und für sich nichts Ungewöhnliches, aber diese trugen lange, graue Gewänder, eines wie das andere aussehend. Die Reiter hielten vor dem offen stehenden Tor an, und Trygar bemerkte erschrocken, dass eine Armbrust aus einer der Schießscharten des Wachturms auf ihn gerichtet war. Eine scharfe, helle Stimme sprach sie an: „Wer seid ihr, und was wollt ihr?“ „Erkennst du mich denn nicht, Martha?“, fragte Methor und schlug seine Kapuze zurück. „Methor!“, rief die Frau. “Verzeih, aber heutzutage verkleiden sich selbst Banditen als Mönche. Sei uns willkommen!“ 173 Im Innenhof stiegen sie ab und übergaben ihre Pferde zwei jungen Frauen, die ebenfalls in graue, weich fließende Gewänder mit weiten Ärmeln gekleidet waren. Erst jetzt erkannte Trygar, wo er war. Es gab Stallungen und Wohnhäuser, aber das größte Haus war ein aus gebrannten Ziegeln gebauter Tempel mit dem Zeichen Wathans über der Eingangspforte. Sie befanden sich in einem Kloster. Er folgte Methor zur Eingangstür eines größeren Gebäudes, aus der eine hochgewachsene, schlanke Frau trat, ebenso angezogen wie alle anderen. Sie trug ihr Haar lang, und es fiel ihr in grauen Wellen über die Schultern. Ihr Gesicht wirkte noch jung, aber die Krähenwinkel an ihren Augen und einige Altersflecke auf den Handrücken zeigten, dass sie die Fünfzig überschritten hatte. Dennoch war sie eine schöne Frau. Ihr Lächeln war strahlend und warm, als sie Methor in die Arme schloss. „Wie lange ist es her?“, fragte sie. „Es muss mehr als zehn Jahre sein, doch du hast dich fast gar nicht verändert, nur dein Haar ist grau geworden, Sankima“, antwortete er. „Wer ist dein junger Begleiter?“, fragte sie. Methor stellte Trygar vor und erklärte ihm: „Sankima ist die Äbtissin des Ordens der Helfenden Hände.“ Die Frau bat sie herein, und sie folgten ihr ins Haus. Wenig später saßen sie zusammen an einem uralten und mit Astlöchern übersäten Holztisch in einem kleinen Raum mit niedriger Decke, die von schweren Balken gestützt wurde. Zwei Nonnen trugen ein einfaches Mahl aus Brot, Käse und Wasser auf und ließen ihre Äbtissin mit den Gästen allein. Sie sprach ein kurzes Gebet und segnete die Mahlzeit, danach aßen sie. Nachdem sie gesättigt waren, schaute Sankima den General an. „Der Weg von eurem Orden zu unserem ist weit. Den hast du bestimmt nicht gemacht, nur, um mich zu besuchen. Was ist geschehen?“ „Ich bringe schlimme Nachrichten: Nunoc Baryth ist tot, und Semanius greift nach der Macht. Ein Sturm zieht auf. Nun bin ich abermals der, der ich niemals wieder sein wollte: ein Feldherr.“ Alle Farbe war aus dem Gesicht der Frau gewichen. „Nunoc ist tot? Wie?“ Und Methor berichtete von Anfang an. Er erzählte eigentlich Trygars Geschichte: wie er und seine Freunde von Gadennyn hinters Licht geführt wurden, wie sie ins ferne Vulcor aufbrachen, um den vermeintlichen Semanius unschädlich zu machen. Als er an die Stelle kam, wo Trygar seine unrühmliche Rolle spielte und Nunoc Baryth tötete, wollte der am liebsten in den Boden sinken vor Scham. Er senkte die Augen und spürte den prüfenden Blick der Äbtissin auf seiner Haut, die brannte wie Feuer. Aber Methor ließ keinen Zweifel daran, dass der junge Magier und seine Freunde keine Schuld trugen. Er berichtete weiter über Gothers Geständnis, seine 174 Flucht und die Pläne, die sie danach geschmiedet hatten. Er endete mit der Armee, die sie dabei waren, aufzustellen, und deren noch kleiner Kern nicht weit von hier am Ufer des Thes lagerte. „Ihr wollt in den Krieg ziehen?“ Sankimas Stimme drückte Besorgnis aus. Zum ersten Mal ergriff Trygar das Wort: „Ich habe schon Schlimmes angerichtet, aber ein Krieg wäre noch viel schrecklicher. Nein, Äbtissin: Gormen Helath, der Stellvertreter Nunoc Baryths, hat mir und Duna die Verantwortung für diesen Feldzug übertragen. Und mein Ziel ist es, den Krieg zu vermeiden. Die Armee soll als Abschreckung dienen. Semanius, der sich jetzt König Gadennyn nennt, soll wissen, dass ihn ein Überfall auf Vulcor viel kosten würde. Wir hoffen, dass wir ihm ein Stück voraus sind. Vielleicht können wir sogar Orinokavo erreichen, bevor sein Heer zum Angriff bereit ist. Unsere Hoffnung ist, dass er sich besinnt und verhandelt, wenn er erkennt, dass ihm eine gleich große oder gar größere Streitmacht gegenübersteht.“ „Und wenn er dennoch angreift?“ „Dann werden Duna und ich ihm als Magier gegenübertreten. Es wird jedenfalls keine Schlacht geben, wenn ich es verhindern kann.“ „Seiner Magie seid ihr beide nicht gewachsen, denn er…“ „…trägt das Amulett. Ja, ehrenwerte Ordensmutter. Ich weiß. Aber wir haben noch einen Verbündeten.“ Er warf einen Blick zu Methor, der bedeutete: Traust du dieser Frau? Als der Schwarze Kämpfer ihm zunickte, erzählte er von Zpixs, dem seltsamen Wesen, dass die Zeit beherrschte, und dass der Xinghi Semanius das Amulett entwinden sollte, wenn der Lordmagier durch das näher rückende Heer aus Vulcor abgelenkt wäre. Eine Weile sagte niemand etwas. Die beiden Männer warteten auf die Erwiderung der Äbtissin, die tief in Gedanken versunken schien. Endlich sprach sie: „Irgendwann musste es so kommen. Athlan Gadennyn war kein schlechter Mensch, das konnte ich deutlich fühlen. Aber da war der Stein, den er vor mir verborgen hatte, dessen Anwesenheit ich aber so intensiv spürte wie ein Seemann ein Leuchtfeuer wahrnimmt. Der Leuchtturm selbst ist zwar dem Blick entzogen, die Energie, die von dem Licht ausgeht, ist aber so machtvoll, dass sie selbst die verbergenden Schleier von dunkler Nacht, Sturm und Nebel durchdringt. Damals wusste ich noch nicht, wo diese geistige Energie herkommt, nicht aus ihm selbst, das war mir jedenfalls klar. Aber Nunoc erzählte mir später von dem Tagebuch und dem Amulett.“ Trygar erkannte jetzt, wem er gegenüber saß. 175 „Verzeiht, ehrwürdige Mutter, dass ich Euch unterbreche. Dann seid Ihr also die Geistmagierin, die Nunoc Baryth geholt hatte, um Athlan sein Geheimnis zu entlocken!“ „Nenn mich einfach Sankima, Trygar. Ja, du hast Recht. Ich kann in die Herzen der Menschen schauen, auch in deines, und ich sehe, dass darin keine Falschheit und keine Leichtfertigkeit ist. Ich erkenne nur großen Schmerz, heiße Wut und bittere Traurigkeit. Ich möchte, dass du mich morgen noch einmal besuchst – allein, denn ich glaube, dass ich dir helfen kann.“ Kalter Regen durchfeuchtete Trygars Kleider und ließ ihn erschauern. Kleine Rinnsale spülten Wasser in den Latrinengraben, den er gerade zuschaufelte, und es vermischte sich mit dessen unappetitlichem Inhalt. Jeden Abend gab es die gleiche Prozedur: Arbeitskolonnen bauten die Latrinenzelte ab, schütteten die überfüllten Gräben zu, hoben neue Gräben aus und stellten die Zelte darüber wieder auf. Die zugeteilten Soldaten nagelten die Sitzbalken auf in den Boden gerammte Pfosten und wuschen sie mit Wasser ab. Heute gehörte Trygar zu ihnen. Er und drei weitere Männer warfen nasse, schwere Erde in den letzten offenen Graben. Zwanzig Schritte weiter war eine andere Kolonne mit dem Ausheben der neuen Gräben beschäftigt. Trygar stützte sich für einen Moment auf den Schaufelstiel und wischte sich die Nässe aus dem Gesicht, zu der sich Regen und Schweiß vermischt hatten. Dann stieß er erneut die Schaufel in den Erdhaufen und warf eine Schippe voll Erde in den Graben. „Was machst du denn da?“, hörte er eine verwunderte Frauenstimme. Es war Duna, die näher kam, nachdem sie ihn entdeckt hatte. „Na, das siehst du doch!“ Trygar war missgestimmt, denn er hasste diese Arbeit. „Aber das ist doch etwas für einfache Soldaten, nicht für den Anführer des Heeres von Vulcor!“ Trygar hielt schwer atmend inne und sah die junge Frau an. „Erstens bin ich nicht der Heerführer, das ist nämlich Methor, und zweitens haben wir Schwarzen Kämpfer uns doch alle bereit erklärt, jeden notwendigen Dienst zu tun. Jemand hat mich für diese Arbeit eingeteilt, das ist alles.“ „Welcher Hohlkopf war das denn?“ „Ich weiß es nicht. Mein Name steht auf der Liste der Latrinengräber. Du solltest die Arbeitslisten im Kommandozelt besser einmal studieren. Wir alle stehen darauf. Seyn muss die gebrochene Achse eines Wagens reparieren helfen, Osiris ist mit seinen Leuten unterwegs, um Pferde einzufangen, die aus einer Koppel ausgebrochen sind, Legis, der gut schreiben 176 kann, hat den Auftrag, die Befehle abzuschreiben und unter den Offizieren zu verteilen. Selbst Methor ist sich nicht zu fein, um Brennholz zu hacken.“ „Ich stehe auch auf der Liste?“ Ohne eine Antwort abzuwarten, eilte sie davon. Trygar schüttelte den Kopf und arbeitete weiter. Wenig später war Duna wieder da. Mit grimmiger Miene sagte sie: “Stell dir vor, ich bin zum Zelteflicken eingeteilt. Aber nicht mit mir! Ich werde mich bei Methor beschweren.“ Der junge Mann seufzte, steckte die Schaufel in den Erdhaufen und sagte: „Warst du denn nicht dabei, als wir beschlossen haben, dass die Schwarzen Kämpfer und die Offiziere sich an den Routinearbeiten beteiligen sollen, damit die einfachen Soldaten motiviert ihre Pflichten erfüllen und nicht in Scharen davonlaufen?“ Dunas Empörung verpuffte, und etwas kleinlauter sagte sie: „Natürlich war ich dabei, aber ich dachte eigentlich an etwas anspruchsvollere Tätigkeiten. Na, dann werde ich eben Zelte flicken.“ Sie drehte sich um, um zu gehen, aber dann fiel ihr noch etwas ein: „Eigentlich habe ich dich gesucht, um zu fragen, wohin du gestern mit Methor geritten bist.“ Trygar erklärte es ihr. „Und warum habt ihr mich nicht mitgenommen?“ „Das musst du Methor fragen. Ich hatte ja selbst keine Ahnung, wohin es gehen sollte.“ „Erzähl mit von Sankima.“ „Später. Ich muss erst meine Arbeit tun.“ „Versprichst du es mir?“ „Ich verspreche es.“ Am Nachmittag berichtete er Duna von dem Besuch im Kloster und der Äbtissin und Geistmagierin, die einst auf Nunoc Baryths Bitte hin den Novizen Athlan geprüft hatte. Er erzählte ihr, dass Sankima ihn gebeten hatte, sie heute wieder zu besuchen. „Ich komme mit!“ Trygar zögerte. „Hm.“ „Hm? Was soll das heißen? – Hast du etwas dagegen?“ „Nein, eigentlich nicht. Es ist nur…“ „Ist sie schön?“ „Ja, sie ist eine schöne Frau, aber sie könnte fast meine Großmutter sein.“ 177 „Dann kann das nicht der Grund sein, warum du dich so dagegen sträubst, mich mitzunehmen.“ „Hör mal, Duna. Sie möchte mit mir persönlich sprechen. Es betrifft nicht dich, nicht einen anderen, den du kennst und auch nicht unsere Mission. Es geht allein um mich.“ „Und was genau will sie von dir?“ „Darüber möchte ich lieber nicht sprechen.“ Duna überlegte. Sie dachte an die „Dürre des Herzens“, diese seltsame Krankheit der Seele, an der Trygar nach seinem fatalen Fehler gelitten hatte. Oder litt er immer noch daran? Äußerlich war ihm nichts mehr anzumerken, aber er war oft schwermütig. Cora hatte ihr erzählt, dass er keineswegs immer so gewesen war. Seine Freundin hatte ihn noch als humorvollen und heiteren jungen Mann gekannt. Er hatte sich offenbar sehr verändert. Duna wusste: Die Geistmagierin konnte tief in die Seele eines Menschen blicken, vor ihr blieb nichts verborgen. Vielleicht hatte sie einen dunklen Fleck darauf gesehen? Hoffentlich konnte sie Trygar helfen. „Dann gehe jetzt zu ihr, Trygar. Vielleicht können wir sie ein anderes Mal gemeinsam besuchen?“ „Ganz bestimmt.“ Er stieg auf seine Stute und trabte davon. Sie winkte ihm nach, doch er sah es nicht. Sankima war erfreut, ihn wieder zu sehen. Der Regen hatte aufgehört, und der Himmel war klar. Die Äbtissin schlug einen Ausritt zu zweit vor. Trygar folgte ihr in den Stall des Klosters, wo sie ihr Pferd sattelte. Sie stiegen auf und ritten nach Westen durch die hügelige Landschaft, die der Strom Thes im Laufe der Jahrtausende durch ständige Verlagerung seines Bettes geformt hatte. Auf einer der runden Kuppen wuchsen ein paar niedrige, vom Wind missgestaltete Bäume, deren Stämme und Äste einträchtig nach Osten ausgerichtet waren. Sie stiegen ab, ließen die Pferde grasen und setzten sich nebeneinander auf einen bemoosten Felsblock. Trygar glaubte, in der Brise, die von Westen herüberwehte, den Salzgeruch des Meeres wahrzunehmen, und er fragte Sankima danach, doch die sagte, er müsse sich irren, denn der Ozean sei noch mehr als achtzig Meilen entfernt. „Oft gaukeln uns unsere Wünsche Dinge vor, die gar nicht existieren. Vielleicht zieht es dich ja ans Meer?“ Trygar dachte an den Tag, als er nach langer Wanderschaft die Küste von Koridrea erreicht und von der Klippe auf die Stadt Shoal hinabgeblickt hatte. Diesen Anblick würde er immer in seinem Herzen bewahren. In Shoal lernte er seine Freunde Cora, Boc und Spin kennen, dort gewann er den ersten Preis im Wettbewerb der Jongleure. Nur wenige Meilen vom Meer 178 entfernt, in Gadennyns Burg, fand er endlich ein Zuhause und verbrachte dort die vielleicht glücklichste Zeit seines Lebens. Er dachte an seine Lehrer Harold, Kardenus Sigis und Elga Masuris, von denen er so viel gelernt hatte, und an die unbeschwerten Tage mit seinen Freunden, die im benachbarten Örtchen Brenton lebten. Ja, er sehnte sich danach, wieder ans Meer zurückzukehren. Und er sagte es Sankima. Sie nahm seine Hand in ihre, verschränkte ihre Finger mit seinen und sagte: „Was bedrückt dich so, Trygar? Du hast deine Traurigkeit eingesperrt und den Schlüssel weggeworfen. Jetzt breche die Tür auf und lass sie heraus.“ Er hatte das Gefühl, als wäre die Verbindung ihrer Hände wie ein starkes Ankertau, das ihn im Sturm festhielt. Er konnte gar nicht anders als ihrem Wunsch Folge zu leisten. Stockend begann er: Er erzählte von seiner frühesten Erinnerung an die Magie, und welche Freude er empfunden hatte, wenn er sie gebrauchte, aber auch welche Ängste und Sorgen dies seinem Vater bereitete. Das schlechte Gewissen und das Gefühl, anders zu sein als die meisten Menschen, beherrschten seine Kindheit, die alles andere als unbeschwert verlief, bis hin zu dem Tag, als er das Dorf auf Geheiß Daedor Tathes verlassen musste. Er sprach über die folgenschweren Fehler, die er in seinem noch jungen Leben begangen hatte, wenn er die Magie einsetzte, und dem schlimmsten Vergehen von allen: der Tötung Nunoc Baryths. „Ich hasse mich dafür!“, sagte er. „und ich hasse die Magie, das, was sie aus mir macht, wenn ich wütend bin.“ Sankima verstand nicht, und er erklärte es ihr: „In normaler Gemütsverfassung bin ich bloß ein schlechter Magier. Ich wäre nicht einmal in der Lage, etwas hochzuheben, das ich mit meiner Körperkraft nicht mehr tragen kann. Ich kann meine ganze Macht nur in größter Gefahr oder im Zustand hell lodernder Wut einsetzen. Letzteres macht mir große Angst. Nach einer solchen magischen Kraftleistung, die durch starke Emotionen ermöglicht wird, fühle ich mich tagelang krank. Ich habe das Gefühl, meine Seele hätte eine unheilbare Narbe davongetragen. Mein Lehrer Harold, der Hausmagier von Gadennyn, hat versucht, diese Sperre zu beseitigen, aber er ist gescheitert.“ „Wolltest du denn, dass er Erfolg hat?“ Trygar brauchte nicht lange zu überlegen. „Nein.“ „Du hast Recht. Diese Ausbrüche von magischer Energie, die du entfesselst, wenn deine Gefühle aus dem Gleichgewicht geraten sind, können nicht nur andere Menschen vernichten, sondern auch dich selbst. Jedes 179 Mal, wenn so etwas passiert, stirbt ein Stück von dir. Aber das liegt nicht an der Magie, sondern an der Mauer, die du gegen sie errichtet hast.“ „Ich habe eine Mauer errichtet?“ „Zweifellos. Diese Sperre existiert, weil du keine Magie ausüben willst. Doch manchmal kannst du nicht verhindern, dass sie aus dir herausbricht. Wenn du die Mauer nicht einreißt, wirst du daran zugrunde gehen. Deine Macht ist ein göttliches Geschenk, und dieses darfst du weder verleugnen noch in Zorn und Angst entweihen oder missbrauchen. Du musst den Umgang damit erst noch erlernen. Nur wenn du die Magie als Gabe Wathans betrachtest und sie ohne Wut, Hass und Furcht anwendest, wirst du Schaden an deiner Seele vermeiden.“ „Aber wie soll das möglich sein?“ „Noch bist du dir selbst ein Rätsel, ein Fremder. Noch hast du kein Vertrauen zu dir, Trygar. Du musst in dich kehren, dein inneres Selbst finden.“ „Das hat schon einmal Duna zu mir gesagt. Sprichst du von Meditation?“ „Ja. Sie ist der Weg, zu dir selbst zu finden, dich anzunehmen. Das ist der erste Schritt. Doch dann musst du dein Ich loslassen. Nur so kann die reine, göttliche Macht in dich einströmen, ohne dir zu schaden.“ „Ist das schwer?“ „Nichts ist schwerer, als dieses Stadium zu erreichen. Aber ich werde dir helfen, es zu schaffen.“ „Können wir gleich damit anfangen?“ Sankima lächelte. „Lerne gleich eines: Ungeduld wird dich auf deinem Weg nicht voranbringen, sondern zurückwerfen. Wir werden einen Schritt nach dem anderen machen. Du sprachst vorhin von einer Frau namens Duna. Das ist doch die junge Feuermagierin, der Nunoc mit dir zusammen die Verantwortung für die Mission gegen Semanius übertragen hat. Du sagtest, sie meditiere?“ „Ja, sie hat versucht, es mir beizubringen, aber ich bin wohl nicht begabt genug dafür.“ „Dann wäre es keine schlechte Idee, wenn du sie morgen mitbringst. Sie kann dir bis zu einem gewissen Stadium weiterhelfen. Solange ihr euer Lager am Fluss aufgeschlagen habt und auf den Rest eurer Armee wartet, können wir gemeinsam üben. Wenn ihr eines Tages aufbrechen müsst, kann Duna die Anleitung fortsetzen. Doch es wird der Punkt kommen, an dem du den Weg allein weitergehen musst. Aber bis dahin ist es noch ein langes Stück, das du zunächst mit mir, dann mit ihr zurücklegen kannst. Nun komm, lass uns zurückreiten. Es wird bald dunkel.“ 180 Dämonenwesen Der Bär hatte Hunger. Er war abgemagert, weil er viele Tage rastlos nach Norden gelaufen war, erfüllt von dumpfer Ahnung auf eine Beute, die ihn in Gestalt kleiner, schwarzer Zweibeiner erwartete. Der Geruch des einen, den er an den weichen Lappen gewittert hatte, welche die seltsamen Wesen in Ermanglung eines Fells über ihre Körper hängten, würde ihn zu ihm und den anderen des Rudels führen. Noch hatte er die Witterung nicht aufgenommen. Zu weit entfernt waren seine Opfer, aber seine Nase war jetzt viel feiner als früher. Sie gab ihm ein vages Bild seiner Umgebung. Über Meilen nahm er die Gerüche von anderen Wesen wahr. Er wusste, dass ein Hirschrudel in der Nähe war, er roch die Warzenschweine, die sich im brackigen Wasser eines Sumpfes wälzten. Und schon vor Tagen, kurz nach Überquerung der Berge, hatte er gerochen, dass er sich einer Ansiedlung von Zweibeinern – Menschen – näherte, aber der Geruch des einen, den er jagte, war nicht darunter. Er hatte jetzt schlimmen Hunger. Das Gefühl war so stark, dass es ihn von seiner Bestimmung, das schwarze Rudel zu jagen, immer mehr ablenkte. Er musste fressen. Die vage Erinnerung an sein früheres Leben sagte ihm, dass er sich einst in der Hauptsache von Wurzeln, Beeren und jungen Trieben ernährt hatte, auch Pilze hatte er gerne gefressen, und ab und zu stand Fleisch auf seinem Speiseplan, wenn ein Tier so unvorsichtig war, in seine Nähe zu kommen. Aber dann fingen ihn die Zweibeiner, die Menschen, die er immer gemieden hatte, in einer Grube und sperrten ihn in ein enges Loch, dessen eine Wand aus harten Stäben bestand, die er nicht durchbeißen konnte. Draußen sah er andere Käfige, in denen unbekannte große Tiere – Jäger, vor denen sich selbst er in Acht nehmen musste – unruhig auf und abgingen. Sie wurden, ebenso wie er, ständig von diesen widerlichen Menschen angestarrt, die keckernd vor ihm standen, und an die er nicht herankam. Immer wieder warf er sich gegen die Stäbe und brüllte seine Wut hinaus, und die Zweibeiner fuhren erschrocken zurück. Man gab ihm nur noch Fleisch zu fressen, und bald gewöhnte er sich daran, bis die Erinnerung an den Geschmack von Beeren und Pilzen verschwand. 181 Eines Tages holten sie ihn ab. Ein ganzes Rudel von Zweibeinern hob seine stinkende und besudelte Höhle mit der Stangenwand davor auf ein seltsames Ding, an dem Pferde festgebunden waren. Die Pferde liefen davon, und das Ding folgte ihnen holpernd, gelenkt von einem Menschen, der vorne saß, mit einer dünnen Schlange auf sie einschlug, dass es knallte, und an Leinen zerrte, die an ihre Köpfe gebunden waren. Der Bär bewegte sich auf diesem fahrenden Ding mit, wurde hin- und hergeworfen in seiner Höhle und brüllte vor Angst und Wut. Später erinnerte er sich an eine dunkle, steinerne Grotte, in die man ihn gebracht hatte, und einen Zweibeiner, der ihm allein gegenübertrat. Er stürzte sich sofort auf ihn, um ihn zu zerfleischen, aber eine Welle von Schmerz warf ihn zurück, und winselnd wälzte er sich am Boden. Er lernte Angst, Schrecken und Schmerz in unbeschreiblichem Ausmaß kennen. Er lernte, dass der Mensch, der ihm das antat, sein Herr war, und dass er tun musste, was dieser von ihm verlangte, um noch schlimmere Qualen abzuwenden. Sein Körper veränderte sich, er wurde viel größer und stärker, seine Zähne und Krallen wuchsen und wurden zu furchtbaren Waffen, seine Sehkraft, sein Gehör und sein Geruchssinn verbesserten sich. Aber er litt unerträgliche Schmerzen dabei. Als die Verwandlung endlich vollendet war, zeigte sein Herr ihm, was er tun musste: Vor seinem inneren Auge sah der Bär Menschen in schwarzen Kutten, weit im Norden, wo der Schnee fiel. Sein Herr ließ ihn an Kleidern riechen, die einer von ihnen getragen hatte, und er würde diese Witterung nie vergessen. Der Befehl des Herrn brannte sich unauslöschlich in seinen Geist: Töte! Und so war er losgerannt, immer nach Norden, Tag und Nacht, bis ein Gebirge ihm den Weg verstellte. Doch er fand einen Weg hinüber. Und jetzt war er auf der anderen Seite, als der Hunger ihn daran erinnerte, dass er bald fressen musste, wollte er den Befehl seines Herrn ausführen. Es war Nacht, als er die Ansiedlung der Menschen erreichte. Sie wohnten in hölzernen, oben spitz zulaufenden, grasbedeckten Höhlen, aus denen Rauch quoll. Am Rand des Dorfes stand etwas abseits ein einsames Haus, und davor hatten die Bewohner in einem Pferch aus niedrigen Holzstangen einen Stier eingesperrt. Es war ein großes, schweres Tier mit spitzen Hörnern. Der Bär näherte sich gegen den Wind. Als er am Gatter angekommen war, bemerkte ihn der Stier endlich und hob unruhig den Kopf. Warum zerschmetterte der Bulle nicht einfach die Stangen, die nicht stärker als dünne Äste waren? Warum sprang er nicht einfach über das Hindernis hinweg, das ihm kaum bis zur Brust reichte, und floh? Der Bär richtet sich auf die Hinterbeine auf und zertrümmerte den Zaun mit einem einzigen Schlag seiner Pranke, dann ließ er sich wieder auf alle Viere fallen. Der Stier griff sofort an. Im letzten Moment warf sich das Raubtier zur Seite, doch eines der Hörner des Bullen streifte es an der 182 Schulter und riss eine Wunde. Der Bär drehte sich blitzschnell um und war jetzt seitlich neben seinem Opfer. Selbst auf allen Vieren überragte er es. Wieder richtete er sich auf. Der Stier fuhr herum und wollte erneut angreifen, aber die Pranke des Bären traf ihn, brach sein Genick, als ob es das eines zarten Rehkitzes wäre. Er war schon tot, bevor er wie ein gefällter Baum zu Boden stürzte. Die Reißzähne des Bären gruben sich in seine Flanke und zerfetzten sie. Die Gedärme quollen hervor, und gierig begann er zu fressen. Der Bauer, der zusammen mit seiner Familie am Rande des Dörfchens an der nördlichen Flanke des Rabengebirges in Orinokavo wohnte, wurde von seiner Frau wachgerüttelt. Er sah ihre angstgeweiteten Augen. „Da draußen ist etwas Schreckliches!“, flüsterte sie leise. Ihr Mann hörte die Geräusche: ein ekelhaftes Schmatzen und ein Krachen und Knirschen, als ob ein Sturm Äste von den Bäumen brach, aber draußen wehte noch nicht einmal ein lauer Wind. „Geh zu den Kindern“, sagte er zu der Bäuerin, nahm sein großes Holzfällerbeil, öffnete leise die Tür und ging hinaus. Der Mond leuchtete hell und tauchte die skelettartigen Laubbäume, die ihre Blätter in den Herbststürmen fast alle verloren hatten, in ein geisterhaftes Licht. Die unheimlichen Geräusche kamen von der Koppel, in der er seinen Zuchtstier hielt. Was er sah, ließ ihm das Blut in den Adern gefrieren: Ein riesiger Bär kauerte an dem Kadaver des Bullen und riss Fleisch in Fetzen aus ihm heraus. Ein Bär? Das Wesen sah zwar einem Bären ähnlich, konnte aber keiner sein, denn dafür war es viel zu groß. Zwar hatte der Bauer Geschichten gehört von Bären, die aufgerichtet anderthalb mal so groß wie ein Mensch waren und soviel wie vier kräftige Männer wogen, aber gegen dieses Ungetüm wären solche Riesenbären zwergenhaft. Sein Fell schien räudig zu sein, und der Bauer sah die gewaltigen Muskeln darunter spielen. Das Gebiss des Wesens war geradezu alptraumhaft, die Krallen an seinen Pranken schnitten wie Messer durch die dicke Haut des Stieres und schlitzten sie auf. Der Bauer erstarrte zur Salzsäule, als die gelben Augen des Dämonenwesens ihn in den Blick fassten. Doch der Bär – oder was immer das war – ignorierte das kleine Menschlein und fraß gierig weiter. Leise und langsam ging der Bauer rückwärts ins Haus. Dann führte er seine Familie durch eine Hintertür ins Freie, und sie rannten, so schnell sie konnten, zum Dorf. Eine halbe Stunde später waren alle Männer der Ansiedlung versammelt, bewaffnet mit Äxten, Sensen, Mistgabeln und Speeren, die ihre Väter nach dem letzten Krieg mit nach Hause gebracht hatten. Ein Jäger, der Erfahrung mit gefährlichen Raubtieren hatte, riet dazu, Öl, Pech und Fackeln mitzunehmen. 