lexikon der sozialen arbeit - Ostfalia Hochschule für angewandte
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EVANGELISCHE FACHHOCHSCHULE RHEINLAND-WESTFALEN-LIPPE LEXIKON DER SOZIALEN ARBEIT Arbeitsmaterialien zur 2. Auflage des ЛEKCИKOH COЦИAЛЬHOЙ PAБOTЫ der Staatl. Pädagogischen Universität Wologda und der Evang. Fachhochschule R-W-L in Bochum LEXIKON DER SOZIALEN ARBEIT / deutsche Textfassung zum ЛEKCИKOH COЦИAЛЬHOЙ PAБOTЫ, hrsg. von der Staatlichen Pädagogischen Universität Wologda und der Evangelischen Fachhochschule R-W-L, 2001, Wologda, Bochum; überarbeitet von Prof. Dr. Hildegard Mogge-Grotjahn, Bochum 2002. ISBN – Nr.: 3 – 926013 – 53 –2 Die deutsche Fassung zur zweiten Auflage des „Lexikon Soziale Arbeit“ wurde redaktionell bearbeitet und zusammengestellt von: Prof. Dr. Hildegard Mogge-Grotjahn Dipl.-Soz.Arb. Jürgen Boeckh Das Gesamtprojekt LEXIKON SOZIALE ARBEIT in russischer Sprache entstand in Kooperation der Staatl. Pädagogischen Universität Wologda und der Evang. Fachhochschule R-W-L. Die erste Auflage wurde gefördert von der Volkswagen-Stiftung Hannover. Die zweite Auflage wurde aus Mitteln des Alexander-Herzen Programms finanziert. Einbezogen wurden Hochschulangehörige und Praktiker aus Kostroma, Kursk, Archangelsk, Krasnojarsk sowie auf deutscher Seite aus Kiel. © Staatliche Pädagogische Universität Wologda Evangelische Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum Vorwort zur zweiten Auflage Das vorliegende Lexikon der sozialen Arbeit wurde von einer Autorengruppe verfaßt, der Lehrende der Staatlichen Pädagogischen Universität Wologda (PU Wologda) und der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum (EFH Bochum) sowie Fachleute aus der sozialen Arbeit beider Städte und Angehörige der Administration der Region Wologda angehören. Mit diesem Nachschlagewerk soll den Leserinnen und Lesern eine Orientierung in der Vielfalt der Begriffe der sozialen Arbeit ermöglicht werden. In Rußland wurde mit der Entwicklung dieser Begriffe vor kurzem begonnen, wobei auch auf deutsche und US-amerikanische Begriffstraditionen zurückgegriffen wird. So enthält dieses Lexikon einige Begriffe, die in Rußland noch nicht üblich oder ganz neu sind. Außerdem enthält es Begriffe aus der Pädagogik, der Psychologie, der Medizin, der Soziologie, der Politik- und der Rechtswissenschaft, die von Bedeutung für Theorie und Praxis der sozialen Arbeit sind. Die Autorinnen und Autoren haben sich bemüht, die jeweiligen Begriffe nicht nur zu definieren, sondern auch auf die Begriffsgeschichte und die russischen bzw. deutschen Verwendungszusammenhänge einzugehen. Einige der Artikel sind entweder von einem russischen oder einem deutschen Autor bzw. Autorin verfaßt worden, andere von russisch-deutschen Autorenteams. In einigen Fällen, in denen erhebliche Unterschiede in den Theorietraditionen oder den Verwendungszusammenhängen bestehen, wurden parallele Artikel in das Lexikon aufgenommen. Die Kooperation zwischen der PU Wologda und der EFH Bochum einschließlich eines regen Austausches von Lehrenden und Studierenden besteht seit 1992. Im Rahmen des Alexander-Herzen-Programms konnte sie erheblich ausgeweitet werden. Das zweisprachige Lexikon der sozialen Arbeit ist die erste gemeinsame Veröffentlichung. Die zweite Auflage des Lexikons wurde durch neue Artikel ergänzt, der Autorenkreis hat sich über Wologda und Bochum hinaus auch auf die Universitäten in Kostroma, Kursk, Krasnojarsk und Archanalsk in Rußland sowie auf die Fachhochschule Kiel in Deutschland erweitert. Die Autoren werden für alle Hinweise und Vorschläge dankbar sein. Die Herausgabe des Lexikons wurde durch die finanzielle Unterstützung der Volkswagen-Stiftung Hannover und des Alexander-Herzen-Programms des DAAD ermöglicht. Wologda und Bochum im August 2001 Prof. A. P. Leschukow Prof. Dr. E.-U. Huster (Rektor der PU Wologda) (Rektor der EFH Bochum) Vorwort der ersten Auflage Das vorliegende Lexikon der sozialen Arbeit wurde von einer Autorengruppe verfaßt, der Lehrende der Staatlichen Pädagogischen Universität Wologda (PU Wologda) und der Evangelischen Fachhochschule Rheinland-Westfalen-Lippe in Bochum (EFH Bochum) sowie Fachleute aus der sozialen Arbeit beider Städte und Angehörige der Administration der Region Wologda angehören. Mit diesem Nachschlagewerk soll den Leserinnen und Lesern eine Orientierung in der Vielfalt der Begriffe der sozialen Arbeit ermöglicht werden. In Rußland wurde mit der Entwicklung dieser Begriffe vor kurzem begonnen, wobei auch auf deutsche und US-amerikanische Begriffstraditionen zurückgegriffen wird. So enthält dieses Lexikon einige Begriffe, die in Rußland noch nicht üblich oder ganz neu sind. Außerdem enthält es Begriffe aus der Pädagogik, der Psychologie, der Medizin, der Soziologie, der Politik- und der Rechtswissenschaft, die von Bedeutung für Theorie und Praxis der sozialen Arbeit sind. Die Autorinnen und Autoren haben sich bemüht, die jeweiligen Begriffe nicht nur zu definieren, sondern auch auf die Begriffsgeschichte und die russischen bzw. deutschen Verwendungszusammenhänge einzugehen. Einige der Artikel sind entweder von einem russischen oder einem deutschen Autor bzw. Autorin verfaßt worden, andere von russisch-deutschen Autorenteams. In einigen Fällen, in denen erhebliche Unterschiede in den Theorietraditionen oder den Verwendungszusammenhängen bestehen, wurden parallele Artikel in das Lexikon aufgenommen. Die Kooperation zwischen der PU Wologda und der EFH Bochum einschließlich eines regen Austausches von Lehrenden und Studierenden besteht seit 1992. Im Rahmen des Alexander-Herzen-Programms konnte sie erheblich ausgeweitet werden. Das zweisprachige Lexikon der sozialen Arbeit ist die erste gemeinsame Veröffentlichung. Die Autorinnen und Autoren werden die Arbeit weiterführen und haben vor, das Lexikon fortzuschreiben. Für Hinweise und Vorschläge, die in einer zweiten Auflage berücksichtigt werden können, sind sie dankbar. Die Herausgabe des Lexikons wurde durch die finanzielle Unterstützung der Volkswagen-Stiftung Hannover ermöglicht. Redaktion und Hochschulleitungen bedanken sich ganz herzlich bei der VW-Stiftung und bei Frau Dr. H. Junkers hierfür. Wologda und Bochum im September 1999 Prof. A. P. Leschukow Prof. Dr. E.-U. Huster (Rektor der PU Wologda) (Rektor der EFH RWL) Abweichendes Verhalten / Devianz Als „abweichend“ oder „deviant“ bzw. als „delinquentes Benehmen“ wird ein Verhalten bezeichnet, das von den Werten und Normen bzw. Erwartungen einer Gesellschaft oder einer sozialen Gruppe abweicht. Dies kann von geringfügigen Verstößen gegen Alltags-Erwartungen, zum Beispiel Unhöflichkeit, bis hin zum Verstoß gegen strafrechtlich sanktionierte Normen reichen. In letzterem Fall wird deviantes Verhalten als „kriminell“ bezeichnet. Eine eindeutige Definition von Devianz kann nicht gegeben werden, weil die sozialen Erwartungen in unterschiedlichen Kulturen nicht gleich sind. Auch innerhalb einer Gesellschaft können sich Normalitäts-Standards ändern; außerdem kann das „gleiche“ Verhalten bei unterschiedlichen Personen und in unterschiedlichen sozialen Situationen verschieden beurteilt werden. Biologisch orientierte Erklärungen von Devianz gelten als überholt. Die wichtigsten Theorien zur Entstehung abweichenden Verhaltens sind: - Abweichung als Ausdruck oder Folge einer psychischen oder physischen Krankheit; - Abweichung als Ausdruck mißlungener Sozialisation; - Abweichung als Ausdruck von Anomie, d. h. als Reaktion des Individuums auf fehlende Normen und Regeln in der Gesellschaft (Durkheim), oder als Reaktion des Individuums darauf, daß ihm die Mittel fehlen, gesellschaftliche Ziele zu erreichen (Merton); - Abweichung als durch Identifikation oder Imitation erlerntes Verhalten; - Abweichung als Ausdruck des Protestes gegen gesellschaftliche Normen und/oder der Zugehörigkeit zu einer Subkultur. Aus psychologischer und therapeutischer Sicht interessieren vor allem die Ursachen und Symptome gestörter Persönlichkeitsentwicklungen und die Möglichkeiten ihrer Behandlung. Dabei sind die Übergänge zwischen psychischen und psychosomatischen Erkrankungen und Verhaltensauffälligkeiten