183 Vorsichtig näherte sich der Trupp der Dorfbewohner dem umzäunten Stück Weideland. Eine Mischung aus Neugier und Angst erfüllte die Männer, als sie das schlafende Untier erblickten, das neben dem zerfetzten Kadaver des Stieres lag. Der Bauer hatte nicht übertrieben. Dieses Geschöpf war wahrhaft monströs. Flüsternd sprachen sie sich ab, bevor sie zum Angriff übergingen. Der Bär schreckte aus einem angenehmen Traum auf. Er hatte sich gerade mit einer Bärin gepaart. Jetzt sah er die wimmelnden Zweibeiner, die um ihn herumrannten und mit spitzen Stangen nach ihm stießen, die ihm wehtaten. Wütend erhob er sich. Doch plötzlich flammten die grellen Blumen des Feuers ringsumher auf. Brennende Äste wurden geworfen und trafen ihn. Weiche Beutel zerplatzten auf seinem Fell und verteilten ihre stinkende Flüssigkeit darauf. Als ihn eine weitere Fackel traf, entzündete sich das Lampenöl, und eine beißende Helligkeit hüllte ihn ein und versengte seine Augen und seine Nase. Brüllend griff er an. Der Kampf mit dem Ungeheuer forderte sieben Menschenleben. Fünf Männer wurden schwer verletzt. Aber schließlich töteten sie den Bären. Die Kunde von der fürchterlichen Kreatur, die das Dorf angegriffen hatte, verbreitete sich in Windeseile in den benachbarten Landstrichen, und die Menschen brachten nachts ihre Tiere in die Ställe, verriegelten die Türen und zündeten große Wachfeuer an. Manche fingen an, Palisadenzäune um ihre Dörfer zu errichten. Aber es kam kein zweiter Bär. Siebzig oder achtzig Meilen entfernt im Westen jagte ein Tier nach Norden, ein Wesen, das einst ein Tiger gewesen war, jetzt aber wie die schlimmste Ausgeburt der Unterwelt aussah. Sechzehn Menschen fielen ihm auf seinem Weg zum Opfer. Die, die eine Begegnung mit ihm überlebt hatten, beschrieben die Kreatur als so groß wie ein Pferd, mit geflecktem, gelbschwarzem Fell. Fußlange Eckzähne wuchsen ihr aus dem Oberkiefer, mit denen sie einen menschlichen Körper glatt durchbeißen konnte. Selbst der Kaiser im weit entfernten Lankoma erfuhr davon und sandte seine kaiserlichen Jäger aus. Nur drei von ihnen kehrten lebend zurück. Danach schickte er Soldaten der Heimatwehr, aber sie fanden den Tiger nicht. Seine Spur verlor sich im Norden an der Grenze zu Pheldae. Die Menschen von Orinokavo, durch deren Landstriche er gezogen war, waren unsäglich erleichtert. Im Osten des Landes verbreitete eine Kreatur Angst und Schrecken, die einem riesigen Wolf glich. Zum Glück fielen ihr keine Menschen zum Opfer, sondern nur deren Haus- und Weidetiere. Als die Menschen den Wolf mit zwanzig Jagdhunden verfolgten und nach drei Tagen schließlich stell- 184 ten, tötete er die ganze Meute, bevor er endlich starb, mit mehr als fünfzig Pfeilen in seinem kalbgroßen Körper. Völlig unbemerkt durchquerte ein weiteres von Gadennyn missgestaltetes Dämonenwesen Orinokavo, ein Tier, das einstmals eine Hyäne gewesen war. Die Menschen in den Ländern des Alten Königreichs dichten Hyänen an, feige Aasfresser zu sein, weil sie wenig über diese Tiere wissen. Die Südländer hätten ihnen erzählen können, dass Hyänen furchtbare Raubtiere sind, die selbst von Löwen gemieden werden. Ihr Gebiss ist so scharf und kräftig, dass sie den Oberschenkel eines starken Mannes durchbeißen können. Diese Hyäne, die durch die nördliche Einöde von Orinokavo wanderte und menschliche Ansiedlungen mied, hätte mit einem Löwen dasselbe machen können, was dieser einem kleinen Kätzchen antun kann. Sie war weder so groß wie der Bär, so stark wie der Tiger noch so schnell wie der Wolf, aber sie war schlau. Und ihre Schläue sagte ihr, dass zahlreiche Menschen selbst einem wilden, starken Wesen wie ihr gefährlich werden könnten, und dass es deshalb klüger sei, die Zweibeiner gar nicht wissen zu lassen, dass sie ihr Land durchquerte. Sie hinterließ keine Spur des Schreckens, sondern ernährte sich von Aas, indem sie den kreisenden Vögeln folgte, die ihr zeigten, wo gerade ein verendendes Tier seine letzten Atemzüge tat. Ein einziger Mensch bekam sie zu Gesicht, aber er konnte niemandem mehr von der Begegnung erzählen. Er war abseits des Weges beim Ritt durch einen Wald vom Pferd gestürzt. Sein Reittier war davongelaufen, und jetzt lag er mit gebrochenem Bein in der Wildnis, wo ihn die Hyäne fand. Als der Mann das alptraumhafte Wesen erblickte, begann er zu schreien, und die Schreie, die von seiner Lunge wie von einem Blasebalg durch seine Kehle gepresst wurden, klangen wie die schrillen, dissonanten Töne einer überblasenen Metallflöte. Sie verstummten erst, als ihm die Hyäne den Kopf abbiss. Trygar saß mit verschränkten Beinen und geschlossenen Augen auf dem dicken Teppich, der ihn vor der Kälte des Steinfußbodens schützte, und summte leise einen dunklen Ton, der tief aus seinem Bauch herauskam. Der Meditationsraum im Kloster war kahl und schmucklos. Duna und Sankima befanden sich mit ihm im selben Raum, aber er hatte ihre Anwesenheit vergessen. Er konzentrierte sich auf das Bild vor seinem inneren Auge. Die Äbtissin hatte ihm geraten, sich einen Gegenstand zu wählen, wenn ihn das Kreisen seiner Gedanken von der Meditation ablenkte. Die ohne Pause in seinem ruhelosen Geist auftauchenden Bilder umbrausten ihn, und es war ihm unmöglich, an nichts zu denken. Deshalb hatte er den Baum ausgewählt, den er sich nun vorstellte. Es war ein großer Baum mit weit ausladender Krone, der in einer sonst leeren Ebene stand, die sich von Horizont 185 zu Horizont erstreckte. Sein Blätterdach hob sich in saftigem Grün vor dem tiefblauen Himmel ab. Seine Rinde war hell, fast weiß, und glatt. Der Blick wanderte am Stamm empor, folgte einem Pfad, der sich an jeder Verzweigung der Äste für eine neue Richtung entschied. Er sah, dass der Baum voller Leben war. Vögel bewohnten die oberen Regionen der Krone – weiße Reiher und bunte Kraniche, farbenprächtige Paradiesvögel und schwirrende Kolibris, die die Kelche der Blüten der auf dem Baum wachsenden Orchideen und Misteln leer saugten. Kleine, langschwänzige und schnatternde Affen rannten über die Äste, schwangen sich wie fliegend über die Abgründe dazwischen und spielten miteinander. Insekten krabbelten über die Borke und wurden von den Äffchen wie reife Früchte gepflückt und verspeist. Trygars Geist folgte dem unsichtbaren Pfad einen dicken Ast entlang. Der Weg endete an einer hölzernen Plattform, auf der eine Baumhütte stand. Die Hütte war klein, hatte nur ein Fenster und eine Tür. Dann war er in ihrem Innern, das aus einem einzigen, spärlich eingerichteten Raum bestand. Es gab ein Bett, einen Stuhl und einen Tisch darin. Auf dem Tisch lag ein in Leder gebundenes Buch. Ein Balken Sonnenlicht fiel durch eine Lücke im Blätterdach durch das Fenster und genau auf das Buch. Neugierig trat Trygar näher. In dicken, kunstvoll geprägten Lettern stand auf dem Deckel: Buch des Lebens. Er schlug die erste Seite auf und sah das Bild eines großen Baumes in einer leeren Landschaft. Seine Krone war voller Leben. Er blätterte weiter. Die nächsten Seiten zeigte eine Baumhütte, dann den Raum darin, in dem ein Tisch stand, auf dem ein Buch lag. Das Buch war aufgeschlagen und die erste Seite zeigte einen großen Baum in einer leeren Landschaft… Immer wieder drehten sich seine Gedanken in diesem ewigen Kreis. Von Durchlauf zu Durchlauf verschwand ein kleines Detail. Zuerst die Vögel, danach die Affen. Die Blätter verschmolzen miteinander zu einer grünen Fläche ohne Konturen und Struktur. Es war still. Alles verblasste. Das Außen, die Welt, verschwamm. Schließlich war da nur noch der Raum in der Hütte, und am Schluss blieb nur noch das Buch des Lebens übrig. Dann waren seine Gedanken leer…Wie lange blieb er in der Leere? Er wusste es nicht. Es konnten Augenblicke oder Stunden gewesen sein. Er beschloss zurückzukehren. Er schlug die Augen auf. Duna war fort. Sankima betrachtete ihn neugierig. Es war Trygars siebenter Versuch am siebenten Tag im Kloster gewesen. So tief war er noch nie in die Leere vorgedrungen. Das Bild des Baumes hatte er zum ersten Mal gewählt. Er sagte es ihr. „Du hast heute einen großen Fortschritt gemacht, Trygar. Der Baum symbolisiert dich selbst, so, wie du dich sehen musst. Er ist voller Leben, stark, gesund und fest mit der Erde verbunden. Aus ihr bezieht er seine 186 Lebenskraft und Energie. Die Hütte ist deine Seele, ein Ort, an den du dich zurückziehen kannst und wohin dir niemand folgen kann, wenn du es nicht willst. Der Baum könnte nicht leben, wenn der Lebenssaft aus dem Boden nicht in ihn strömte, wenn er sich dagegen sträubte, seine Wurzeln selbst herausrisse. Das ist das, was du unbewusst versuchst: deine Wurzeln zu verleugnen und dich selbst vom Strom der Magie abzuschneiden. Doch du kannst es sowenig wie der Baum. Wenn Hass und Angst dich schwach machen, bricht die Barriere, und die Energie strömt mit solcher Gewalt in dich, dass sie dir schadet. Bleibe bei dem Bild des Baumes. Es wird dir den richtigen Weg weisen.“ Duna wartete im Stall auf ihn. Sie hatte bereits die Pferde gesattelt. „Wir müssen zurück zum Lager, Trygar. Legis war hier als du noch meditiertest und brachte Neuigkeiten. Lorth und Baldures sind mit dem neuen Heer eingetroffen. Stell dir vor: mehr als zweitausend Mann! Und die Shegra geht heute zu Ende. Bald werden wir weiter ziehen.“ Sie verabschiedeten sich von Sankima wie von einer guten Freundin, die sie schon lange kannten. Die Äbtissin umarmte beide und wünschte ihnen Erfolg und Glück für ihre schwere Aufgabe. „Ich bin in Gedanken immer bei euch“, sagte sie. Von dem Hügel, über den sie ihr Weg führte, sahen sie hinab ins Heerlager auf ein emsiges Treiben. Der Wagentreck hatte sich zu einer riesigen Kolonne vergrößert. Man konnte glauben, eine ganze Stadt ziehe um. Tausende von Menschen liefen geschäftig umher, luden die Wagen ab und errichteten Hunderte neuer Zelte, sodass sich ein Meer davon am Fluss entlang Richtung Osten erstreckte. Irgendwo gingen die grauen und braunen Soldatenzelte in die bunten Zelte der Nomaden über. Sie ritten hinab zum Flussufer und zwischen den Neuankömmlingen hindurch. Junge und alte Gesichter waren darunter. Die meisten waren Männer, aber es gab auch einige Frauen. Viele von ihnen waren mager und ausgezehrt. Es waren die Armen, die für den Preis von Essen und warmer Kleidung in einen Krieg zogen, der ihnen wahrscheinlich gleichgültig war. Sie trugen einfache, mit dünnen Kupferplatten bestückte Lederrüstungen, Arm- und Beinschienen und Helmkappen aus Leder, die mit zwei gekreuzten und gebogenen, an einen Stirnreif genieteten Eisenbändern verstärkt waren, kaum Schutz genug, um auch nur den Hieb eines leichten Kurzschwerts abzuhalten. Die neuen Rekruten starrten die beiden ganz in Schwarz gekleideten Reiter neugierig an. Am Zelt des Schwarzen Ordens angekommen, begrüßten sie Lorth und Baldures, die beiden Abgesandten, die so gute Arbeit in Helmseth geleistet hatten und jetzt wieder zu ihnen gestoßen waren. 187 Am Abend schickte Khanam Soth einen Boten mit einer Einladung an die Leute des Schwarzen Ordens. Die Shegra war vorüber, und er wollte ihnen den von der Versammlung der Stämme gefassten Beschluss mitteilen. Methor, Seyn, Legis, Lorth, Baldures, Duna und Trygar, sowie der Ordensbruder und ehemalige Yauqui-Nomade Tegres folgten der Einladung. Sie betraten das riesige Zelt in der Mitte des Nomadenlagers. Der Khanam, seine Frau Welga, sowie zehn weitere Pferdeleute erwarteten sie. Fünf davon kannte Trygar bereits. Es waren die Stammesältesten der Yauqui. Von den restlichen fünf Personen waren drei in derselben Tracht gekleidet, die beiden übrigen schienen aber anderen Stämmen anzugehören. Die Nomaden saßen auf dem fein gewebten und dicken Teppich und erhoben sich, um ihre Gäste höflich zu begrüßen. Diese Ehrerbietung war Trygar neu. Bei ihrem ersten Treffen im Sommergebiet des Stammes, zwei Tagesreisen östlich vom Kloster des Schwarzen Ordens, waren sie zwar nicht unfreundlich aber deutlich reservierter gewesen. Nachdem der Höflichkeit genüge getan worden war, setzten sich alle, und die Bediensteten trugen die Speisen auf. Wieder einmal musste Trygar seine Ungeduld zügeln. Khanam Soth dachte überhaupt nicht daran zu reden, während die Mahlzeit im Gange war. Und da viele Gänge aufgetischt wurden, dauerte es beinahe zwei Stunden, ehe der Herr der Yauqui seine Finger in einer Holzschüssel mit Wasser badete, sich mit den nassen Händen durch den Bart fuhr, wobei die miteinander kämpfenden Schlangen sich kurzzeitig wie buckelnde Katzen sträubten, und endlich das Ergebnis der Shegra verkündete, übersetzt von Ordensbruder Tegres: „Vieles gab es zu entscheiden. Aber ich will nur das berichten, was euch interessieren dürfte: Alle Stämme stimmten der Meinung zu, dass der König aus dem Süden eine Bedrohung für uns sein könnte. Wir geben euch Recht, dass es besser ist, ihm mit Stärke entgegenzutreten, statt abzuwarten, bis sein Heer in unserem Land steht. Allerdings steht ein harter Winter bevor. Wir benötigen jeden Mann, um unser Leben und das unseres Viehs zu schützen. Die meisten Stämme können deshalb keine Kämpfer entbehren. Wir – die Yauqui – werden euch achthundert Mann abtreten, der Stamm der Heret wird dreihundert und die Senai vierhundert Reiter beisteuern. Die Yauqui werden in zwei Gruppen zu je vierhundert aufgeteilt. Die Befehlshaber dieser beiden Reiter-Bataillone sind Belhath und Regnath.“ – er deutete auf zwei jüngere Yauqui-Nomaden, „Die Heret werden von Noci und die Senai von Toquaiquata geführt.“ Die beiden Männer in der fremdartigen Tracht nickten, als ihre Namen genannt wurden. Toquaiquata war der, der sie in Empfang genommen hatte, als sie auf das Lager der Nomaden getroffen waren. Der Heret war hager 188 und hoch gewachsen. Seine Augen waren schwarz wie Kohle und wurden von dichten, ebenso schwarzen Brauen überwölbt. Die Nase im braunen Gesicht erinnerte an den Schnabel eines Raubvogels, so scharf und krumm war sie. Der Mann trug graue, weiche Kleidung, einen Umhang und einen weißen Turban, dessen letzte Bahn so geschwungen war, dass sie den unteren Teil seines Gesichts verhüllte. Der Heret Noci war ein kleiner, gelbhäutiger Mann. Seine mandelförmigen Augen waren braun. Er hatte einen kahl rasierten Schädel und ein dünnes Oberlippenbärtchen. Er mochte vielleicht vierzig Jahre alt sein. Sein Hemd und seine Hose waren aus festem Leinen, die Ärmel und Hosenbeine kreuzförmig dicht mit Lederriemen geschnürt. Über dem Hemd trug er eine dicke Fellweste. Khanam Soth stellte ihnen den letzten Mann vor: „Das ist Toroth vom Stamm der Yauqui. Er spricht eure Sprache und wird der Oberbefehlshaber aller Nomaden sein, die euch begleiten. Die Bataillonsführer unterstehen ihm direkt.“ Toroth war ein wenig missgestaltet. Sein Hals war schief, und er hatte einen schwachen Buckel. Ansonsten war er ein gut aussehender Mann Mitte dreißig mit schwarzen, bis auf die Schultern fallenden, drahtigen Locken, dunklen Augen und einem bartlosen Gesicht. Der Khanam fuhr fort: „Die fünfzehnhundert Reiter unserer Stämme stehen eurem Heer aber nicht sofort zur Verfügung. Wir haben noch eine lange Reise vor uns bis zu den Winterweiden und brauchen jeden Mann als Viehtreiber. Wenn wir sie erreicht haben, könnt ihr die Reiter haben.“ Trygar war enttäuscht. Nur fünfzehnhundert Reiter. Damit war ihr Heer gerade mal fünftausend Mann stark. Gadennyn würde sie auslachen, wenn sie ihm gegenüber traten. Er räusperte sich und fragte: „Wo liegen eure Winterweiden, und wann werdet ihr dort ankommen, Khanam?“ „Folgt dem Strom nach Südosten, bis zu seinem südlichsten Punkt. Dort verlasst den Fluss und zieht weiter nach Südosten. Ihr werdet auf eine Gruppe kleiner, mit einander verbundener Seen stoßen, das Quellgebiet eines anderen Flusses. Folgt diesem Wasserlauf eine Tagesreise nach Süden bis zu einem zweigipfligen Hügel und lagert an diesem Ort. Dort sind die Winterweiden. In etwa einem Monat werden wir bei euch eintreffen.“ „Ein Monat!“ Trygar war entsetzt. Aber Duna warf ihm einen warnenden Blick zu. Methor entfaltete eine Karte und hatte nach kurzem Suchen den Ort gefunden. „Aber das ist ja bereits südlich der Grenze. Soll das heißen, ihr überwintert mit euren Stämmen in Pheldae?“ 189 „Wir kennen keine Grenzen. Der ganze Norden gehört uns. Wer sonst sollte Anspruch darauf erheben?“ Der Khanam hatte Recht. Vulcor und Pheldae hatten etwas gemeinsam: es waren Länder ohne Herrscher, dünn besiedelt und ohne eine Macht, die aufbegehren konnte, wenn die Nomaden die Grenze verletzten. Es gab weder Zäune, Palisaden und Mauern noch Grenzpatrouillen. Ebenso ungestraft, wie die in Pheldae ansässigen Banditen nach Vulcor eindringen konnten, konnte es den Nomaden niemand verwehren, ihre Tiere im Winter nach Pheldae zu treiben. Methor blickte von der Karte auf. „Wir hätten sowieso eine Weile an einem Ort bleiben müssen, denn die meisten der Rekruten sind noch nicht ausgebildet. Wir ziehen also nach Pheldae und schlagen dort unser Lager auf, bis eure Leute kommen. Im Namen Wathans danken wir euch, den Stämmen, die uns im Krieg gegen Semanius unterstützen.“ Baumeister und Bildhauer Spin führte die Gruppe an den Hängen des Vulcatgebirges entlang nach Süden, bis sie auf einen Fluss stießen, der zu reißend war, um ihn zu überqueren. Sie hatten die Wahl, seinem Ufer nach Osten, mitten hinein in das Jagdgebiet der Drachen, oder nach Westen in das schmale Gebirgstal zu folgen. Er ließ seine Gefährten am Ufer rasten und ritt ins Tal. Der Weg war schmal, steil, steinig und beschwerlich, und er wollte schon aufgeben, als er einen Wasserfall erblickte, dessen Kaskaden tosend eine Steilwand hinunter und in ein Becken am Fuß der Wand rauschten. Der brodelnde und Gischt sprühende Wildwasserfluss entsprang diesem Becken. Das Tal war zu Ende, ohne dass er eine Passage über den reißenden Fluss entdeckt hätte. Schließlich fand er sie doch, nachdem er abgestiegen war und sich dem Wasserfall zu Fuß näherte. Hinter den schäumenden Kaskaden, die über einen Felsüberhang fielen, befand sich ein schmaler Durchgang. Sein Pferd sträubte sich zuerst, folgte aber dem energisch am Zügel ziehenden Waldläufer. Beide wurden zwar ziemlich nass, kamen aber ansonsten unbeschadet auf die andere Seite des Flusses. Nachdem er sichergestellt hatte, dass 190 ein Pfad am jenseitigen Ufer wieder aus dem Tal herausführte, kehrte er zurück und holte die anderen. Sie schafften es mit einigen Mühen, die Reittiere hinter dem Vorhang des herabstürzenden Wassers hinüber auf die andere Seite zu bringen. Dann rieben sie die Pferde und sich selbst mit Decken trocken und ritten am südlichen Ufer des Flüsschens wieder aus dem Tal hinaus. „Ich habe so eine Ahnung, dass wir uns langsam dem Revier der Krim nähern“, sagte der Waldläufer einige Tage später zu seinen Gefährten, als sie am Lagerfeuer saßen und in der sternenklaren Nacht fröstelnd ihre Decken um sich geschlungen hatten. „Ich möchte ihnen nicht unbedingt noch einmal begegnen.“ „Eigentlich könnten sie unsere Verbündeten sein. Sie sind intelligent und haben mit Semanius noch eine Rechnung offen“, meinte Cora. „Sie sind nicht böse. Ich habe ja meine Erfahrungen mit ihnen gemacht, als sie mich gefangen hielten. Schade, dass die Krimfrau, die mir damals Gesellschaft leistete, tot ist. Mit ihrer Hilfe hätten wir vielleicht Kontakt zu ihnen aufnehmen können.“ „Zu gefährlich!“, meinte Boc. „Viel zu gefährlich. Sie können weder sprechen, noch verstehen wir ihre Zeichensprache. Die meisten von ihnen mögen uns Menschen nicht. Vergiss nicht, dass sie Zaphir getötet haben.“ „Und auch wir haben einige von ihnen in die Unterwelt geschickt. Ich bin sicher, dass sie uns das nicht vergessen haben“, ergänzte Spin. „Nein, wir müssen eine Begegnung mit ihnen unbedingt vermeiden. Ich denke, dass wir jetzt einigermaßen gefahrlos über die Ebene nach Osten reiten können. Die Pflanzen fressenden Riesenechsen scheinen sich vorwiegend in der baumreichen Auenlandschaft am großen Strom aufzuhalten. Und wo sie sind, da sind auch die Fleisch fressenden Drachen. Die Ebene dort unten ist ziemlich trocken, nur etwas für Rinder, Antilopen und andere Herdentiere. Vielleicht sind sie eine Beute für die Rudeldrachen, ich hoffe aber nicht. Jedenfalls werden wir morgen nach Osten und danach im Bogen nach Süden reiten, bis wir auf die Große Kluft stoßen. Ihr entlang folgen wir bis zu den Fällen, wo der Strom sich in die Tiefebene ergießt. Dort versuchen wir, zum Hochplateau hinaufzuklettern. Die Pferde müssen wir allerdings zurücklassen.“ Winger saß im Gemeinschaftsraum des Klosters auf einer Bank, schnitzte wieder einmal an einer Statue, der das in seinem Gedächtnis verankerte Bild seiner toten Frau Neta Modell stand. Er hatte ihren Tod, an dem er eine große Mitschuld fühlte, nie überwunden. Es war eine schlafende Neta, auf der Seite liegend, den einen Arm gebeugt und unter den Kopf geschoben, den anderen vor der Brust, das untere 191 Bein ausgestreckt und das obere anmutig angewinkelt. Auch diese Statue zeigte ihre Schönheit und erotische Ausstrahlung, aber diesmal war Neta züchtig in ein langes Nachthemd gekleidet, das sich weich an ihren Körper schmiegte. Winger traute sich nicht, einen Akt zu schnitzen, wie er es schon viele Male vorher getan hatte. Schließlich befand er sich in einem Kloster, und es gab Nonnen, deren Gefühle er nicht verletzen wollte. Missmutig schaute er aus dem Fenster, und was er sah, gefiel ihm überhaupt nicht. Berge von Schnee hatten das Kloster unter sich begraben, und erneut fielen dicke Flocken. Die weiße Decke war mehr als fünf Fuß hoch. Die Mönche und Bediensteten des Ordens hatten die Türen und Fenster der unteren Stockwerke frei geschaufelt, und ein Labyrinth sich kreuzender Schneeschluchten führte durch den Hof, von Gebäude zu Gebäude, zum Tor und zu den Ställen. Es war ein normaler Winter, hatte man ihm erzählt. Der Orden hatte sich mit Vorräten, Heu und Stroh für die Tiere und Brennholz für fünf Monate eingedeckt. Vorher würde keiner das Tal verlassen. Der einzige Weg, der einigermaßen offen gehalten wurde, war die Schlittenspur zum Eingang der Schlucht, wo das kleine Wachhäuschen stand, das selbst im Winter noch mit zwei Mönchen besetzt war. Alle paar Tage fuhr ein mit Pferden gezogener Schlitten zu dem Häuschen und brachte die Wachablösung und Vorräte. Der Schlitten konnte aber nur benutzt werden, wenn der lockere Pulverschnee aus der Spur geräumt war und die Zugtiere einen halbwegs festen Untergrund vorfanden. Deshalb rückte nach jedem längeren Schneefall eine Kolonne dick vermummter und mit Schaufeln bewaffneter Männer aus dem Kloster aus. Einmal war die Verbindung dennoch für fast zwei Wochen unterbrochen, da es so heftig und lange schneite, dass an eine Räumung nicht zu denken war. Winger war frustriert. Er hatte geplant, Trygar und den anderen zu folgen, sobald es ihm besser ging. Und nun war er wieder völlig hergestellt. Seine Wunde war verheilt, und er fühlte sich tatendurstig und kräftig. Aber er war in diesem verdammten Kloster gefangen! Die Mauern seines Gefängnisses waren zwar nur aus weichem Schnee, aber dennoch unüberwindbar. Kein Pferd konnte sich außerhalb des Tals fortbewegen. Das Grasmeer lag unter einer mannshohen Schneedecke, und die frostigen und heftigen Winterwinde türmten den Schnee zu haushohen Dünen auf. Auch ein Schlitten würde ihm nichts nützen, denn jedes Zugtier sänke im losen Pulverschnee ein. Das einzige, was sich im Grasmeer bewegte, war der Wind. Wenn es nur ein richtiges Meer wäre, hätte er auf ihm segeln können. Was dachte er da? Segeln! Dremion betrat den Raum, unbemerkt von seinem Freund Winger. Der setzte plötzlich die Statuette mit einem Knall auf den Tisch. Der Soldat beobachtete die Veränderungen, die in schneller Folge auf Wingers Gesicht 192 vorgingen, mit Staunen. War es eben noch missmutig, danach überrascht, dann konzentriert und nachdenklich gewesen, so spiegelte es jetzt eine plötzliche Erkenntnis wieder. Die gerunzelte Stirn glättete sich, und ein schwaches, aber dennoch freudiges Lächeln stahl sich auf das durch die Narbe verwüstete, einäugige Antlitz. „Mir scheint, dir ist gerade ein inspirierender Gedanke gekommen“, sagte der Soldat. Winger blickte auf. Erst jetzt merkte er, dass sein Freund vor ihm stand. Er nickte heftig. „Ein geradezu großartiger Gedanke, der eines genialen Baumeisters würdig ist“, antwortete er. „Ich weiß jetzt, wie wir von hier wegkommen.“ „Und wie?“ „Wir bauen einen Windschlitten!“ „Einen – was?“ „WINDSCHLITTEN. Einen großen, lenkbaren Schlitten mit breiten Kufen und einem Mast darauf. Damit segeln wir gen Süden!“ „Segeln? Bis du verrückt?“ Winger schnaubte geringschätzig. „Pah! Geniale Geister werden immer von denen, die ihre großartigen Gedanken nicht verstehen, als verrückt gebranntmarkt. Ich brauche Zeichenkohle und Papier, und zwar schnell.“ Eine Weile danach hatte er eine Skizze von dem Gefährt entworfen. Es war eine Plattform, die auf zwei breiten, vorne nach oben geschwungenen Kufen ruhte. Zwei kleinere, schmale Kufen, die tief in den Schnee schneiden sollten, waren an einer Art Ruderpinne beweglich am Heck befestigt. Ein hoher Mast ragte aus dem vorderen Teil der Plattform. An ihm hing ein Querbaum. Zwischen Mast und Baum spannte sich ein dreieckiges, geblähtes Segel. Dremion war skeptisch. „Das soll funktionieren?“ Winger sah ihn entnervt an. „Natürlich funktioniert es! Ich habe schon ein Boot gebaut und bin damit in der Bucht von Shoal gesegelt. Ich kenne mich damit aus.“ „Na klar. Ich bin auch mal auf einen Maulwurfshügel getreten. Deshalb bin ich noch lange kein hervorragender Bergsteiger.“ „Unke nicht. Ich meine es erst. Wir können es schaffen, diesem langweiligen Kloster zu entfliehen. Ich will dabei sein, wenn es Gadennyn an den Kragen geht, Dremion. Ich will nicht hier sitzen und vielleicht erst in einem Jahr erfahren, ob es schlecht oder gut ausgegangen ist.“ Dremion nickte. „Glaubst du, ich nicht? Ich möchte Gother ins Auge schauen, wenn er wegen Verrats, Mordes und Mordversuchs hingerichtet wird. Natürlich will ich hier weg und Trygar nach. Lass es uns versuchen. Wenn es schief geht, haben wir wenigstens keine Langweile. Außerdem soll der Tod durch Erfrieren ein schöner, friedlicher sein.“ 193 Sie gingen mit der Skizze zu Teuben, dem Abt. Er hörte sich ihre Pläne an und sagte: „Das kann ich nicht zulassen. Es wäre euer Tod.“ Wingers Stimme verriet seinen Zorn und seine Verzweiflung. „Ich habe getrunken und gehurt, bin am Tod meiner Frau schuldig, wurde zum Tode verurteilt und von Trygar gerettet. Er hat mich aus einem tiefen Sumpf gezogen, und plötzlich hatte mein Leben wieder einen Sinn. Ich schwor dabei zu helfen, Semanius unschädlich zu machen. Doch alles, was ich anfasste, misslang. Und nun hat sich der Kreis wieder geschlossen. Ich bin am selben Punkt angelangt wie vor meiner Rettung. Meine Lebensaufgabe, das Ziel, das ich mir gesteckt habe, ist in weite Ferne gerückt. Die anderen sind ohne mich losgezogen. Das halte ich nicht aus. Wenn ich hier bleiben muss, sterbe ich ohnehin. Ich saufe mich zu Tode. Es wird euch nicht gelingen, jede Flasche Wein oder Schnaps vor mir zu verstecken. Dazu müsstet ihr mich einsperren!“ Teuben war entsetzt. „Du solltest mit Wathan Zwiesprache halten, Winger, und Trost im Gebet finden. Es gibt andere Aufgaben, die genauso wichtig sind wie…“ „NEIN!“ Der Abt gab nach. „Na schön. Du sollst alles bekommen, was du brauchst, um deinen Windschlitten zu bauen. Der Zimmermann und sein Lehrling werden dir helfen.“ Winger war unsäglich erleichtert. „Danke, Teuben. Du ahnst nicht, was es mir bedeutet.“ Die scheinbar bis in den Himmel reichende Felswand der Großen Kluft erhob sich im Süden und warf einen meilenlangen Schatten, in dem die Reiter trotz der Mittagszeit fröstelten. Das Klima in den Ostlanden ist erheblich milder als das im rauen Westen jenseits des Wolfszahngebirges, dennoch spürten sie, dass der Winter auch hier angekommen war. Boc zog den dicken Fellmantel enger um sich. Aus den Nüstern seines Pferdes quoll weißer Atemdampf. Seine Gedanken waren weit weg, in seiner Heimat und im kleinen Dörfchen Brenton, in dem seine Schmiede stand. Wie es wohl seinen Söhnen ging, denen er Esse und Amboss überlassen hatte? Er hoffte, dass sie weiterhin ein normales und zufriedenes Leben führten und gesund und glücklich waren. Wenn Gadennyn aber zum Krieg rüstete, könnten Mic und Gerrick jetzt genauso gut Soldaten in seinen Diensten sein. Sie hätten vermutlich keine Wahl gehabt. Womöglich stünden sie eines Tages Trygars Heer gegenüber – unwissentlich auf der falschen Seite – und müssten ihr Leben geben für einen König, der in Wahrheit ein Verräter an sei- 194 nem Volk war! Boc hoffte, dass sie sich dem Kriegsdienst irgendwie entziehen könnten. Wenigstens war Cora bei ihm. Aber viel lieber hätte er mit ihr in seinem Haus in Brenton in der gemütlichen Stube gesessen, nach dem Tagwerk, müde vom Schwingen des Hammers und Halten der eisernen Zange. Er stellte sich vor, wie sie ihm am steinernen Kamin eine Geschichte erzählte, wie ihr Gesicht im flackernden Schein der Flammen leuchtete, wie sie zusammen Wein tranken, lachten und schmusten, zum Schluss unter das dicke Federbett krochen und sich liebten. Seine nicht vom Tempel gesegnete Beziehung zu Cora stieß zwar in Brenton nur auf wenig Verständnis, und die tadelnden Blicke des Sudenus während der Andacht gingen ihm oft auf die Nerven, aber Cora hatte sich bisher geweigert, ihn zu heiraten, aus Angst, sie könnte etwas Wichtiges im Leben verpassen. Nun hatten sie beide – der langweilige Boc und die abenteuerlustige Cora – mehr erlebt, als selbst die junge Frau sich in ihren kühnsten Träumen vorgestellt hatte, und es war noch lange nicht vorbei. Und danach? Falls es zu einem guten Ende käme? Falls sie jemals wieder nach Brenton zurückkehrten? Würden sie endlich eine Familie gründen? Würde Cora einwilligen, ein Kind von ihm zu bekommen? Söhne hatte er schon genug. Er wünschte sich so sehr eine Tochter. Wäre es nicht schön, das Mädchen aufwachsen zu sehen? Sie ritten schweigsam nebeneinander, der Schmied und die Heilerin, beide den Blick über die Köpfe ihrer Reittiere nach vorn gerichtet. Warum reden wir nicht mehr mit einander, dachte er. Warum konnte er solche Gedanken, wie sie ihm jetzt durch den Kopf gingen, nicht aussprechen? Hatte er Angst vor ihrer Reaktion? Verdammt, schimpfte er sich. Du gehst mit einer Axt auf einen Königsdrachen los, reist Tausende von Meilen durch die Wildnis, trotzt Gefahren, vor denen die meisten davongelaufen wären, aber du fürchtest dich vor der Frau, die du liebst! Er holte tief Luft, nahm seinen ganzen Mut zusammen, sah sie an und sagte: „Cora, willst du meine Frau werden?“ Sie schreckte aus ihren Tagträumen auf, und ihre Augen wurden rund. „Wann?“ „Jetzt gleich!“ Sie musterte ihn, suchte nach einem Anzeichen dafür, dass er einen Scherz gemacht hatte, aber sein Gesichtsausdruck war ernsthaft. Statt ihm zu antworten, gab sie ihrem Pferd die Hacken, schloss zu Gormen auf, der weiter vorne neben Spin ritt, und sprach die beiden Männer an: „Wir halten hier!“ Es klang wie ein Befehl: Der Waldläufer schauerte sie entgeistert an. „Es ist ja kaum Mittag, Cora. Warum willst du jetzt schon rasten? Geht es dir nicht gut?“ 195 „Besser könnte es mir gar nicht gehen, Spin. Trotzdem machen wir jetzt Halt. Gormen muss etwas Wichtiges für mich und Boc erledigen.“ „Was denn?“, fragte der Schwarze Mönch neugierig. „Uns trauen.“ Die Zeremonie war einfach und schlicht. Spin hatte die Pack- und Reitpferde aneinander gebunden und hielt die Zügel. Er blickte zu Boc und Cora hinüber, die sich an den Händen hielten. Vor dem Brautpaar stand Gormen und sprach die rituellen Worte: „Eure Seelen und Herzen werden nun aneinander geschmiedet durch den heiligen Bund, den ihr eingeht. Ein Bund der euch Pflichten auferlegt: die Pflicht, füreinander zu sorgen und euch gegenseitig beizustehen in guten und schlechten Zeiten, das Versprechen niemals dem anderen Gewalt anzutun, ihn niemals zu verstoßen. Wathan gebe euch die Stärke, euch immer zu lieben und einander treu zu bleiben. Er gebe euch die Kraft, Kinder zu zeugen und zu gebären und sie mit Liebe und Sorgfalt großzuziehen, damit sie wertvolle und gute Menschen werden und euch eines Tages die Zuneigung zurückgeben können, indem sie für euch sorgen, wenn ihr krank oder gebrechlich seid. Wathan-Bejhi ist das Leben und das Licht. Er wacht fortan über euch, spendet euch Trost und Zuspruch, schenkt euch Liebe und Tage des Glücks. Wathan-Kha ist die Dunkelheit und der Tod. Er wird euch harte Prüfungen auferlegen und die Festigkeit eures Lebensbundes immer wieder in Frage stellen. Ihr müsst ihm widerstehen, so gut ihr könnt. Doch eines Tages wird er euch auseinander reißen, indem er einen von euch zu sich nimmt, denn dieser Bund ist nicht von Ewigkeit. Er ist auf Erden geschmiedet und wird wie alles Irdische zerfallen. Nur der Bund mit Wathan selbst ist von Dauer. Dennoch ist eure Verbindung heilig, denn sie ist euch von ihm für eine gewisse Zeit geliehen. Nehmt sie daher dankbar an. Ich segne euch und erkläre euch zu Frau und Mann.“ Boc nahm Cora in die Arme und küsste sie. Dann stiegen die vier wieder auf ihre Pferde und folgten dem zerklüfteten Schattenstreifen, der schnurgerade nach Osten wies. Die vier dickfelligen Ponys zogen das seltsame Gefährt durch die Vförmige Kerbe am Eingang des Tals hinaus in die Ebene, bis der Schnee so hoch wurde, dass die Zugtiere stecken blieben. Winger fluchte, als er sah, dass auch die schmalen Kufen des Windschlittens darin versanken. Die Plattform, die noch keinen Mast trug, war beladen mit Kufen verschiedener Form, Breite und Länge. Die vier Mönche, die ihn und Dremion begleiteten, halfen ihm beim Abladen. 196 „Das habe ich mir schon gedacht: Die schmalen Kufen bieten einen guten Halt in festgetretenem oder harschem Schnee, hier im Tiefschnee sind sie aber unbrauchbar. Lasst uns gleich die breitesten Kufen montieren.“ Sie spannten die Zugtiere ab und drehten mit gemeinsamen Kräften die zehn Fuß breite und beinahe doppelt so lange Plattform um. Mit Hämmern schlugen sie die Holzpflöcke heraus, mit denen die Kufen daran befestigt waren, und montierten neue. Die Arbeit fiel ihnen schwer, da die Männer bis zur Hüfte im Schnee standen. Überdies pfiff ein kalter Wind, der ihnen aufgewirbelte Flocken in die Augen blies und ihre Gesichter rötete. Endlich hatten sie es geschafft. Die beiden neuen Vorderkufen machten fast Zweidrittel der Länge des ganzen Gefährts aus. Die hinteren Kufen waren schmaler, kürzer und beweglich aufgehängt. Mit einer Art Ruderpinne sollte man den Windschlitten mit ihnen steuern können, so hatte es der Baumeister jedenfalls geplant. Nachdem sie die neuen Kufen montiert hatten, kletterten sie alle versuchsweise auf die wieder umgedrehte Plattform. Diesmal sank der Schlitten nicht ein. Doch in Fahrt konnte Winger ihn nicht erproben, denn die Ponys waren wegen des tiefen Schnees nicht in der Lage, ihn weiter hinaus zu ziehen. „Nun gut. Die Kufen scheinen breit genug zu sein. Wir kehren zurück. Ich brauche einen Mast und ein Segel.“ Am nächsten Tag waren sie wieder an derselben Stelle. Der inzwischen errichtete Mast war mit straffen Tauen an drei Punkten befestigt: am Bugspriet, einem sechs Fuß langen Rundholz, das die Spitze des Schlittens bildete, und an zwei Metallösen links und rechts am Heck des Schlittens. Der Segelbaum drehte sich knirschend, als der Wind ihn erfasste. Noch war das Segel nicht gehisst. Winger und Dremion kletterten auf das seltsame Gefährt. Der Baumeister fasste die Ruderpinne und gab dem Soldaten, der am Bug vor dem Mast stand, das Kommando, das dreieckige Tuch hochzuziehen. Zur Erprobung des Windschlittens hatten sie kein sehr großes Segel mitgenommen. Winger wollte nicht riskieren, gleich zu kentern. Das Segel flatterte knatternd im Wind. Vorsichtig holte er die Schotleine ein und zog den Segelbaum heran, sodass sich das Tuch blähte, dann schlang er das Ende des Schots um eine Klampe. Der Schlitten ruckte, die Taue knarrten. Doch weiter geschah nichts. Er verkürzte die Leine noch ein Stück. Plötzlich hob die linke, windseitige Kufe ab und der Schlitten drohte zu kippen. „Nach Backbord, Dremion!“, schrie er. Der Soldat, der keine Ahnung hatte, was Backbord bedeutete, warf sich dennoch geistesgegenwärtig nach links auf das Deck. Der Schlitten fiel zurück auf die Kufen und setzte sich endlich in Bewegung. Langsam pflügte er durch den Schnee und hinterließ zwei wie mit der Schnur gezogene Spuren. Winger holte den Großbaum noch etwas mehr ein, sodass der Winddruck höher wurde. Der Schlitten 197 nahm immer mehr Fahrt auf. Sein Steuermann jauchzte, während Dremion sich am Deck festkrallte. Seine Gesichtsfarbe war so weiß wie der Schnee ringsumher. Bald erreichten sie die Geschwindigkeit eines galoppierenden Pferdes. Winger segelte schräg vor dem Wind. Wenn er sich nicht zu weit vom Taleingang entfernen wollte, musste er jetzt eine Halse durchführen. Übermütig riss er an der Pinne. Der Großbaum schwang herum, und er konnte gerade noch den Kopf einziehen. Der Soldat, der flach auf dem Bauch lag, schrie auf, als der Baum über ihn hinwegstrich. Als sich die Schot wieder spannte, blähte der Wind das Segel mit einem Knall auf. Der plötzliche Ruck riss den Schlitten hoch, Dremion flog in hohem Bogen durch die Luft und landete in einer Schneeverwehung. Eine Wolke feinen Pulverschnees staubte auf. Winger hielt sich mit aller Kraft an der Ruderpinne fest. Der Mast schwankte wie ein Baum im Sturm, dann kippte das Gefährt um und beendete seine Jungfernfahrt auf unrühmliche Weise. Der Baumeister rappelte sich lachend auf und half dem perplexen Soldaten aus der weißen Düne heraus. „Du hattest Glück. Weicher konntest du kaum fallen. Aber beim nächsten Mal musst du ein bisschen besser aufpassen. Wenn du dich seemännisch verhalten hättest, wären wir nicht gekentert.“ „Ich soll schuld sein?“, fragte der verdatterte Dremion. „Wer sonst. Du hättest vor der Halse auf die Steuerbordseite wechseln müssen, damit der Winddruck durch dein Gegengewicht ausgeglichen wird.“ „Halse? Steuerbord? Wovon redest du überhaupt?“ Winger verdrehte in gespielter Verzweiflung die Augen. „Eine Halse ist ein Wendemanöver. Dabei schwingt das Segel herum, und der Wind erfasst es von der anderen Richtung. Deshalb wechselt der Vorschotmann die Seite. Wenn ich nach steuerbord, also nach rechts wende, musst du vorher dorthin. „Vorschotmann? Was ist das denn schon wieder? Vielleicht erklärst du mir das alles das nächste Mal vorher!“ Winger prustete vor Lachen. „Ich mache doch nur Spaß, mein Freund. Die alleinige Schuld an dem missglückten Manöver trage ich. Aber ich habe einiges dabei gelernt. Der Wind ist viel stärker als ich dachte und die Segelfläche mehr als ausreichend. Wir sollten den Windschlitten noch etwas breiter bauen, damit er nicht so leicht kippt. Außerdem werden wir den Großbaum ein wenig höher anbringen, damit er uns beim Halsen nicht die Köpfe einschlägt. Alles in allem bin ich aber zufrieden. Das nächste Mal werden wir mit Ballast an Bord üben. Komm. Richten wir den Schlitten auf und segeln zurück. Keine Angst. Diesmal bin ich vorsichtiger.“ 198 Als sich die vier Reiter und ihre Packtiere an einem sonnigen Morgen dem Eingang der Schlucht näherten, die der Strom in die Große Kluft geschnitten hatte, zügelte Spin plötzlich sein Pferd, richtete sich in den Steigbügel auf, schirmte die Augen gegen die noch tief stehende Sonne ab und sagte: „Wartet. Da hat sich etwas bewegt.“ Er holte das ausziehbare Fernrohr aus seiner Lederschatulle und setzte es ans Auge. Einen Augenblick lang starrte er konzentriert hindurch und regelte die Schärfe, bevor er berichtete: „Ein kleines Zeltlager. Vermutlich Ostländer von dem Volk, über das der Despot Amaran herrschte. Sie haben uns schon entdeckt. Wir sind auf der weiten, sonnigen Tiefebene etwa so unauffällig wie ein brauner Hase im Schnee. Ein Trupp von zehn Reitern kommt auf uns zu. Ich denke, wir sollten hier warten. Wir steigen ab, legen die Waffen auf den Boden und setzen uns hin. Wenn sie kommen, stehen wir unbewaffnet auf, heben die Hand zum Gruß, zeigen ein freundliches Lächeln und warten ab, was geschieht.“ „Du scheinst nicht sonderlich erbaut zu sein über das Zusammentreffen“, sagte Gormen. „Ich dachte, ihr hättet die Ostländer in Frieden und Freundschaft verlassen? Ich denke nicht, dass sie uns feindlich gesinnt sind.“ „Du hättest Recht, wenn es die wären, zu denen Beronen, der Senator gehört. Was aber, wenn sie Anhänger des von Trygar getöteten Tyrannen sind? Das Problem ist, dass keiner von uns ihre Sprache beherrscht. Nur Gother und Trygar konnten sich mit ihnen verständigen.“ „Also sprechen sie die alte Sprache?“ „Jedenfalls einen Dialekt, der der Sprache des früheren Reichs sehr ähnelt.“ „Nun, dann kann ich für uns dolmetschen.“ Sie saßen im Schneidersitz auf der Erde, als die Reiter eintrafen. Gormen erhob sich. Die Ostländer waren keine Soldaten, aber leicht bewaffnet mit Kurzschwertern und Dolchen. Sie trugen einfache Reiterkleidung. Ihr Anführer war ein Mann mit grauen Locken. Diese und die Furchen in seinem braunen Gesicht verrieten, dass er die Fünfzig schon überschritten hatte. Auf seiner Stirn hatte sich eine senkrechte Falte gebildet, ein Zeichen des Misstrauens und der Vorsicht gegenüber den Fremden. Argwöhnisch blickte er auf sie herab, und Gormen konnte förmlich seine Gedanken sehen. Die Augen des Mannes suchten nach versteckten Waffen, aber alles was er sah, waren die demonstrativ auf dem Boden abgelegten Waffen, die allerdings Furcht einflössend waren: Ein langes und ein kurzes Schwert, eine Streitaxt und ein Langbogen, sowie drei Dolche. Die Menschen vor ihm schienen damit umgehen zu können. Gormen bemerkte, dass der Mann und seine jüngeren Begleiter verunsichert waren. Sie schienen nicht recht zu wissen, wie sie den Fremden begegnen sollten. 199 „Wer seid ihr und was wollt ihr hier?“, fragte der Anführer. Sein Ton war nicht unfreundlich aber angespannt. Die Aussprache des Mannes war ungewohnt, denn für ihn war die alte Sprache eine lebendige Sprache, die sich über die Jahrhunderte weiter entwickelt hatte, während das Krandoranische für Gormen nur ein Zeichen seiner Bildung war. Niemand in den Ländern des Alten Königreichs verständigte sich mehr mit ihrer Hilfe, und so wusste auch keiner, wie sie ausgesprochen wurde. Aber immerhin verstand er den Mann. Er bemühte sich, langsam und deutlich zu sprechen. „Wir kommen aus den Ländern westlich der Berge. Wir sind nur auf der Durchreise. Verzeiht, wenn ich eure Sprache nicht sehr gut spreche.“ „Eure Pferde, wo habt ihr sie her?“ Diesmal klang sein Ton scharf. Er hatte offenbar erkannt, dass die Reittiere typische Steppenpferde waren und zu einer Rasse gehörten, die die Ostländer selbst züchteten. Dachte er vielleicht, sie seien gestohlen? Rasch übersetzte Gormen für seine Freunde, dann antwortete er: „Ein Landsmann von euch hat sie meinen Begleitern geschenkt. Vielleicht kennt ihr ihn. Er heißt Berenon.“ „Ein geläufiger Name in unserem Land. Woher sollen wir ihn kennen?“ „Nun, meine Freunde, die ihm begegnet sind, sagen, er sei eine hochgestellte Persönlichkeit, ein Senator, glaube ich.“ „Du sprichst von Berenon Haimuk Toughada?“ Gormen schwieg. Eine Weile musterte der Mann die immer noch am Boden sitzenden beiden Männer und die Frau. Seine Augen wurden auf einmal groß und rund. „Dann seid ihr…ihr seid … IHR seid diejenigen, die Amaran getötet haben!“ Gormen verfluchte sich im Stillen, weil er den Namen Berenon genannt hatte. Der Ostländer schien über alle Maßen erregt. Waren er und seine Männer Anhänger Amarans gewesen, Verbannte auf der Flucht vor der Rache der Gegner des Tyrannen? Er sah aus dem Augenwinkel, dass sich Spin verstohlen bereit machte, aufzuspringen und zu seinem Schwert zu greifen. Auch Boc und Cora wirkten angespannt und kampfbereit. Sollte er abstreiten, dass die anderen etwas mit Amarans Tod zu tun hatten? Doch was immer Gormen jetzt sagte, würde die Situation kaum entschärfen. Deshalb schwieg er. Aber die Reaktion des Anführers der Ostländer überraschte ihn über alle Maßen: „Welche Freude!“, rief er und strahlte über das ganze Gesicht. „Welch unerwartetes Geschenk, die Befreier unseres Volkes zu treffen! Du muss Spin sein“, wandte er sich an den Waldläufer. „Und du Cora, und du Boc“, fuhr er fort. „Warum habe ich euch nicht erkannt, ich Dummkopf? Ich war zwar bei der Befreiung nicht dabei, aber noch nie sind mir Menschen so 200 genau beschrieben worden, wie ihr. Man hat Zeichnungen für mich angefertigt. Nun sehe ich, dass sie euch zwar ähneln, aber wie viel besser ist es, euch mit eigenen Augen zu sehen. Welch ein Tag! Gott hat mich erwählt, und ich danke ihm von ganzem Herzen.“ Gormen übersetzte die Freudesbekundungen und Lobpreisungen seinen überraschten Freunden. Jetzt war es an den Westländern, große Augen zu machen. Sie staunten nicht schlecht, als das Misstrauen der Reiter in Begeisterung umschlug. Einer der jüngeren Männer riss den Arm hoch und stieß einen trillernden, durchdringenden Schrei aus. Die anderen fielen sofort ein. Sie rissen ihre Pferde am Zügel, so dass sie hochstiegen, galoppierten im Kreis um die vier und jubelten und jauchzten wie Kinder, bis ihr lachender Anführer ihnen endlich Einhalt gebot. „Verzeiht mein Misstrauen. Nun wollen wir euch in aller Ehrerbietung unsere Gastfreundschaft anbieten. Wollt ihr uns zu unserem Lager folgen? Dort wartet eine Überraschung auf euch!“ Auf dem Weg zum Zeltlager lenkte der ältere Mann sein Pferd zwischen die der vier Gefährten, sodass Cora und Boc links und Spin und Gormen rechts neben ihm ritten. „Ich habe mich noch gar nicht vorgestellt. Mein Name ist Teragon Hamabar Joghea. Nennt mich einfach Tera, wie alle meine Freunde. Verzeih meine Neugier“ wandte er sich an Gormen, „aber wer bist du? Du kannst keiner der Befreier sein, es sei denn, man hat mir einen von ihnen ganz falsch beschrieben.“ „Nein, du hast Recht, Tera. Ich bin zum ersten Mal in eurem Land. Ich habe die drei anderen erst Monate, nachdem sie euch getroffen und Amaran getötet haben, kennen gelernt. Aber wir sind inzwischen gute Freunde geworden. Ich heiße Gormen und bin ein Mönch, ein Diener Wathans, das ist unser Name für den einzigen, wahren Gott. Ich begleite Cora, Boc und Spin auf einer wichtigen Mission.“ „Und wo sind die anderen Befreier, die drei Soldaten, der baumlange Winger und vor allem Trygar der Große?“ Gormen übersetze rasch, und Cora musste kichern, als sie den Ehrennamen hörte, die die Ostländer dem jungen Magier verliehen hatten. „Trygar hat eine andere Aufgabe zu erfüllen. Ebenso Winger und Dremion. Zaphir ist leider ums Leben gekommen, nachdem euch die Befreier verlassen haben.“ Tera machte ein betrübtes Gesicht. “Oh, das sind schlechte Nachrichten. Vielleicht erzählst du uns später, was geschehen ist. Aber einen hast du noch nicht erwähnt. Den Soldaten, der so gut mit dem Schwert umgehen kann, Hauptmann Gother. Was ist aus ihm geworden?“ „Gother hat sich leider als Verräter und Spion erwiesen und ist zum Mörder geworden. Er ist entkommen.“ 201 Tera war schockiert. Aber als er nach den genauen Umständen fragte, vertröstete ihn Gormen auf später. Er unterhielt sich kurz mit seinen Freunden, und sie kamen überein, dem Ostländer wenigstens einen Teil der Geschichte zu erzählen, wenn sie im Lager angekommen waren. Als sie nicht mehr weit davon entfernt waren, machte Spin die anderen darauf aufmerksam, dass Cora, Boc und er den Ort gut kannten. Er würde wohl bei ihnen für alle Zeiten ins Gedächtnis eingebrannt bleiben. Es war das natürliche, von terrassenartigen Stufen umgebene Stadion, in dem sie um ihr Leben gekämpft hatten und Trygar den Tyrannen getötet hatte. Dort, wo sie die Duelle mit ihren scheinbar übermächtigen Gegnern ausgetragen hatten, stand jetzt ein Rund aus Zelten, und in ihrer Mitte waren Blöcke aus Marmor aufgestellt worden, bis auf einen noch unbearbeitet, umgeben von Holzgerüsten. Der eine Block zeigte bereits die sehr groben Umrisse eines Menschen mit nach oben gestreckten Armen. Der Kopf, noch ohne Antlitz, war in den Nacken gebeugt. Die dargestellte Person, ob Mann oder Frau war noch nicht zu erkennen, schien hoch in die Luft zu sehen. „Was ist das?“, fragte Gormen neugierig. „Habt noch einen Augenblick Geduld. Wir sind gleich da. Doch wir wollen euch zuerst Speise und Trank anbieten, wie es die Gastfreundschaft gebietet. Danach können wir uns unterhalten.“ Sechzehn Menschen wohnten im Zeltlager: die zehn Reiter, die ihnen entgegengekommen waren und sechs Frauen. Jetzt saßen sie zusammen mit ihren Gästen auf einem großen Teppich auf dem Vorplatz des größten Zeltes. Cora freute sich im Stillen, dass die Frauen gleichberechtigt behandelt wurden und am gemeinsamen Mahl teilnahmen. Zuvor hatten die Ostländerinnen ein einfaches Gericht aus Reis, Gemüse und gerösteten Fleischspießen zubereitet, nachdem die Männer Feuer gemacht, den Teppich ausgerollt und Sitzkissen darauf verteilt hatten. Das Essen schmeckte Cora gut. Weniger schmackhaft fand sie allerdings das Getränk: mit Honig gesüßtes Wasser, eine Spezialität, die sie nur mit Überwindung hinunterschlucken konnte. Nach der Mahlzeit begann Tera endlich zu erzählen: „Ahnt ihr nicht, wer das ist?“, fragte er und deutete auf die grob behauene Statue, die, nicht weit entfernt, auf ihrem marmornen Sockel stand. „Wenn sie einmal fertig gestellt ist, werdet ihr Trygar den Großen erkennen. Seine Augen werden zum Himmel erhoben sein, zu dem Tyrannen, den er im Klammergriff seiner mächtigen Magie festhält, bevor er ihn zerschmettert. Und dort, liebe Freunde – verzeiht meine Respektlosigkeit, wenn ich euch so nenne, aber ich kenne euch vermutlich besser als die meisten anderen meines Volkes – dort also“ – er zeigte nacheinander auf die anderen, noch unbehauenen Blöcke – „wird Cora stehen, eine Schleu- 202 der in der Hand schwingend, da drüben wird man Spin mit einem gespannten Bogen sehen. Deine Statue, Boc, wird dich zeigen wie du deinen Gegner in den Staub wirfst, und dort…“ er zögerte. „Nein, diesen Block werde ich wieder entfernen lassen. Hier sollte einmal die Statue von Hauptmann Gother entstehen, aber nun muss ich erfahren, dass er euer Feind geworden ist. Er verdient nicht, durch meine Kunst gewürdigt zu werden.“ Er erklärte ihnen, dass er, Teragon Hamabar Joghea, der große Bildhauer, vom neuen, durch den Senat ernannten König, einem guten, gottgefälligen Herrscher, beauftragt worden sei, an diesem Ort Skulpturen und Monumente zu schaffen, in denen die Taten der „Befreier“ durch in Stein gehauene Bilder dargestellt werden sollten. Dieses Stadion sollte ein Pilgerzentrum werden, ein Ort der Geschichte, wo man noch in vielen Jahrzehnten und Jahrhunderten der Befreiung von der Knechtschaft durch den Tyrannen Amaran gedenken würde. Er zeigte ihnen die Skizzen, die er angefertigt hatte, und die die Kampfszenen heroisch überhöht darstellten. Cora war gezeichnet als spärlich bekleidete Matrone mit übergroßem, schwellendem Busen, der kaum von dem Fellfetzen gebändigt wurde, den sie als Oberteil trug. Ihre Hüften waren ausladend, die nackten Oberschenkel kräftig und die Schultern breit wie die eines Athleten. In der Zeichnung stand sie breitbeinig da, hielt in der Rechten anmutig eine Schleuder, in deren Schlinge ein riesiger Stein lag, während die Linke keck auf die Hüfte gestützt war. Bocs kräftiger Körperbau war in dem Entwurf maßlos übertrieben. Er rang einen mit noch mehr Muskeln bepackten Giganten nieder. Beide Kontrahenten waren nackt und hatten ausgeprägte Geschlechtsteile. Bocs Penis war erigiert, während der seines Gegners schlaff herabhing. Welche Symbolik! Auch Spins Abbild war nackt. Er stand da wie ein schlanker Läufer am Start, das linke Bein weit nach vorn gebeugt, das rechte gerade nach hinten gestreckt, wodurch sich die Gesäßmuskeln deutlich wölbten. Der Rücken war gekrümmt, und jeder Muskelstrang zeichnete sich darauf ab. Der Waldläufer spannte einen riesigen Bogen. Auch sein Geschlecht war hart und bildete eine parallele Linie zu dem aufgelegten Pfeil. Die anderen Gefährten waren ebenfalls als übermächtige Helden dargestellt und wiesen wenig Ähnlichkeit mit ihren Vorbildern aus Fleisch und Blut auf. Die Krönung von allem war aber die Skizze der Statue Trygars. Sie zeigte einen in einen wallenden, weißen Umhang gekleideten Riesen, das Haupt von einem Lorbeerkranz gekrönt. Aus den zum Himmel erhobenen muskulösen Armen zuckte eine Art Lichtstrahl. Das alterslose Gesicht war streng und gütig zugleich, die Augen geschlossen, und der Mund lächelte verzückt. Trygar schien in Trance zu sein, während er kurz davor war, seinen unsichtbar über ihm schwebenden Feind zu zerschmettern. 203 „Nun, was sagt ihr?“, fragte Tera. Seine Stimme sollte gelassen klingen, aber Gormen hörte die Anspannung heraus. Würden die Befreier seine Entwürfe gutheißen? Spin grinste anzüglich. Boc machte ein verdattertes Gesicht. Cora wusste nicht, ob sie laut loslachen oder entsetzt sein sollte. Natürlich waren die Entwürfe unmöglich. Sie wollten den Bildhauer aber nicht kränken, und deshalb formulierten sie zusammen eine diplomatische Antwort, die Gormen übersetzte: „Es ist natürlich eine große Ehre für uns, dass euer König eine Gedenkstätte für den Tag der Befreiung errichten lassen will, und eine ebenso große Auszeichnung, dass du, Tera, ein berühmter Künstler, die Ausfertigung übernimmst, aber…“ Tera war rot geworden. Hastig unterbrach er. „Nein, nein! Es ist doch umgekehrt: Es ist die größte Ehre für mich, dass ich euch darstellen darf! Aber ich spüre, dass ihr mit meinen Skizzen nicht zufrieden seid. Sagt mir nur, was ich ändern soll. Ich werde jeden eurer Wünsche erfüllen!“ Gormen hob beschwichtigend die Hand. „Wir wollen deine künstlerische Freiheit nicht beschneiden, aber es gibt einige Aspekte in deinen Zeichnungen, die… äh …für uns etwas befremdlich sind. Cora meint, sie sei etwas, äh… zu fett dargestellt. Außerdem trug sie damals ein Gewand, das erheblich mehr verhüllte. Überhaupt: in unserer Heimat gilt es als unschicklich, außerhalb seiner vier Wände nackt herumzulaufen. Und“, er zögerte, „äh… die erigierte Männlichkeit von Boc und Spin in deinem Entwurf. Wir verstehen den Sinn dieser Darstellung nicht.“ „Ich dachte… ich ließ mir von den Soldaten sagen, dass die Lust, die einen Krieger im Kampf erfüllt, nur mit der Liebeslust zu vergleichen sei, deshalb…“ „Glaub mir, meine Freunde haben während dieser schlimmen Stunden alles andere als Lust empfunden. Sie verspürten nur Todesangst und Zorn über die Ungerechtigkeit, die man ihnen antat. Und Trygar war keinesfalls verzückt, als er Amaran tötete. Im Gegenteil. Diese Tat hat seiner Seele eine tiefe Wunde zugefügt, deren Narbe ihn immer an diesen Tag erinnern wird.“ Tera machte ein Gesicht, als ob er eine Kröte verschluckt hätte. Er nahm die Entwürfe und riss sie in Fetzen. „Bitte verzeiht mir“, bat er zerknirscht. Dann herrschte er einen jungen Mann an: „Bring mir Papier, Kohlestifte und ein Zeichenbrett, schnell!“ Die nächsten Stunden verbrachte der Bildhauer damit, neue Entwürfe für die Gedenkstätte zu skizzieren, wobei ihm die anwesenden ‚Befreier’ Mo- 204 dell standen. Er bemühte sich, ihr Äußeres möglichst unverfälscht einzufangen. Dennoch war das Ergebnis am Ende immer noch mehr als schmeichelhaft, aber weder heroisch übertrieben noch obszön. Trygar wurde als junger Mann dargestellt, der vor dem am Boden liegenden und zerschmetterten Amaran stand, und keinesfalls triumphierend, sondern eher traurig auf den besiegten Tyrannen herabblickte. Cora war nun als schlanke, züchtig gekleidete Frau dargestellt. Spin sah jetzt nicht mehr aus, als wäre sein Körper selbst ein gespannter Bogen, sondern er stand wie ein richtiger Bogenschütze da, und er trug die vertraute Waldläuferkleidung. Auch Boc konnte sich in der Darstellung des Ringkampfes mit dem muskelbepackten Elitekämpfer aus Amarans Leibgarde wieder erkennen. Die vier Westländer beschrieben dem Bildhauer, wie ihre Freunde Trygar, Winger und Dremion wirklich aussahen, und er änderte deren Zeichnungen so oft ab, bis sie zufrieden waren. Nun wollte Tera alles darüber wissen, was Trygar und seine Gefährten erlebt hatten und in welcher Mission sie unterwegs waren. Die Westländer beratschlagten sich und kamen zum Ergebnis, dass man dem Bildhauer, der die ‚Befreier’ so bewunderte, trauen könnte. Gormen gab ihm eine stark vereinfachte Version: „Unsere Welt wird durch einen machtgierigen Mann bedroht, Tera, gefährlicher noch als Amaran. Die westlichen Länder bildeten früher ein großes Königreich, sind aber in Einzelstaaten zerfallen. Und es gibt einen Fürsten namens Gadennyn, der die Länder wieder vereinen will, was an und für sich kein zu tadelndes Streben ist. Aber er ist böse, mächtig und listig. Nach außen zeigt er sich als integrer Mann, dem das Wohl der Menschen am Herzen liegt. Aber im Geheimen spinnt er Intrigen, um seine Gegner zu beseitigen. Er warf einem von ihnen, meinem geistigen Vater und Führer unseres Ordens, Nunoc Baryth, genau das vor, was er selbst heimlich plante, nämlich die Länder des Alten Königreichs unterwerfen und sich selbst zum tyrannischen Herrscher krönen zu wollen. Er stellte Nunoc und unseren Orden als die gefährlichste Bedrohung seit Menschengedenken dar. Der Schwarze Abt, so nannte er ihn, wolle die Menschheit in ein dunkles Zeitalter stürzen, behauptete er. Gadennyn webte sein Lügengespinst so gerissen, dass ihm seine gutgläubigen und treuen Vasallen glaubten und auszogen, Nunoc Baryth zu besiegen. Zur Gemeinschaft, die von dem Lord ausgesandt wurde, gehörten die, die du ihn Stein meißeln willst: Trygar, Spin, Boc, Cora, Winger, Zaphir, Dremion und auch Gother. Aber sie ahnten die Wahrheit nicht und handelten in gutem Glauben. Nur der Hauptmann kannte die Absichten und Pläne seines Herrn Gadennyn, der ihn als Spion mitgesandt hatte. Die Reise führte sie durch euer Land. Sie erlebten viele Abenteuer, nicht immer mit gutem Ausgang. Nachdem sie euer Volk wieder verlassen hat- 205 ten, durchquerten sie das Gebiet der Krim. Ich weiß nicht, ob ihr diese menschenähnlichen Wesen kennt?“ Tera, der mit großen Augen zugehört hatte, nickte heftig: „Oh ja. Der Westen im Schatten der Berge ist Dämonenland. Da gibt es die kleinen, unheimlichen Walddämonen und die Krim, die Bergtrolle. Ich weiß nicht, welche die furchtbareren sind. Jedenfalls wird sich kein vernünftiger Mensch in ihr Gebiet wagen. Verzeiht, ich wollte euch keine Unvernunft vorwerfen, Cora, Spin und Boc. Wahrscheinlich habt ihr gar nichts von ihnen gewusst.“ Spin antwortete an Gormens Stelle, und der Mönch übersetzte: „Oh doch, wir wussten von den Krim, und man hat uns vor ihnen gewarnt. Und der, der uns gewarnt hat, war einer von dem Volk, das du als Walddämonen bezeichnest. Sie nennen sich selbst Xinghi. Ja, die Xinghi sind ein mächtiges Volk, und wir Menschen sollten uns besser nicht mit ihnen anlegen, aber sie sind keine Dämonen. Sie wollen nur in Frieden in ihrem Land leben. Selbst die Krim sind weder dämonisch noch böse. Aber sie haben vor langer Zeit sehr schlechte Erfahrung mit Menschen gemacht und hassen sie seitdem. Wie auch immer: wir mussten durch ihr Gebiet. Sie haben uns bemerkt und Cora verschleppt. Bei ihrer Befreiung ist Zaphir leider umgekommen.“ Teras Adamsapfel hüpfte auf und ab, sein Mund stand offen und seine Unterlippe hing herab, als er von den ‚Dämonen’ hörte. Gormen fuhr mit der Erzählung fort: „Ja, das war eine schlimme Geschichte. Zaphir war nur ein einfacher Soldat, aber ein guter Gefährte meiner Freunde. Sie haben um ihn getrauert, selbst Gother, der Verräter. Nachdem sie ihn begraben hatten, zogen sie weiter nach Norden und um die Berge herum bis zu unserem Kloster. Gadennyns Plan ging leider auf. Trygar weigerte sich zwar zunächst, ihn auszuführen, weil ihn sein Gewissen plagte, aber Gother zwang ihn schließlich dazu, unseren Abt, Nunoc Baryth, zu töten, von dem der junge Mann glaubte, er sei ein mächtiger, böser Magier, der die Welt unterjochen wollte. Als er erfuhr, dass er den Falschen getötet hatte, und sein Herr Gadennyn, der Anstifter zu dem Mord, die wahre Bedrohung war, bereute er seine Tat so aufrichtig, dass wir, die Ordensbrüder und -schwestern, die ihren geliebten Abt verloren hatten, ihm vergaben. Trygar und seine Gefährten schlossen sich dem Orden an, bis auf Gother, dessen Verrat aufgedeckt wurde, der aber fliehen konnte. Gemeinsam beschlossen wir, die Mission doch noch auf die richtige Weise zu vollenden und Gadennyn aufzuhalten. Während Trygar zusammen mit den Kämpfern unseres Ordens jenseits der Berge ein Heer aufstellt, das der Armee Gadennyns entgegentreten soll, verfolgen wir vier einen anderen Plan, denn militärische Macht allein kann gegen ihn nichts ausrichten. Er ist ein viel mächtigerer und gefährlicherer 206 Mann als es der Tyrann Amaran war, dessen Macht sich nur auf Angst stützte. Gadennyn ist außerordentlich klug. Er gewinnt Anhänger durch schmeichelnde Worte, mitreißende Reden und ein nach außen hin ehrenhaftes Auftreten, Anhänger, die ihn nicht aus Furcht, sondern aus Liebe folgen. Aber vor allem ist er ein mächtiger Magier, vielleicht der mächtigste, den es gibt und je gegeben hat. Er könnte jede Armee mit einem Fingerschnippen auslöschen. Trygar ist ein auch Magier, ebenso wie ich und einige andere unseres Ordens die Magie beherrschen. Aber selbst gemeinsam sind wir nicht stark genug, um Gadennyn aufzuhalten. Deshalb brauchen wir Unterstützung, aber keine Waffenhilfe, sondern magische Hilfe. Und daher wollen wir vier die Xinghi, die Waldgeister, wie sie genannt werden, darum bitten.“ Der Bildhauer schien daran zu zweifeln: „Diesen Wesen würde ich nicht über den Weg trauen. Ich kann euch nur raten, sie zu meiden. Wenn ihr Hilfe sucht, dann bei uns. Unser Volk hat euch viel zu verdanken. Der König könnte ein Heer aufstellen, und ihr könntet es nach Westen, in euer Land führen.“ Er überlegte einen Augenblick, bevor er fortfuhr: „Die Gedenkstätte ist zwar wichtig, aber euer Anliegen ist viel wichtiger. Die Statuen müssen warten. Lasst uns morgen gemeinsam zur Hauptstadt aufbrechen. Die Reise dauert nur fünf Tage. Ich werde für euch beim König vorsprechen. Er wird auf mich hören.“ Gormen erzählte seinen Gefährten von dem Angebot des Bildhauers. Es kam unerwartet, aber vielleicht konnte es hilfreich sein. Sie diskutierten eine Weile darüber, kamen aber zu dem Schluss, es abzulehnen. Zu vieles sprach dagegen: es würde Wochen, wenn nicht Monate dauern, eine Armee aufzustellen, denn nach Amarans Tod waren seine Heere bestimmt längst wieder aufgelöst. Nach der neuen Rekrutierung müssten die Truppen erst ihre lange Reise nach Westen antreten, bevor sie in den Kampf gegen Gadennyn eingreifen konnten. Die Pässe wären für sie mit all dem Kriegsgerät, den Wagen und Pferden unüberwindbar. Sie müssten daher die Berge nördlich oder südlich umgehen. Gegen den Norden sprach der lange Winter, gegen den Süden, dass sie auf diesem Weg durch fremde Länder ziehen müssten, deren Bewohner sich bestimmt nicht gefallen lassen würden, dass eine ausländische Armee in ihr Reich eindrang. Auf beiden Routen würde die Reise viel zu lange dauern. Die Entscheidungsschlachten wären längst geschlagen, wenn die Ostländer Koridrea erreichten. Selbst wenn es gelänge, das Heer rechtzeitig nach Koridrea zu führen: sie wollten ja einen Krieg unbedingt vermeiden. Gadennyn musste mit anderen Mitteln, nicht mit Waffen und menschlichem Blut, besiegt werden. Und schließlich: Tera mochte ein integrer und ehrlicher Mann sein, aber war der neue Herrscher der Ostländer ebenso ehrenhaft? Wenn nur ein wenig von den Eroberungs- 207 gelüsten Amarans in ihm steckte, könnte er auf die Idee kommen, dass der Westen nach dem gemeinsamen Sieg über Gadennyn eine leichte Beute für ihn wäre. Den letzten Gedanken behielt er für sich, als Gormen Tera erklärte, warum die Ostländer ihnen nicht würden helfen können. „Es ist unser Land und unser Krieg“, fuhr er fort. „Wir wollen nicht, dass deine Landsleute ihr Leben dafür riskieren müssen. Dennoch danken wir dir für dein Angebot. Bleibe hier, Tera, und vollende dein Werk. Genieße Freiheit und Frieden, die euch geschenkt wurden und die gute Entwicklung in eurem Land. Gadennyn wird euch nicht so bald bedrohen, selbst wenn er den Krieg gewänne. Es würde noch viele Jahre dauern, bis er seine Macht gefestigt hätte. Und selbst dann bezweifle ich, dass er es wagt, die Berge zu überqueren. Die Xinghi würden auf keinen Fall zulassen, dass seine Soldaten ihr Gebiet betreten. Er müsste sein Heer auf dieselbe lange und ungewisse Reise schicken, die eure Armee antreten müsste, wollte sie uns zu Hilfe kommen. Aber seid auf der Hut. Eines Tages wird er kommen, wenn wir ihn nicht aufhalten können.