oftmals fließend. Aus soziologischer Sicht stehen die sozialen Bedingungen gelingender oder miß1 lingender Sozialisation, wie zum Beispiel soziale Benachteiligung durch geringes Einkommen, schlechte Wohnbedingungen, Ausgrenzung von Minderheiten und ähnliches, im Mittelpunkt des Interesses. Die Theorie des „labeling approach“ (labeling = Etikettierung) geht davon aus, daß es kein abweichendes Verhalten als solches, sondern lediglich die Deutung bestimmten Verhaltens als „abweichend“ gibt. Diejenigen Personen, deren Verhalten als abweichend gedeutet und entsprechend negativ sanktioniert wird („primäre Devianz“), nehmen diese Deutung allmählich in ihr Selbstbild auf, so daß das Verhalten sich verfestigt und die Abweichung zum Bestandteil der Persönlichkeit wird („sekundäre Devianz“). Auf diese Weise werden sie gesellschaftlich als Außenseiter stigmatisiert und entsprechen in ihrem Verhalten immer stärker dem an sie herangetragenen Deutungsmuster. Der gesellschaftliche Umgang mit Abweichung/Devianz unterliegt einem starken Wandel. Zwangsmaßnahmen wie Gefängnis- oder Todesstrafe gelten als wenig effektiv. Statt dessen gewinnt der Gedanke der präventiven Arbeit durch gut ausgebildete Fachkräfte und die Beseitigung der sozialen Ursachen von Devianz an Bedeutung. S. Michailowa / H. Mogge-Grotjahn Adoption Bei einer Adoption nach dem Familienrecht entstehen rechtliche, persönliche und Eigentumsverhältnisse zwischen dem adoptierten Kind und dem/den Adoptierenden, analog zu den Beziehungen zwischen leiblichen Eltern und Kindern. Adoptiert werden Minderjährige, die keine Fürsorge seitens ihrer leiblichen Eltern genießen; diese Kinder und Jugendlichen erhalten durch den Akt der Adoption eine neue Familie, neue Eltern oder einen neuen Elternteil. Je jünger das zu adoptierende Kind ist, desto besser sind die Möglichkeiten für eine erfolgreiche Anpassung an eine neue familiäre Umgebung. Besonders verbreitet ist die Adoption durch den Stiefvater (die Stiefmutter). 2 Ausführendes Verwaltungsorgan für eine Adoption ist das zuständige (Familien-) Gericht, das auf Antrag der adoptierwilligen Person(en), die volljährig sein müssen, tätig wird. Nicht adoptionsfähig sind Personen, die vom Gericht als nicht erwerbsfähig oder begrenzt erwerbsfähig erklärt worden sind; Personen, denen durch das Gericht das Elternrecht entzogen wurde oder deren Elternrecht eingeschränkt ist; ehemalige Adoptiveltern; Vormünder, denen wegen grausamer Behandlung oder Nichterfüllung ihrer gesetzlichen Verpflichtungen die entsprechenden Rechte aberkannt worden sind; Tuberkulosekranke; Personen mit bestimmten physischen und psychischen Erkrankungen, Alkohol- und/oder Drogenabhängige sowie nicht arbeitsfähige Invaliden der 1. und 2. Kategorie. Adoptiert werden können Minderjährige bis zur Erreichung des 18. Lebensjahres. Der Altersunterschied zwischen Adoptiveltern und -kind soll mindestens 16 Jahre betragen. Für die Adoption des Kindes ist die Zustimmung der leiblichen Eltern erforderlich. Falls diese jünger als 16 Jahre sind, ist auch die Genehmigung ihrer Eltern beziehungsweise Vormünder oder der Vormundschafts- und Fürsorgebehörden erforderlich. Wenn die Eltern unbekannt sind oder vom Gericht für unbekannt verzogen erklärt wurden; wenn ihnen das Elternrecht entzogen wurde, sie seit mehr als einem halben Jahr unentschuldigt nicht mit dem Kind zusammenleben oder sich der Erziehungs- und Unterhaltspflicht entziehen, ist ihre Zustimmung nicht erforderlich. Die Adoptiveltern sind durch ein Gutachten einer medizinischen Expertenkommission über den Gesundheitszustand des Kindes und die Ursachen und möglichen Folgen etwaiger Krankheiten zu unterrichten; auf Wunsch der Adoptiveltern kann auch eine unabhängige Untersuchung des Kindes vorgenommen werden. Im Fall einer Krankheit wird die Adoptionsgenehmigung nur dann erteilt, wenn die Adoptiveltern nachweislich bewusst und freiwillig die entsprechenden Verpflichtungen eingehen. Die Adoption wird mit Verkündung durch das Gericht rechtsgültig; sie ist beim Standesamt zu registrieren. Aufgrund des Rechts auf Geheimhaltung der Adoption können auf Antrag des/der Adoptierenden Vor- und Vatername, Geburtsort und Geburtsdatum des Adoptivkindes (bis zu drei Monaten Abweichung und nur bei einer Adoption im Alter bis zu einem Jahr) geändert werden. Nach der Adoption 3 wird die rechtliche Beziehung des Adoptivkindes zu den leiblichen Eltern vollständig beendet. Alle Rechte und Pflichten werden nunmehr von dem bzw. den Adoptierenden wahrgenommen; außer den üblichen für Eltern geltenden Vergünstigungen werden den Adoptiveltern keine Privilegien eingeräumt. Ab dem 10. Lebensjahr werden bei Adoptionsentscheidungen die zu adoptierenden Kinder gehört; ihre Ansichten sollen berücksichtigt werden. Eine Adoption kann außer Kraft gesetzt werden, falls sich die Adoptiveltern der Erfüllung ihrer Pflichten entziehen, ihre Rechte missbrauchen oder das Kind grausam behandeln; weitere Kriterien siehe oben. Das Recht, die Adoption auf gerichtlichem Wege aufheben zu lassen, haben die leiblichen Eltern des Kindes, seine Adoptiveltern, die Vormundschafts- und Fürsorgeinstitution, die Staatsanwaltschaft sowie das Adoptivkind selbst ab Erreichen des 14. Lebensjahres. W. Bassowa, S. Sacharowa 4 Aggression Es gibt viele unterschiedliche Definitionen von Aggression (lat. aggredi = angreifen); beispielsweise werden als Aggressionen „verschiedene Verhaltensweisen, die mit der Absicht ausgeführt werden, ein Individuum direkt oder indirekt zu schädigen“ (Merz 1965) verstanden. Aggression richtet sich primär gegen andere Personen und Gegenstände. Sie kann sich aber auch sekundär gegen die eigene Person wenden. Dies kann sich in selbstschädigendem Verhalten, Selbsthaß oder Masochismus bis hin zum Selbstmord ausdrücken. Drei Theorien geben je unterschiedliche Antworten auf die Frage nach dem Ursprung von Aggression: 1. Die psychoanalytische Triebtheorie (Freud) und die Ethologie (Lorenz). Diese nehmen an, daß Aggression oder Ableitungen davon aus einer gemeinsamen „primären“ Energiequelle gespeist werden. Da sie sich periodisch anstaut, muß sie entladen werden (Dampfkesselmodell); 2. Die Frustrations-Aggressions-Hypothese (Dollard/Miller), die Aggression als eine Folge von Frustration bzw. Nichtbefriedigung eines Triebs ansieht; 3. Die Aggressions-Theorie des sozialen Lernens von Bandura und Walters, in der angenommen wird, daß Lernprozesse im Sinne des Lernens am Modell verantwortlich sind für die Entstehung von Aggression. Die Psychoanalyse hat in besonderer Weise die Bedeutung und den Anteil von Aggression am Verhalten des Menschen betont. Im Zusammenhang mit sexuellen Beziehungen und Gefühlen kann Aggression als Lust an der Zufügung von Grausamkeiten und Schmerz auftreten (Sadismus). Zur Aggressionsforschung werden dieselben Methoden angewandt wie zur Erforschung anderer Persönlichkeitsmerkmale: Beobachtung, Umfrage, Projektion sowie auch Bilderreihen, Situationsbeschreibungen etc. 5 In der pädagogischen und therapeutischen Arbeit mit aggressiven Kindern geht es vor allem darum, daß Kinder lernen, die eigene Aggressivität zu kontrollieren und sie durch Handlungen auszudrücken, die weder sie selbst noch andere schädigen. Dann ist Aggression eine notwendige Persönlichkeitseigenschaft. In die Arbeit mit aggressiven Kindern müssen Eltern und Lehrer mit einbezogen werden. S. Michailowa / V. Riegels / H.