“ „Aber was wollt ihr nun tun?“, fragte der Bildhauer. „Wir lassen unsere Pferde bei euch zurück, nehmen nur das Notwendigste mit, das wir auf dem Rücken tragen können und klettern morgen die Schlucht hinauf bis zur Hochebene. Von dort sind es nur wenige Tagesmärsche bis zum Land der Xinghi.“ „Das müsst ihr gar nicht. Es gibt einen Weg um die Große Kluft herum. Das Hochplateau fällt nach Osten ab. Ein Tagesritt von hier ist der Höhenunterschied nur noch gering, und es geht eine Straße an der Klippe hinauf, die dann weiter zur Hauptstadt führt. Oben auf dem Plateau zweigt ein anderer Weg nach Westen ab. Auf ihm gelangt ihr bis zur Schlucht, die der Fluss in den Fels geschnitten hat.“ „Aber wie kommen wir hinüber?“ „Es gibt eine Brücke. Unsere Städte liegen zwar alle im Osten. Vor langer Zeit erstreckte sich das Reich aber bis an die Grenze des Waldes. Doch es gab auf der Westseite des Flusses nur wenige Dörfer. Sie wurden alle aufgegeben, weil die Menschen Angst vor den Dämonen des Waldes hatten. Die alte Brücke existiert aber immer noch. Der Weg ist ganz leicht zu finden. Wenn ihr wollt, gebe ich euch einen Führer mit.“ „Das wird nicht nötig sein, Tera. Du hast uns sehr geholfen. Es ist ein großes Glück, dass wir euch getroffen haben, denn die Pferde behalten zu können, ist ein großer Vorteil für uns. Wir hätten viel Zeit verloren, wenn wir die Große Kluft hinaufklettern und zu Fuß hätten gehen müssen.“ Sie verabschiedeten sich herzlich von Teragon Hamabar Joghea, dem Bildhauer, und seinen Helfern und brachen auf, als die Sonne sich über die fer- 208 nen Berge senkte. Es würde noch etwa drei Stunden hell bleiben, und diese Zeit wollten sie nutzen und reiten, solange die Pferde den Weg noch erkennen konnten, und dann erst das Nachtlager aufschlagen. Wenn sie bei Morgendämmerung wieder aufbrächen, könnten sie gegen Abend des folgenden Tages die Straße erreichen, die die Klippe hinauf führte. Tera hatte sie zu seinem Leidwesen nicht überreden können, länger seine Gäste zu bleiben. Er stand an der Spitze seiner Landsleute am offenen Ende der hufeisenförmigen Arena und winkte den Reitern aus dem Westen nach. Tränen standen in seinen Augen. Dieser Tag war der größte seines Lebens gewesen. Er hatte die Befreier kennen gelernt, na ja, wenigstens einige von ihnen, und ihre unglaubliche Geschichte gehört. Er freute sich schon darauf, sie seinen Enkeln zu erzählen. Drei Wochen waren vergangen, seit ihrer ersten Fahrt durch das Grasmeer. Winger und Dremion hatten sechs weitere Probefahrten unternommen und den Windschlitten noch einige Male umgebaut und Schritt für Schritt verbessert. Endlich war der Baumeister zufrieden. Die Plattform war jetzt um einiges breiter und tiefer als bei der Jungfernfahrt, der Großbaum war höher am Mast befestigt, wodurch die Großsegelfläche etwas kleiner geworden war. Dafür gab es jetzt ein zusätzliches Focksegel vor dem Mast. Ein niedriger, überdachter Holzverschlag unter dem Großbaum sollte sie vor Wind, Wetter und Kälte schützen. In ihrer Ausrüstung befand sich ein Kohlekessel und ein großer Vorrat an Holzkohle, zwei Spaten, um den Schlitten freigraben zu können, und Dutzende von Decken und Fellen, die sie auf der Plattform verteilten, wo gerade Platz war. Zum Schluss verstauten sie die Lebensmittel. Wasser benötigten sie nicht, denn sie brauchten ja nur den Schnee zu schmelzen. Der Tag der Abreise war gekommen. Alle Brüder und Schwestern hatten den beschwerlichen Fußweg zum Talausgang auf sich genommen, um ihnen eine gute Reise zu wünschen. Winger freute sich darüber, obwohl ihm die meisten Bewohner des Klosters fremd geblieben waren. Die Sprache, die er nicht verstand, und seine Skepsis gegenüber jedweder ritueller Religionsausübung hatten ihn im Kloster zu einem Eigenbrödler werden lassen. Er glaubte zwar an Wathan, aber gegenüber seinen Dienern, waren es Prediger, Tempelpriester oder einfache Mönche und Nonnen, fühlte er ein tiefes Misstrauen. Selbst Teuben, der ganz gut Koridreanisch sprach, und den der Baumeister eigentlich mochte, konnte sein Vertrauen nicht wirklich gewinnen. Es war dem Abt schnell klar geworden, dass sich Winger im Kloster niemals glücklich fühlen würde, und so ließ er ihn leichten Herzens ziehen. Der Soldat Dremion hingegen hatte Anschluss gefunden. Zwar sprach auch er kein Wort der Landessprache Vulcors, aber er war ein geselliger Mensch und verständigte sich mit Händen und Füßen und den paar 209 Brocken Krandoranisch, der Sprache des Alten Königreichs, die er auf ihrer Reise aufgeschnappt hatte. Zu seinen neuen Freunden zählten der Hufschmied des Ordens und ein Pferdeknecht, sowie zwei der Nomaden, die das Kloster in Abwesenheit der Schwarzen Kämpfer beschützten. Alle würde er ein wenig vermissen, am meisten aber Myria, die Heilerin. Sie war eine Nonne, aber Dremion hatte sich unglücklicherweise in sie verliebt, und es schien, als empfinde sie auch Zuneigung für ihn. Es fiel ihm daher schwer, mit Winger zu gehen, aber er hatte es ihm versprochen und stand zu seinem Wort. Winger wusste nichts von der misslichen Lage seines Freundes. Er glaubte, Dremion wolle ebenso sehr von hier fort wie er selbst. Der Soldat, der traurig zu Myria hinüberblickte, tat Teuben Leid. Er hoffte, ihn mit seinen Abschiedsworten ein wenig aufmuntern zu können. „Meine Freunde, die Zeit eures Aufbruchs ist nun gekommen. Ich will euch nicht mit einer langen Rede langweilen. Lasst mich nur ein paar Worte sagen. Auch wenn uns ein trauriges Ereignis, nämlich der Tod Nunoc Baryths, zusammengeführt hat, sind wir doch froh, dass ihr den Weg zu uns gefunden habt. Nur durch diese Begegnung ist uns klar geworden, welche Gefahr uns allen droht und was wir unternehmen müssen, um sie abzuwenden. Diese Erkenntnis hat uns leider schnell wieder getrennt. Duna und Trygar, Methor und die Schwarzen Kämpfer, Gormen, der an meiner statt Abt hätte werden sollen, Cora, Boc und Spin: sie alle haben uns verlassen, und nun geht ihr ebenfalls. Wir sind traurig darüber, aber wir sind auch frohgemut, dass ihr eines Tages zurück kommen werdet. Ihr wisst, ihr seid hier immer willkommen, und gute Freunde warten auf euch.“ Er reichte Winger und Dremion die Hand. Der Baumeister stammelte unbeholfen ein paar Abschiedsworte, und der Soldat winkte zu seinen Freunden hinüber und schickte Myria, die tief errötete, einen Kuss. Dann hissten die beiden Koridreaner die Segel, die sich im Wind bauschten. Knarrend setzte sich der Schlitten in Bewegung, gewann rasch an Fahrt. Die Frauen und Männer aus dem Kloster verfolgten ihn mit ihren Blicken, bis er zu einem Punkt schrumpfte und schließlich verschwand. Nur die beiden von den Kufen gezogenen parallelen Spuren blieben zurück, näherten sich einander in der Ferne, verschmolzen scheinbar zu einer Linie, die erst dünn wie ein Faden, bald fein wie ein Haar wurde, bis kein Auge mehr scharf genug war, ihr zu folgen. 210 Winterweiden Die Schwarze Armee, wie das Heer aus Vulcor genannt wurde, hatte sein Lager am Fuß des zweigipfligen Hügels aufgeschlagen, dem Ort, den ihnen Khanam Soth beschrieben hatte. Die Zeltstadt zog sich am Ostufer des Flusses entlang, der in seinem gewundenen Bett träge nach Süden strömte, um sich, über hundert Meilen entfernt, mit dem großen Strom zu vereinigen, der in den Harkenna-See mündete. Sie hatten die Winterweiden der Pferdeleute in Pheldae erreicht. Hier würden sie bis zum Eintreffen der Nomadenstämme warten. Rings um die Zeltstadt lagen die Exerzierplätze und Übungsarenen. Hunderte von Soldaten und solchen, die es werden wollten, fochten miteinander oder ihren Ausbildern, schossen ihre Pfeile auf Strohpuppen, übten sich im Lanzenreiten oder nahmen Gefechtsstellungen ein. Andere Gruppen marschierten in wohl geordneten Formationen, von Offizieren mit lauter Stimme kommandiert. So ging es bereits seit sechs Tagen, und langsam, so schien es, begann die harte Arbeit Früchte zu tragen. Die Männer und wenigen Frauen in ihren Lederrüstungen glichen nicht länger einem wilden Haufen übereinander stolpernder Trottel, sie verfehlten die Strohpuppen mit ihren Bögen und Lanzen nicht mehr meilenweit, fielen seltener von ihren Pferden, hielten ihre Übungsschwerter nicht länger wie Schmiedehämmer oder Besen und hatten sogar etwas Disziplin gelernt, sodass sich die Ausbilder nicht ständig die Lunge aus dem Hals schreien mussten. Diese – allen voran die Kämpfer des Schwarzen Ordens und die Söldner Osiris Egeths – hatten bisher gute Arbeit geleistet und würden das auch weiterhin tun, bis das Heer der Abenteurer, Bauern, Bettler, Tagelöhner und Mitläufer sich mit Fug und Recht eine kampfbereite Armee nennen konnte. Doch es gab nicht nur Drill und Kampf im Lager. Die Leute des Trosses hatten ebenfalls ihre Aufgaben zu erfüllen. Schmiede beschlugen Pferde, die Hufeisen verloren hatten, schmiedeten Waffen, Wagenachsen und eiserne Radbänder, Zimmerleute reparierten kaputte Deichseln und Radspeichen, Köchinnen und Köche rührten Suppe in riesigen Kesseln, Bäcker buken Brot, Wäscherinnen und Näherinnen waren den ganzen Tag beschäftigt, Hunderte von Kleidungsstücken zu säubern und zu flicken. Die Ärzte und Heilerinnen des Feldlazaretts verbanden Blessuren, die sich die Solda- 211 ten beim Exerzieren und Üben oder bei Raufereien im Wirtszelt geholt hatten, renkten Gelenke wieder ein oder versorgten Kranke, die der feuchtkalten Witterung Tribut gezollt hatten. Kaufleute und Huren boten ihre Waren und Körper feil. Der Podenus, ein gesalbter Priester aus Helmseth, der sich freiwillig gemeldet hatte, hielt unverdrossen Andachten in seinem Tempelzelt, obwohl es weniger gut besucht war als das der Prostituierten. Die Offiziere und Heerführer tagten von Zeit zu Zeit in ihrem Stabszelt und berieten sich, koordinierten die Ausbildung und die Beschaffung von Ausrüstung und Lebensmitteln. Nur Trygar hatte die meiste Zeit nichts zu tun. Genau genommen, nahm er jeden Tag zwei bis drei Stunden an den freiwilligen Hilfsdiensten teil, zu dem sich die Offiziere und Heerführer verpflichtet hatten, um die Moral der Soldaten zu stärken. Immerhin hatte er nicht noch einmal Latrinengräben zuschaufeln müssen. Er fällte Bäume am Uferrand, hackte Brennholz, half beim Bauen von Flößen, beim Herstellen von Fischernetzen und beim Einsammeln der Flusskrebsreusen. Er machte mit drei Schwarzen Kämpfern Erkundungsritte in die Umgebung, wo sie auf einige Dörfer stießen. Sie sprachen mit den verängstigten Menschen und beruhigten sie, erklärten ihnen, weshalb eine Armee durch ihr Land zog, und kauften ihnen für großzügige Preise Getreide, Gemüse und Fleisch ab, soweit die Dorfbewohner es entbehren konnten. Einige von ihnen schlossen sich der Armee der Nordländer an. Trygar erledigte noch viele größere und kleinere Aufgaben, die nur einen Teil seines Tages beanspruchten. In der Regel hatte er die Aufträge bereits am Vormittag ausgeführt. Während die anderen Schwarzen Kämpfer die Nachmittage meist damit verbrachten, Soldaten zum Kampf auszubilden, weigerte sich Trygar, ihnen dabei zu helfen. Er hasste physische Auseinandersetzungen, vor allem aber den Kampf mit tödlichen Waffen. Deshalb verbrachte er seine Nachmittage oft allein, es sei denn, Duna leistete ihm Gesellschaft. Dann machten sie gemeinsam Ausflüge in die nähere Umgebung, zu Fuß oder zu Pferd, erkundeten den Fluss in einem der kleinen Ruderboote, die die Zimmerleute gebaut hatten, damit man leichter ans andere Flussufer übersetzen konnte, oder saßen einfach beisammen und unterhielten sich. Trygar mochte Duna. Bald konnte er sich nur schwer vorstellen, eines Tages wieder ihrer Gesellschaft beraubt zu sein. Wenn er allein war, saß er fast immer auf seinem Lieblingsplatz, einem Felsen, der an einem ruhigen Teil des Flussufers stand, weit ab von der Zeltstadt und den Exerzierplätzen. Dort übte er sich in der Meditation, wie es ihn Sankima, die Geistmagierin, gelehrt hatte. Seine Fortschritte waren jedoch gering. Es gelang ihm zwar stets, sich zu versenken und das Bild des Baumes vor seinem inneren Auge zu sehen. Er fand immer den Weg in die Baumhütte und schlug das Buch auf, in dem der Baum abgebildet war. 212 Doch der Kreislauf setzte sich einfach nur fort. Es geschah nichts Neues. Er bemühte sich um die Vorstellung, dass die Wurzeln des Baumes die Lebenskraft der Magie aufnahmen und in ihn hineinströmen ließen. Danach versuchte er, mit magischer Kraft einen mannsschweren Felsen zu heben, aber es gelang ihm nicht. Sankima hatte ihm gesagt, er sei auf dem richtigen Weg, er müsse nur Geduld haben. Doch wie viel Geduld? Würde er es jemals lernen, mit der Macht der Magie ohne Angst, Hass oder Wut umzugehen? Duna fand ihn im Schneidersitz auf dem Felsen sitzend, die Augen geschlossen. Ohne ihn zu stören, setzte sie sich leise neben ihn, schloss ebenfalls die Lider und begann ihre Meditationsübung. Als Trygar aus der Versenkung erwachte, war ihm, als ob es diesmal ein wenig besser gelaufen wäre. Zum ersten Mal hatte er einen schwachen Energiestrom gespürt, der aus der Erde zu kommen schien und durch seine Füße in seinen Körper strömte. Er schlug die Augen auf und blickte verwundert in die von Duna, die ihm gegenübersaß und ihn mit einem Lächeln anschaute. Von diesem Tag an meditierten sie meist gemeinsam. Die Schwarze Armee lagerte jetzt schon zwei Wochen am Fluss. Noch immer waren die Nomadenstämme nicht eingetroffen. Es war wieder Schnee gefallen, der jedoch das hohe, dicke Gras der Winterweiden kaum bedeckte. Die Anwesenheit der Armee im Norden Pheldaes, die keine Anstalten machte, zu plündern und zu brandschatzen, hatte sich in diesem spärlich besiedelten, ländlichen Bezirk herumgesprochen. Wieder waren einige Dutzend Leute zum Heer gestoßen. Die meisten stammten von aufgeriebenen Splittergruppen der im ganzen Land umherstreifenden Diebesbanden. Die Banditen schworen ihrer Vergangenheit ab und verdingten sich beim Heer aus dem Norden, um endlich nicht mehr hungern und frieren zu müssen. Aber viele sahen die Armee aus Vulcor auch mit Argwohn. Sie betrachteten sie als Konkurrent um die kargen Ressourcen des Landes. Die Gesetzlosen lebten hauptsächlich davon, die Handelskarawanen zu überfallen, die zwischen den Städten und den Silber- und Kupferminen hin- und herzogen. Die Bergwerke selbst und die Handelsmetropolen Brega, Codae, Yaga und Sigiuna waren zu gut befestigt und durch Hunderte von Söldnern geschützt, als dass sie einen Überfall zu fürchten hätten. Aber auch die Karawanen wurden gut verteidigt. Viele der Banden rieben sich in den schweren Kämpfen mit den wehrhaften Begleitschutztruppen auf. Manchmal gab es Dutzende von Toten und Schwerverwundeten, bis eine Seite die Oberhand behielt. Einfacher, wenn auch wesentlich weniger ertragreich, wäre es, die Bauern und Dörfer zu überfallen. Aber die Banditen hatten aus 213 schweren Fehlern der Vergangenheit gelernt: Vor vielen Jahren hatte ein junger, unerfahrener, dafür umso grausamerer Bandenführer die Dörfer leergeraubt, viele Bauern getötet und ihre Felder angezündet. Die meisten der Überlebenden flüchteten von ihren Höfen in die Städte. Im nächsten Jahr säte niemand, die Felder wurden nicht bestellt und die Ernte blieb aus. Die Folge war eine furchtbare Hungersnot unter den Gesetzlosen, die zahlreiche Opfer forderte, vor allem bei ihren Frauen und Kindern. Die hungernden Bandenmitglieder taten sich gegen den dummen Banditenführer zusammen, der von den meisten seiner Gefolgsleute verlassen worden war, nahmen ihn gefangen und verurteilten ihn und seine verbliebenen Anhänger zum Tode. Nach der Hinrichtung sandten die Gesetzlosen Boten in die Städte und handelten mit den geflohenen Bauern ein Abkommen aus. Diese kehrten daraufhin in ihre Dörfer zurück, bestellten wieder ihre Felder und wurden fortan von den Banden in Ruhe gelassen. Doch die Bandenmitglieder konnten nicht vom Rauben allein leben. Die Bauern zahlten ihnen deshalb den bei den Verhandlungen vereinbarten Tribut in Form von Feldfrüchten und genossen dafür einen gewissen Schutz. Sie konnten nun sicher sein, dass kein Bandit, dem sein Leben lieb war, sie je wieder überfallen würde. Obwohl sich viele von ihnen ihr anschlossen, machte die Schwarze Armee nicht nur gute Erfahrungen mit den Gesetzlosen Pheldaes: Eines Nachts schlichen sich mit Lehm beschmierte und Grasbüscheln getarnte Männer an den Wachsoldaten vorbei, stahlen ein Dutzend Pferde, ein paar Säcke Mehl und einige Waffen, aber die Schwarzen Kämpfer verfolgten sie und nahmen ihnen alles wieder ab. Sie sagten ihnen, wenn sie etwas zu essen haben wollten, sollten sie sich dem Heer anschließen. Dann ließen sie sie laufen. Am nächsten morgen kamen die Banditen wieder. Diesmal jedoch, um dem Rat der Kämpfer Folge zu leisten. Einige von ihnen verschwanden in der nächsten Nacht, wieder mit Diebesgut. Methor blieb geduldig. Er sandte seine Leute aus und ließ sie zurückholen. Diesmal verbrachten sie zwei Tage in einem Erdloch, das als Gefängnis diente. Danach ließ er ihnen erneut die Wahl, sich bei der Armee zu verdingen oder zu verschwinden. Die meisten blieben, und keiner von denen versuchte danach noch einmal, Fahnenflucht zu begehen. Diese Vorgänge führten zu einer Grundsatzdiskussion zwischen den Offizieren, die die Disziplin aufrecht zu erhalten hatten, und der Heeresführung durch die Leute des Schwarzen Ordens. Bisher hatte der stetige Zuwachs der Armee durch Freiwillige, die sich ihr anschlossen, den Schwund durch Fahnenflüchtige mehr als ausgeglichen, deshalb war anfangs keiner derer, die bei Nacht und Nebel verschwunden waren, verfolgt worden. Erst, als die Banditen sich mit Diebesgut davongemacht hatten, waren schärfere Maßnahme ergriffen worden. Nun verlangten die Offiziere ein Armeege- 214 setz. Bisher hatte jeder Führer einer Einheit Disziplinarstrafen wegen mangelnder Pflichterfüllung oder leichter Vergehen in eigenem Ermessen verhängt oder gar von einer Bestrafung abgesehen. Die Soldaten murrten, weil einige mit Verweisen davonkamen, manche sich gar aus dem Staub gemacht hatten, ohne dass es geahndet wurde, und andere wegen geringerer Vergehen ausgepeitscht wurden. Die Offiziere brauchten eine Handhabe, um ihre Autorität zu wahren und gleichzeitig Ungerechtigkeiten zu vermeiden. Ihre Argumente leuchteten ein, und so beauftragte Methor den Säbelmeister Osiris Egeth damit, ein Regelwerk für die Bestrafung bei Vergehen und Verbrechen zu entwerfen. Osiris legte dieses wenige Tage später vor. Seine Vorschläge waren hart aber gerecht. Einstimmig beschlossen die Schwarzen Kämpfer die neuen Gesetze und setzten sie in Kraft. Trygar meditierte jeden Tag, meist zusammen mit Duna. Wenn sie gemeinsam übten, machte er größere Fortschritte. Es war, als ob sie ein unsichtbares Band verband, durch das magische Energie kontrolliert in ihn hineinströmte. Sie, Duna, war die Wurzel des Baums, der ihn mit Lebenskraft versorgte. Doch nach und nach verblasste der Baum. Er wurde kleiner und kleiner, und erschien bald als ferner Punkt in einer endlosen grauen Leere, die ihm Angst machte. Er fühlte sich verloren und klammerte sich an das Bild des Baumes, ein Bild seiner selbst, wie ihm klar wurde. Wenn es ganz verschwand, würde sein Ich sich auflösen. Er erzählte es Duna, doch diese sagte: „Du bist auf dem richtigen Weg, Trygar. Nunoc, der mich in der Meditation unterrichtete, sagte ganz zu Beginn seiner Unterweisung zu mir: Die Leere in dir selbst ist das Ziel, das du suchen musst, Duna. Zieh dich dorthin zurück, auch wenn es dir Angst macht. Flüchte vor den täuschenden Eindrücken deiner Sinne, vor dem lauten und aufdringlichen Geschnatter deiner um Nebensächliches kreisenden Gedanken, die dich nur von der Erkenntnis der Wahrheit ablenken. Schotte dich ab von den verwirrenden Gefühlen, die wie Wellen im Sturm in dir branden und schäumen, von dem Verlangen des Körpers und des Geistes, und ziehe dich ganz tief zurück in die Leere, denn dort ist deine Seele, dein Selbst. Aber dieses Selbst ist Teil eines größeren Ganzen. Erst, wenn du das Wort Ich nicht mehr denkst, wenn du nicht mehr unterscheidest zwischen dir und der Welt um dich herum, wenn du dich als Teil von Allem empfindest, erkennst du den dünnen Faden, der dich mit Wathan verbindet, den Teil von ihm, der in dir wohnt. Ich habe diesen Schritt nie getan, Trygar, aber Nunoc Baryth ging über diese Schwelle. Er sagte, der Schmerz, sein Ich nicht mehr finden zu können, sei schlimmer als jede Pein des Körpers oder des bewussten Geistes. Ich erinnere mich an seine Worte: Wenn du in der grauen Leere treibst und nicht einmal mehr fragen kannst: Wer bin ich? Wenn du keine Antwort auf 215 die leichteste Frage geben kannst, fühlst du dich unendlich verloren. Doch in diesem Augenblick verschwindet die Leere und alles um dich herum wird sichtbar, das Wahre, das Große, das Eine. Und du erkennst dich als Teil von ihm.“ Trygar sah sie mit großen Augen an. „Willst du gemeinsam mit mir diesen Weg gehen?“ „Ich kann dich ein Stück begleiten, aber den letzten Schritt musst du alleine tun. Ich selbst schaffe es kaum, die Leere zu erreichen.“ Es war eine sternenklare, kalte Nacht. Fast alle schliefen. Am Rand des Heerlagers brannten ein paar Wachfeuer, und einige Soldaten patrouillierten um es herum, um Diebe abzuschrecken, aber sonst hatten die Menschen in der Zeltstadt nichts zu befürchten, so glaubten sie. Die riesige Katze mit den langen, gebogenen Eckzähnen, die wie gigantische Hauer aus dem Oberkiefer ragten, spürte die Nähe ihrer Opfer. Das Bild der in schwarze Kutten gehüllten Zweibeiner war auch nach Wochen und Monaten noch frisch in ihrem Gedächtnis verankert. Sie fühlte das unbändige Verlangen, diese Wesen zu töten. Sie konnte sie nicht sehen, aber ihre feine Nase hatte eine Witterung aufgenommen. Die Witterung des Einen, an dessen Kleidung sie gerochen hatte. Und wo der eine war, da waren auch die anderen schwarzen Menschen. Trotz ihrer Größe konnte sie sich ebenso leise wie ihre kleinen Artgenossen bewegen. Geduckt schlich sie auf die Zelte zu, den Schein der Feuer meidend. Das erste Zelt war nicht mehr weit, als ihr unglaubliches Gehör das Geräusch sich nähernder und im Schnee knirschender Schritte vernahm. Es waren zwei Menschen. Keine der schwarzen, sondern in Leder und hartes Eisen gehüllte Wesen, jedes bewaffnet mit einem langen, scharfen Zahn. Normalerweise wäre sie ihnen ausgewichen, aber jetzt versperrten sie ihr den Weg zu denen, die sie töten wollte, und deshalb mussten auch sie sterben. Die beiden Wachsoldaten waren erst vor kurzem rekrutiert worden. Sie gehörten zu den Gesetzlosen, die sich freiwillig der Armee angeschlossen hatten. Der Offizier, der die Wachen einteilte, war dagegen gewesen, Räuber, Banditen und Halsabschneider, wie er sie nannte, zum Wachdienst einzuteilen, denn er befürchtete, sie würden mit ihren Kumpanen außerhalb des Heeres gemeinsame Sache machen, sie zum Stehlen ins Lager lassen, um danach mit ihren Komplizen und reicher Beute zu flüchten, aber Methor hatte erwidert: „Sie wissen, was auf Fahnenflucht und Diebstahl steht, und dass wir sie wieder einfangen würden. Wenn wir ihre Unterstützung und Treue wollen, müssen wir ihnen auch Vertrauen schenken. Teile wenigstens diejenigen 216 der Gesetzlosen zum Wachdienst ein, die bisher noch keinen Versuch gemacht haben zu stehlen oder sich abzusetzen.“ Zu diesen gehörten die beiden Männer, die jetzt auf dem Trampelpfad, den die Wachen der vorausgegangenen Runden fest getreten hatten, durch den Schnee stapften. Ihre Bärte und Augenbrauen waren vereist, und sie stießen weiße Dampfwolken aus, als sie sich leise unterhielten. Niemand sollte es hören, denn es war eigentlich verboten, auf der Wachrunde miteinander zu reden. „Es ist verdammt kalt. Was, zur Unterwelt, habe hier ich eigentlich verloren?“, sagte der eine. „Vor wenigen Tagen war ich noch ein freier Bandit, nun bin ich ein Befehlsempfänger.“ „Dafür hast du zu essen und kannst dich nach der Wache unter einem ganzen Berg von Fellen verkriechen“ erwiderte der andere. „Wärest du noch im Höhlenlager eurer Bande in den Hügeln, würdest du dir jetzt ein Fell mit einem anderen teilen müssen und hättest kaum etwas zu beißen. Und frei wärest du auch nicht. Das Wort eines Bandenführers gilt ebenso als Gesetz wie das eines Armeeoffiziers.“ „Ich weiß nicht. Ich bin einfach nicht gerne Soldat. Dieser ganze Drill. Habe ich dir meine blauen Flecken gezeigt? Der komische kleine Mann, Säbelmeister nennt er sich, hat mich mit einem winzigen Stöckchen grün und blau geschlagen, und ich habe ihn nicht ein einziges Mal mit meinem Übungsschwert getroffen.“ „Diesen Osiris mag ich auch nicht. Aber er ist ein hervorragender Kämpfer. Wir können einiges von ihm lernen. Eines Tages, nach dem Krieg, werden wir wieder Banditen sein und die Karawanen überfallen. Und dann werden wir diesen Geleitschutz-Söldnern zeigen, wie man kämpft!“ „Nach dem Krieg? Ich habe nicht vor, bei der Armee zu bleiben, bis die Schlachten beginnen. Ich werde mich vorher absetzen, Bestrafung hin oder her. Sie müssen mich erst einmal kriegen.“ „Aber dann verpasst du ja das Beste! Bedenke doch: Im Krieg darfst du ungestraft rauben, plündern und morden – du bist kein Verbrecher, sondern ein Held.“ „Ich weiß nicht. Ich empfinde kein Genugtun beim Töten. Außerdem könnte ich selbst dabei umkommen.“ „Glaub mir, es lohnt sich. All die Beute: Gold und Silber, aber vor allem die Frauen! Du kannst dir jede Frau holen, die dir gefällt, brauchst sie nicht zu fragen. Sie gehören dir. Ich habe das schon erlebt. Es ist wie ein Rausch. Wir haben ihre Gehöfte überfallen, ihre Häuser angezündet und sie hinaus getrieben. Die Männer, Kinder und Alten haben wir erschlagen und uns die Frauen genommen. Schade, dass es so wenige waren. Das Schlangestehen und dabei zusehen, wenn sich die vor dir vergnügen und deiner hart ist wie 217 ein Eisenpfahl, fällt schon schwer, aber wenn du endlich an der Reihe bist und ihn hineinrammen kannst…“ Der andere Soldat blickte den Mann, der diese Erlebnisse mit genüsslicher Stimme beschrieb, angewidert an. „Du hast Kinder erschlagen und Frauen vergewaltigt? Dann gehörtest du wahrscheinlich zur Bande dieses Narren, der die Bauern vertrieben und damit die Hungersnot ausgelöst hat. Euretwegen sind viele gestorben, nicht nur Bauern, sondern auch unsere Frauen und Kinder. Was bist du für ein Mensch! Ich habe gewiss mehr Männer im Kampf erschlagen, als es meinem Seelenheil förderlich ist, aber an Wehrlosen würde ich mich nie vergreifen! Ich glaube nicht, dass ich deine Gesellschaft noch länger ertragen kann.“ Er wandte sich ab und ging mit raumgreifenden Schritten davon. „He“, rief der andere ihm spöttisch hinterher. „Was bist du nur für ein Schwäch…“ Ein klatschendes Geräusch ertönte. Etwas sauste in hohem Bogen über den vorausgehenden Wachsoldaten hinweg und fiel mit einem dumpfen Plopp vor ihm in den Schnee. Der Mond war inzwischen aufgegangen, und so sah er das höhnisch grinsende Gesicht des anderen, das ihn anblickte. Die Augen waren jedoch starr. Es dauerte einen Wimpernschlag, bis der Soldat begriff, dass es der abgetrennte Kopf seines Begleiters war, der ihn leblos anstarrte, während sich der Schnee um ihn herum rot färbte. Die Haare auf seinen Unterarmen richteten sich auf, und die Haut in seinem Nacken spannte, als er sich umdrehte. Das Letzte, was er wahrnahm, war eine riesige, schattenhafte Silhouette, die sich vor ihm gegen das Mondlicht abzeichnete, ein Paar glitzernde, gelbe Augen und zwei gewaltige Reißzähne. Duna hatte am Abend zuvor viel heißen Tee getrunken, der jetzt trieb. Sie stand auf, hüllte sich in ihre schwarze Robe und verließ das Zelt, um zur Latrine zu eilen. Die Kälte schlug ihr wie eine Wand entgegen. Sollte sie noch einmal zurückgehen, um ihren dicken Fellmantel zu holen? Nein, entschloss sie sich. Es waren ja nur wenige Schritte bis zum Abtritt. Wenn sie den Mantel anzöge, müsste sie sich wieder umständlich aus ihm herausschälen, denn in dem unförmigen Kleidungsstück könnte sie ihre Blase nicht entleeren. Sie zog die schwarze Robe enger um sich und lief los. Die Dämonenkatze folgte ihr. Endlich hatte sie ein Opfer gefunden, dessen Tötung sie befriedigen würde. Die anderen Zweibeiner waren leichte Beute gewesen, die nicht einmal einen Warnlaut hatten ausstoßen können, bevor sie sie enthauptet hatte. Fünf waren es inzwischen, die sie auf ihrem Weg ins Lager geschlagen hatte. Um ihren Hunger zu stillen, hatte sie bei zwei- 218 en die Eingeweide herausgerissen und gefressen. Leber und Lunge fraß sie besonders gerne. Ihr Herr hatte ihr in Traumbildern mitgeteilt, dass die Schwarzen gefährlich sein konnten. Sie sollte sie möglichst überraschen, denn für Zweibeiner kämpften sie erstaunlich gut. Nicht, dass sie sie fürchtete, aber sie war vorsichtig. Sie schlich hinter der schmalen, kleinen Gestalt her, die zwischen den Zelten hindurch eilte, und machte sich bereit zum Sprung. Aber plötzlich kam ihr ein Geruch in die Nase, der sie das Interesse an ihrem Opfer verlieren ließ. Es war die Witterung des Einen, die aus dem Zelt neben ihr drang. Sie blieb stehen, und ihr Fell sträubte sich. Duna, die nichts von allem bemerkte, hatte das Zelt der Schwarzen Kämpfer, an dem sie vorbeigekommen war, bereits ein Stück hinter sich gelassen und betrat das Latrinenzelt. Rasch hob sie ihre Robe, setzte sich auf den Balken und atmete erleichtert auf, als der Druck ihrer Blase nachließ. Kaum war sie fertig, ertönte ein schriller Schrei. Trygar erwachte aus einem furchtbaren Alptraum. Er hatte von dem Dämonenhund geträumt, der in der Felsenhalle auf Lord Gadennyn losgegangen war. Schwer atmend setzte er sich auf. Aber sein Herz wollte sich nicht beruhigen, es hämmerte immer noch wild, und sein Atem ging keuchend. Etwas stimmte nicht. Es war nicht ganz dunkel im Zelt, denn der Mond schimmerte durch den Stoff. Und in seinem silbrig kalten Licht warf etwas einen Schatten auf die Zeltbahn. Etwas Riesiges und Furchteinflößendes. In diesem Augenblick riss der Stoff an der gegenüberliegenden Seite des Zeltes. Eine unbeschreibliche Kreatur fetzte mit ihren Krallen hindurch und zwängte sich hinein. Unmittelbar vor ihr erwachten die Schläfer, doch bevor sie sich erheben konnten, flogen zwei von ihnen nach rechts und links durch das Zelt. Ihre Leiber krachten auf andere, die sich gerade aus ihren Decken wickeln wollten und sich in Panik darin verhedderten. Ein hoher schriller Schrei erscholl. Als er erstarb und Trygar die Luft wegblieb, bemerkte er, dass er selbst ihn ausgestoßen hatte. Sein Schrei lenkte die Aufmerksamkeit der Bestie auf ihn. Er sah die animalische Wut in ihren Augen, als sie sie auf ihn richtete. Er hörte jemand sagen: Wathan steh uns bei. Der Dämonentiger duckte sich zum Sprung. Eine seltsame Ruhe und Gelassenheit überkam Trygar. Er spürte die in ihn einfließende Energie und atmete tief und gleichmäßig. Die Bestie verharrte bewegungslos, festgehalten von einer Macht, die stärker war als sie. Ihre Muskeln zitterten unter der Anstrengung, sich zu befreien. Sie schien vor Wut und Schmerz zu brüllen, aber kein Laut entrang sich ihrem aufgerissenen Rachen. Ihre Augäpfel schrumpelten und warfen Falten. Dampf 219 quoll aus den Augenwinkeln und Ohren. Ihr Blick erstarrte und brach. Sie war tot. Jemand hatte eine Laterne angezündet. Als Duna das Zelt betrat, zeigte sich ihr ein Bild des Chaos’. Die Zeltplane war aufgeschlitzt. Sie schrie auf, als sie die furchtbare Kreatur erblickte, bis sie einen Herzschlag später erkannte, dass die Bestie tot war. Die Männer standen oder saßen herum und schienen wie gelähmt vor Schock. Zwei von ihnen lagen regungslos und blutüberströmt am Boden. Alarmierte Soldaten und Offiziere drängten herein. Methor schien der einzige zu sein, der noch handlungsfähig war. Er schickte die Soldaten wieder hinaus und gab Osiris die Anweisung, das Lager in höchste Alarmbereitschaft zu versetzen. Alle Feuer sollten entzündet und das Zeltlager und seine Umgebung von bewaffneten Trupps abgesucht werden. Dann schickte er nach den Ärzten und Heilern. Trygar kniete neben einem der leblosen Körper und hielt die Hand des Schwarzen Kämpfers. Er blinzelte die Tränen weg. Duna ging zu ihm und legte ihre Hand auf seine Schulter. Knapp eine Stunde später saßen die Führer und Offiziere vor dem halb zerstörten Zelt am Feuer beisammen und berieten die Lage. Osiris berichtete gerade: „Wir haben fünf Tote gefunden, vier gehörten zu den Wachen, der fünfte war ein Kaufmann, der vor seinem Wagen lag. Aber aus den Spuren geht hervor, dass alle von derselben Bestie getötet worden sind. Es gibt keine Anzeichen dafür, dass noch weitere dieser Dämonenkreaturen in der Nähe sind. Dennoch wurden die Wachen verdreifacht und alle Feuer entzündet. Morgen werden wir die Fährte der Bestie verfolgen, um herauszufinden, woher sie gekommen ist. Wie geht es den beiden Schwarzen Kämpfern?“ Seyn antwortete: „Targo und Belden sind tot. Wathan sei ihrer Seele gnädig. Der Verlust von sieben Menschen schmerzt uns sehr. Ohne Zweifel ist Semanius dafür verantwortlich.“ „Dann weiß er, dass wir kommen!“, meinte Duna. Methor schüttelte den Kopf. „Das ist nicht gesagt. Er hat diese Kreatur erschaffen und uns entgegengeschickt. Das steht fest. Aber ich bezweifle, dass er weiß, wo wir sind und wie stark unser Heer ist. Ein Spion hätte in der knappen Zeit Koridrea nicht erreichen können. Es sei denn, er hätte Flügel gehabt.“ Nach der Besprechung kam keiner mehr zum Schlafen. Gerüchte über angebliche Dämonenhorden, die das Lager angriffen, machten bereits die Runde. Die Offiziere traten ihnen entgegen, informierten die erwachten und ängstlichen Bewohner des Zeltlagers unverblümt über die wahren Geschehnisse und verhinderten eine Panik unter den Menschen, indem sie 220 ihnen versicherten, die Gefahr sei gebannt. Soldaten beseitigten das Durcheinander und bauten ein neues Zelt für die Schwarzen Kämpfer auf, andere zogen den riesigen Kadaver mit einem Ochsengespann bis zum Grasland vor der Zeltstadt, schichteten Holz über ihm auf und steckten den Scheiterhaufen in Brand. Duna und Trygar, die dabei geholfen hatten, schauten zu, als das Dämonenwesen verbrannte. „Du hast die Bestie also getötet“, stellte die junge Frau fest. „Aber irgendwie erscheint es mir seltsam. Es war so wenig…“ Trygar blickte sie an. Auf ihrer verwirrten Miene zeigte sich ein flackerndes Muster von rötlichen Licht- und Schattenflecken, hervorgerufen durch die tanzenden Flammen des Scheiterhaufens. „Ich weiß was du meinst. Du hast eine schlimmere Verwüstung erwartet.“ „Ja. Wenn du Angst hast oder wütend bist, ist deine Magie schrecklich, eine Eruption zerstörerischer Kraft.“ „Diesmal war es anders. Natürlich hatte ich Angst. Furchtbare Angst, wie jeder im Zelt. Dennoch war ich ganz ruhig. Ich spürte zum ersten Mal, dass ich die Macht kontrollieren kann. Hätte ich ihr freien Lauf gelassen, wären noch mehr Menschen getötet oder verwundet worden. Ich war in der Lage, die Kraft auf den Tiger zu fokussieren. Ich hielt ihn fest und kochte sein Gehirn, bis er tot war.“ „Dann hast du einen gewaltigen Fortschritt gemacht, Trygar. Du musst die zweite Stufe der Meditation erreicht haben. Ich freue mich für dich! Auch wenn die Umstände sehr traurig sind.“ „Ich weiß nicht, Duna. Womöglich war es nur ein einmaliger Erfolg. Als ich gestern meditierte, hatte ich nicht das Gefühl, weitergekommen zu sein. Es war wie an den Tagen zuvor. Meine magischen Fähigkeiten haben sich kaum verbessert. Gut, ich vermag jetzt, schwerere Steine zu heben als früher, aber den Felsen im Fluss konnte ich gestern nicht bewegen. Warum sollte heute plötzlich ein Fortschritt eingetreten sein?“ „Weil du ihn gebraucht hast, Trygar. Musstest du den Felsen heben? Nein, du wolltest es, aber deine Seele wehrt sich noch. Musstest du die Bestie töten? Ja, um uns alle zu retten! Durftest du dabei die Kontrolle über die Macht verlieren? Nein, denn sonst wären Menschen zu Schaden gekommen. Es ist mehr als bloßes Wollen, das dir ermöglicht, die Magie zu kontrollieren, es ist die Notwendigkeit.“ In der Nacht desertierten über vierzig Soldaten. Methor verzichtete angesichts der Umstände darauf, sie verfolgen zu lassen. Er wies die Offiziere an, zu ihren Mannschaften zu sprechen und sie davon zu überzeugen, dass die Frauen und Männer des Heeres – sollten noch mehr Bestien herumstreifen – vor weiteren Überfällen sicher seien. Man habe mit einer solchen 221 Gefahr nicht gerechnet und sei überrascht worden. Doch nun sei man gewappnet. Ein Ring schwer bewaffneter Wachen, angeführt von den Schwarzen Kämpfern, umgebe das Lager, und Fährtensucher suchten die Umgebung ab. Die Offiziere warnten vor weiteren Desertionen. Außerhalb des Lagers sei jeder Fahneflüchtige ein leichtes Opfer. Die Ansprachen, die hundertfach gehalten wurden, fruchteten. Am nächsten Morgen fehlte kein Einziger. Und am Mittag kamen endlich die Nomaden. Das Turnier König Gadennyn lag auf seinem Diwan. Seine Augen waren geschlossen, aber er schlief nicht. Er dachte nach. Ein nagender Zweifel ließ ihm keine Ruhe. Trygar. Immer wieder kreisten seine Gedanken um ihn. Sah er wirklich eine kommende Gefahr, oder bildete er sich eine ein, wo keine war? Nunoc Baryth, des Königs mächtiger Gegenspieler, war tot. Niemand könnte dem Schwarzen Abt das Wasser reichen, schon gar nicht dieser unbedarfte Junge. Gadennyn hatte Trygars großes Talent von Anfang an gespürt und ihn, in der Hoffnung, er könne Gother mit seiner Magie behilflich sein, als Attentäter in den Norden geschickt. Aber wenn er ehrlich zu sich war, hatte der damalige Lord von Shoala keine großen Hoffnungen in den Jungen gesetzt. Doch der war wider Erwarten erfolgreich gewesen. Gerade das bereitete dem König Sorgen. Gother hatte ihm von den enormen Kräften erzählt, welche Trygar entfalten konnte. Noch waren sie nicht genügend entwickelt, um ihm, dem mächtigsten Magier aller Zeiten, widerstehen zu können. Aber konnte Trygar zur Bedrohung für seine Pläne werden? Er musste wissen, was der Junge und der Schwarzen Orden vorhatten. Saßen sie noch immer in ihrem vermutlich eingeschneiten Kloster am Rande der Welt, oder waren sie bereits aufgebrochen und unterwegs zu ihm? Er stand auf und läutete nach seinem Diener. „Besorge mir einen Adler!“, herrschte er ihn an. „Bring ihn hinunter in die Grotte. Schnell!“ 222 Drei Tage später war es soweit. Es war die bisher schwierigste Umwandlung gewesen. Der Adler sah äußerlich unverändert aus. Aber Gadennyn konnte jetzt durch seine Augen sehen. Er hatte eine ähnliche Art der magischen Fernverbindung schon einmal benutzt. Damals war Gother sein Medium gewesen, dessen Gedanken und Gefühle er vage spürte, gerade so, dass er sich ein ungefähres Bild von den Geschehnissen machen konnte. Gother hatte seinen freien Willen behalten und aktiv mitwirken müssen, denn nur, wenn er intensiv an seine Herrn dachte, empfing dieser die Botschaft. Aber Gadennyn hatte weder mit Gothers Augen gesehen noch mit seinen Ohren gehört. Die Umgestaltung des Adlers war eine erhebliche Verfeinerung und Erweiterung gegenüber der groben Veränderung von Gothers Geist. Das Tier war jetzt ein passives Instrument, das er lenken und benutzen konnte. Der König betrachtete den grau gefiederten großen Vogel, der auf der Stange im Turmzimmer des Palastes saß. Das Tier hatte keine Angst vor ihm, nicht wie die anderen Kreaturen, die er erschaffen hatte. Der Adler drehte seinen Kopf ruckartig zur Seite und fixierte den Mann mit einem Auge. Gadennyn konzentrierte sich und sandte Bilder von Trygar und den Schwarzen Kämpfern in den kleinen Vogelgeist. Dabei reichte er dem Adler eine tote Maus, ohne den dicken Lederhandschuh zu benutzen, den ihm der Falkner gebracht hatte. Der Raubvogel nahm den kleinen Tierkadaver vorsichtig vom flachen Handteller des Königs, ohne ihn mit seinem scharfen Schnabel zu berühren, und schlang ihn am Stück hinunter. Sein Blick irrte unruhig zum Fenster. Gadennyn wusste, dass der Drang zu suchen, stark war. Nur sein Wille hielt ihn noch zurück. Er ließ ihn schließlich los, und der Adler stürzte sich aus dem offenen Fenster, schraubte sich mit kräftigen Flügelschlägen dem Himmel entgegen, war bald nur noch ein kleiner Punkt unter den grauen Winterwolken und verschwand schließlich. Der Spion war ausgesandt. Kanzler Aturo Pratt rieb sich fahrig die Hände, als er vor dem König stand. Seine Majestät saß hinter seinem Schreibtisch und musste zu seiner rechten Hand aufblicken. Gerade das machte den Kanzler nervös. Pratts eigener Schreibtisch in Regierungssaal thronte auf einer hohen Empore, zu der vier Stufen hinaufführten. Auf diese Weise konnte er auch im Sitzen auf seine Untergebenen herabsehen, und diese Machtdemonstration flößte denen das gleiche Unbehagen ein, das er jetzt selbst empfand. Obwohl er es war, der auf den anderen hinabblickte. Der König hatte solche Machtspielchen nicht nötig. Pratt empfand mit jeder Faser seines Körpers, wer hier der Herr und wer der Untertan war. Gadennyn hob die Augenbraue. Pratt wusste, dass der König es hasste, mit profanen Regierungsangelegenheiten oder anderen unwichtigen Dingen 223 belästigt zu werden. Ihn interessierte das Tagesgeschäft nicht, deshalb hatte er seinem Kanzler alle Autorität gegeben, in seinem Namen das Land zu regieren. Meist war Seine Majestät in der Grotte, einer natürlichen Felshöhle tief unter den Kellergewölben des Palastes, mit seltsamen Dingen beschäftigt. Große und gefährliche Tiere waren dorthin gebracht worden, um plötzlich wieder zu verschwinden. Gerüchte gingen um, dass von der Grotte ein unterirdischer Stollen ausginge, der einen Ausgang außerhalb der Stadt besäße. Die Menschen, die ihm die Tiere brächten, verschwänden danach auf geheimnisvolle Weise, so sagte man. Dass der König dort unten schwarze Magie ausübe, sagte man auch. Pratt war geneigt, das zu glauben. Er sah seinen Herrn nur noch selten. Wenn überhaupt, sprach dieser mit General Winsten, dem Oberbefehlshaber der Streitkräfte, oder mit Retho Nasser, dem Geheimdienstchef. Von Pratt verlangte er nur, dass dieser alles andere von ihm fernhielt. Natürlich war das nicht immer möglich. Von Zeit zu Zeit musste der Kanzler bestimmte Angelegenheiten dem König vortragen. Der – in letzter Zeit oft schlecht gelaunt – reagierte in solchen Momenten meist ungehalten. Auch heute erwartete der Kanzler wieder eine Maßregelung. Dennoch räusperte er sich und sprach: „Es tut mir Leid, Euch damit behelligen zu müssen, Sire, aber…“ Er fischte eine Schriftrolle aus dem weiten Ärmel seiner reich bestickten Amtsrobe. „Es geht darum, welcher der Honoratioren das Privileg genießen soll, in der königlichen Loge neben Seiner Majestät sitzen zu dürfen. Ich habe einen Vorschlag ausgearbeitet mit den Namen einiger Fürsten und hoher Würdenträger.“ „Königliche Loge? Pratt, worum geht es überhaupt?“ Der König war heute erstaunlich geduldig. Offenbar hatte er bemerkenswert gute Laune. „Äh, um das Winterturnier. Es wird in zwei Tagen beginnen, Sire, und ich dachte…“ „Ach so, das Turnier. Wie langweilig. Irgendwelche Narren prügeln aufeinander ein, und das Volk amüsiert sich. Wie es scheint, erwartet es, dass der König ebenfalls zuschaut.“ „Äh, ja, Majestät. Das ist Tradition. Die Bevölkerung würde es als außerordentliche Ehre betrachten. Verzeiht meine Offenheit, Sire, aber die Einwohner von Inay haben Euch noch nicht sehr oft gesehen. Eine gewisse Volksnähe würde Euch…“ „Schon gut, Pratt. Ich werde hingehen. Gibt es sonst noch etwas?“ „Äh, ja, Sire, wenn Ihr vielleicht einen Blick auf die Namensliste werfen würdet?“ 224 „Es ist mir egal, wer in der königlichen Loge sitzt. Na, vielleicht doch nicht ganz. Aber ich vertraue deinem guten Geschmack. Steht Lord Rhome auf der Liste?“ „Selbstverständlich, Majestät.“ „Er darf neben mir sitzen. Richte ihm aus, dass ich ihn dazu persönlich einlade. Gibt es irgendwelche berühmten Ritter oder Kämpfer, die mich mit einem Audienzgesuch nerven könnten?“ „Ich habe allen gesagt, dass Majestät im Augenblick zu beschäftigt ist.“ „Gut gemacht, Pratt. Jetzt verrate mir noch eins: wer wird bei der Prügelei, die du Turnier nennst, gewinnen?“ „Ich würde auf Hauptmann Gother tippen, Sire.“ „Gother wirkt bei diesem Lustspiel mit? Na, in diesem Fall werde ich mich vielleicht doch ein wenig amüsieren. “ Inay war beeindruckend. Orec war vorher noch nie in der Hauptstadt Koridreas gewesen. Er nahm zum ersten Mal am Winterturnier teil. Nachdem er sich die prächtigen Häuser angeschaut hatte, durch die breiten Straßen und lindengesäumten Alleen geschlendert war, die Auslagen in den Geschäften bewundert, die kolossale Architektur des Hauses der Lords und des Tempels bestaunt hatte, stand er jetzt im Innenhof des prachtvollsten Gebäudes der Stadt, des königlichen Palastes. Er stand in einer langen Reihe, zusammen mit berühmten Rittern, für ihre Tapferkeit ausgezeichneten Soldaten, einfachen Söldnern und einigen älteren, turniererfahrenen Knappen, die sich eine Chance ausrechneten, ein- oder zwei Runden zu überstehen und das Preisgeld dafür einzustreichen. Quer vor der Reihe von Bewerbern stand ein langer Tisch, hinter dem zwei Beamte saßen. Orec wusste, dass einer von ihnen, der mit dem dicken Buch, der Wappenprüfer war. Zu vielen Turnieren waren nur Ritter und Adelige zugelassen. Diese mussten ihre Ahnenrolle vorlegen, und der Wappenprüfer prüfte, ob das Wappenzeichen und die weiteren Insignien der Rolle mit den Aufzeichnungen in seinem Buch übereinstimmten. Erst dann ließ er den Bewerber zum Turnier zu. Diesmal war es allerdings anders. Das Winterturnier von Inay war ein offenes Turnier, das es auch einem Niemand wie ihm erlaubte teilzunehmen. Allerdings wurde in Inay, im Gegensatz zu manch kleinem Turnier auf dem Lande, nicht jeder Bewerber zugelassen. Hier durften ausschließlich erfahrene Kämpfer antreten, die sich bereits anderswo Meriten verdient hatten. Orec hatte eine beachtliche Liste von gewonnenen Kämpfen aufzuweisen, die von Amts wegen beglaubigt war. Die Schriftrolle wies alle Turniere aus, an denen er teilgenommen hatte. Sie sollte ihm auch Zutritt zu diesem hier verschaffen. Die Musterung der Bewerber begann. Der erste in der Reihe trat vor den Tisch und verkündete mit lauter Stimme: 225 „Thadus, Kleinfürst von Mintwater.“ Der Mann gab seine Ahnenrolle und Turnierliste ab. Der Prüfer studierte sie sorgfältig und nickte. Der andere Beamte, der Schreiber, trug den Namen des Teilnehmers ein. Und so ging es weiter: „Hennif, Söldner.“ „Graf Rynnh von Midsummer.“ „Major Hines.“ „Soldat Dunsten von der Stadtwache.“ „Ritter Theiht von Godspell.“ Orec betrachtete den dicklichen Ritter und vermerkte ihn auf seiner Todesliste. Es folgten noch sechs andere Ritter und Adelige, von denen er zwei weitere Kandidaten auswählte. Auf wen er immer zuerst träfe, würde sterben. Jetzt war die Reihe an ihm. „Orec.“ „Titel oder Rang?“ „Keiner.“ Der Prüfer musterte ihn abschätzend und warf einen Blick auf die eindrucksvolle Turnierliste des Kandidaten, bevor er dem Schreiber zunickte, der Orecs Name eintrug. Der trat zurück in die Reihe. Die Musterung ging weiter. Er suchte sich noch zwei Kandidaten für seine Todesliste aus. Beide waren affig gekleidete, hochnäsige Ritter. Als Letzter trat ein Mann vor, in dem Orecs geschultes Auge einen guten Kämpfer erkannte. „Hauptmann Gother von der königlichen Wache.“ Kein Lord oder Ritter, er kam also kaum in Frage für Orecs Rachefeldzug. Auf der anderen Seite: War der König nicht der Höchste aller Lords und Ritter? War er nicht das Sinnbild all dessen, was Orec hasste und verachtete? Konnte er den König treffen, wenn er den Hauptmann der königlichen Wache tötete? Orec fügte seiner Liste noch einen weiteren Namen hinzu. Gadennyn ruhte wieder auf dem Diwan. Er sah mit geschlossenen Augen die Landschaft des nördlichen Koridrea unter sich vorbeiziehen und hörte das Brausen des Windes. Es war ein berauschendes Gefühl, hoch oben durch die Lüfte zu gleiten und auf sein Reich hinabzublicken, an einem schönen Tag, an dem die Sonne von einem blauen Himmel strahlte. Der Winter hatte tief im Süden des Alten Reiches noch nicht Einzug gehalten. Er sah herbstliche Wälder mit fast kahlen Bäumen, deren Boden unter einer gold und rot leuchteten Laubdecke begraben waren, immergrüne Tannen und Fichten, klare Seen und glitzernde Bäche. Aber er sah mit dem scharfen Blick des Adlers auch Feldmäuse in ihre Löcher huschen, als sie die 226 Silhouette des Raubvogels bemerkten. Er spürte, dass der Adler hungrig war. Geh auf die Jagd und friss, befahl er dem Vogel über zig Meilen hinweg. Der ließ sich das nicht zweimal sagen. Er begann zu kreisen, sich höher zu schrauben, sodass er für seine Beute nicht mehr so leicht sichtbar war. Dann entdeckte er den Hasen und stürzte sich hinab. Der König packte unwillkürlich mit seinen Händen den Rand des Diwans und vergewisserte sich, dass er fest und sicher auf ihm lag. Der braune Boden kam mit rasender Schnelligkeit näher, der graue Fleck darauf wurde rasch größer. Erst im letzten Moment bemerkte das Opfer seinen Jäger und sprang davon, zahlreiche Haken schlagend. Der Adler fing den wilden Sturz ab, ging in den Horizontalflug über und korrigierte die Richtung blitzschnell mit seinen Schwanzfedern. Seine Klauen schlugen zu. Ein kurzes Quieken, und der schnelle Tod trat gnädig ein. Gadennyn ließ den Vogel fressen, bevor er ihm befahl weiterzufliegen. Der schwang sich auf und segelte fast ohne Flügelschlag nach Norden. In weiter Ferne erhob sich der Höhenzug des Rabengebirges, das sich in ostwestlicher Richtung durch das Land zog. Das Gebiet an seiner Südflanke gehörte offiziell zu Orinokavo. Faktisch war es eine demilitarisierte Zone, zwar nicht von Koridrea annektiert, aber von ihm beherrscht. Es war fruchtbares Land. Die Bauern, die es bestellten, verkauften ihre Erzeugnisse für billiges Geld an koridreanische Handelsgesellschaften. Die verschifften die Waren von Inay aus nach Lankoma, der Hauptstadt Orinokavos, und verkauften sie dort mit hohem Gewinn. Der machtlose, weil im Krieg besiegte, Kaiser des nördlichen Nachbarn musste zähneknirschend die Früchte seines Landes beim Erzfeind kaufen, damit er den Hunger seiner Untertanen lindern konnte. Gadennyn lächelte. Mit einem Seufzen schlug er die Augen auf. Er hatte den Vogelflug genossen und würde gerne noch mehr von den Ländern sehen, die er bald erobern würde, aber er konnte es sich nicht leisten, seine Pflichten als König zu vernachlässigen. Der Adler würde noch Tage brauchen, bis er Vulcor erreichte und mit der Suche beginnen konnte. Gadennyn würde ihn jeden Tag ein Stück des Weges begleiten. Jetzt aber musste er das Winterturnier mit der königlichen Anwesenheit beehren. Die Arena im Osten der Stadt war groß und oval, und ihre ansteigenden Zuschauerränge waren bis auf den letzten Platz besetzt. Die königliche Loge befand sich auf der westlichen Längsseite. Sie war durch einen himmelblauen Baldachin überdacht, dessen Stützpfähle mit gelben Wimpeln geschmückt waren, die in der vom Meer kommenden Brise flatterten. Der König betrat sie durch einen eigenen Eingang als Letzter. Seine Ankunft war durch einen Herold angekündigt worden, und so standen bereits alle Zuschauer, einschließlich der Ehrengäste in der Loge, und schauten erwar- 227 tungsvoll zum Logeneingang. Als er durch den kleinen Torbogen trat, senkten sie ehrfurchtsvoll die Köpfe. Ein tausendstimmiges Hoch lebe der König! erscholl. Der Monarch ging zu seinem Platz, einem erhöhten Sitz in der ersten Logenreihe, und nickte Lord Rhome und dem Kanzler zu, deren Stühle, bei weitem nicht so prachtvoll und bequem wie seiner, rechts und links neben dem Thron des Königs standen. Er ließ sich auf das brokatbezogene Kissen nieder und gab dem Herold das Zeichen. Der rief: „Das Turnier ist eröffnet.“ In der Mitte der Arena waren vier quadratisches Gevierte, jedes mit einer Kantenlänge von etwa zehn Schritten, eingezäunt. Der Boden darin war sandig aber festgetreten, damit die Kämpfer in ihren Rüstungen guten Halt fanden. Der Turniermodus war einfach: In den ersten Runden wurden vier Kämpfe gleichzeitig in den eingezäunten Karrees ausgetragen. Die Kontrahenten bekämpften sich zu Fuß. Als Waffen waren Schwert, Streitaxt oder Keule zugelassen. Jeder der Kämpfer konnte sich aussuchen, ob er lieber leicht gerüstet und beweglich oder hart gepanzert in den Ring ging. Verloren hatte, wer entweder kampfunfähig am Boden lag, also nicht mehr aufstehen konnte, ohne dass sein Gegner ihn hätte töten können, wer aufgab, oder wer gegen die Regeln verstieß. Es gab nur wenige Regeln: Man durfte das Kampfgeviert nicht verlassen, keine verborgene Waffe benutzen, seine Waffe nicht nach dem Gegner werfen, und es war verboten, den anderen mit Absicht zu verletzen oder gar zu töten. Ein Kampfgericht, bestehend aus drei hohen Offizieren, saß direkt hinter dem hüfthohen Zaun jedes Kampfplatzes. Es wachte über die Regeleinhaltung und entschied über Sieg oder Niederlage. Orec wurde ungeduldig. Das Turnier war jetzt schon zwei Stunden alt, und er hatte den Ring noch nicht betreten. Als er heute Morgen zum Sammelplatz der Kämpfer gekommen war, blieben ihm Enttäuschungen nicht erspart. Es waren mehr als sechzig Turnierteilnehmer angenommen worden! Die sechzehn, mit denen er in der Reihe gestanden hatte, waren nur die Bewerber des letzten Tages vor Meldeschluss gewesen. Er studierte die Listen der angesetzten Duelle und stellte fest, dass er sehr viel Glück haben musste, um auf einen der Männer, die auf seiner Todesliste standen, zu treffen. Nur zwei von ihnen waren in seiner Hälfte der Setzliste verzeichnet. Wieder trug man einen Kombattanten auf einer Bahre heraus. Der Mann war augenscheinlich bewusstlos. Offenbar waren die Kämpfer hier weniger zimperlich als bei anderen Turnieren, und die Jury drückte dabei ein Auge zu. Das war gut. Denn das Schwierigste war für Orec immer gewesen, die Absicht der Tötung eines Gegners zu verschleiern. Jeder Regelverstoß 228 wurde in die Turnierrolle eingetragen, und hatte man einige leichtere angesammelt, erschwerte das die Zulassung zu weiteren Turnieren. Bei solch einem gravierenden Regelverstoß wie der vorsätzlichen Tötung eines Kontrahenten wurde man allerdings von allen Turnieren ausgeschlossen. Es wäre Orec fast einmal passiert. Er war nicht geschickt genug gewesen, und hatte seinen Gegner schwer verletzt, statt ihn zu töten. Das Kampfgericht glaubte dem Mann, dass Orec ihm während des Duells zugeflüstert habe, er werde ihn umbringen. Orec bestritt das zwar heftig und beteuerte seine Unschuld, aber in seine Turnierrolle wurde der schwere Regelverstoß der absichtlichen Verletzung eines Gegners eingetragen. Er verbrannte die Rolle anschließend und fing von vorne an. Dadurch verlor er ein Jahr, bis er sich wieder genug Punkte verdient hatte, um sich für größere Turniere zu bewerben. Doch seitdem war seine Rolle sauber geblieben. Er wurde endlich aufgerufen, zusammen mit seinem Gegner, einem alten Soldaten, sowie drei weiteren Kampfpaaren. Während sie nebeneinander die Arena betraten, musterte er den Mann aus den Augenwinkeln und versuchte ihn einzuschätzen. Orec unterlief nie der Fehler, einen Gegner zu unterschätzen. Die acht Männer wurden paarweise in die Kampfringe geführt, und der Herold rief die Namen der Kontrahenten auf, die sich vor der Königsloge verbeugten. Der König schien gelangweilt. Er gähnte ausgiebig und nippte an einem Becher Wein. Endlich gab er das Zeichen, dass der Kampf beginnen möge. Die beiden Männer umkreisten sich. Der alte Soldat trug, ebenso wie Orec, nur eine leichte Rüstung, die kaum geeignet schien, einen kräftig geführten Schwerthieb abzufangen. Sein Gegner war mit einer Streitaxt bewaffnet und trug ein wappenförmiges Schild. Orec beschloss, den alten Mann zu schonen. Als der auf ihn losging wich er scheinbar ängstlich zurück. Der Soldat setzte nach und schwang seine Axt. Orec stolperte nach hinten, stürzte aber nicht. Nun schien der andere siegesgewiss. Wieder griff er an. Orec hatte bereits die hüfthohe Umzäunung im Rücken. Diesmal wich er leichtfüßig dem ungestümen und unvorsichtig ausgeführten Angriff des anderen aus, der gegen den Querbalken der Umzäunung flog und jetzt halb darüber hing. Bevor er sein Gleichgewicht wieder gefunden hatte, zog ihm Orec mit der flachen Seite seines Schwerts die Beine nach hinten weg. Der Mann fiel kopfüber und landete außerhalb des Kampfgevierts auf dem Boden. Der Kampf war damit beendet. Das Turnier wurde am nächsten Tag fortgesetzt. Gadennyn war lustlos und schlecht gelaunt. Gestern hatte er zwanzig der über vierzig Gefechte gesehen, bevor ihm das strenge Protokoll endlich gestattete, sich zurückzuziehen. Sobald seine Macht gefestigt war, würde er mit diesen närrischen Regeln aufräumen. Aber soweit war es noch nicht. Er beabsichtigte, in den 229 Krieg zu ziehen, und dazu brauchte er das Vertrauen und den Rückhalt seines Volkes. Heute hatte das Turnier in seiner Abwesenheit begonnen. Der König erschien erst zur zweiten Hälfte. Inzwischen waren nur noch sechzehn Männer übrig, darunter natürlich Gother, der seine beiden bisherigen Kämpfe schnell und ungefährdet gewonnen hatte. Gadennyn neigte sich hinüber zu Lord Rhome. „Nun, Rhome, auf wen habt Ihr gesetzt?“ Der alte Fürst lächelte geheimnisvoll. „Ich wette nie, Majestät. Dennoch habe ich mir eine Meinung über den wahrscheinlichen Ausgang des Turniers gebildet. Wenn Ihr sie hören wollt?“ „Nun ziert Euch nicht so, Rhome. Schießt los.