-P. Steden Alkoholismus ist eine chronische Krankheit, die sich durch den Konsum großer Mengen von Alkohol entwickelt. Kennzeichen ist physische und psychische Abhängigkeit, die zur sozialen und psychologischen Degradierung der Persönlichkeit führt. Man unterscheidet „alltägliches Trinken“, chronischen Alkoholismus und Alkoholpsychose. Seit dem Beginn des 20. Jahrhunderts wird Alkoholismus als Krankheit anerkannt. Zu den auslösenden Faktoren gibt es unterschiedliche wissenschaftliche Theorien. Die Anhänger der genetischen Theorie vertreten die Ansicht, dass der Alkoholkonsum eine soziale Grundlage, Alkoholismus dagegen eine genetische Ursache hat. In der psychosozialen Theorie gibt es unterschiedliche Ansichten. Anhänger der „Motivationsrichtung“ behaupten, dass die Alkoholsucht alle übrigen sozial bedeutenden Bedürfnisse der Persönlichkeit verdrängt und nur die primitivsten lässt. In der Endphase beherrscht den Alkoholsüchtigen allein die Suche nach Vorwänden für den Alkoholkonsum und nach Finanzierungsquellen für die Sucht. Vertretern der „Psychoanalytischen Richtung“ erscheint die Alkoholsucht als ein Mittel der Wirklichkeitsflucht, um das Ich vor feindlicher Umgebung zu schützen. Die Vertreter der „Sozialen Theorie“ setzen die Alkoholsucht mit den Lebensumständen der Betroffenen und ihren Bezugsgruppen in Beziehung; außerdem spielen die Trinkgewohnheiten der jeweiligen Gesellschaft, die Modernisierung der Industriegesellschaft und die staatliche Politik in diesem Bereich eine Rolle. Alkoholismus wird als Indikator der sozialen Situation der Gesellschaft angesehen. In Theorie und Praxis kann aufgezeigt werden, dass auslösende Faktoren 6 für Alkoholismus häufig ökonomische Krisen und soziale Spannungen wie Arbeitslosigkeit, Angst vor dem Verlust der Arbeitsstelle und schlechte Lebensbedingungen sind. In Russland wurden 1994 rund 2,44 Millionen Alkoholkranke registriert; diese Zahl wächst jährlich um etwa 150.000 bis 200.000 Personen. Diese stetige Steigerung gefährdet auch die Gesundheit nachfolgender Generationen durch mögliche Schädigungen des Erbgutes. Signifikant ist der Anstieg bei Frauen und Jugendlichen. Dringend erforderlich erscheint ein System von Rehabilitationsmöglichkeiten für Alkoholkranke. Die medizinische Behandlung von Alkoholkranken kennt unterschiedliche Methoden. Weit verbreitet ist die „Kodierungsmethode“: Dem Süchtigen wird Ekel vor Alkohol suggeriert; dadurch soll das Bedürfnis nach Alkoholkonsum blockiert werden. Effektiv ist diese Methode jedoch nur bei vollständigem Verzicht auf Alkohol. Gute Möglichkeiten, sich von der Abhängigkeit zu lösen, verspricht die „Gesellschaft Anonymer Alkoholiker“. In der Gruppenarbeit, die besonderes Gewicht auf die Selbsthilfe legt, wird auf Wiederherstellung und Gestaltung der sozialen Beziehungen, auf positive Einstellungen und auf soziale Tätigkeit abgezielt. Mitglied bei den „Anonymen Alkoholikern“ kann jeder Alkoholabhängige werden, der ernsthaft an einer freiwilligen und bewussten Änderung seines Lebens interessiert ist. S. Michailowa Alltag Die Begriffe „Lebenswelt“ und „Alltag“ werden oft synonym verwandt, obwohl sie aus unterschiedlichen philosophischen, soziologischen und pädagogischen Theorietraditionen stammen. In einem engeren Sinne wurde in der Geschichte der Pädagogik mit der Forderung nach „Alltagsorientierung“ eine Kritik am oft lebensfernen Schulunterricht verbunden. Auch für die Reform der Heimerziehung war die Alltagsorientierung von großer Bedeutung. Heute werden als „alltags“und „lebenswelt-orientiert“ solche Konzepte sozialer Arbeit bezeichnet, die sich auf die Lebenserfahrungen und Handlungsmöglichkeiten der KlientInnen bezie7 hen („Alltag“), leicht zugänglich sind und sich in die vorhandenen sozialen und regionalen Strukturen einpassen („Lebenswelt“). Den Hintergrund dieser Konzepte und Methoden bildet ein hermeneutisches Verständnis sozialer und pädagogischer Arbeit. Danach enthält die Lebenswelt die von den Individuen als selbstverständlich vorausgesetzten Normen, allgemeingültigen Wert- und Deutungsmuster, durch die es den einzelnen möglich wird, sich zu orientieren und den Alltag zu bewältigen. Wer das Verhalten von Individuen verstehen will, muß also die Strukturen und Regeln ihres Alltags rekonstruieren. Die Lebenswelt bildet den Hintergrund für jegliche Sozialisationsprozesse und stellt somit den zentralen „Ort“ der gesellschaftlichen Integration dar. Neuere Gesellschaftsheorien (Jürgen Habermas) weisen auf die Gefahr hin, daß immer weitere Bereiche der Lebenswelt durch die funktionalen und verrechtlichten Systeme der Gesellschaft beeinflußt („kolonialisiert“) werden. In der sozialen Arbeit werden mit dem Begriff „Lebenswelt“ die primären Handlungszusammenhänge wie Familie, Nachbarschaft, Gemeinwesen, soziale Gruppen und soziokulturelle Milieus bezeichnet, die alltäglich erfahren werden und dadurch eine verläßliche, soziale Sicherheit und gemeinsame Verhaltensweisen erzeugen. Durch die wechselseitige Unterstellung von Handlungskompetenz und das gemeinsame Aushandeln sozialer Regeln bringen die Alltags-Akteure die Grundlagen sozialen Handelns selbst hervor. Lebensweltorientierte soziale Arbeit versucht, diese primären Handlungszusammenhänge und Hilfebeziehungen zu unterstützen und zielt darauf ab, alltägliche Handlungskompetenzen zu stärken und die von sozialen Problemen Betroffenen zu aktivieren. Sie unterstützt ambulante soziale Hilfeformen und ist kritisch gegenüber Eingriffen in die Lebenswelt, etwa durch bevormundendes Expertentum, Bürokratisierung und verrechtliche soziale Beziehungen. Da sich im Zuge der gesellschaftlichen Entwicklung (¤ Individuum) die primären Handlungszusammenhänge und Hilfebeziehungen verringern, stellt sich für die soziale Arbeit die Aufgabe, noch funktionierende soziale Zusammenhänge der Lebenswelt zu unterstützen und sie durch geeignete Hilfeangebote zu ergänzen. Kritisiert wird an dem Konzept der lebensweltorientierten sozialen Arbeit, daß sie kein kritisches Gegenüber für die KlientInnen darstelle, keine allgemeinen gesell8 schaftlichen Perspektiven (mehr) formuliere und deshalb den politischen und gesellschaftskritischen Auftrag der sozialen Arbeit vernachlässige. H. Mogge-Grotjahn Altenarbeit in Deutschland Mit dem Begriff Altenarbeit werden alle ambulanten, teilstationären und stationären pflegerischen und hauswirtschaftlichen Hilfemaßnahmen sowie die soziokulturelle Arbeit für ältere Menschen zusammengefasst. Grundsätzlich wird dabei davon ausgegangen, dass die Hilfen unterstützend und ergänzend gewährt werden, mit dem Ziel, die Selbständigkeit und Eigenverantwortlichkeit älterer Menschen zu erhalten bzw. Defizite auszugleichen (→ Subsidiarität). Die Gewährung von pflegerischen und hauswirtschaftlichen Hilfen wird grundsätzlich davon abhängig gemacht, dass eine Pflege- bzw. Heimbedürftigkeit vorliegt. Die Pflegebedürftigkeit wird festgestellt durch den Medizinischen Dienst der Pflegekassen. Bei Vorliegen von Pflegebedürftigkeit erfolgt je nach Schwere eine Einstufung in die Pflegestufen I - III. Nach der Einstufung richtet sich die Höhe der Leistung aus der Pflegeversicherung. Der oder die Pflegebedürftige kann wählen zwischen einer Sachleistung und Pflegegeld. Die Sachleistung (stationäre, teilstationäre oder ambulante Hilfe) ist finanziell größer ausgestattet. Das Pflegegeld (Barleistung) steht dem Pflegebedürftigen zu, um z.B. die Pflegearbeit von Angehörigen zu honorieren oder es kann zur Beschäftigung von Personen, die der bzw. die betroffene Pflegebedürftige selbst anstellt, verwandt werden. Das Gesetz zur sozialen Absicherung des Risikos der Pflegebedürftigkeit (→ Pflegeversicherungsgesetz) wurde in Deutschland 1994 eingeführt. Ambulante Pflege Die ambulante Pflege umfasst die häusliche Pflege und die hauswirtschaftliche Versorgung. Die Einzelleistungen sind sowohl inhaltlich als auch von ihrem zeit9 lichen Umfang gesetzlich restriktiv definiert, so dass die ambulante Pflege in aller Regel den tatsächlich erforderlichen Pflegebedarf nur zum Teil absichert. Die Hauptlast wird nach wie vor von Angehörigen, Freundinnen und Freunden und Nachbarn getragen. Über 80 Prozent aller Pflegebedürftigen in der Bundesrepublik Deutschland erhalten familiäre bzw. nachbarschaftliche Hilfe. Die hauswirtschaftlichen Hilfen umfassen Tätigkeiten wie Kochen, Putzen der Wohnung und Einkäufe. Aber auch diese Dienste bieten nur eine Teilabsicherung. Pflegebedürftige, die über keine familiäre Unterstützung verfügen und deren Einkommen nicht den Zukauf zusätzlicher Leitungen erlaubt, sind benachteiligt bzw. in vielen Fällen unterversorgt. Zu den ambulanten Hilfeangeboten zählen weiter: - Pflegeberatung - Hausnotruf - Mahlzeitendienste wie „Essen auf Rädern“ - Wohnberatung zur Umgestaltung des häuslichen Umfeldes Ambulante Hilfen wenden sich nicht nur an Ältere, aber unter den Leistungsbeziehern überwiegen mit Abstand alte und hochbetagte Menschen (z.B. 85 - 90Jährigen = 19,4Prozent; 80 - 85-Jährige = 13,7 Prozent). 65 Prozent aller Leistungsempfänger waren 1998 Frauen. 10 Teilstationäre Hilfen Teilstationäre Hilfen sind: - Tagespflege und - Nachtpflege Ziele der teilstationären Hilfen sind: Aufrechterhaltung der relativen Selbständigkeit pflegebedürftiger alter Menschen in der eigenen Häuslichkeit und die Entlastung pflegender Angehöriger für bestimmte Zeiten des Tages oder der Nacht; dazu zählt weiter die Entlastung der pflegenden Angehörigen während eines Urlaubes oder einer Krankheit Bei den teilstationären Hilfen werden bei der Tagespflege besondere Akzente auf die soziale Betreuung, die aktivierende Pflege und einer Verstärkung einer Kommunikation Wert gelegt. Die Nachtpflege wird sehr selten angeboten und hat von daher in der Pflegepraxis kaum Bedeutung. Stationäre Altenhilfe 5,3 Prozent der über 65-Jahre alten Menschen in Deutschland leben in Altenheimen. Die Aufnahme in eine stationäre Einrichtung der Altenhilfe erfolgt nur bei Vorliegen von Heim- bzw. Pflegebedürftigkeit. Der Heimbewohner bzw. die Heimbewohnerin erhält je nach Einstufung einen Zuschuss aus der Pflegeversicherung. Die übrigen Kosten muss er aus seinem Renteneinkommen und Vermögen bezahlen. Reichen diese Einnahmen nicht aus, übernimmt die Sozialhilfe die Restkosten. Dem Heimbewohner verbleibt ein Taschengeld in Höhe von ca. 5 - 10 Prozent der durchschnittlichen Rente. Das Durchschnittsalter der Heimbewohner lag 1998 bei 81 Jahren mit zunehmendem Trend einer Verschiebung nach oben. Die Heime der Altenhilfe bieten Unterkunft, Verpflegung, hauswirtschaftliche Versorgung und Pflege als Regelangebote an. Die Heimbewohner und Heimbewohnerinnen können eigenes Mobiliar und persönliche Gegenstände mitbringen. Pflegebett und Pflegehilfsmittel werden in aller Regel durch das Heim gestellt. Zu den Angeboten der Heime zählen auch kom11 munikative und kulturelle Angebote (z.B. Feste feiern, Ausflüge). Beteiligung der Heimbewohner und Heimbewohnerinnen an der Aufgabenerfüllung (wie hauswirtschaftliche Arbeiten, Empfang usw.) sind äußerst selten. Eine große Herausforderung für die Einrichtungen der Altenhilfe ist der hohe Anteil der Altersverwirrten von bis zu 80 Prozent unter den Heimbewohnern und Heimbewohnerinnen. Neben den allgemeinen Einrichtungen der Altenhilfe gibt es die sogenannten „Stifte“. Das sind Einrichtungen, die in der Regel einkommensstarken Älteren zur Verfügung stehen. Der Bedarf an Altenhilfeeinrichtungen wird weiter zunehmen. Gründe dafür sind die steigende Lebenserwartung und zunehmenden Ausfälle des familiären Pflegepotentials. → Hospiz Die Hospizarbeit bietet ambulante und stationäre Hilfen an in der Begleitung von Mensche bei ihrem Sterbeprozess. Die Hospizarbeit wendet sich an Menschen aller Altersgruppen. Die Hospizarbeit hat dabei das Ziel, den letzten Lebensabschnitt mit den Betroffenen in Würde und möglichst schmerzfrei zu gestalten. Die große Mehrheit der Hospizmitarbeiterinnen und -mitarbeiter arbeiten freiwillig, d.h. ohne Entgelt. Soziokulturelle Altenarbeit Die Angebote der soziokulturellen Altenarbeit werden in kirchengemeindlichen und kommunalen Gruppen organisiert. In Altentagesstätten, Begegnungsstätten, Altenkreisen oder Seniorenclubs finden ältere Menschen Raum für Begegnungen und Aktivitäten. Neben Informationsveranstaltungen zu verschiedenen Themen werden besondere kulturelle Angebote wie z.B. Literaturkreise, Spiel- und Bastelnachmittage sowie Erzählcafés, Ausflüge und Feste bedarfsorientiert gestaltet. Die Altentagesstätten unterhalten zudem häufig eine Cafeteria, in der u.a. ein Mittagstisch angeboten wird oder ein Senioren-Internetcafé älteren Menschen moderne Kommunikationsmöglichkeiten nahe bringt. Ebenso werden unterstützende Angebote, wie Be12 suchsdienste oder Kontaktbörsen aufgebaut. Hauptamtliche Fachkräfte koordinieren und begleiten die Angebote und entwikkeln neue Betätigungsfelder. Die Finanzierung der offenen Altenarbeit erfolgt teilweise über kommunale und kirchengemeindlichen Zuschüsse bzw. Landesmittel für einzelne Projekte. In der Regel werden Veranstaltungen in Begegnungsstätten und in Altenkreisen durch Gebühren oder Selbstkostenbeiträge der Besucher ganz oder teilweise finanziert. Die Zielgruppen der offenen Altenarbeit sind vielfältig. Sowohl die 'rüstigen' alten Menschen in der nachfamiliären und nachberuflichen Phase ab 55 Jahren wie auch die „hochbetagten“ älteren Menschen bis 90 Jahren und älter werden angesprochen. Die Angebote der offenen Altenarbeit sind nach dem geistigen, körperlichen und sozialen Vermögen der Menschen ausgerichtet. M. Schofer Altenheim Ein Altenheim ist eine stationäre Einrichtung für ältere Menschen, die aus unterschiedlichen Gründen nicht im familiären Umfeld leben können und spezieller Pflege bedürfen. Zu den Hauptaufgaben von Altenheimen zählen die Schaffung geeigneter Lebensbedingungen, medizinische Versorgung, psychologische und psychiatrische Hilfe; in der Regel stehen dafür geeignete Räumlichkeiten für die Behandlung verschiedener Erkrankungen, für Sport- und Physiotherapie zur Verfügung. 13 Aufnahme im Altenheim finden Bürger, die das Alter von 55 (Frauen) beziehungsweise 60 Jahren (Männer) erreicht und in der Regel keine Kinder im erwerbsfähigen Alter haben. Die Einweisung erfolgt durch die zuständigen Verwaltungsstellen der Sozial- und Gesundheitsbehörden nach Maßgabe einer medizinisch-sozialen Expertenkommission. Die Bewohner erhalten ein Viertel ihrer Rentenbezüge zur persönlichen Verfügung; die Summe kann auf einem Sparkonto deponiert oder bei der Verwaltung aufbewahrt werden. Der Restbetrag wird auf das Konto des Altenheimes überwiesen und für die Unterbringung einschließlich Verpflegung, Mobiliar, Bettwäsche, Bekleidung und so weiter verwendet. Geeignete Wohnbedingungen in angenehmer Atmosphäre wie auch die umfassende medizinische Versorgung sollen dazu beitragen, den alten Menschen die Anpassung an die neuen Lebensbedingungen zu erleichtern. Ebenfalls zur Integration soll die Teilnahme an allgemeinen nützlichen Tätigkeiten dienen; dazu gehören etwa der Dienst an der Pforte, Telefondienst, Mitarbeit in den Wohnetagen, in Kulturausschüssen und anderen Ausschüssen, die sich mit dem Alltagsleben befassen, Teilnahme an künstlerischen Aktivitäten u. v. a. m. Zur zentralen Bezugsperson der Altenheimbewohner wird der Sozialarbeiter, der daher über Grundkenntnisse in (Alten-)Psychologie, Sozialpädagogik, Soziologie und auch Rechtswissenschaft verfügen sollte. Seine Tätigkeit begleitet die alten Menschen in allen Phasen, angefangen von der vorbereitenden Aufnahme- und Quarantänestation bis hin zum dauerhaften Aufenthalt im Altenheim. N. F. Bassow 14 Alter (¤ Lebensalter / Lebensphasen) Der Begriff des Alters bezieht sich auf den letzten Abschnitt des Lebens eines Menschen. Laut Klassifikation der Weltgesundheitsorganisation (WHO) zählen zu den „älteren Menschen“ Personen im Alter von 60 bis 74 Jahren, zu den „alten Menschen“ die 75- bis 89-Jährigen und zu den „langlebigen Menschen“ die über 90-Jährigen. In den meisten Ländern steigt der Anteil der alten Menschen an der Bevölkerung. Dies trifft ebenfalls sowohl auf Deutschland als auch auf Russland zu. In Industriegesellschaften wird die Erwerbsarbeit als strukturierendes Element des Lebenslaufes verstanden. Auf die Phase der Vorbereitung auf die Erwerbsarbeit folgt die Phase der aktiven Beteiligung an der Erwerbsarbeit bis zum Eintritt in den Ruhestand, der dann gleichbedeutend ist mit „Alter“. Mit Fragen des Alters und des Alterns befassen sich Biologie und Medizin, Psychologie und Soziologie, Philosophie und andere Wissenschaften. Unter anderem wird die Frage nach dem Grund des Alterns diskutiert - körperliche und/oder psychische Defizite oder sozialer Rollenverlust („Defizithypothese“). Die → (soziale) Gerontologie versucht, die einzelwissenschaftlichen Erkenntnisse interdisziplinär zusammenzufügen. Die Geriatrie erforscht den Verlauf von Krankheiten älterer und alter Menschen und jeweilige Heilmethoden. Die ¤ Lebenslage alter Menschen ist u.a. abhängig von ihren materiellen Ressourcen wie Renten oder anderen Einkommen (¤ Alterssicherung), ihrer familiären Situation, ihrem gesundheitlichen Befinden, ihrer Wohnsituation und ihren Möglichkeiten der kulturellen Partizipation. Auch die gesellschaftliche und die individuelle Bewertung des Alters sind für die Lösung von Problemen in dieser Lebensphase von Bedeutung. 