“ „Der riesenhafte Bursche da, der seine Gegner förmlich aus dem Ring prügelt, scheint der Favorit der meisten Zuschauer zu sein. Er hat seine Kämpfe mit purer Gewalt und Körperkraft gewonnen. Er ist dick gepanzert, und ein Hieb wirf ihn nicht um. Dafür hebt er seine Gegner mit jedem Treffer von den Füßen. Aber wenn ihr mich fragt: die nächste Runde wird seine letzte sein. Sein Kampfstil hat keine Raffinesse. Selbst ich könnte mit ihm fertig werden, obwohl ich nicht mehr der Jüngste und außer Übung bin. Die meisten des übrig gebliebenen Haufens kämpfen ohne Biss und Eleganz. Lediglich vier Kämpfern räume ich eine Siegchance ein. Natürlich gehört Euer Mann, Hauptmann Gother, zu ihnen. Er ist ein außergewöhnlicher Schwertfechter: sparsam in seinen Bewegungen, mit seinen Kräften haushaltend und schnell. Er spielt nicht mit seinen Gegnern, sondern kommt gleich zur Sache. Gother hat einige raffinierte Finten auf Lager und variiert sehr gut, sodass ein Kontrahent seinen Kampfstil lange studieren müsste, um etwas daraus zu lernen. Wenn ihr mich fragt, wird er die Siegprämie einstreichen. Aber die drei anderen, die ich beobachtet habe, könnten ihm durchaus gewachsen sein. Da ist zum Beispiel dieser Söldner, Hennif. Er besitzt offenbar erhebliche Kampferfahrung, die er nicht auf Turnieren, sondern in Gefechten auf Leben und Tod erworben hat. Und dann der Ritter aus Orinokavo, Tarro de Rhynian. Sein Kampfstil ist nicht spektakulär, aber effektiv. Ich habe mir seine Kampfrolle zeigen lassen. Dies ist sein zwölftes Turnier, sechs davon hat er gewonnen, und bei den anderen sechs ist er stets unter die letzten Vier gekommen. Schließlich ist da noch dieser schöne Jüngling, der bei jeder Frau niedere Instinkte weckt. Heißt er nicht Orec? Ein raffinierter Kämpfer. Ich habe ihn genau beobachtet. Er spielt mit seinen Gegnern, ohne dass sie oder die Zuschauer es bemerken. Manchmal sieht es fast unbeholfen aus, wie er sich bewegt, doch dahinter steckt die Absicht, die Kontrahenten hinters Licht zu führen. Er ist 230 vielleicht nicht so erfahren wie Tarro de Rhynian, aber für eine Überraschung scheint er mir gut.“ König Gadennyn nickte. „Ihr seid ein sehr guter Beobachter, Rhome. Auf Eure Einschätzung ist meist Verlass. Aber ich würde dennoch auf Gother wetten.“ Er wandte sich zur anderen Seite hinüber, wo der Kanzler saß. „Da Lord Rhome nicht mit mir wettet, wie wäre es mit dir, Aturo: Bist du bereit, dagegenzuhalten, sagen wir mit hundert Dukaten?“ Pratt wand sich ein wenig. „Das ist nicht fair, Majestät, wenn Ihr diese kühne Bemerkung erlaubt. Ich hätte ebenfalls den Hauptmann gesetzt.“ Der König lachte. „Mein guter Aturo! Dann bleibe bei Gother, wenn du willst. Ich setze dagegen, dass Tarro de Rhynian gewinnt. Natürlich werde ich die Wette verlieren. Aber ich wette nun mal gerne, und muss, damit überhaupt jemand dagegen hält, wohl in den sauren Apfel beißen, und die schlechtere Wettchance nehmen.“ „Sehr großzügig, mein König, aber…“ „Nichts da, die Wette musst du schon annehmen!“ Kanzler Pratt nickte ergeben. Lord Rhome hatte verschmitzt lächelnd zugehört und sagte: „Wenn der König ein Risiko eingeht, will ich es ebenfalls tun. Ich wette nun doch, auch wenn es gegen meine Prinzipien verstößt, und setze auf den jungen Burschen namens Orec.“ „Haha“ lachte Gadennyn, „Da könnt ihr Pratt gleich das Geld geben, Rhome. Ich fürchte, wir beide haben ein schlechtes Geschäft gemacht, und unser guter Kanzler streicht heute ein kleines Vermögen ein.“ Zwei Stunden später waren tatsächlich nur noch diese vier übrig. Die Halbfinalkämpfe wurden nicht mehr gleichzeitig ausgetragen, sondern einzeln angesetzt. Im ersten standen sich Gother und der Ritter aus Orinokavo, der schon sechs Turniere gewonnen hatte, gegenüber. Tarro de Rhynian war ein großer, breitschultriger Mann mit blasser, von Sommersprossen übersäter Haut, hellblauen Augen und feuerroten Haaren, die in wilden Locken unter seinem Helm hervorquollen. Er trug eine stahlblau glänzende Rüstung mit Arm- und Beinschienen, Brustharnisch, Schulterschützern, Halsberge, die Hals und Nacken schützte, einen Halbhelm, der das Gesicht von den Augen bis zum Mund freiließ, einen breiten Turmschild und ein gewaltiges Schwert, dass ein kleinerer Mann mit beiden Händen hätte halten müssen. In der Runde zuvor hatte er den Riesen ausgeschaltet und dabei gezeigt, dass er trotz der relativ schweren Rüstung äußerst beweglich und geschickt war. Gother hatte die Rüstung der Wache des Königs angelegt. 231 Sie schimmerte silbern. Auf der Brust trug er das Tigerwappen. Auch er ging mit Schwert und Schild in den Kampf. Nachdem dieser eröffnet worden war, umkreisten sich die beiden Gegner abschätzend. Tarro de Rhynian begann mit einer Finte, auf die Gother gar nicht reagierte, denn er hatte sofort gesehen, dass es sich nicht um einen ernst gemeinten Angriff handelte. Beim zweiten Ausfallschritt des Mannes aus Orinokavo kreuzten sich zum ersten Mal ihre Klingen. Eine Weile ging es so weiter: vorsichtiges Abtasten und Taktieren, spielerische Angriffe, Paraden und Reposten mit sofortigem Rückzug aus der Reichweite des anderen, um die Schwächen des Gegners zu erkunden. Nach einigen Minuten ergriff der stahlblaue Ritter die Initiative. Auf einmal zog er sich nach dem ersten Hieb nicht zurück, sondern setzte mit einem Wirbel von Schlägen und Stößen nach. Hauptmann Gother befand sich auf dem Rückzug. Er wehrte die Angriffe mit Schwert und Schild ab und tänzelte auf schnellen Beinen rückwärts durch das Kampfgeviert. Ritter Tarro verdoppelte seine Angriffsbemühungen, und sein blasses Gesicht lief vor Anstrengung rot an. Er keuchte und schnaufte. Einmal krachte sein riesiges Schwert mit solcher Gewalt auf Gothers Schild, dass Gadennyn den Hauptmann vor Schmerz aufstöhnen hörte. Aber er blieb unverletzt, nur sein Schildarm, der den wuchtigen Hieb abgefangen hatte, schien taub zu sein, denn er ließ den Schild fallen, was den rothaarigen Ritter zu einem Triumphgeheul veranlasste. Nur, um im nächsten Augenblick verdutzt am Boden zu liegen und die Schwertspitze Gothers an der Kehle zu fühlen. Sofort stand der Oberschiedsrichter auf und erklärte den Kampf für beendet. Kurz darauf wurde das einstimmige Urteil der Jury verkündet, das selbstverständlich Gother als Sieger bestätigte. Die Zuschauer jubelten verhalten. Doch als der König aufstand und seinem treuen Untergebenen applaudierte, raste die Menge und skandierte lauthals: ‚Es lebe der König’ und ‚Ein Hoch auf Hauptmann Gother’. Gadennyn lächelte und ließ die Geschehnisse, die zum plötzlichen Sieg des Hauptmanns geführt hatten, noch einmal vor seinem inneren Auge ablaufen. Er sah, wie Gother die Überraschung seines Gegners über den vermeintlichen Vorteil sofort ausnutzte. Allein der verfrühte Jubel über den Schildverlust des anderen lenkte den Mann aus Orinokavo für einen Wimpernschlag ab. In diesem kurzen Augenblick schlug Gother ihm mit voller Wucht von oben auf das noch vom Hieb ausgestreckte Schwert. Der rothaarige Ritter ließ es zwangsläufig fallen und bückte sich reflexartig danach, um es wieder aufzuheben. Der Hauptmann trat ihm mit aller Wucht seinen Stiefel gegen den Helm. Dieser Tritt ließ den schweren Mann hintenüber fallen und für einen kurzen Augenblick das Bewusstsein verlieren. Damit war der Kampf entschieden. Der König sagte zu seinen Sitznachbarn: 232 „Jetzt kann nur noch einer von Euch die Wette gewinnen, da der Mann aus Orinokavo ausgeschieden ist. Hier ist mein Einsatz, die hundert Dukaten. Legt Euer Geld dazu.“ Er schüttete vier Goldmünzen aus seiner Geldbörse auf den Tisch vor ihm, auf dem sein Weinglas und eine Schale mit Früchten und Schokolade standen. Rhome und Pratt folgten seiner Aufforderung und legten ihr Gold dazu. Nachdem Sieger und Besiegter die Arena verlassen hatten und wieder Ruhe eingekehrt war, betraten die Kämpfer des nächsten Halbfinales das Stadion. Es waren Orec und der Söldner Hennif. Der Kampf währte nur kurz, und Sieger blieb der jüngere Mann, der offenbar längst nicht so unerfahren war, wie seine Jugend es nahe legte. Der König nickte seinem Nachbarn zur Linken anerkennend zu. „Ich muss sagen, Lord Rhome, ich hätte niemals gedacht, dass Euer Goldlöckchen so weit kommen würde. Euer Auge ist noch besser als ich angenommen habe. Doch jetzt dürfte der Junge eine Lektion erteilt bekommen. Ich gratuliere dir, Aturo. Du wirst den Gewinn wohl einstreichen.“ Orec war konsterniert. Keiner der affigen Adligen und pfauenartig posierenden Ritter, die auf seiner Todesliste standen, war ihm als Gegner zugelost worden. Ihm blieb nun keine Möglichkeit mehr, einen aus der verhassten Oberschicht zu töten. Jetzt gab es nur noch Hauptmann Gother, der nicht dem widerwärtigen Stand der Edelleute angehörte. Gother war auch auf seiner Todesliste aufgeführt, aber Orec schien es nicht richtig, einen Mann zu töten, der nur seine Pflicht tat. Doch der Hauptmann war ein Mann des Königs, der Person, die für alles stand, was Orec hasste: Macht, Dünkel, Überheblichkeit, Mitleidslosigkeit gegenüber den Armen, Ungerechtigkeit gegenüber dem Volk. Er wusste, er würde den König tief treffen, wenn er Gother tötete. Der Hauptmann, dem er persönlich nichts nachtrug, musste dafür geopfert werden. Schweren Herzens fällte er das Urteil. Die beiden Gegner standen sich taxierend gegenüber. Gother war erstaunt, dass sein letzter Kontrahent ein Milchbart war. Wie war es dem bloß gelungen, so gestandene Kämpfer wie den Söldner Hennif zu besiegen? Der Junge mit dem offenherzigen Gesichtsausdruck und dem freundlichen Lächeln schien kaum zwanzig Jahre alt zu sein. Tatsächlich, so hatte der Hauptmann von einem seiner Untergebenen erfahren, der sich die Turnierrolle des jungen Mannes hatte zeigen lassen, war er schon fünfundzwanzig und besaß eine Menge Turniererfahrung. Orec war allerdings selten sehr weit gekommen. Meist war nach zwei oder drei Runden Schluss gewesen. Dennoch durfte Gother ihn nicht unterschätzen. 233 Der Hauptmann wartete wie stets den ersten Angriff seines Gegners ab. Die meisten Kämpfer sprangen wild zur Seite oder nach hinten, wenn ihr Kontrahent angriff, oder wehrten den Schlag frontal mit Schild oder Schwert ab. Rasche und weiträumige Ausweichbewegungen oder die Abwehr der Hiebe kosteten aber viel Kraft, sodass man bei diesem Kampfstil rasch ermüdete. Gothers Art zu kämpfen, die er von seinem Lehrmeister Osiris abgeschaut hatte, war, die Aktionen seines Gegners rechtzeitig zu erkennen und ihnen mit sparsamen Bewegungen auszuweichen. Die Schläge, Stiche und Hiebe gingen gerade eben an ihm vorbei, oft nur eine Handbreit oder weniger, oder er wehrte sie so mit Schild oder Schwert ab, dass sie abglitten oder zur Seite gelenkt wurden, ohne dass er ihre ganze Energie abfangen musste. Für diesen Kampfstil brauchte man ein gutes Auge und eine schnelle Reaktion. Osiris hatte ihn gelehrt, den Zeitpunkt des Angriffs in den Augen seines Gegners zu erkennen. Dieses kurze Aufreißen der Lider und die Erweiterung der Pupillen waren ein untrügliches Zeichen, dass der andere im nächsten Moment zuschlagen würde. Deshalb blickte er Orec jetzt in die blauen Augen und war überrascht, wie eisig dessen Blick war. Das kalte Glitzern in ihnen stand ganz im Gegensatz zu dem freundlichen Gesicht seines immer noch lächelnden Gegners. Die Augen verrieten ihm diesmal nichts. Lediglich ein kurzes, fast unmerkliches Zucken des Mundwinkels leitete den plötzlichen, sehr schnell und präzise ausgeführten Angriff ein. Fast hätte es Gother nicht geschafft, die Schwertspitze Orecs mit seiner Waffe genügend weit abzulenken, sodass der Stoß von seinem Brustpanzer abglitt und ihn nicht von den Beinen warf oder gar verwundete. Von da an war er noch mehr auf der Hut und achtete auf den verräterischen Mund seines Gegenübers. Orec zollte dem Älteren Anerkennung. Der Mann war der beste Kämpfer, dem er je gegenüber gestanden hatte, ein gleichwertiger Gegner. Er war äußerst schnell und schien seine Angriffe vorauszuahnen. Der Kampf wogte jetzt seit geraumer Zeit hin und her, und Orec wurde langsam müde. Es war ihm nur dreimal gelungen, den anderen zu treffen. Und genauso viele Treffer hatte auch er hinnehmen müssen. Beide waren unter der Wucht der Hiebe gestolpert, aber auf den Beinen geblieben. Orecs linker Arm tat weh. Gother hatte ihm die Unterkante seines Schilds in die ungeschützte Armbeuge gehauen, als sie sich nach einer gegenseitigen Attacke, denen beide geschickt ausgewichen waren, für einen Augenblick Brust an Brust gegenüber gestanden hatten. Dafür hatte ihm Orec den Knauf seines Schwertes aus kurzer Distanz gegen den Helm geschlagen. Er hoffte, dass dem Hauptmann jetzt die Ohren klingelten. Dennoch: Zum ersten Mal spürte Orec den leisen Zweifel, er könnte den Kampf vielleicht nicht gewinnen. Wenn dieser Zweifel nicht überhand nehmen sollte, musste er seinen Gegner irgendwie verunsichern. 234 Gother war mehr als überrascht über die Schnelligkeit und Raffinesse der listenreichen Kampfmanöver seines jungen Kontrahenten. Er musste sich aufs Äußerste konzentrieren, um den Kampf ausgeglichen zu halten und war so mit der Abwehr der Aktionen des anderen beschäftigt, dass er nur selten Gelegenheit zu eigenen Attacken fand. Der Mann kämpfte besser als sein Lehrmeister Osiris! Das kurze Zucken des lächelnden Mundes warnte ihn: Der Hieb kam mit ungeheurer Schnelligkeit und Wucht in einer seitlichen Bewegung und war auf seinen Kopf gezielt. Gother ging ein ganz klein wenig in die Knie, sodass der Schlag um Haaresbreite über seinen Helm zischte, dann sprang er, sein eigenes Schwert von unten nach oben stoßend, unter dem Arm des anderen nach vorne. Doch Orec hatte diese Konterattacke wohl erwartet. Gothers Stoß wurde vom Schild des jungen Mannes zur Seite abgelenkt. Und wieder standen sie sich Brust an Brust gegenüber, so nahe, dass keiner seine Waffe einsetzen konnte. Das Gesicht Orecs befand sich direkt vor seinem eigenen, als der Junge ihm, immer noch lächelnd, zuflüsterte: „Jetzt wirst du sterben, Hund des Königs!“ Alles ging nun furchtbar schnell. Die Zuschauer sahen, wie die beiden Harnisch an Harnisch standen. Der junge Mann schien zu versuchen, den älteren mit seinem Schild fortzustoßen. Er hatte dabei selbst einen schlechten Stand und verlor das Gleichgewicht. Orec stolperte rückwärts und ruderte heftig mit Schwert- und Schildarm. Für einen Moment zeigte er Gother den ungeschützten Leib, doch der blieb wie erstarrt stehen. Der ungeschickte und offensichtlich unabsichtliche Schwerthieb, der eigentlich der Wiedererlangung des Gleichgewichts dienen sollte, traf ihn genau in dem schmalen Spalt zwischen dem Kinnbogen des Helms und der Halsberge. Das scharfe Schwert schnitt durch das Kettenhemd wie ein heißes Messer durch Butter und schlitzte dem Hauptmann die Kehle auf. Ein Aufschrei ging durch das Publikum. Gother blieb noch einen Moment stehen, als ein hellroter Strahl Blut im Rhythmus des Herzschlags aus seiner Halsschlagader sprudelte, dann sank er auf die Knie und fiel in den Staub. Orec, der inzwischen auch gestürzt war, schien gar nicht bemerkt zu haben, was passiert war. Er wälzte sich schnell von seinem Gegner weg und sprang wieder auf die Beine, Schwert und Schild in Abwehrhaltung vor sich haltend. Einen Moment später ließ er die Waffe sinken. Sein Gesichtsausdruck veränderte sich von Überraschung zu ungläubigem Entsetzen. Er warf Schwert und Schild von sich und stürzte zu seinem am Boden liegenden Gegner, versuchte die Blutung mit seinen Händen zu stoppen. Schließlich erkannte er, dass Gother tot war. Er schlug die blutigen Hände vors Gesicht und rief entsetzt: „Oh nein! Was habe ich getan?“ 235 König Gadennyns Gesicht war weiß wie Schnee. Seine Augen glühten vor Wut. Aturo Pratt hatte ihn noch nie so gesehen. Die Stimme seines Herrn war heiser und fast tonlos, als er dem Kanzler zuzischte. „Lasse den Mann auf der Stelle verhaften und in Ketten legen. Ich will ihn in einer Stunde im Verließ des Palastes sehen.“ Pratt nickte. Ihm würde nicht im Traum einfallen, seinen König für den Grund dieses seltsamen und unpopulären Befehls fragen. Immerhin würde er versuchen, die Angelegenheit diskret zu behandeln. Die Zuschauer sollten nicht bemerken, dass der Monarch den Sieger des Turniers in den Kerker sperren ließ. Rasch verließ er die Loge und eilte zum Befehlshaber der Wache. Lord Rhome wollte den Grund allerdings wissen. „Mein König“, sagte er, „wir alle trauern mit Euch über den unerwarteten und schmerzlichen Tod Hauptmann Gothers, aber es handelt sich zweifellos um einen schlimmen Unfall. Der junge Mann ist doch unschuldig daran.“ Gadennyn riss den Kopf schnell wie ein Raubvogel herum. Seine Augen brannten lichterloh vor Hass. Rhome erschrak bis ins Mark. „Ein Unfall? Zweifellos?“, fragte der König, und seine Stimme troff vor unterdrückter Wut. „Ihr seid blind, Rhome. Das war ein geplanter und kaltblütig ausgeführter Mord. Der Mann wird dafür büßen, und Ihr auch, wenn Ihr meine Entscheidung weiterhin in Zweifel zieht!“ Gadennyn, der bis zum letzten Atemhauch Gothers eine Verbindung zu dessen Geist besessen hatte, hatte wie viele andere Zuschauer gesehen, wie Orec etwas zu dem Hauptmann sagte, als sie sich dicht gegenüberstanden. Natürlich war er zu weit entfernt gewesen, um die Worte des jungen Mannes hören zu können, aber er hatte Gothers Reaktion darauf gespürt: zuerst ungläubige Überraschung, dann blankes Entsetzen. Die Furcht hatte dem Hauptmann so gelähmt, dass er dem scheinbar ungeschickten, in Wahrheit äußerst raffinierten Schwerthieb seines jüngeren Gegners nicht hatte ausweichen können. Die geschockten Zuschauer sahen, wie zahlreiche Soldaten der königlichen Wache die Arena betraten. Zwei von ihnen halfen dem immer noch neben Gothers Leiche knienden Orec sanft auf die Beine und führten ihn in ihrer Mitte hinaus. Die anderen hoben den Leichnam ihres Befehlshabers auf eine Trage, bedeckten sie mit einem Tuch, das mit dem königlichen Wappen geschmückt war, und zwei von ihnen trugen ihn davon. Die übrigen bildeten ein Ehrenspalier für Hauptmann Gother. Nachdem die königliche Wache die Arena verlassen hatte, verkündete das Kampfgericht seine Entscheidung: Der junge Mann hätte seinen Geg- 236 ner ohne Absicht getötet, erklärte es. Dennoch würde er nicht zum Sieger gekürt. In Anbetracht des traurigen Vorfalls und im Angedenken an den Toten, des beliebten und hoch geachteten Hauptmanns der königlichen Wache, sollte es keine Siegerehrung und Preisverleihung geben, erläuterte der oberste Kampfrichter. Das Turnier sei hiermit beendet. Der König verließ seine Loge, ohne ein Wort an die vor den Kopf geschlagene Menge zu richten, die es offenbar nicht wahrhaben wollte, dass das Spektakel auf diese Weise zu Ende ging. Die Zuschauer blieben in der Arena, standen beisammen und tuschelten miteinander. Es dauerte noch zwei Stunden, bis sich die letzen Gruppen endlich auflösten, und die Bürger von Inay nach Hause gingen. Die Verwandlung Orec leckte sich nervös die Lippen. Was war schief gelaufen? Die beiden Soldaten hatten ihn aus der Arena hinaus und in einen der Räume geführt, wo die Duellanten darauf gewartet hatten, zum Kampf aufgerufen zu werden. Dort wurde er direkt von vier weiteren Gardisten umstellt und in Ketten gelegt, bevor er sich zur Wehr setzen oder fliehen konnte. Sein Schwert lag immer noch im blutgetränkten Staub des Kampfringes. Hätte er es jetzt bei sich gehabt, wäre er mit den Sechsen fertig geworden, aber unbewaffnet hatte er keine Chance. Einer von ihnen war ein Offizier. Der erklärte ihm barsch, er sei auf ausdrückliches Geheiß des Königs in Arrest genommen worden. Die Wachsoldaten führten ihn ab. Es ging durch eine andere Tür, als die, durch die er hineingekommen war, durch einen langen gewundenen Gang, der bergab führte, und in dem es dunkel war, sodass einer der Soldaten eine Fackel anzünden musste, damit sie den Boden unter ihren Füßen sehen konnten. Schließlich erreichten sie eine Treppe, stiegen hinauf und verließen das Gewölbe. Jetzt befanden sie sich in einem engen Hinterhof, der von alten Häusern mit blinden Fenstern umgeben war, und in den kein Sonnenstrahl seinen Weg fand. Offenbar waren sie schon ein Stück von der Arena entfernt. Die Soldaten führten ihn durch enge, verwinkelte und menschenleere Gassen bis zu einer Mauer. Ein kleines Tor wurde von innen geöffnet, nachdem der Offizier ein Losungswort gesagt hatte. Sie befanden sich jetzt im Garten des königlichen Palastes. Orec erkannte ihn, denn bei 237 seiner Anmeldung zum Turnier hatte er beim Hinein- und Hinausgehen einen Blick darauf erhaschen können. Die Soldaten führten ihn in einen verlassenen, verwilderten Teil des Gartens, weit entfernt von den Palastgebäuden, und in ein kleines Wäldchen. Hier blieben sie in einer Lichtung stehen. Einer der Männer räumte ein paar vertrocknete Zweige und Äste beiseite und entblößte eine hölzerne Falltür im Boden. Der Mann öffnete sie. Ein Begleiter von ihm zündete eine mitgebrachte Fackel an und stieg hinab. Orec wurde auf das Loch zugestoßen und folgte dem Mann über eine Treppe in die Tiefe, die anderen Soldaten in seinem Gefolge. Und erneut führte der Weg einen dunklen und engen Stollen entlang, der an einer Tür endete. Diese Tür war aus dickem, mit Eisen beschlagenem Holz, und ihre Scharniere waren fest im Fels verankert. Der Offizier schloss sie mit einem großen Schlüssel auf, packte Orec am Arm und stieß ihn hinein. Er stolperte wegen seiner Fußketten, fing sich aber, und hatte noch einen kurzen Augenblick, um zu erkennen, wo er sich befand, während die Fackel des draußen stehenden Gardisten ein wenig Licht in den Raum warf. Es war eine runde, natürliche Felsengrotte, etwa zehn Schritt im Durchmesser. Dann hörte er das Geräusch quietschender Türangeln und das Schnappen des Schlosses, als der Schlüssel zweifach darin umgedreht wurde. Tiefe Dunkelheit umhüllte ihn. Hätte er die Hände vor die Augen heben können, was ihm nicht möglich war, da sie auf den Rücken gefesselt waren, hätte er sie nicht sehen, nicht einmal erahnen können. Er setzte sich auf den kalten, blanken Felsboden. Wieder fragte er sich: Was war schief gegangen? Er hatte seine Rolle doch perfekt gespielt. Es gab Hunderte von Zeugen, die gesehen hatten, dass Gothers Tod ein Unfall gewesen war. Niemand konnte ihn des Totschlags anklagen. Vielleicht hatte Gother ja Freunde, die Orec angezeigt hatten, weil er aus ihrer von Trauer und Rachegefühlen geleiteten Sicht verantwortlich für den Tod des Hauptmanns war. Es würde vielleicht eine Untersuchung geben. Aber das Gericht würde ihm nichts beweisen können und ihn freisprechen. Doch er befand sich nicht in einem Stadtgefängnis, sondern in einem offensichtlich geheimen Verlies im Innern des Palastes! Ein seltenes Gefühl übermannte ihn: Furcht. Die aufgetürmten Wolken bluteten im Licht der tief stehenden Sonne, und der Himmel färbte sich purpurn. Ein rötlicher Balken des durch den fernen Dunst gefilterten Sonnenlichts fiel fast horizontal durch das Fenster und bedeckte das Gesicht des Königs, das von innen zu glühen schien. Gadennyn lag mit geschlossenen Augen angekleidet auf seinem Bett. Auf seine Art trauerte er um Gother, der ihm zwar kein Freund, aber ein loyaler Un- 238 tergebener gewesen war. Der Mann hatte ihn in jeder Hinsicht unterstützt und war der Erste gewesen, den er in seine Pläne eingeweiht hatte, und der Einzige, der wusste, wer er wirklich war. Natürlich hatte der König erkannt, dass Gother ihm nur aus Eigennutz diente, nicht aus wahrer Zuneigung oder Freundschaft. Dennoch kam die Treue des Hauptmanns einer freundlichen Gunst so nahe wie kein anderes Gefühl, das Menschen, die er persönlich kannte, für ihn hegten. Gadennyn wusste, dass er von vielen geachtet, von einigen wegen seiner Klugheit und politischen Stärke bewundert, aber von niemandem geliebt wurde. Umso mehr war Gothers Tod ein persönlicher Verlust für ihn. Der Mann namens Orec, der ihn ermordet hatte, würde seine Tat für den kurzen Rest seines jämmerlichen Lebens bedauern. Seit drei Tagen schon war er in dem dunklen Loch eingesperrt, ohne Wasser und Brot. Noch heute Nacht würde sich der König mit ihm befassen. Er versuchte, sich ein wenig abzulenken, indem er sich mit dem Geist des Adlers verband, seinem Spion, der mit gespreizten Schwingen ohne Flügelschlag auf den Aufwinden des Abends nach Norden segelte. Wahrscheinlich befand er sich noch über Pheldae, möglicherweise aber schon in Vulcor. An der Landschaft, die im ganzen Norden von derselben eintönigen Gleichförmigkeit zu sein schien, konnte er es nicht ausmachen. Die Sonne ging gerade unter, und das wellige Land war bereits von langen Schatten bedeckt. Gadennyn hatte keine Ahnung, wie schnell der Vogel flog, um seine ungefähre Position einzuschätzen. Doch wenn der Adler das Vulcatgebirge erreichte, würde ihn der König leiten, denn dort kannte er sich aus. Er wollte ihn bis zum Kloster des Schwarzen Ordens führen. Unter ihm glitzerte das Band eines Flusses im letzten Licht, der durch die Landschaft mäanderte, und in dessen Nähe das Land fruchtbar und grün war. Da sich das Flussbett in nördliche Richtung erstreckte, gab der König dem Vogel den Gedanken ein, seinem Lauf zu folgen. Die Landschaft war jetzt zwar abwechslungsreicher, aber es wurde bald dunkel, und der Adler kreiste hinab, um sich auf einem Baum einen Schlafplatz zu suchen. Gadennyns Augenlider wurden schwer, und er nickte ein. Die Unruhe des Raubvogels, der etwas entdeckt zu haben schien, schlich sich in seinen Traum und weckte ihn. Die Morgensonne schien bereits und färbte die Wände des Westflügels des Palastes, zu dem sein Fenster hinausging, goldgelb. Er hatte die ganze Nacht geschlafen! Der Vogel, der bereits wieder in der Luft war, blickte auf eine veränderte Landschaft hinab. In den Nachtstunden hatte es geschneit. Das Land unter ihm lag jetzt wie unter einem weißen Laken. Er kreiste über einer großen, weiten Ebene am Ufer des Flusses, die von dunklen Punkten bedeckt war, welche wie gemahlener Pfeffer über die weiße Fläche ausgestreut schienen. In der Mitte seines Gesichtsfelds nahm er einen einzelnen Fleck erheblich 239 vergrößert wahr, eine Eigenschaft der Augen von Raubvögeln nutzend, die es ihnen ermöglichte, selbst eine kleine Feldmaus aus großer Höhe wie durch ein Fernrohr zu erkennen. Bei diesem einzelnen Fleck handelte es sich offenbar um ein großes Mannschaftszelt. Gadennyn erkannte verblüfft, dass er mit den Augen des Adlers auf eine Zeltstadt hinabblickte. Es mochten Hunderte, wenn nicht mehr als tausend Zelte sein! Und dazwischen wimmelte es von geschäftigen Menschen. Der Vogel kreiste langsam tiefer. Erste Einzelheiten wurden sichtbar: Zelte und Wigwams aller Formen und Farben, Hunderte niedergebrannter Feuer, Frauen und Männer, die Zelte abbauten und Wagen und Karren beluden, zahlreiche Männer in den Kleidern der Nomadenstämme von Vulcor, die ihre Pferde sattelten, aber noch mehr Männer in Rüstungen aus Leder, Eisen und Stahl, bewaffnet mit Schild und Schwert, die sich zu Marschkolonnen formierten – Soldaten! Der Adler kreiste nun in geringerer Höhe. Der König versuchte, die Menschen zu zählen, die sich in einem Gebiet bestimmter Größe aufhielten, und abzuschätzen, um wie viele es sich insgesamt handelte, indem er auf die ganze Fläche des Heerlagers hochrechnete. Es mussten fünf bis sechstausend sein! Er fühlte, dass das Herz des Adlers plötzlich schneller schlug, als er einen Menschen entdeckte, der eine Erinnerung in ihm weckte. Die Erinnerung an den Auftrag, den ihm sein Herr erteilte hatte: die Schwarzen Mönche zu finden. Tatsächlich sah Gadennyn die unverkennbare schwarze Robe, die der durch die engen Gänge zwischen den Zelten eilende Mann trug. Der Adler verfolgte ihn, ohne dass der Schwarze Kämpfer es bemerkte. Er erreichte den Vorplatz eines großen Zeltes, wo weitere Ordensbrüder versammelt waren und sich offensichtlich auf den Aufbruch vorbereiteten. Die meisten hatten ihre Kapuzen zurückgeschlagen. Der Vogel fasste sie nacheinander in sein scharfes Auge. Der König musterte die Gesichter, versuchte sich an seine Zeit als junger Novize Athlan im Kloster zu erinnern. Aber viele Jahre waren seitdem vergangen, und kaum einer der Männer war in seinem Alter. Die meisten waren viel jünger und vermutlich zu seiner Zeit noch keine Ordensmitglieder gewesen. Gadennyn erkannte nur einen von ihnen, ausgerechnet den jüngsten: Es war Trygar. Neben dem jungen Magier, dessen Züge die jugendliche Weichheit verloren hatten, stand eine Frau, etwa in seinem Alter. Auch sie trug die schwarze Robe. Das musste Duna, die Feuermagierin sein, von der ihm Gother berichtet hatte. Gadennyn sah auf einmal seine vermutlich gefährlichsten Gegner direkt vor sich, umgeben von einem Heer tausender Soldaten, das wahrscheinlich aufgestellt worden war, ihn anzugreifen und zu besiegen, und konnte dennoch nichts gegen sie unternehmen. Das Wichtigste war jetzt, herauszufin- 240 den, wo sie sich befanden. Der Adler schraubte sich wieder in die Höhe. Der König ließ ihn das Lager weiträumig umfliegen und prägte sich die Landschaft genau ein: den Verlauf des Flusses, die Lage einer Hügelkette einige Meilen entfernt, den Abstand zu den Bergen im Osten, die für einen Menschen nur als bläulich graue Linie am Horizont wahrzunehmen waren, und einen zweiten, größeren Strom, weit im Süden, in den der Fluss mündete, gerade eben noch für das Adlerauge erkennbar. Auf dem Rückweg zur Zeltstadt entdeckte der Raubvogel noch etwas: eine große, rauchende Feuerstelle außerhalb des Lagers. Der König ließ ihn hinabkreisen. Es war ein immer noch glimmender Scheiterhaufen. Darin lag der verkohlte Kadaver eines riesigen Tieres. An den langen, hauerartigen Reißzähnen erkannte er, dass es sich um eines seiner Geschöpfe handelte. Gadennyn hoffte, dass der Dämonentiger, wie er ihn selbst nannte, viele Menschen des Heerlagers mit in den Tod genommen hatte. Aber Trygar war noch am Leben, also war der Anschlag, was das wichtigste Ziel betraf, fehlgeschlagen. Der König schlug die Augen auf und blendete damit das Bild aus, das ihm der Adler sandte. Jetzt war Wichtigeres zu tun als seine Feinde zu beobachten. Er stand auf und eilte zu einem Schreibpult aus poliertem Kirschholz, ergriff einen Kohlestift und ein Blatt Papier und begann zu zeichnen: eine möglichst genaue Karte des Ortes, an dem das Lager aufgeschlagen war, und seiner Umgebung. Danach klingelte er nach seinem Kammerdiener: „Bring mir sofort alle Geografen und Gelehrten des Hofes und der Stadt hierher. In spätestens einer Stunde will ich sie sehen!