15 Die Fürsorge für alte Menschen erfolgt gemäß ihrer jeweiligen Lebenssituation durch verschiedene soziale Dienste. Beispielsweise gibt es sozialmedizinische häusliche Hilfe für Bedürftige, die an psychischen Störungen in der Phase des altersbedingten Rückzugs aus sozialen Rollen (Remissionsphase), an Tuberkulose (mit Ausnahme von aktiven Formen) oder an schweren somatischen (u.a. onkologischen) Krankheiten leiden. J. Golubewa / T. Tscherpuchina / H. Mogge-Grotjahn Alterssicherung in Rußland In den meisten Ländern wächst der Anteil der älteren Menschen an der Bevölkerung. Russland ist keine Ausnahme: Die Zahl der Personen im Rentenalter liegt bei 20,6 Prozent, und die Tendenz der Vergrößerung des Anteils der alten Menschen bleibt (bis zum Jahr 2016: etwa 25 Prozent). Diese Entwicklung hat nachhaltigen Einfluss auf alle gesellschaftlichen Teilbereiche wie beispielsweise den Arbeitsmarkt, das Gesundheitswesen, die Altersicherung u.a. Neben Behinderten, Alleinstehenden und kinderreichen Familien bekommen vor allem die alten Menschen die negativen Folgen des Systemwechsels zu spüren; daher muss ihnen besondere Aufmerksamkeit der Gesellschaft und des Staates gelten. Ein wichtiger Bestandteil des verfassungsrechtlich garantierten Rechts auf Sozialversorgung im Alter, bei Krankheit, Behinderung u.a. ist die Rentenversorgung. Das Gesetz der Russischen Föderation „Staatliche Renten in der RSFSR“ (1990) legt Arbeits- und Sozialrenten fest. Bei Übergang in den Ruhestand kann der Bürger die für ihn günstigste Berechnungsart der Rente wählen. Die Arbeitsrenten gliedern sich nach Altersrente, Behindertenrente, Rente bei Verlust des Ernährers und Arbeitszeitrente. Recht auf Altersrente haben Männer ab 60 Jahren, die länger als 25 Jahre gearbeitet haben, und Frauen ab 55 Jahren mit einer Arbeitszeit von mehr als 20 Jahren. Die Rente wird auf Lebenszeit gewährt. Bei entsprechenden Voraussetzungen werden Zuschläge gezahlt: für die Pflege eines behinderten Rentners der Kategorie I, bei Pflegebedürftigkeit (Hilfe, 16 Aufsicht) entsprechend einem Gutachten einer medizinischen Einrichtung oder ab dem Alter von 80 Jahren; für den Unterhalt eines nicht erwerbstätigen Rentners und bei arbeitsunfähigen Familienangehörigen, die keine Rente beziehen; für Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg, die neben der Altersrente keine Behindertenrente erhalten. Sozialrente erhalten Bürger, die aus unterschiedlichen Gründen kein Recht auf Rentenzahlungen im Zusammenhang mit ihrer Arbeitstätigkeit oder anderen gesellschaftlich nützlichen Tätigkeiten haben. Das betrifft Frauen ab 60 Jahren und Männer ab 65 Jahren. Die Höhe der Sozialrente beträgt zwei Drittel der minimalen Altersrente. Das durch die Verfassung garantierte Recht alter Menschen auf kostenfreie medizinische Hilfe im staatlichen und den kommunalen Systemen des Gesundheitswesens ist im Rahmen des föderalen und des regionalen Programms der obligatorischen gesetzlichen Krankenversicherung durch das Föderale Gesetz „Krankenversicherung der Bürger der Russischen Föderation“ (1993) und weitere Gesetze festgeschrieben. Die schwierige Haushaltslage in Russland verhindert de facto die gesetzlich garantierte Versorgung von Rentnern mit preisermäßigten Medikamenten. In den Gesetzeswerken „Sozialer Schutz von Behinderten in der Russischen Föderation“ (1995) und „Veteranen“ (1995) sind Privilegien zur Alterssicherung für einen bestimmten Personenkreis von Menschen im Rentenalter festgelegt. Zu diesen rund 24,3 Millionen Bürgern zählen unter anderem behinderte Teilnehmer am Großen Vaterländischen Krieg, Personen, die während dieser Zeit im Hinterland gearbeitet haben oder während der Blockade in Leningrad waren, ferner Menschen, die unter politischen Repressionen gelitten haben sowie Arbeitsveteranen. Im staatlichen System der Sozialhilfe für ältere und behinderte Menschen ist eine Reihe von Dienstleistungen vorgesehen: unter anderem Betreuung zu Hause, stationäre und halbstationäre Betreuung, soziale Betreuung und soziale Beratung. Rechtliche Grundlage sind die Gesetze „Soziale Betreuung der Senioren und Behinderten“ (1995) und „Grundlagen der sozialen Betreuung der Bevölkerung in der Russischen Föderation“ (1995). Um die persönlichen Interessen und das Vermögen alter Menschen zu schützen, die nicht in der Lage sind, ihre Rechte in 17 vollem Umfang wahrzunehmen und ihre Pflichten zu erfüllen, gibt es das Rechtsinstitut der Sozialen Vormundschaft; die betroffenen Personen finden Aufnahme in Heimen für Alte und Behinderte. Die Finanzierung der Renten obliegt dem Rentenfonds der Russischen Föderation; sie erfolgt aus Versicherungsbeiträgen der Bürger und aus staatlichen Haushaltsmitteln. Zur Anpassung an die steigenden Lebenshaltungskosten erfolgt ein Inflationsausgleich, indem die Renten indexiert und Kompensationszahlungen geleistet werden. Alle Maßnahmen zur Sozialversorgung der alten Menschen werden von Organen und Einrichtungen des sozialen Schutzes der Bevölkerung durchgeführt. Die Gewährung der Privilegien liegt in der Zuständigkeit der Subjekte der Russischen Föderation. Auch hier gilt wie bei den anderen Maßnahmen der Sozialversorgung, dass sie wegen der schwierigen Haushaltslage und der nicht ausreichenden Finanzierung nicht in vollem Umfang realisiert werden können. T. Tscherpuchina / J. Boeckh Anamnese Im Rahmen methodischer Sozialarbeit/Sozialpädagogik versteht man unter Anamnese (aus dem Griechischen: Rück-Erinnerung) das Sammeln, Systematisieren und Dokumentieren aller auf den Klienten bezogenen Informationen. Die Informationssammlung erstreckt sich insbesondere auf den biographischen Bereich, auf die infrastrukturelle Einbindung und die sozioökonomische Ausstattung des Klienten. Sie enthält aber auch Auskünfte über Verhalten, Verhaltensweisen und Aspekte nonverbaler Kommunikation. Die anamnestischen Daten dienen der Erarbeitung einer psychosozialen ¤ Diagnose, der Herausbildung von Hypothesen und - je nach Gegebenheit - der Prognostizierung. Die Erhebung der Vorgeschichte dient dem besseren und tieferen Verstehen der gegenwärtigen Situation des Klienten. Sie gibt dem Sozialarbeiter/Sozialpädagogen die Möglichkeit, den subjektiven Stellenwert, den das Problem für den Klienten hat, besser einzuschätzen und auch beurteilen zu können. 18 Die Anamnese darf nicht endgültig festgeschrieben werden; sie muß fortgeschrieben werden, wenn weitere, neue Informationen bekannt werden, um ihre Gültigkeit und Zuverlässigkeit zu wahren. Bedeutend im Prozeß der Anamneseerhebung, der ein Vertrauensverhältnis braucht, ist die Einstellung des (befragten) Klienten zu seiner Geschichte und seiner derzeitigen Situation. Das erfordert die Zurückhaltung des professionellen Helfers und den Verzicht auf vorschnelle Bewertung und Beurteilung. Neben der Eigenanamnese (des Klienten) kann eine Fremdanamnese (die auf Mitteilungen Dritter beruht) erhoben werden bzw. es können Informationen aus Akten hinzugezogen werden, letztlich zum Zwecke umfassender Hilfeleistung. Die Erhebung anamnestischer Daten erfolgt oft anhand eines Anamneseschemas. In manchen Fällen reicht die Standardisierung des Schemas bis zur computergesteuerten Eingabe und Verarbeitung der Daten. L. Haag Andragogik ist die Wissenschaft von der Erwachsenenbildung, die sich mit Theorie und Psychologie der Erwachsenenbildung befasst. In einem engeren Sinn wird sie als Bestandteil des Systems der zusätzlichen Berufsbildung aufgefaßt und bezieht sich auf die Aus-, Fort- und Weiterbildung von Erwachsenen. Sie erfüllt eine Reihe von sozialen Aufgaben: adaptierende (Anpassung des Menschen an die Veränderungen der sozialökonomischen Situation, des sozialen Status, der Lebenslage, des Berufs); vorbeugende (Sicherstellung des Wissensstandes, Sicherung der den sozialen Anforderungen entsprechenden Berufskompetenz); kompensatorische (Hilfeleistung bei der Sicherung des Lebensunterhalts). Das „Forschungsobjekt“ der Andragogik sind Erwachsene mit bestimmten Vorerfahrungen, die sich beruflich weiterbilden, das heißt, die Fähigkeiten und Fertigkeiten ihres Berufsumfeldes auf den neuesten Wissensstand bringen und weitergehende Kenntnisse erwerben möchten. Die Fort- und Weiterbildung wird von unterschiedlichen Personenkreisen in Anspruch genommen: Personen, die in einen anderen Beruf wechseln 19 möchten und eine spezifische Fortbildung brauchen, und Personen, die zeitweilig nicht erwerbstätig waren und wieder ins Berufsleben einsteigen möchten. In diesem Fall kann die Andragogik zu einem Bestandteil von medizinischpsychologisch-pädagogischer Hilfe werden, die als Maßnahmen unter anderem eine medizinische Behandlung oder eine Therapie einschließen kann. L. Garanina, J. Rossijskaja Arbeit In einem weiten Sinne werden als Arbeit alle zielgerichteten, kontinuierlichen und geordneten Tätigkeiten bezeichnet, mit deren Hilfe Menschen „Lebensmittel“ produzieren, d. h. Arbeit wird als anthropologische Konstante betrachtet. Sie ist die Grundform der Lebenstätigkeit der menschlichen Gesellschaft, die die Verhältnisse des Menschen zur Welt und zu den anderen Menschen bestimmt. Das bedeutet, daß Arbeit einerseits den Stoffwechsel zwischen der Natur und dem Menschen und andererseits den Produktaustausch unter den Menschen vorstellt. Im engeren Sinne wird als Arbeit die Verausgabung von Arbeitskraft gegen Entgelt, also die Erwerbsarbeit bezeichnet. Erwerbsarbeit gilt in der Ökonomie neben Kapital und Boden als elementarer Produktionsfaktor. Deutlich ist die gesellschaftliche Bestimmtheit der Arbeit, die durch die Arbeitsteilung in der Gesellschaft und Eigentumsformen determiniert ist; sie ist verbunden in erster Linie nicht mit dem Arbeitsprozeß, sondern mit dem Austausch-, Konsum- und Verteilungsprozeß. Die gesellschaftliche Arbeit hat immer einen kollektiven Charakter, ihre Subjekte sind soziale Berufsgruppen von Menschen, die in der Volkswirtschaft tätig sind und die die von der kollektiven Arbeit geschaffenen modernen Arbeitsmittel benutzen. Die entstehenden Verhältnisse unter den Menschen, und zwar unter Herstellern und Konsumenten, unter Arbeitern der Grund- und Hilfsproduktion, unter Vertretern verschiedener Wirtschaftszweige usw. bestimmen die Charakterzüge des gesellschaftlichen Arbeitsprozesses. 20 Wissenschaftlich und politisch umstritten ist der Status von nicht bezahlter Arbeit, wie etwa Haushalts- und Erziehungstätigkeiten („Reproduktionsarbeit“). In einer Gesellschaft, in der der ökonomische wie auch der soziale Status sowie die soziale Absicherung bei Krankheit und im Alter vom Zugang des einzelnen zur Erwerbsarbeit abhängig ist, wird (massenhafte) Arbeitslosigkeit zum sozialen und politischen Sprengstoff. M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn Arbeitslosigkeit Arbeitslosigkeit entsteht immer dann, wenn sich arbeitsfähige und arbeitswillige Personen nicht in einem Beschäftigungsverhältnis befinden. Dies kann durch Entlassung, freiwillige Kündigung oder ein zu geringes Angebot an bezahlter Arbeit verursacht sein. In der Sowjetunion spielte das Problem der Arbeitslosigkeit aufgrund der verfassungsrechtlichen Garantie und der planwirtschaftlichen Verteilung von Arbeit keine bedeutsame Rolle. Dies änderte sich mit Beginn der politischen und ökonomischen Transformation seit 1989 grundlegend. Durch die Auflösung des Rates für gegenseitige Wirtschaftshilfe (RGW) und die einsetzende Westorientierung der ehemaligen Partnerländer gingen der russischen Volkswirtschaft wichtige Absatzmärkte verloren, was zu erheblichen Produktionsausfällen und Arbeitsplatzverlusten führte. 21 Nunmehr sind die bereits in westlichen Industrieländern bekannten Formen der Arbeitslosigkeit auch in Rußland anzutreffen: - Saisonale Arbeitslosigkeit entsteht, wenn Produktionsanlagen und / oder Arbeitsstellen nur zu bestimmten Jahreszeiten (z.B. in der Landwirtschaft und im Dienstleistungsgewerbe) angeboten werden. - Strukturelle Arbeitslosigkeit folgt aus der Auflösung der Verbundwirtschaft der ehemaligen Sowjetunion. Dies führt zu einer stark unterschiedlichen Verteilung der Wirtschaftskraft in den einzelnen Regionen (regionaler Strukturwandel). Gleichzeitig verursacht die Konzentration auf die Rohstoff- und rohstoffnahe Industrie starke Verschiebungen der Beschäftigtenstruktur in den einzelnen Produktionssektoren (sektoraler Strukturwandel). Zusätzlich belasten demographische Besonderheiten die Arbeitsmarktsituation. - Zyklische Arbeitslosigkeit folgt aus dem kapitalistischen Wirtschaftszyklus. Während in Boomphasen der Wirtschaft Arbeitslosigkeit abgebaut wird, steigt sie in Rezessionsphasen z. T. drastisch an. - Friktionelle Arbeitslosigkeit entsteht beim Wechsel zwischen zwei Arbeitsstellen und ist im Regelfall nur kurzfristig. - Fließende Arbeitslosigkeit entsteht in diesem Transformationsprozeß, wenn einzelne Betriebe ihre Tätigkeit reduzieren und andere Betriebe neue Tätigkeitsfelder erschließen. Die Arbeiter und Angestellten verlieren ihre Arbeit im alten Betrieb, erhalten aber bald in einem anderen Betrieb wieder Arbeit, wobei sie durchaus auch die Branchen wechseln können. - Teil-Arbeitslosigkeit bedeutet, daß die Nachfrage nach Arbeitsplätzen nur teilweise befriedigt werden kann und daß Teilzeitarbeit angenommen wird, obwohl eine Vollbeschäftigung gesucht wird. - Langzeit-Arbeitslosigkeit liegt vor, wenn jemand länger als ein Jahr ohne Arbeit ist. Daraus folgen meist Armut, Obdachlosigkeit und immer häufiger auch, daß Kinder oder Elternteile ihre Familien verlassen. 22 Die Arbeitslosenquote ist die Maßzahl der Arbeitslosigkeit. Es gibt jedoch keine allgemein gültige Bemessungsgrundlage. Die International Labour Organisation (ILO) berechnet die Arbeitslosenquote als Differenz zwischen den arbeitsfähigen und den tatsächlich beschäftigten Personen. Für 1998 ergibt sich für Rußland demnach eine Arbeitslosenquote von 11,5 Prozent. Die offizielle Statistik weist zum gleichen Zeitpunkt nur 2,4 Prozent aus. Der Grund für diese Differenz liegt darin, daß die niedrige Arbeitslosenunterstützung keinen Anreiz für eine Meldung beim Arbeitsamt bietet. Zur Bewertung der Arbeitsmarktlage muß der hohe Anteil nicht registrierter Beschäftigung berücksichtigt werden. Dies betrifft zum einen Zweitbeschäftigungen sowie eine beachtliche verdeckte Arbeitslosigkeit aufgrund geringer Auslastung der Beschäftigten, unfreiwilliger Teilzeitarbeit und Zwangsurlaub. In Ländern, die über Jahre hinweg eine hohe Arbeitslosigkeit aufweisen, kann Arbeitslosigkeit auch „vererbt“ werden: Kinder aus den Familien von Arbeitslosen werden eher arbeitslos als diejenigen, deren Eltern kontinuierlich einer Erwerbsarbeit nachgehen. Dies hängt mit den insgesamt schlechteren Lebensbedingungen zusammen, sei es hinsichtlich der Gesundheit (schlechtere Ernährung, schlechtere Wohnbedingungen), sei es hinsichtlich der Bildung bzw. Ausbildung. Arbeitslose, vor allem Langzeitarbeitslose gehören zu den sozial schwächeren Schichten; in Städten konzentrieren sie sich stärker in bestimmten Stadtteilen. Dies erschwert den Start der Kinder und Jugendlichen in das gesellschaftliche Leben zusätzlich. Es kann sich eine Subkultur der Arbeitslosen entwickeln, die die Lebensweise von Arbeitslosen in den stagnierenden Regionen weiter verfestigt. Die Sozialarbeit mit solchen Bevölkerungsschichten ist sehr schwierig und bedarf besonderer methodischer Ansätze. Dies trifft in besonderer Weise auf Rußland zu, weil hier die Arbeitslosigkeit eine neue Erscheinung ist, deren systematische Erforschung erst am Anfang steht. Insgesamt muß der Vermeidung von Arbeitslosigkeit der Vorrang vor deren Bekämpfung zukommen. In den westlichen Ländern existieren drei Instrumente zur Bekämpfung der Arbeitslosigkeit. Die staatliche Globalsteuerung versucht konjunkturelle Arbeitslosigkeit durch eine antizyklische Haushaltspolitik des Staates zu bekämpfen. Ziel ist es, den privaten Konsum, die Investitionen und die Staatsnachfrage