“ Die Gelehrten stritten und debattierten fast zwei Stunde lang, wälzten große Folianten und Dutzende Karten, ehe sie sich einigen und Gadennyns Frage beantworten konnten, wo sich die von ihm gezeichnete Landschaft befinde. „Euer Majestät“, erklärte der Wortführer mit brüchiger Stimme, ein verhutzelter, kahler Greis von fast hundert Jahren, „es gibt nur einen Ort auf dem Gebiet des Alten Königreichs, wo ein großer, von Norden kommender Fluss in einen noch größeren Strom, der von Osten nach Westen fließt, mündet. Mit Eurer Erlaubnis haben wir die Karte ergänzt. Seht“ – er zeigte mit einem knorrigen, dürren Finger auf die Zeichnung und verfolgte mit ihm den Verlauf des großen Stroms – „Er entspringt im Wolfszahngebirge und fließt in den Harkenna-See. Daraus schließen wir, dass sich der Ort, nach dem ihr sucht, am Oberlauf des Flusses Mathe in Pheldae befindet.“ „Bei Wathan“, entfuhr es Gadennyn. Das Heer stand viel weiter südlich als er es befürchtet hatte. „Nun gut. Habt Dank. Ihr könnt gehen.“ Nachdem die Wissenschaftler den Raum verlassen hatten, wandte er sich an Kanzler Pratt, den er ebenfalls hatte rufen lassen. „Wie viele der Lords sind noch in Inay?“, fragte er ihn. 241 „Ich glaube alle, Majestät. Zwar ist die Sitzung des Hauses der Lords schon längst beendet, und normalerweise wären sie in ihre Provinzen zurückgekehrt, aber in Anbetracht…“ „Ich weiß, was du meinst“, unterbrach ihn Gadennyn. „Ein neuer König wurde gewählt, und in seinem Licht werden die Krumen der Macht neu verteilt. Jeder bleibt in der Hauptstadt, weil er befürchtet, die anderen könnten mehr davon erhaschen als er selbst. Sie suchen ja fast täglich um Audienzen bei mir nach.“ „Aber Ihr lasst sie am Haken zappeln.“ „Die, die mir ihre Loyalität beweisen, werden schon noch ihre Pfründe bekommen. Wir wollen jetzt einmal die Nagelprobe machen: Berufe für morgen eine Versammlung des Hauses der Lords ein. Keiner darf fehlen. Sag ihnen, der König befehle es, und es gehe um eine Angelegenheit von größter Wichtigkeit. Der Frieden sei in Gefahr.“ „Dann wollt Ihr sie jetzt von Euren Plänen unterrichten, eine Heimatwehr gegen innere Bedrohungen aufzustellen? Oder geht es um die Einberufung der Reserve und die Verstärkung der Heeresverbände an der Grenze zu Orinokavo? Das kommt unerwartet früh. Soweit ich weiß, hat Retho noch nicht alle ‚Beweise’ für die bevorstehende Aufruhr durch Anhänger des Rabenbundes beisammen. Ich habe zwar schon einige Gerüchte streuen lassen, dass es in Orinokavo revanchistische Tendenzen gibt, aber das allein dürfte nicht ausreichen, die Lords zu bewegen, einen Feldzug zu unterstützen.“ „Die Lage hat sich grundlegend geändert, Aturo. Wir brauchen keine vorgeschobenen Gründe mehr, um eine Heimatwehr zu rekrutieren und die Reserve zu aktivieren, wie es mein ursprünglicher Plan vorgesehen hat. Wir müssen sofort damit beginnen, eine Armee aufzustellen, denn die Bedrohung ist jetzt real. Ein großes Heer marschiert auf Koridrea zu, um uns anzugreifen! “ Pratt machte große Augen. „Wer greift uns an? Ist es der Kaiser von Orinokavo?“ „Zähme vorerst deine Neugier, Aturo. Du erfährst alles, wenn ich zu den Lords spreche. Nun musst du aber eine andere Aufgabe für mich erledigen. Lasse dem Gefangenen die Fesseln abnehmen und ihm ein gutes Essen, Wasser, Wein, warme Kleidung und Licht bringen. Er soll wieder zu Kräften kommen. Verstärke die Wachen an beiden Eingängen zur Grotte. Ich vermute, dass er einen Fluchtversuch riskiert, sobald er dazu wieder in der Lage ist. Wenn Orec entkommt oder dabei getötet wird, bezahlt der verantwortliche Wachoffizier mit seinem Leben dafür. Sag ihm das!“ Orec wusste nicht, wie lange er ohne Wasser und Nahrung ausgekommen war. Es mussten viele Tage gewesen sein, denn er rang bereits mit dem 242 Tod, als sie ihm endlich etwas brachten. Die erste Mahlzeit gab er wieder von sich, weil er sie vor lauter Hunger zu hastig hinuntergeschlungen hatte. Auch das Wasser konnte er kaum bei sich behalten. Sie schickten ihm einen Arzt, der ihm eine leichte Suppe verordnete und ihn ermahnte, sie langsam und in kleinen Schlucken zu trinken. Einige Stunden später konnte er feste Nahrung zu sich nehmen und fühlte sich etwas besser. Er war endlich wieder in der Lage, aufzustehen und sich auf seinen zitternden Beinen zu halten. Eine Öllaterne brannte und warf genug Licht, dass er sich in seinem Gefängnis umsehen konnte. Die Wände bestanden aus porösem, aber glattem Felsgestein und waren von zahlreichen Löchern durchsiebt, deren Größe von der eines Nadelstichs bis zum Durchmesser einer Faust reichte. Orec vermutete, dass er sich in der Kaverne einer ausgetrockneten Quelle befand. Es gab zwei Türen: die eine, durch die man ihn in die Felsgrotte gestoßen hatte, und die auf einen Gang hinausging, der in den Palastgarten führte, und eine weitere, die in die entgegengesetzte Wand eingefügt war. Sie besaß ein vergittertes Guckloch. Vermutlich mündete sie in die Kellergewölbe unter dem Palast. Sein Gefängnis war leer, bis auf einen rechteckigen, steinernen Tisch in der Mitte der Grotte, dessen Platte, die auf einem gemauerten Sockel lag, dick und schwer war. Einige seltsame Eisenbeschläge waren auf der Platte befestigt. Orec sah genauer hin. Es waren fünf im Durchmesser verstellbare und verriegelbare Halteklammern, eine große, nahe dem oberen Tischende, zwei kleinere an den Außenkanten, etwa in der Mitten der Längsseiten, und zwei weitere am unteren Ende der Platte. Diese war mit braunen und rostroten Flecken übersät. Das war kein Tisch, sondern eine Folterbank, erkannte Orec bestürzt. Die Klammern dienten zur Fixierung des Kopfes, der Arme und Beine. Er zitterte immer noch, jetzt aber nicht nur vor Schwäche. Ein kalter Hauch hatte ihn berührt, das substanzlose Gespenst des Horrors. Auf einmal erschien die Tatsache, dass sie damit begonnen hatten, ihn wieder aufzupäppeln, in einem anderen Licht: Nein, sie wollten ihn nicht bald freilassen. Sie wollten seinen Körper stärken für die bevorstehende Folter. Durch die vergitterte Türöffnung drang Licht ein, das er bisher gar nicht bemerkt hatte. Der Gang draußen war vorher noch nicht beleuchtet gewesen. Orec erschrak bis ins Mark, als sich die Öffnung plötzlich verdunkelte, abgeschirmt durch die Silhouette eines Kopfes. Sein Nackenhaar sträubte sich, und kalter Schweiß durchtränkte seine Kleider. Der Beobachter vor der Tür jagte ihm unerklärliche Angst ein. Plötzlich erlosch die Laterne in der Grotte, als habe jemand die Flamme des Dochtes ausgeblasen. Er hörte, wie sich der Schlüssel im Schloss drehte. Die Türangeln quietschten nicht, als sie sich öffnete. Die Scharniere waren gut geölt, was auf häufigen Gebrauch schließen ließ. 243 Im rechteckigen, hellen Umriss der Türöffnung stand eine Gestalt. Ihr Gesicht lag im Schatten. Nur einer, dachte Orec erleichtert. Ich bin zwar noch schwach, aber mit einem werde ich fertig, selbst wenn er bewaffnet ist. Und dann werde ich fliehen. Er duckte sich und spannte die Muskeln an. Komm nur her, dachte er. Der Mann trat ein. „Lege dich auf die Bank, mein Junge“, sagte eine kühle, teilnahmslose Stimme, die wie die eines Arztes klang, bevor er den Kranken untersuchte. Und Orec legte sich auf die Bank. Er wusste nicht, wie ihm geschah, aber er musste der Stimme gehorchen. Der Mann kam zu ihm. Gleich, dachte Orec, wenn der andere sich über ihn beugte, würde er ihn an der Kehle packen und erwürgen. Aber er tat es nicht, als die Gestalt neben der Bank stand, den oberen Eisenreif um seinen Hals schloss und verriegelte und die Halteklammern an seinen Hand- und Fußgelenken einschnappen ließ. Orec hatte die Chance, sich zu wehren und zu fliehen, verpasst. Wie war das möglich? Sein Körper hatte seinem Willen nicht gehorcht! Plötzlich ging das Licht wieder an. Von allein! Das war unmöglich, es sei denn… „Ja, Orec. Das ist Magie“, sagte der König lächelnd, als er sich über ihn beugte und mit der Hand über die Stirn strich. „Du wirst noch viel über Magie lernen. Am meisten über die Magie der Verwandlung. Leider wird es lange dauern und für dich sehr schmerzhaft sein. Obwohl – ich sollte sagen, dass ich es nicht bedaure, wenn du leiden musst, denn du hast jemanden ermordet, an dem mir sehr viel lag. Gother war mein bester Mann und treuester Diener, fast unersetzbar. Aber du wirst Gelegenheit bekommen, deine Tat aufrichtig zu bereuen, und den immensen Schaden, den du angerichtet hast, wieder gutzumachen.“ Gadennyn war zufrieden. Die erste Sitzung mit Orec hatte die ganze Nacht hindurch gedauert und war erfolgreich verlaufen. Er hatte damit begonnen, den Körper des Mannes für die bevorstehende Aufgabe, die er erfüllen sollte, anzupassen. Er musste dabei behutsam vorgehen, um ihn nicht umzubringen. Die Schreie hatten den König gestört. Der Mörder Gothers hatte kräftige Lungen und konnte brüllen, dass einem die Ohren klingelten. Gadennyn hatte sich vorsichtshalber Wachspfropfen hineingestopft. Nach einigen Stunden war sein Opfer so heiser geworden, dass nur noch ein röchelndes Wimmern aus seinem aufgerissenen Mund gedrungen war, ein Zeichen für den König, dass er nun eine Pause einlegen musste. Orec war noch geschwächt vom dreitägigen Fasten und Dürsten. Er durfte seinen Körper nicht überfordern. Jetzt würde er ihm einige Tag Zeit geben, um sich zu erholen. Auch Gadennyn war müde. In einer Stunde würde er sich mit den Lords treffen. Alle hatten zugesagt – was blieb ihnen auch anderes 244 übrig – seiner Vorladung zu folgen. Doch vorher wollte er noch ein wenig ausruhen. Rhome war beunruhigt. Zuerst die plötzliche Anberaumung der Sitzung des Hauses der Lords durch den König, dann der von einem geheimen Boten überstellte Brief von Lord Mulder mit der Bitte, sich sofort mit ihm zu treffen. Der Bote führte ihn auf verschlungenen Wegen zum Treffpunkt, einer kleinen Schenke irgendwo in den engen Gassen von Inay. Als Rhome in die Gaststube eintrat, kam der Wirt auf ihn zu und zog ihn rasch zum Eingang eines Nebenraums, bevor die anwesenden Gäste den Besucher erkennen konnten. „Die Person, die Euch treffen möchte, befindet sich da drin, Mylord“, sagte der Mann und ging wieder in den Schankraum zurück. Rhome öffnete die Tür. Mulder erwartete ihn bereits und begrüßte ihn: „Ich danke Euch, dass Ihr gekommen seid, Rhome. Setzt Euch und nehmt einen Schluck Wein mit mir.“ Der Lord musterte sein Gegenüber, als der andere ihm den Wein eingoss. Mulder war blass, und sein Gesicht wirkte angespannt. Er schien heute ganz und gar nicht der kühne und furchlose Mann zu sein, als den er ihn kannte. „Was ist los, Mulder?“, fragte er, nachdem er den faden und billigen Wein probiert hatte. „Ich will ohne Umschweife zur Sache kommen, auch wenn es mich den Kopf kosten könnte, Euch zu vertrauen, Rhome. Aber ich wüsste nicht, an wen ich mich sonst wenden sollte. Vor sechs Tagen erhielt ich Besuch von einem Vetter von mir. Der hatte seinerseits kurz zuvor einen Freund getroffen, der in König Gadennyns Burg nahe Shoal wohnt. Die Bewohner der Burg sind beunruhigt, allen voran ein Mann namens Harold, ein Gelehrter und anscheinend so etwas wie ein Hofmagier.“ Rhome hasste Magie. Er war erstaunt. „Der König hält sich einen Magier?“ „Das ist nicht die unangenehme Überraschung, von der ich Euch berichten wollte. Wenn es auch seltsam ist, wie ich zugebe. Aber nicht um diesen Mann geht es, sondern um Aturo Pratt, den Kanzler. Harold und andere in Gadennyns Burg sind sehr besorgt, dass ausgerechnet Pratt zum ersten Mann im Staat nach dem König aufgestiegen ist. Sie dachten, er schmore im Kerker.“ Mulder machte eine Kunstpause und suchte nach einer Reaktion in Rhomes Miene. Der war allerdings sehr überrascht. „Fahrt fort“, bat er ungeduldig. „Es stellte sich heraus, dass Pratt ein überführter Mörder ist. Lord Gadennyn hatte ihn seinerzeit mit einer militärischen Eskorte nach Inay bringen lassen, um ihn der Gerichtsbarkeit des damaligen Königs Bredos zu 245 überantworten. Statt jedoch verhaftet und vor Gericht gestellt zu werden, stieg er schnell zum wichtigsten Berater des Königs auf, wurde bald zum Kanzler und ebnete König Gadennyn nach dem Tod Bredos’ den Weg an die Macht.“ Jetzt machte Rhome große Augen und schnappte hörbar nach Luft. Mulder berichtete weiter: „Nachdem mir mein Vetter das alles erzählt hatte, stellte ich selbst Nachforschungen an. Ich wandte mich an den ehemaligen und inzwischen entlassenen Befehlshaber der Königlichen Wache. Der erzählte mir, die Soldaten, die den ‚Gefangenen’ damals überstellt hatten, hätten ihm ein Schreiben von Lord Gadennyn an den König überreicht. Der Mann brachte den Brief gleich zu Bredos, der ihn in seinem Beisein laut las. Darin stand jedoch nichts von einem Mord. Stattdessen war es ein von Pratt unterzeichnetes und von Gadennyn bewilligtes Versetzungsgesuch an den königlichen Hof, mit einer Empfehlung des Lords, dem verdienten und tüchtigen Beamten eine verantwortungsvolle Aufgabe zu übertragen.“ „Gadennyn hat Bredos also einen Kuckuck ins Nest gesetzt!“ „Es sieht ganz so aus. Ich hege sogar den Verdacht, dass Pratt selbst den alten König hat ermorden lassen, und zwar auf Gadennyns Befehl hin!“ „Was Ihr behauptet, ist Landesverrat, Mulder, wenn Ihr es nicht beweisen könnt!“ „Ihr habt Recht. Ich kann es nicht beweisen – noch nicht. Deshalb ziehe ich nur Euch ins Vertrauen. Aber es gibt noch mehr: ich bin ziemlich sicher, dass der König nicht nur einen Magier in seinen Diensten hat, nämlich diesen Harold, der allerdings ein harmloser Bursche zu sein scheint, sondern selbst ein Magier ist, und zwar einer von der gefährlichen Sorte.“ „Wie kommt Ihr darauf?“ „Seit ich dem König misstraue, bezahle ich eine Menge Leute gut dafür, im Palast und in der Stadt die Augen und Ohren offen zu halten und mir über alle ungewöhnlichen Vorkommnisse Bericht zu erstatten. Zuerst verschwanden einige gefährliche Raubtiere aus der Menagerie. Es gibt ein geheimes Verließ in den Kellergewölben des Palastes. Dorthin, so sagen die Gerüchte, wurden sie gebracht. Man sagt, der König habe sie mit böser Magie verzaubert. Danach seien sie freigelassen worden. In Orinokavo wurden zahlreiche Menschen von riesigen, dämonischen Bestien getötet, hört man.“ „Oh.“ „Nun ist ein Mensch in diesem Loch unter dem Palast eingesperrt. Einer der Soldaten, die ihn gefangen genommen haben, erzählte es meinem Agenten. Der Gefangene ist der Mann, der Hauptmann Gother im Winterturnier getötet hat. Ihr wart ja selbst dabei. Heute Nacht hat der Soldat die 246 schlimmsten Schreie gehört, die ein Mensch ausstoßen kann. Sie kamen aus dem Verlies.“ „Warum erzählt Ihr mir das alles, Mulder?“ Mulder schwieg einen Moment und holte tief Luft, wie ein Ertrinkender, der ein letztes Mal die Wasseroberfläche durchstößt, bevor er versinkt. Seine sonst so selbstsichere Stimme zitterte. „Ich werde den König gleich mit dem was ich weiß, konfrontieren. Die einzige Chance, das zu überleben ist, die Anschuldigungen in Anwesenheit aller Lords vorzubringen. Ich hoffe, dass er sich in Widersprüche verwickelt. Wenn ich ihm ein Geständnis entlocken oder zumindest seine Glaubwürdigkeit stark erschüttern kann, stelle ich den Antrag, ihn abzusetzen.“ „Ihr seid verrückt! Wollt Ihr, dass ich Euch dabei unterstütze?“ „Nein, das kann ich nicht von Euch verlangen, Rhome. Ich könnte Euch ja belügen. Entscheidet wie alle anderen Lords über meinen Antrag, nachdem ihr meine Anschuldigungen und die Verteidigung des Königs gehört habt.“ „Aber warum erzählt Ihr mir das alles jetzt, wenn ich es doch gleich ein zweites Mal hören werde?“ „Weil ich nicht weiß, ob ich meine Anklage überhaupt vorbringen kann. Wie ich Euch schon sagte, glaube ich, dass der König die dunkle Magie beherrscht. Es ist also möglich, dass ich sterbe, bevor ich ihn belasten kann. Dann gibt es wenigstens einen, der Bescheid weiß. Ich lege damit die Zukunft des Landes in Eure Hände, Rhome. Sollte ich sterben, müsst ihr so tun, als glaubtet ihr kein Wort von dem, was ich gesagt habe. Ihr könnt nicht den offenen Weg wählen, sondern müsst den des Verrats und der Intrige gehen, um Gadennyns Pläne, was immer er Böses im Sinn hat, zu durchkreuzen.“ Lord Mulder stand auf. Er sah aus, als habe er von einem Arzt die Nachricht seines bevorstehenden Todes durch eine unheilbare Krankheit erhalten und ordne nun gefasst und in sich selbst ruhend seine Angelegenheiten. Rhome wusste nicht, ob er ihm glauben sollte, aber er bewunderte den Mut des Mannes und seine selbstlose Loyalität zu seinem Land. Mulder nahm ihm am Arm. „Kommt, Rhome. Wir müssen nun gehen. Die Sitzung beginnt gleich.“ Ein Diener weckte ihn mit ängstlichem Gesichtsausdruck und erinnerte ihn an die Sitzung des Hauses der Lords. Der König konnte, wenn er müde und schlecht gelaunt war, sehr ungerecht sein, aber dieses Mal blieb seine Reaktion gelassen. Er kleidete sich rasch an. Im Vorraum wartete schon Kanzler Pratt auf ihn. Gemeinsam gingen sie zur Halle, wo die Lords am großen Rund der Tafel Platz genommen hatten und hastig aufstanden, als die beiden mächtigsten Personen Koridreas eintraten. 247 „Ich habe Euch hergebeten, Mylords“, begann der König, nachdem er die Fürsten begrüßt und ihnen für ihr Kommen gedankt hatte, „weil unser Land und die ganze Welt von einer schrecklichen Gefahr bedroht werden. Ihr alle kennt die Geschichte des Alten Königreiches gut und auch einen Namen, der darin eine bedeutende und schmähliche Rolle spielt – Semanius.“ Kein Raunen ging durch die um die Tafel sitzenden Lords. Er blickte sie der Reihe nach an. Auf einigen Gesichtern war Unverständnis und Ratlosigkeit zu lesen, auf anderen gespannte Erwartung. „Ihr fragt Euch, welche Gefahr der seit mehr als vierhundert Jahren tote Lordmagier für uns heute noch darstellen kann?“ Gadennyn machte eine wirkungsvolle Pause und blickte wieder in die Runde der fragenden Gesichter. Dann kam er zum dramatischen Knalleffekt: „Nun, Mylords – er lebt!“ Diesmal war die Reaktion ganz nach seinem Wunsch. Amberline und Emmerlake fielen die Kinnladen herunter. Parrish brüllte mit seinem tiefen Organ „Ha!“ und hieb mit der Faust auf den Tisch, dass die Gläser klirrten. Golderhat, der dümmste von ihnen, kicherte nervös. Sagris sprang auf, öffnete den Mund, schwieg aber und setzte sich wieder. Bradley kniff sich heftig in die Nase. Mulder war blass. Dage, Parrish und Froding tuschelten aufgeregt miteinander, und Whiney nahm einen zu tiefen Schluck aus seinem Rotweinglas. Nur Rhome wirkte scheinbar ungerührt. Der König erzählte ihnen jetzt dieselbe Geschichte wie vor anderthalb Jahren Trygar, an jenem Tag in der Felsenhalle, als er sein erstes Dämonengeschöpf auf sich selbst losgelassen hatte, um den jungen Magier von der Wahrheit seiner Erzählung zu überzeugen. Er berichtete den Fürsten, wie er in jungen Jahren von seinem Vater, dem damaligen Lord von Shoala, in diplomatischer Mission nach Vulcor gesendet wird und dem Schwarzen Abt in die Hände fällt. Er findet heraus, dass dieser Mann, der sich Nunoc Baryth nennt, der wiedergeborene Semanius ist. Der offenbart ihm seine Pläne. Er will die Länder des Alten Königreichs mit der Hilfe des Gefangenen erobern, doch Gadennyn widersteht dem Lordmagier, als der versucht, seinen Willen zu brechen und ihn zu seinem Werkzeug zu machen. Mit viel Glück und der Hilfe Wathans gelingt es dem jungen Athlan, dem Schwarzen Orden zu entkommen. Nach langer und gefahrvoller Reise wieder in der Heimat angekommen, erfährt er, dass sein Vater von einem gedungenen Mörder umgebracht worden ist. Es kostet seine ganze Kraft, so plötzlich, unvorbereitet und so jung an Jahren das Erbe des Lords antreten zu müssen, und es dauert lange, bis er genug Wissen und Erfahrung gesammelt hat, eine große und mächtige Provinz zu regieren. In diesen Jahren 248 bringt er nicht die Energie auf, etwas gegen Semanius zu unternehmen. Er hat Angst um sein Leben, weil er glaubt, dass es der Lordmagier gewesen ist, der den Mörder seines Vaters beauftragt hat, und tatsächlich gibt es drei Mordanschläge auf ihn. Einem entkommt er nur äußerst knapp. Nachdem er seine Burg außerhalb von Shoal gebaut hat, fühlt er sich sicherer, und zum ersten Mal denkt er darüber nach, wie er Semanius aufhalten kann. In Vulcor ist immer noch alles ruhig. Gadennyn hat Verbindungsleute dort, die ihm von Zeit zu Zeit Berichte senden. Keinem von ihnen kann er aber soweit vertrauen, um ihn in die Höhle des Löwen zu schicken. Er sendet deshalb Hauptmann Gother als Spion zum Kloster des Schwarzen Ordens hoch in den Norden. Er soll herausfinden, was Semanius plant. Gother kehrt tatsächlich mit wichtigen Erkenntnissen zurück, wird aber von einem Schwarzen Kämpfer des Ordens verfolgt und schließlich gestellt. Es kommt zum Kampf, und Gother besiegt seinen Gegner mit der unerwarteten Hilfe des jungen Magiers Trygar. Gadennyn nimmt Trygar bei sich auf und bildet ihn aus. Er glaubt, dass die einzige Waffe gegen einen Magier wie Semanius ein anderer Magier sein könnte. Auf Bitte Gadennyns brechen Trygar und Gother mit einigen Gefährten nach Vulcor auf, um den Schwarzen Abt zu töten. Viele Monate später kehrt Gother allein zurück. Er berichtet seinem Herrn Gadennyn, der inzwischen zum König gekrönt worden ist, dass die Gefährten nach langer und gefahrvoller Reise das Kloster des Schwarzen Ordens gefunden haben. Trygar und Gother dringen gemeinsam ein, und es gelingt ihnen tatsächlich, den Schwarzen Abt Nunoc Baryth, in dem Semanius wiedergeboren wurde, zu töten. Gadennyn machte eine Pause. Er wollte zunächst die Reaktionen der Anwesenden abwarten. Die Lords waren der Erzählung des Königs gespannt gefolgt. Einige von ihnen tuschelten jetzt miteinander. Rhome räusperte sich und sagte: „Dann ist die Gefahr Dank Eurer Weitsicht und des Mutes von Hauptmann Gother und dieses jungen Magiers in Euren Diensten ja gebannt, Majestät.“ „Es tut mir Leid, Euch enttäuschen zu müssen, Lord Rhome, aber das glaube ich nicht.“ „Aber Semanius ist doch jetzt tot?“ „Die Person, deren Leib er beseelt hat, ist tot. Semanius hat sich aber einen anderen Körper genommen, den des Mannes, der den Schwarzen Abt getötet hat: Trygar.“ Ein Raunen wurde von den marmornen Wänden des Saals zurückgeworfen und vervielfältigt, und seine Echos klangen wie ferner Donner. Der König fuhr fort: „Ich will Euch noch den Rest der Geschichte erzählen, damit Ihr versteht, Mylords. Alle Mitglieder der Gruppe, die ich ausgesandt hatte, wur- 249 den von den Schwarzen Kämpfern des Ordens gefangen genommen. Aber nur für kurze Zeit. Trygar und die anderen – außer Gother – waren bald darauf wieder frei. Sie liefen zum Feind über und traten dem Schwarzen Orden bei. Gother entkam und berichtete es mir. Ist das nicht seltsam? Glaubtet Ihr denn, Mylords, dass die Schattengänger, wie die Mitglieder des Schwarzen Ordens genannt werden, nicht Rache für den Tod ihres Anführers genommen hätten? Nähmet Ihr wirklich an, dass diese Kreaturen der Unterwelt Trygar verziehen und begnadigt hätten? Ich kenne Trygar. Er ist – er war – ein guter Junge, dankbar, für das, was ich für ihn getan habe, loyal und von seiner Mission vollständig überzeugt. Dieser Trygar hätte niemals Verrat begangen. Nein, die einzige Erklärung dafür ist, dass es Trygar gar nicht mehr gibt, dass Semanius in seinen Körper geschlüpft ist. Nachdem ich diese meine Schlüsse gezogen hatte, wollte ich mehr erfahren. Was war geschehen, nachdem Gother geflohen war? Von meinen Verbindungsleuten in Vulcor hatte ich noch nichts gehört, was aber verständlich ist, denn wegen des heraufziehenden Winters ist der Landweg nur noch schwer passierbar. Gother hatte eines der letzten Schiffe benutzt, die von Vulcor ausliefen. Wenn etwas Entscheidendes nach seiner Flucht geschehen wäre, würde ich es durch einen berittenen Boten frühestens in einigen Monaten erfahren. Deshalb sandte ich meine Falken aus. Sie brauchten nur Tage zu meinen Gewährsleuten in Vulcor, und gestern kehrten sie mit deren Nachrichten zurück. Leider brachten sie schlimme Kunde, Mylords. Ein großes Heer, angeführt von Trygar und den Schwarzen Kämpfern der Schattengänger, mit annähernd zehntausend gut gerüsteten und bewaffneten Soldaten, unterstützt von Reiterhorden der Wilden aus Vulcor, ist auf dem Weg hierher und befindet sich bereits in Pheldae!“ Der Tumult war unbeschreiblich. Alle Lords sprangen auf und schrieen durcheinander. Selbst der sonst so ruhige und gelassene Rhome war außer sich. Der König hob beschwichtigend die Arme, und sofort kehrte wieder Ruhe ein. „Setzt Euch, meine Herren. Ich bin noch nicht fertig. Trygar – oder besser Semanius – ist nicht der einzige Magier in diesem Heer. An seiner Seite steht eine junge Feuermagierin namens Duna. Sie ist sehr gefährlich, wurde mir berichtet. Und vielleicht befinden sich noch mehr Magier in Semanius’ Gefolge.“ Er bemerkte nicht, dass Rhomes Gesicht aschfahl wurde. Kurz darauf hatte sich der alte Fürst aber wieder in der Gewalt. Rhome wäre fast das Herz stehen geblieben. Duna. Konnte es wirklich sein, dass er endlich ein Lebenszeichen von seiner Tochter gefunden hatte? Der Lord der Provinz Sandaba war ein Frauenheld und großzügiger Samenspender gewesen. Zahlreiche Bastarde waren als Frucht seiner sexuel- 250 len Vitalität geboren worden. Man konnte Rhome aber nicht vorwerfen, dass er sich nicht um das Wohlergehen seiner zeitweiligen Gespielinnen und deren Kinder kümmerte. Ganz im Gegenteil. Die meist kurze Liaison mit dem Lord war für die Mütter seine Bastardkinder oft zum Ausweg aus der Armut geworden. Er bezahlte ihnen eine lebenslange Leibrente und überhäufte sie noch jahrelang mit wertvollen Geschenken. Er war ein großzügiger Mann und liebte Kinder, vor allem seine eigenen. Er besuchte sie, wann immer er konnte. Am liebsten hätte er sie und ihre Mütter alle in seine Burg aufgenommen, aber seine jeweilige Ehefrau – von denen die sechste und letzte es am längsten mit ihm ausgehalten hatte und nach vierzehn Jahren immer noch an seiner Seite war, – und auch der Kardenus des Tempels hatten naturgemäß etwas dagegen. Zwei seiner Bastarde liebte er abgöttisch: Elin und Duna. Damit er sie gemeinsam besuchen konnte, hatte er Duna, deren leibliche Mutter leider gestorben war, Ela zur Pflege gegeben. Es war nicht einfach, denn das Mädchen akzeptierte Ela nicht als Mutter. Zwischen den beiden herrschte stets eine gewisse Spannung, obwohl sich Ela die größte Mühe gab, ihre Liebe zu gewinnen. Als Duna zu einer jungen Frau herangewachsen war, entdeckte Rhome durch einen Zufall, dass sie magische Fähigkeiten besaß. Er war entsetzt. Er verabscheute die Magie und verbot ihr, sie jemals wieder anzuwenden. Das Verhältnis von Vater und Tochter kühlte merklich ab. Sie wurden sich fremd. Zum Ausgleich widmete er seinem Sohn Elin und seiner Geliebten Ela, seiner Mutter, mehr Aufmerksamkeit, wenn er zu Besuch war. Er spürte Dunas Eifersucht und Unzufriedenheit. Sie projizierte ihre negativen Gefühle nur auf ihre Pflegemutter, bestrafte sie mit Verachtung und benahm sich ihr gegenüber gehässig. Der Lord wusste nicht, was er tun sollte. Sollte er Duna für ihr Verhalten bestrafen? Würde sie dann Ela nicht die Schuld daran geben? Er beschloss, sich mit seiner Tochter auszusprechen, und nahm sich vor, sich wieder mehr um sie zu kümmern. Doch der Tag, an dem er diesen Vorsatz umsetzte, sollte nie kommen. Immer wieder schob er das Gespräch mit Duna auf, bis es zu spät war. Das Unglück geschah. Er fand Elas Leiche in den Trümmern des bis auf die Fundamente niedergebrannten Jagdhauses. Seine Trauer und sein Zorn waren so groß, dass er einen Schuldigen suchte. Seine Tochter, mit ihrem Hass auf Ela und der Feuermagie als tödlicher Waffe, kam ihm in seiner Verblendung gerade recht. Tage, nachdem er sie verbannt hatte, kam er wieder zur Besinnung. Natürlich trug Duna keine Schuld an dem Unglück! Das Gewitter hatte den Brand verursacht. Er bereute seinen Fehler bitter und schickte seine Leute aus, sie zu suchen. Tage-, ja wochenlang durchkämmten sie den Wald und die umliegenden Dörfer und Städte, aber sie blieb verschwunden. Rhome hatte seine liebste Tochter verloren. 251 Bis zum heutigen Tag. Natürlich war es möglich, dass es zwei Personen mit dem Namen Duna gab, dass aber beide Magierinnen waren, wäre ein zu großer Zufall. Er musste zu ihr! Die unverhoffte Aussicht, seine Tochter wieder zu finden und die schmerzlichen Erinnerungen an sie hatten ihn vom Geschehen im Sitzungssaal abgelenkt. Scharfe Worte und eine unverholene Spannung im Raum riefen ihn in die Gegenwart zurück. Lord Mulder war aufgestanden und sprach mit dem König in einem Ton, der keineswegs respektvoll zu nennen war. Rhome erschrak. Mulder wollte doch etwa nicht seine Anschuldigungen vorbringen, nicht jetzt, in dieser Situation, als eine Armee in Begriff war, Koridrea anzugreifen! Mulders Verdacht, dass der König Aturo Pratt an die Macht protegiert hatte, damit dieser dessen Weg ebnen sollte, mochte richtig sein. Rhome hielt es auch durchaus für möglich, dass der König Pratts Verbrechen deckte. Unter normalen Umständen wäre dies ein Grund gewesen, den Monarchen abzusetzen, aber jetzt, im Angesicht eines bevorstehenden Krieges war das alles nebensächlich und musste zurückstehen. Rhome wollte dem übereifrigen Mulder einen warnenden Blick zuwerfen, aber dieser beachtete ihn gar nicht. Der Mann war totenblass, aber trotz seiner offensichtlichen Angst öffnete er den Mund und fuhr fort: „Ihr fragtet mich, Majestät, ob mir das Wort des Königs nicht Grund genug sei, in den Krieg zu ziehen. Meine Antwort lautet: nein.“ Die Lords waren aufgebracht. „Unerhört!“, brüllte Sagris. „Seid Ihr von Sinnen, Mulder?“, fragte Amberline entsetzt. Gadennyn wirkte angespannt. Er schien wütend zu sein, beherrschte sich aber. Mit ruhiger Stimme sagte er. „Dann erklärt Euer Misstrauen gegenüber Eurem König, Lord Mulder. Ich hoffe, Ihr habt einen guten Grund dafür.