permanent 23 auf einem ausreichend hohen Niveau zu halten. Dies wird im Regelfall durch eine aktive staatliche Arbeitsmarktpolitik zur Überwindung der strukturellen Arbeitslosigkeit begleitet. Kernstück dieser Strategie sind die berufliche Beratung, die Förderung der Qualifikation durch Fortbildung und Umschulung sowie befristete Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen. Seit Anfang der 80er Jahre werden diese aktiven Strategien in Westeuropa zunehmend durch passive Angebotssteuerungen ersetzt. Durch die Reduzierung der Staatsausgaben und eine Beschneidung staatlicher Aufgaben sollen die öffentlichen Haushalte entlastet werden, damit durch Steuersenkungen der private Verbrauch und die Investitionen ansteigen können, um so ein Wirtschaftswachstum auszulösen. In der Folge führt diese Politik − bei fraglichen arbeitsmarktpolitischen Erfolgen − zu massiven Einschnitten in den sozialen Sicherungssystemen und zum Abbau arbeitsrechtlicher Schutzbestimmungen. L. Maschirowa / T. Tschulkowa / J. Boeckh Armut in Rußland Armut ist ein Problem, das in allen ökonomische Systemen in allen Zeiten auftreten kann. In Abhängigkeit vom Umfang der wirtschaftlichen Produktion und des gesparten Einkommens sowie der Verteilung des Wohlstandes in der Bevölkerung kann sie unterschiedlich aktuell werden. Armut bedeutet eine kritische Lage für die Bevölkerungsteile mit niedrigem Einkommen. Ein Indikator für die unzureichende Befriedigung der materiellen und geistigen Bedürfnisse der Bevölkerung ist die Notwendigkeit, zielgerichtete soziale Hilfen einzuführen, oder auch die Einführung von Gesetzen zur Garantie sozialer Mindestabsicherung für die betroffenen Bevölkerungsschichten. 24 In der Sowjetunion fand das Problem der Armut erstmals in den 70er Jahren breitere Aufmerksamkeit im Zusammenhang mit der Zahlung von Unterstützungsgeld für arme Kinder. Öffentlich wurde in Rußland zum ersten Mal über die Armut als großes soziales Problem in den 80er Jahren gesprochen, als der krasse Übergang in die Marktwirtschaft begann und die Frage der sozialen Sicherung für die Bevölkerung aktuell wurde. In Rußland gelten die Personen als arm, deren Geldeinkommen nicht ausreicht, ein bestimmtes Lebensniveau zu sichern. Dieses Existenzminimum wird über einen Warenkorb errechnet. Er umfaßt die zur Deckung der physischen Existenz notwendigen Nahrungsmittel sowie weitere Mindestaus-gaben (z.B. Miete, Steuern, kommunale Dienstleistungen). Durch diese definitorischen Vorgaben werden vom Staatskomitee für Statistik nur die Personen erfaßt, die über ein Einkommen aus Erwerbsarbeit, Rentenansprüchen oder anderen gesetzlich garantierten Einkommen (Stipendien, soziale Unterstützungsleistungen) verfügen. Nach dieser Definition lebten im ersten Halbjahr 1998 21,7 Prozent der Bevölkerung in Armut. In Westeuropa wird der Armutsbegriff weiter gefaßt. Nach der Definition der Europäischen Union (EU) werden diejenigen Personen als arm eingestuft, deren materielle, kulturelle und soziale Mittel so gering sind, daß sie von der in ihrem Mitgliedsland als minimal angesehenen Lebensweise ausgeschlossen werden. Dieser Ansatz umfaßt nicht nur die Geldeinkommen, sondern betrachtet auch Indikatoren zur Lebenserwartung, zum Gesundheitszustand, der Säuglingssterblichkeit und den Zugangsmöglichkeiten zu Bildungseinrichtungen. Für Rußland würde sich nach dieser Methode für das erste Halbjahr 1998 eine Armutsquote von 62,4 Prozent ergeben. Die EU-Definition hat allerdings den Nachteil, daß sie die für Rußland bedeutende Rolle der Eigenversorgung und der nicht registrierten Zusatzeinkommen nur unzureichend berücksichtigt. Diese für Rußland traditionell typische subsistenzwirtschaftliche Zusatzversorgung hat mit Beginn der Transformation noch einmal erheblich an Bedeutung gewonnen. In ihr ist es im wesentlichen begründet, daß es trotz der hohen Armutsquoten in Rußland bislang nicht zu landesweiten Hungersnöten gekommen ist. 25 Diese für eine Industrienation untypische nationale Eigenart stärker betonend, ermittelt das United Nations Development Program (UNDP) für 1997 eine Armutsquote von ca. 40 Prozent. Es liegt mit dieser Schätzung in der Größenordnung, die das Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung in Rußland für 1996 mit 33,9 Prozent errechnet hat, was ca. 50 Millionen Personen entsprach. Not ist ständige und wiederkehrende Realität für diese Millionen, zu denen Arbeitslose, kinderreiche Familien, alleinstehende Eltern und Rentner zählen. Viele der Arbeitslosen waren früher in den sogenannten blühenden Branchen (Rüstungsindustrie, Schwermaschinenbau, andere aus dem staatlichen Haushalt finanzierte und landwirtschaftliche Betriebe) tätig. Hinzu kommen diejenigen „neuen Armen“, deren Armut durch die niedrige Bezahlung ihrer Arbeitsleistungen verursacht wird. Ihre Einkommen reichen kaum, um sich selbst und ihre Kinder zu versorgen. Besonders verschärfend wirkt sich aus, daß in der Regel bereits die staatlichen Sozialleistungen unter dem offiziellen Existenzminimum angesetzt sind. Der Begriff der Armut beschreibt aber über das Fehlen finanzieller Ressourcen hinaus auch andere mangelhaft ausgestattete ¤ Lebenslagen. Neue soziale Probleme gewinnen stetig an Bedeutung: ¤ Obdachlosigkeit, steigende Kriminalitätsraten bei wachsender Jugendarbeitslosigkeit und abnehmender Bildungsbereitschaft, ¤ Drogensucht und ¤ Alkoholismus. Psychosomatische, aber auch typische somatische Armutskrankheiten wie Tuberkulose oder Typhus breiten sich im Gefolge der gewaltigen sozialen und politischen Umbrüche in Rußland aus. Angesichts der sozialen Realität und der mittelfristigen Entwicklungschancen Rußlands ist zu befürchten, daß ein wachsender Bevölkerungsanteil in einem Zustand dauerhafter absoluter Armut leben wird. Zur Bekämpfung der Armut wurde vom Staat ein System von Vergünstigungen und finanziellen Unterstützungen, ein Programm der Unterstützung und Hilfe für die Armen verabschiedet. Weil die Zentralregierung trotz dieser Bemühungen bislang keine wirksame Mindestsicherung erreichen konnte, wächst den regionalen und kommunalen Strukturen eine besondere Bedeutung im Kampf gegen die Armut zu. Sie müssen neben der Zahlung von Geldleistungen an Personen, deren Einkommen unterhalb der Armutsgrenze liegt, auch medizinische Hilfe, Ausbildungsunterstützung und Wohnungs26 versorgung gewährleisten. Unter diesen Bedingungen werden die regionalen sozialen Programme auf Kosten der regionalen Haushalte, der territorialen Fonds zur sozialen Unterstützung der Bevölkerung und der Wohlfahrtsorganisationen durchgeführt. Die Armutsbekämpfung ist in Rußland heute ein hochaktuelles und akutes Problem im sozialen Bereich. T. Tschulkowa / J. Boeckh Arttherapie (Kunsttherapie) wurde in den dreißiger Jahren des 20. Jahrhunderts entwickelt. Anfang der vierziger Jahre wurde sie zunächst als Methode zur Behandlung der emotionalen Probleme von Kindern, die während des Zweiten Weltkrieges in Lagern der deutschen Besatzungsmacht unter erhebliche Stresssymptomen litten, erprobt. Danach wurden die Anwendungsbereiche kontinuierlich erweitert. Inzwischen ist Arttherapie eine selbstständige Methode, die andere Verfahrenstechniken ergänzt. Den Begriff „Arttherapie“ (wörtlich: Therapie mit Kunst) prägte Andrian Hill (1938) bei der Beschreibung seiner Arbeit mit Tuberkulösen in Sanatorien. Der Terminus wurde für jede Art von Kunstunterricht in Krankenhäusern und Zentren für psychische Gesundheit verwendet. Ursprünglich entstand Arttherapie im Kontext der Ideen von S. Freud und C. G. Jung, später wurde sie durch humanistische Modelle der Persönlichkeitsentwicklung von C. Rogers (1951) und A. Maslow (1956) erweitert. Arttherapie ist eine spezialisierte Form der Psychotherapie auf Grundlage darstellender und schöpferischer künstlerischer Tätigkeit. Bei der passiven Form der Arttherapie „konsumiert“ der Klient Kunstwerke, die von anderen Menschen geschaffen wurden, bei der aktiven Form schafft der Klient selbst eigene Kunstwerke. Bei der therapeutischen Arbeit mit Kindern und Erwachsenen kann Arttherapie sowohl als Grundmethode als auch als Hilfsmethode angewandt werden. Ihre 