“ „Ihr habt das Haus der Lords betrogen, Gadennyn!“ Der Aufruhr war unbeschreiblich. Parrish wollte Mulder an den Kragen, und Rhome, Bradley und Golderhat mussten ihn festhalten, damit er nicht handgreiflich wurde. Es dauerte Minuten, bis die Lords sich wieder so weit in der Gewalt hatten, dass der König Mulder befehlen konnte fortzufahren. Der stellte Gadennyn die Frage, vor der sich Rhome fürchtete. „Hat es in Eurer Burg bei Shoal nicht vor einiger Zeit eine Untersuchung gegen Aturo Pratt gegeben? Wurde Pratt nicht des Mordes überführt? Habt Ihr nicht…“ Der König, blass, aber scheinbar gefasst, unterbrach ihn. „Wartet.“ Er legte dem Kanzler, der aufgesprungen war und Mulder mit entsetztem Gesichtsausdruck anstarrte, die Hand begütigend auf die Schulter. „Selbst, wenn das überhaupt nichts mit dem bevorstehenden Krieg zu tun hat, beantworte ich Eure Frage, Mulder. Ja, es hat eine Untersuchung gege- 252 ben. Es sind unsinnige Anschuldigungen gegen meinen damaligen Sekretär vorgebracht worden. Seine Unschuld wurde rasch bewiesen. Ich habe die Angelegenheit nicht für so bedeutend gehalten, um das Haus der Lords davon in Kenntnis zu setzen.“ „Aber habt Ihr nicht Pratt als Gefangenen nach Inay überstellen lassen, um…“ Wieder unterbrach ihn der König. „Ihr phantasiert, Mulder. Ihr sollte Euch nicht so sehr aufregen. Ihr wisst doch, Euer Herz.“ Mulders Gesicht zeigte Unverständnis. „Mein Herz?“ „Wir sollten doch die Fürsten darüber informieren, dass Ihr kürzlich meinen Leibarzt wegen Eures rasenden Pulses aufgesucht habt. Hat er Euch nicht empfohlen, Euch zu schonen und jede Aufregung zu vermeiden?“ Rhome beobachte Mulder genau. Der schien zutiefst überrascht. Plötzlich lief sein Gesicht rot an. Die Augen traten ihm aus den Höhlen. Er fasste sich mit beiden Händen an die Kehle und röchelte. Sein Gesicht änderte erneut die Farbe hin zu einem fahlen Blau. Blankes Entsetzen stand auf ihm. Dann fiel er wie ein gefällter Baum. „Rasch, holt einen Arzt!“, brüllte der König. Die Lords umringten immer noch den leblos am Boden liegenden Mulder. Keiner außer Rhome achtete darauf, dass der König einen raschen und leise geführten Wortwechsel mit seinem gerade eingetretenen Leibarzt führte. Der Mann wirkte danach ängstlich und angespannt. Er lief hinüber zu Mulder, beugte sich über ihn, hielt ihm einen Spiegel vor die Lippen und fühlte seinen Puls. Er schüttelte den Kopf. Die Geste war unmissverständlich. Mulder war tot. Vier Männer der Wache trugen den Leichnam hinaus. Gadennyn wandte sich an die verstörten Fürsten. „Es tut mir so Leid, dass der arme Mulder von uns gegangen ist. Könnt Ihr uns Aufschluss darüber geben, was geschehen ist?“, fragte er den Arzt. Der leckte sich nervös über die Lippen und rieb sich fahrig die Hände. „Das Herz von Lord Mulder war sehr geschwächt, Majestät. Es war nur eine Frage der Zeit: zuerst Rastlosigkeit, dann geistige Verwirrung, schließlich Atemstillstand.“ „Geistige Verwirrung?“ „Ich weiß nicht, ob Lord Mulder dieses Symptom zeigte. Es wäre bei seiner Krankheit jedenfalls zu erwarten gewesen. Bei seinem schwachen Kreislauf wird das Gehirn kaum durchblutet. Es kann zu Halluzinationen kommen und…“ „Jetzt verstehe ich.“ Der König stützte das Kinn nachdenklich auf seine Rechte. „Deshalb also die wirren Anwürfe. Er wusste nicht, was er sagte. 253 Oh, armer Mulder. Ich vergebe Euch. Möge Wathan Eure Seele aufnehmen. Mylords“ – er richtete seine Worte wieder an die Fürsten, die sich ein wenig gefasst hatten – „wir sollten diese Sitzung in drei Tagen weiterführen. Lasst uns heute des Toten gedenken und seiner trauern und ihn morgen mit einem Staatsbegräbnis ehren. Er war ein guter Mann.“ Als Lord Rhome mit den anderen Teilnehmern der Sitzung den Saal verließ, konnte er es immer noch nicht fassen. Sie alle waren soeben Zeuge eines magischen Mordes geworden, aber nur er, Rhome, wusste davon. „Habt ihr dem Gefangenen gut zu essen gegeben?“, fragte der König den Offizier barsch. „Er bekommt täglich Rationen für fünf Männer, Majestät. Sein Hunger scheint unstillbar. Er verschlingt Unmengen an Fleisch, Brot und Kartoffeln.“ „Gut. Habt ihr auch seine Ketten verstärkt?“ „Wir haben die Ankerkette eines Frachtkahns benutzt. Der Schmied hat eine neue, dreimal so starke Schelle geschmiedet und um den Fuß gelegt. Die Kette wurde zweimal um die Säule der Steinplatte geschlungen und mit zahlreichen Klampen darin verankert. Der Gefangene hat – wie ihr befohlen habt – einen gewissen Bewegungsspielraum. Die beiden Türen liegen aber außerhalb seiner Reichweite. Dennoch haben meine Leute Angst, die Grotte zu betreten, mein König. Dieses Wesen ist kein Mensch mehr! Er hat Kräfte wie drei Ochsen. Und er beschmutzt sich wie ein Tier. Den Eimer für seine Ausscheidungen benutzt er gar nicht mehr. Und bei den Mengen, die er isst… Ihr könnt Euch den Gestank vorstellen, Majestät.“ Gadennyn musste lachen. „Nicht nur vorstellen, mein Guter. Schließlich besuche ich ihn ja jede Nacht. Es ist eine vorübergehende Phase. Sein menschlicher Geist hat sich tief zurückgezogen, weil er die Qualen nicht ertragen kann. Bald wird er wieder zum Vorschein kommen – wenigstens teilweise. Aber wenn es dich beruhigt. Ich werde ihm befehlen, den Eimer zu benutzen. Tiere lassen sich dressieren.“ Er sah das entsetzte Gesicht des Offiziers, der zwar ein harter Bursche war, aber den es dennoch anzuwidern schien, wie der Gefangene in seiner Obhut vom König be-, oder besser misshandelt wurde. Gadennyn brauchte die Loyalität der Wachesoldaten und deshalb beschwichtigte er den Mann. „Orec ist nicht nur ein Mörder, Leutnant. Viel schlimmer: er ist ein Spion des Feindes. Seine gerechte Strafe wäre eigentlich der Tod. Aber ich brauche ihn lebend. Er kann seine Tat bald wieder gutmachen und wird ein freier Mann sein, nachdem ich seine Verwandlung rückgängig gemacht habe. Eine Weile aber muss er noch leiden. Das lässt sich nicht vermeiden. Ich erwarte Verschwiegenheit und bedingungslosen Gehorsam von dir und deinen Leuten. Es braucht niemand zu wissen, dass ich ein Magier bin. 254 Wenn ihr mein Vertrauen in euch rechtfertigt, werde ich euch reich belohnen. Wenn nicht…“ Er blickte den Leutnant scharf an und drückte ihm magisch ein ganz klein wenig die Luft ab, nur für einen kurzen Augenblick, doch das reichte. Der Mann keuchte vor Angst. „Wir… werden gehorchen, Majestät.“ „Bereitet den Gefangenen auf meinen Besuch vor. Säubert ihn und die Zelle. Und nun geh.“ Als er die Grotte betrat, war der Gestank überwältigend. Der Boden war triefnass. Offensichtlich hatten sie ihn geschrubbt. Aber die Luft in der Zelle konnten sie nicht austauschen. Orecs Kette klirrte, als er zur Steinbank hinüberschlurfte und sich darauf legte. Gadennyn hatte den Befehl dazu gar nicht mehr erteilen müssen. Zwischen ihnen hatte sich eine gewisse Zusammenarbeit entwickelt. Orec hatte begriffen: er würde umso weniger leiden, je weniger er sich wehrte. Als der König den Mann nackt auf der Platte liegen sah, die Arme an den Körper gelegt und die Beine eng beieinander, konnte er nachvollziehen, warum der Leutnant der Wache ihn nicht mehr für einen Menschen hielt. Er war nicht viel größer als die meisten, aber seine Muskelmasse hatte sich vervielfacht, sodass er gedrungen wirkte wie ein Zwerg. Die Schulterbreite betrug fast drei Fuß, der Hals war pyramidenförmig und kurz, dabei erheblich breiter als der Kopf. Die mächtigen Arme waren dermaßen muskelbepackt, dass sie kurz wirkten. Dicke Adern liefen wie blaue Stränge unter der Haut. Der Brustkorb war ein Fass. Die Muskeln modellierten ein Gebirge mit breiten Höhenzügen und schmalen, fast schluchtartigen Tälern. Die Beine glichen Säulen. Der Blick des Königs glitt wieder nach oben zu dem am wenigsten veränderten Teil des Körpers, dem Gesicht. Es war immer noch das eines hübschen Jungen, nun aber leer und ohne Lächeln. Gadennyn trat näher. Es war nun nicht mehr notwendig, aber auch gar nicht mehr möglich, den Gefangenen mit den eisernen Klammern an den Tisch zu fesseln, denn dazu waren Hals, Arme und Beine viel zu dick geworden. Orec würde trotz der bevorstehenden Qualen ruhig liegen bleiben und sich nicht wehren. Bald schon wäre es vorbei. Diese letzte Nacht brauchte der König noch. Er hatte die Körperkraft seines Opfers verzehnfacht, aber nicht nur das: um seine Reflexe würde ihn jedes Raubtier beneiden. Orec könnte mit einer dünnen Nadel eine vorbeischwirrende Fliege aufspießen. Seine Qualitäten als außergewöhnlich guter Schwertkämpfer hatten unter der körperlichen Veränderung nicht gelitten. Er besaß immer noch den Instinkt, die Aktionen seines Gegners vorauszuahnen, und seine Bewegungen waren so leicht wie die eines Tänzers. Jetzt fehlte nur noch eines. 255 Gadennyn griff tief in den Geist des Mensch-Tier-Wesens und zeigte ihm das Bild, dass sein Denken und Handeln beherrschen sollte, bis er die Aufgabe erfüllt haben würde: das Bild Trygars. Am frühen Morgen verließ der König die Gruft. Er war müde, aber zufrieden. Es war ein großer Kraftakt gewesen, aus Orec ein unfehlbares Mordwerkzeug zu machen. Kein menschliches Wesen könnte ihm Widerstand leisten. Mit einer Ausnahme: gegen einen Magier war selbst dieses Geschöpf machtlos. Und deshalb blieb noch eines zu tun. Gadennyns Alptraum waren Menschen, die, wie er, die Magie beherrschten. Zwar wusste er, dass er jedem Magier auf der Welt haushoch überlegen war, nicht einmal Nunoc Baryth hätte ihm zu seinen Lebzeiten das Wasser reichen können, dennoch gab es diese unerklärliche Furcht, dass ihn eines Tages ein anderer Magier besiegen könnte. Sein Ziel war deshalb, alle Menschen, die über magische Fähigkeiten verfügten, zu töten, sofern er sie nicht kontrollieren konnte. Harold, der greise Magier, der in seiner Burg nahe Shoal wohnte, war schwach. Solange er Gadennyn als Ratgeber nützlich sein konnte, mochte er am Leben bleiben. Er hatte kürzlich nach ihm schicken lassen, damit er ihn in Inay unter seine Aufsicht stellen konnte. Der alte Mann war wohl schon auf dem Weg in die Hauptstadt. Trygar war sein Werkzeug gewesen, um den Abt des Schwarzen Ordens zu ermorden. Nun war der junge Magier selbst zu Gadennyns bedrohlichstem Gegner geworden. Der Lord von Shoala hatte sein großes Talent gleich erkannt, als ihn Gother damals in seine Burg brachte. Zuerst hatte er ihn töten wollen, aber nachdem ihm der Hauptmann vom Sieg des jungen Mannes über den Schwarzen Kämpfer erzählte hatte, war ihm der Gedanke gekommen, ihn als Attentäter einzusetzen. War das ein Fehler gewesen? Nein, glaubte der König. Er hatte seinen Auftrag erfüllt. Es gab einen mächtigen Magier weniger, der ihm gefährlich werden konnte. Und Trygar würde als nächster sterben. Er betrat das Zimmer, von dessen Existenz nur wenige wussten, durch die Geheimtür. Pratt hatte ihm gesagt, dass es sich um den Rückzugsraum des alten Königs Silberhelm handelte. Bredos war oft zum Entsetzen seines Hofstaates stundenlang verschwunden gewesen und wieder aufgetaucht wie ein Geist. Diese Zeit hatte er in seiner „Schatzkammer“ verbracht, seine Truhen mit Geschmeide und Gold durchwühlt, mit seinen Fingern über die sanften Rundungen der von großen Bildhauern gemeißelten Statuen gestrichen, die Bilder alter Meister bewundert und in dicken, prächtigen Büchern mit Goldschnitt geblättert. Jetzt waren seine Schätze hinausgeräumt und durch Gadennyns wertvollste Besitztümer ersetzt worden, bei weiten nicht so ansehnlich wie die des alten Königs. Es handelte sich um magische Ar- 256 tefakte, schlichte Gegenstände, Flaschen mit Flüssigkeiten und Töpfe mit Pulvern, jedes davon in der Lage, gewaltige Kräfte zu entfesseln. Er öffnete einen der Tröge und betrachtete ein feines, unscheinbares, schwarzes Pulver, das wie gemahlene Holzkohle aussah und das auch war, allerdings mit einer Beschaffenheit, an der Gadennyn jahrelang gearbeitet hatte. Zum ersten Mal war er dieser besonderen Art von Magie während seiner Novizenzeit beim Schwarzen Orden begegnet, in einem Buch, das sich mit meisterlicher Magie befasste und sich an Magier wandte, die zu den besten und erfahrensten ihres Standes gehörten. Damals war er noch nicht so weit gewesen zu begreifen. Aber er hatte das Kapitel aus dem Buch heimlich abgeschrieben. Nach vielen Fehlschlägen war es endlich geschafft. Zuletzt war ihm die Idee gekommen, sein Amulett mit dem schwarzen Stein in den Staub zu tauchen. Das war der entscheidende Schritt gewesen. Er besaß nun einen Stoff, der jeden Magier, sei er noch so mächtig, besiegen konnte, einfach, indem er ihm dessen ganze magische Kraft raubte. Natürlich kannte auch Nunoc Baryth das Geheimnis, und Gadennyn war überzeugt, dass der Schwarze Abt einen ähnlichen Stoff entwickelt hatte. Aber der lebte nicht mehr. Er hatte sein Wissen nicht an Trygar weitergeben können, nachdem, was Gother über seinen schnellen Tod berichtet hatte. Der König bezweifelte, dass ein anderer Mönch oder Schwarzer Kämpfer des Ordens dieses Stadium des Könnens erreicht hatte, und selbst wenn: auch das würde Trygar nichts nützen. Gadennyn nahm einen kleinen Beutel, der an einer Lederriemenschlaufe hing, aus der Tasche seines Gewands und füllte mit einem Löffel etwas von dem Pulver hinein. Morgen würde er den Beutel um den Hals von Orec legen. Er steckte ihn in seine Tasche und machte sich auf zu seinen Gemächern. Der König wollte noch ein wenig schlafen. In zwei Stunden würde das Treffen mit den Lords stattfinden. Er hatte nun keinen Zweifel mehr, dass die Fürsten seinem Plan, die größte Armee in der Geschichte Koridreas aufzustellen, und mit ihr nach Norden vorzustoßen, vorbehaltlos unterstützen würden. Trygar hatte ihm den größten Gefallen getan, als er mit seinen paar tausend Soldaten und Wilden aufgebrochen war. Jetzt würde der König den Eroberungsfeldzug führen, den er geplant hatte, ohne als Aggressor dazustehen. Koridrea würde nur sein Recht wahrnehmen, sich zu verteidigen. Alle Trümpfe lagen nun in Gadennyns Hand. Er lächelte. Lord Rhomes Agenten hatten vergeblich versucht, den Leibarzt des Königs heimlich über Mulders Tod zu befragen. Der Mann war spurlos verschwunden und würde wohl nicht wieder auftauchen. Damit war klar, dass Mulder nie an Herzschwäche gelitten hatte. Wenn es eines weiteren Beweises für den grausamen Mord an dem mutigen Lord und für die Furcht ein- 257 flößenden magischen Fähigkeiten Gadennyns bedurft hätte, so war dieser das Verschwinden des Arztes und vermutlichen Mitwissers. Rhome fröstelte. Wenn der König jemals erfuhr, dass ihm Mulder alles erzählt hatte… Auch die weiteren Nachforschungen waren im Sande verlaufen. Seine Leute hatten versucht, Mulders Informanten unter den Bewachern des Gefangenen in der Gruft auszumachen, aber die Wächter schwiegen eisern. Die Angst, so berichtete einer von Rhomes Männern, stand ihnen ins Gesicht geschrieben. Wenigstens bestätigte der Vetter Mulders dessen Geschichte. Ja, Pratt war tatsächlich auf Gadennyns Burg des Mordes eindeutig überführt worden. Dass sich die Vorwürfe später in Luft aufgelöst hätten, sei eine Lüge. Alles zusammengenommen, ergab es das Bild eines Königs, der dunkle Magie anwandte, Mörder protegierte, Menschen quälte und die Lords belogen hatte. Dieser Mann wollte Koridrea jetzt in einen Krieg verwickeln. Waren die scheinbar einleuchtenden Gründe, die er dafür vorgebracht hatte, nur konstruiert, verfälscht oder gar erlogen? Rhome fragte sich, wer König Athlan Gadennyn wirklich war. Eines wusste er: Er konnte der Entwicklung nicht tatenlos zusehen. Doch hier, in Inay, würde er gar nichts erreichen. Er traute keinem der Lords weit genug, um ihm seine Befürchtungen mitzuteilen. Geriete er an den Falschen, an einen, der seinen Vorteil darin sähe, den König zu hofieren, auch wenn dessen Motive und Handlungen böse und schädlich für das Land waren, so würde Rhome kaum eine Stunde länger leben. Besser war es, im Ausland Verbündete zu suchen. Er würde sich an den Pridemus wenden, dessen Großtempel in Orinokavo stand, und sofort nach der nächsten Sitzung des Hauses der Lords aufbrechen. Der bleigraue Himmel hing voller schwerer Wolken, aus denen dicke Flocken fielen. Die Straße war bereits weiß gepudert. Der Winter hatte schließlich auch in Koridrea Einzug gehalten. Lord Rhome ritt an der Spitze seiner kleinen Schar von Rittern, die ihn vor Wochen nach Inay begleitet hatten. Er war in einen dicken, pelzgefütterten Mantel gehüllt. Sein großer Hengst trug eine Schabracke aus Leinen, die ihn gegen die Kälte schützte. Der dampfende Atem von Männern und Pferden stieg zum Himmel empor und löste sich dort auf. Sie waren auf dem Weg nach Hause. Rhome dachte an die vergangenen Tage zurück. Alle Lords – der König eingeschlossen – hatten die sterblichen Überreste Lord Mulders begleitet, als der Sarg in seine Heimat, eine Nachbarprovinz von Inaysha, überführt worden war. Gadennyn hielt eine bewegende Rede bei der Totenfeier und erklärte den Verblichenen posthum zu einem großen Koridreaner, dessen Verdienste um sein Land der König, die Lords und die Bürger niemals vergessen würden. Nach der Beerdigung kehrten sie wieder nach Inay zurück. 258 Die unterbrochene Sitzung des Hauses der Lords wurde fortgesetzt und endete damit, dass sich alle Fürsten für die sofortige Mobilmachung aussprachen. Sie versicherten dem König ihre bedingungslose Unterstützung. Der entließ sie mit dem Auftrag, sofort in ihre Provinzen heimzukehren und diese auf den Krieg vorzubereiten. Sie sollten alle unter Waffen stehenden Männer nach Inay schicken und weitere aus der Bevölkerung für Koridreas Armee rekrutieren. Lord Rhome hatte beschlossen, diesem Befehl des Königs zunächst Folge zu leisten. Er würde nach Sandaba zurückkehren, seinen ältesten Sohn über die Entwicklung informieren und ihm befehlen, in seiner Abwesenheit die Regierungsgeschäfte der Provinz zu übernehmen. Anschließend wollte er unter einem Vorwand nach Orinokavo reisen. Ihm fiel im Traum nicht ein, seinen Erben ins Vertrauen zu ziehen. Sie mochten sich nicht besonders, und Rhome zweifelte an der Loyalität seines Sohnes. Wenn der wüsste, dass Rhome etwas gegen den König im Schilde führte, würde er ihn zweifellos bei Gadennyn als Verräter anschwärzen. Dann wäre er seinen ungeliebten Vater los und würde selbst Fürst von Sandaba. Rhome seufzte. Er hätte einiges darum gegeben, Elin, seinen Bastardsohn, zum Erbe machen zu können. Die Straße war inzwischen unter einer Schneedecke verschwunden. In die Erde eingeschlagene Pfosten markierten ihren Rand. Eine kleine Kutsche, ein Zweispänner, kam ihnen entgegen. Die Reiter formierten sich hintereinander, um das Gespann passieren zulassen. Der Kutscher auf dem Bock grüßte höflich und wollte sein Gefährt an Rhome und seinen Leuten vorbeilenken, da beugte sich ein alter Mann aus dem Fenster und rief: „Halt, Kutscher!“ Der zügelte die Pferde. Der Alte öffnete die Tür und stieg aus. Seine Bewegungen waren steif, und er sah gebrechlich aus. Der Greis verneigte sich vor dem Lord und sagte: „Es ist mir eine große Ehre, Lord Rhome. Verzeiht, wenn ich Euch einen Augenblick aufhalte, aber ich wollte Euch grüßen. Ich habe viel von Euch gehört und bewundere Eure Klugheit und Weisheit.“ Rhome musste schmunzeln. Er musterte den Mann. Der kleine, dürre Greis hatte eine Glatze, die von einem Kranz weißer, dünner Strähnen umgeben war, und auf der die auftreffenden Schneeflocken rasch schmolzen. Der Bart an seinem Kinn glich einem verfilzten Gestrüpp. Der alte Reisende stützte sich auf einen Stab, der so knorrig war wie er selbst. „Kennen wir uns?“, fragte er ihn. „Ich glaube kaum, dass Ihr mich kennt, Mylord, dafür bin ich zu unbedeutend, aber ich kenne natürlich Euer Wappen, das Eure Standarte ziert. Außerdem sah ich kürzlich ein Ölportrait von Euch, gemalt von einem reisenden Künstler, der seine Bilder auf dem Markt von Shoal ausstellte. Er hat Euch sehr gut getroffen, wenn Ihr ihm auch schon vor längerer Zeit 259 Modell gesessen haben müsst, denn auf dem Bild wart Ihr einige Jahrzehnte jünger.“ „Ich kann mich überhaupt nicht daran erinnern, irgendeinem Maler Modell gesessen zu haben“, erwiderte Rhome. „Wenn es allerdings schon viele Jahre her ist, könnte es möglich sein. Im Alter wird man etwas vergesslich. Aber das solltet Ihr ja wissen. Ihr dürftet es mir an Jahren gleich tun. Wer seid Ihr?“ Der Alte strich sich mit der Linken durch den Bart, so als ob er den wirren Busch krausen Haares glätten wollte. Der Versuch war natürlich vergeblich. „Mein Name ist Harold Kobenius. Ich bin ein Berater Lord … äh, ich meine König Gadennyns. Er erwartet mich am Hofe.“ „Ihr seid Harold, der Magier? Natürlich habe ich von Euch gehört!“ Rhome fasste einen spontanen Entschluss. „Habt Ihr schon gegessen? Ich bin hungrig wie ein Wolf. Wollt Ihr mir Gesellschaft leisten? Ein Stück die Straße hinunter, wo Ihr hergekommen seid, gibt es einen Gasthof. Dort können wir einkehren. Selbstverständlich seid Ihr mein Gast.“ „Ich habe in der Tat ein wenig Appetit, Mylord.“ „Dann wendet Eure Kutsche und folgt mir.“ Wenig später saßen die beiden allein an einem Tisch in einer Ecke des Gasthofs. Rhome hatte seinen Leuten und Harolds Kutscher die Tische am anderen Ende der Stube zugewiesen. Er wollte mit dem Magier unter vier Augen sprechen. Er bestellte eine warme Mahlzeit und Bier für alle. Harold wollte nur eine kräftige Fleischbrühe. Nachdem das Essen aufgetragen worden war, pulte der alte Magier die Kruste an seinem Brotkanten ab und entschuldigte sich dafür. Er habe nicht mehr genügend kräftige Zähne, um das knusprige Brot zu kauen, sagte er. Danach brach er Brocken für Brocken ab, warf es in den Teller mit heißer Suppe, ließ es einweichen und löffelte die Brühe auf. Er brauchte dafür ebenso lange wie Rhome für seine drei Gänge. Nachdem sie ihren Hunger gestillt hatten, eröffnete der Lord das Gespräch. Er hatte den Mann während des Essens beobachtet und ihm die eine oder andere harmlos erscheinende Frage gestellt. Seine große Menschenkenntnis half ihm, Harold einzuschätzen. Es schien, dass der Alte darüber beunruhigt war, von seinem Herrn nach Inay bestellt worden zu sein. Ein ganz schwacher Unterton von Entfremdung zu Gadennyn war herauszuhören, eine Andeutung, dass sich der Mann bei seinem Aufstieg vom Lord von Shoala zum König von Koridrea auf nachteilige Art verändert haben könnte. Die Hinweise waren so subtil, dass niemand Harold nachsagen konnte, er habe schlecht über Gadennyn geredet, aber Rhome verstand es meisterhaft, zwischen den Zeilen zu lesen. Als er den alten 260 Mann zum Essen eingeladen hatte, war sein ursprünglicher Plan gewesen, ihn bloß auszuhorchen. Doch dann keimte die Idee heran, ihn zu seinem Verbündeten zu machen. Und jetzt, nach Harolds Andeutungen, fühlte sich Rhome in seinem Entschluss bestärkt. Und so offenbarte er, was er von Lord Mulder gehört hatte, und wie der König nach Rhomes Meinung Mulder während der Sitzung des Hauses der Lords ermordet hatte. Harold war entsetzt. „Athlan Gadennyn ein Mörder? Niemals. Ich kenne ihn seit er ein Kind war. Ja, ich gebe zu, ich war unangenehm überrascht, dass er nach seiner Krönung Pratt nicht aus dem Amt gejagt hat. Ihr glaubt, er habe ihn damals gar nicht nach Inay überstellt, damit ihm dort der Prozess gemacht würde?“ Rhome nickte. „Meine Nachforschungen bestätigen Mulders Behauptungen. Pratt besaß ein Empfehlungsschreiben von Gadennyn an König Bredos, das im Tür und Tor am Hofe öffnete. Von seinem Verbrechen erhielt der alte Silberhelm keine Kenntnis.“ „Wenn es so ist, wäre mein Herr nicht der gerechte und prinzipientreue Mann, für den ich ihn gehalten habe. Aber das heißt noch lange nicht, dass er Lord Mulder ermordet hat. Wie sollte er das vor den Augen aller Lords bewerkstelligt haben? Ihr müsst Euch irren, Mylord.“ „Weder mit einer Waffe noch mit Gift, Harold, sondern mit dunkler Magie. Euer Herr ist ein Magier.“ Das Gesicht des Alten zeigte Überraschung und Unglauben. Rhome erzählte ihm auch von der Grotte unter dem Palast, und den darin gehaltenen Raubtieren, mit denen Gadennyn magische Experimente durchgeführt habe. Aber das, so gab er zu, beruhe nur auf Gerüchten. Er habe keine Beweise dafür. Harold war immer noch skeptisch. „Ihr seid schwer zu überzeugen, alter Mann. Aber ich hätte an Eurer Stelle ebenso Zweifel. Deshalb sollt Ihr noch eine andere Geschichte erfahren, die auf den ersten Blick gar nichts mit der ersten zu tun hat. Kennt Ihr einen jungen Mann namens Trygar Tathe?“ Harold fuhr erschrocken zusammen, bevor unvermittelt Hoffnung in seinem Gesicht aufkeimte. „Trygar! Was wisst Ihr von ihm, Lord Rhome? Ist er endlich zurückgekehrt?“ Rhome erzählte ihm alles, was Gadennyn dem Haus der Lords berichtet hatte: wie er den jungen Magier nach Vulcor geschickt habe, wie Trygar Nunoc Baryth, den angeblichen Semanius, getötet habe, dass der Junge nach Meinung des Königs nun selbst Semanius sei und an der Spitze eines Heeres stünde, das im Begriff war, Koridrea anzugreifen. Am Schluss fragte der Lord den konsternierten Alten: 261 „Ihr kennt den jungen Mann gut, so hörte ich, habt ihn monatelang ausgebildet. Könnt Ihr Euch vorstellen, dass er die Seite gewechselt hat und jetzt der Anführer dieses Heeres der Schattengänger ist, wie Gadennyn behauptet?“ „Unmöglich! – Das heißt, ich weiß nicht was ich glauben soll. Ich bin völlig verwirrt.“ „Ich sage Euch, was Ihr tun könnt: Entweder Ihr geht jetzt zu Gadennyn und erzählt ihm von meinen Anschuldigungen. Hätte ich mit allem Recht, so dürfte er uns beide nicht weiterleben lassen. Unser Wissen wäre zu gefährlich für ihn. Oder Ihr kommt mit mir. Ich habe vor, nach Norden zu gehen und diesen Trygar zu finden“, (und meine Tochter, dachte er, ohne es auszusprechen). „Ihr und ich – wir können uns selbst ein Bild machen. Wenn es stimmt, was Gadennyn behauptet, kehren wir zurück und unterstützen den König, bis der Krieg gewonnen ist. Die andere Sache – das Decken von Pratts Verbrechen und der Mord an Mulder – kann solange warten. Wenn Gadennyn aber lügt, steckt etwas Schlimmes dahinter. Was wir dann tun, hängt davon ab, ob wir herausfinden, was es ist. Nun, was meint Ihr?“ Harold sah unglücklich aus. Er schaute Rhome zweifelnd an. „Würdet Ihr mich denn gehen lassen, wenn ich mich entschlösse, nach Inay weiterzureisen und dem König zu erzählen, was Ihr mir gesagt habt?“ „Selbst wenn es mein – und Euer – Tod wäre? Ja, Ihr habt mein Wort.“ Der greise Magier blickte eine ganze Weile stumm auf seinen Suppenteller und schien die träge Fliege zu beobachten, die sich an einem Fettauge labte. Schließlich nickte er. „Nun gut, ich vertraue Euch, Mylord, und werde mit Euch kommen. Allerdings erwartet mich der König bald in Inay. Wir müssten einen überzeugenden Grund liefern, warum ich seinem Befehl nicht nachkomme.“ Rhome war unendlich erleichtert. Er war in der vergangenen Stunde über die scharfe Schneide einer Rasierklinge balanciert. „Der Kutscher, der Euch bis hierher gebracht hat: steht er in Diensten des Königs?“, fragte er. „Nein, ich habe die Droschke gemietet. Der Mann arbeitet für ein Fuhrunternehmen in Shoal.“ „Dann bezahlen wir ihn und schicken ihn zurück. Gadennyn wird die Nachricht bekommen, dass Ihr auf der Reise nach Inay schwer erkrankt seid und Euch in einem Kloster aufhaltet, wo man Euch pflegt. Es gibt einige Klöster zwischen Shoal und Inay. Ich glaube nicht, dass sich der König die Mühe machen wird, nach Euch suchen zu lassen.“ Der Mond tauchte die Mauer des Palastgartens in ein fahles Licht. Die Tritte von Pferden hatten eine Linie von dunklen Flecken in die jungfräuliche 262 Schneedecke getupft. Diese Linie endete an einer Nebenpforte und führte auf der anderen Seite des längst wieder verschlossenen Tores weiter, durch schmale Gassen, verlassene Hinterhöfe und selten benutzte Wege, auf denen sonst Schafe und Kühe getrieben wurden, im Frühjahr hinaus auf die Weiden, im Spätherbst zurück in die Ställe. Die Spur führte durch das vergitterte und verriegelte Viehtriebtor, dann außen an der Stadtmauer entlang, verließ diese schließlich und ging weiter in nördliche Richtung. Sie folgte einsamen Feldwegen und Wildwechseln und mied die auch nachts gelegentlich von Wanderern und Fuhrwerken benutzte Fernstraße. Abseits von ihr führte sie über 200 Meilen weit nach Norden und überwand einen Wall und einen Graben, die die Grenze nach Orinokavo markierten. Längst war die Spur in Koridrea wieder unter frischem Schnee verschwunden, während der kleine Trupp Reiter weiter in das Nachbarland vordrang, stets nur nachts reitend und sich tagsüber in Wäldern oder vom letzten Krieg verwüsteten und verlassenen Dörfern versteckend. Es war eine Eskorte schwer bewaffneter Elitesoldaten des Königs, die einen einzelnen Mann begleitete. Dessen Reittier war ein riesiger Klepper, eines der größten Schlachtrösser des Heeres, von dem sich sein Vorbesitzer, ein Oberst der Kavallerie, auf Gadennyns Geheiß hatte trennen müssen. Der Reiter, der jetzt auf dem Hengst saß, war so breit, dass seine Schultern noch seitlich über den fassartigen Leib des Tieres hinausragten, seine Arme und Beine waren fast so kräftig wie die Oberschenkel des Pferdes. Seine gedrungene Silhouette hing wie ein massiger Schatten auf dem Reittier, das trotz seiner Stärke unter der Last auf seinem Rücken zu schwanken schien, ein Mensch in Ketten – oder vielleicht doch ein dämonisches Wesen, halb Mensch, halb Tier, – gefesselt an den mächtigen Hengst, umringt von wachsamen Soldaten, deren Waffen stets gezogenen waren. Sie würden den Gefangenen, dessen Name einst Orec gewesen war, der sich aber nicht mehr an diesen erinnerte, noch bis zum Pass des Rabengebirges begleiten und ihn dort freilassen, damit er seinen Auftrag erfüllen konnte. Fortsetzung in Teil 3 263