27 Wirksamkeit beruht auf zwei grundlegenden psychologischen Mechanismen. Zum einen ermöglicht die Kunst es durch die ihr eigenen symbolischen Formen, verletzende Konfliktsituationen zu rekonstruieren und deren Lösung durch die Umstrukturierung dieser Situation auf Grund der kreativen Eigenschaften des Subjekts zu finden. Zum anderen ermöglicht sie, ähnlich der in der Psychologie bekannten sog. „hysterischen Reaktion“, die Handlung „des Affekts von der quälenden bis zur Genuss bringenden zu ändern“ (L.Wygotskij). Ziel der Behandlung mit Arttherapie ist die Persönlichkeitsentwicklung; dies soll durch die Befähigung zur Selbstäußerung und die Förderung der Selbsterkenntnis erreicht werden. Außerdem trägt die Arttherapie zur Entwicklung schöpferischer Fertigkeiten bei. J. Reprinzewa, J. Kulakowa Ausbildung, sozialpädagogische und sozialarbeiterische, in Deutschland Mit der Entwicklung der modernen Industriegesellschaft war das Aufkommen neuer sozialer Probleme („soziale Frage“) verbunden, die die Herausbildung sozialstaatlicher Strukturen und eine Vielfalt von sozialen Hilfeangeboten zur Folge hatten. Ab Mitte des 19. Jahrhunderts wurden Kinderbewahranstalten und ähnliche Einrichtungen gegründet, in denen Frauen sowohl auf ehrenamtlicher Basis wie auch als Angestellte tätig waren. Für diese Tätigkeiten wurden sie erstmals auch ausgebildet. 1893 wurde in Berlin die „Mädchen- und Frauengruppe für soziale Hilfsarbeit“ gegründet, bald danach entstanden die sogenannten sozialen Frauenschulen. Sie zeichneten sich durch einen bis heute wirksamen Doppelcharakter aus: Einerseits ging es um Persönlichkeitsentwicklung, andererseits um die fachbezogenen Inhalte im Zusammenhang der beruflichen Qualifikation. Im Bereich der Bekämpfung von Armut und Bettelei wurden zur gleichen Zeit ebenfalls neue Formen beruflicher und ehrenamtlicher Arbeit entwickelt; erste Ansätze einer allgemeinen Armenpflege auf kommunaler Ebene lösten die rein polizeilichen Abwehrmaßnahmen ab. Eine Ausbildung war zunächst nicht vorgesehen. Als aber die sozialen, rechtlichen und fachlichen Anforderungen an die Armenpflege stie28 gen, fanden in diesem Bereich rascher als anderswo Prozesse der Verberuflichung statt. Die Armenpflege als Vorläuferin der Sozialarbeit wurde zur Erwerbsarbeit im Rahmen der fachlichen und formalen Qualifikationsanforderungen des Staatsdienstes - und als solche blieb sie den Männern vorbehalten. In den eher pädagogisch-erzieherischen, im wesentlichen den Frauen vorbehaltenen Tätigkeitsbereichen - den Vorläufern der Sozialpädagogik - blieb das Mischungsverhältnis von beruflicher und ehrenamtlicher Tätigkeit dagegen unklarer (¤ Geschichte der [beruflichen] Sozialarbeit in Deutschland). Die weitere Professionalisierung sozialer Berufe vollzog sich im Kontext des Ersten Weltkrieges und der Zeit des Nationalsozialismus. Nach dem Zweiten Weltkrieg wurden in der Bundesrepublik Deutschland die Wohlfahrtsschulen und Kindergärtnerinnen-Seminare fortgeführt. Ende der 50er Jahre entstanden aus diesen Einrichtungen Höhere Fachschulen, die dreijährige Ausbildungen anboten. 1971, als in der Bundesrepublik Deutschland die Fachhochschulen gegründet und dadurch berufsbezogene Studiengänge in den tertiären Bildungssektor aufgenommen wurden, wurden die Höheren Fachschulen in Fachhochschulstudiengänge überführt; einige neu gegründete Studiengänge kamen hinzu. In der Deutschen Demokratischen Republik wurde soziale Arbeit überwiegend im Rahmen des öffentlichen Erziehungs- und Bildungssystems, des Gesundheitswesens und der betrieblichen Sozialarbeit organisiert und folglich von Angehörigen erzieherischer und medizinisch-pflegerischer Berufe sowie von ehrenamtlichen Kräften übernommen. Eine dem westlichen System ähnliche Ausbildung zu sozialen Berufen fand − mit Ausnahme von Ausbildungseinrichtungen in konfessioneller Trägerschaft − nicht statt. Nach 1990 wurden auch in den neuen Bundesländern Fachhochschulstudiengänge der Sozialarbeit und Sozialpädagogiik eingeführt. - Heute umfaßt das Ausbildungssystem in der Bundesrepublik Deutschland eine Vielzahl von erzieherischen und sozialpflegerischen Berufen, die in der amtlichen Berufsgruppenstatistik im einzelnen klassifiziert werden. In der Bundesrepublik Deutschland gibt es zwei grundsätzlich verschiedene Modelle der Studiengänge im Sozialwesen. Die sogenannte einphasige Ausbildung umfaßt eine Regelstudienzeit von acht Semestern, zu denen ein oder zwei Praxissemester zählen. Das Studium wird mit einem Diplom und der darin einge29 schlossenen staatlichen Anerkennung abgeschlossen. Die sogenannte zweiphasige Ausbildung sieht dagegen ein Studium von sechs oder sieben Semestern vor, zu dem kürzere Praxisphasen gehören. Nach der Diplomprüfung schließt sich ein einjähriges Berufspraktikum an, das mit einer weiteren Prüfung zur staatlichen Anerkennung führt. Die Studiengänge des Sozialwesens weisen im Vergleich zu anderen Fachhochschul- und universitären Studiengängen einige Besonderheiten auf. So gibt es − unterschiedlich in den einzelnen Bundesländern - neben der Zugangsberechtigung durch das Abitur auch Möglichkeiten, durch besondere berufliche Qualifikationen und zusätzliche Prüfungen die Studienberechtigung zu erhalten. Der Anteil von lebensälteren Studierenden mit Beruf und/oder Familie ist besonders hoch, das Studium wird deshalb sehr häufig berufs- und/oder familienbegleitend betrieben. Die überwiegende Anzahl der Studierenden sind nach wie vor Frauen. An vielen Fachhochschulen werden Weiterbildungsangebote und Zusatzstudiengänge zur Spezialisierung in bestimmten Tätigkeitsbereichen angeboten. H. Mogge-Grotjahn Ausbildung von Fachleuten für Sozialarbeit in Russland Das Institut für Sozialpädagogen und Sozialarbeiter wurde in Russland offiziell 1991 eingeführt. Die Entstehung der entsprechenden Berufe und die Entwicklung des Systems von Sozialdiensten begründete die Notwendigkeit der professionellen Ausbildung von Fachleuten in Sozialpädagogik und Sozialarbeit. Es wurden Kriterien für die Qualifizierung und Anforderungen an die Fachkräfte - Sozialpädagogen, Fachkräfte in der Sozialarbeit und Sozialarbeiter - erarbeitet und in das Qualifizierungsregister der Dienststellen für Leiter, Fachkräfte und Angestellte eingetragen. Neue Bildungseinrichtungen wie Fakultäten zur Ausbildung von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen wurden an den Hochschulen eröffnet. Zur Zeit werden in Russland an mehr als 70 Hochschulen Fachleute für Sozialarbeit ausgebildet. 30 Die berufliche Ausbildung erfolgt in verschiedenen Formen (direkt oder berufsbegleitend, als Fern-Direkt-Studium, Fernstudium oder Abendstudium, Externstudium). Es wird ein mehrstufiges Ausbildungssystem mit folgenden Komponenten aufgebaut: 1. Vorberufliche Ausbildung in den sozialpädagogischen Klassen der allgemeinbildenden Schulen und Fachschulen, in den Instituten für Sozialpädagogen der Universitäten und an den berufsorientierenden Einrichtungen im System der sozialen Dienste. 2. Berufliche Basisausbildung im Auftrag des Staates und auf Grundlage eines Vertrages. Die Fachleute werden an Fach- und Hochschulen ausgebildet. Sozialpädagogen und Sozialarbeiter mit Fachschulabschluss werden an pädagogischen und medizinischen Fachschulen, „sozialen Kollegs“, ausgebildet; ihr Arbeitsfeld ist die Sozialisation von Kindern im Vorschul- und Grundschulalter. An einigen Bildungseinrichtungen der primären beruflichen Ausbildung werden zudem Sozialarbeiter für die häusliche Versorgung von alleinstehenden alten und behinderten Menschen ausgebildet. Die Bereiche der stark auf die Praxis hin orientierten Ausbildung von Sozialpädagogen umfassen unter anderem Grundschulen, Kinderheime für Vorschulund Schulkinder, Internatsschulen für Waisen und Kinder ohne elterliche Fürsorge sowie Einrichtungen der Zusatzausbildung. Die Hochschulen erarbeiten ihre Modelle der beruflichen Ausbildung auf der Grundlage der staatlichen Standards unter Berücksichtigung regionaler Spezifika und Bedarfe der sozialen Praxis. Zu den seit September 2000 gültigen Bildungsstandards zählen die Standards der Fachrichtungen „350500 - Sozialarbeit“ mit der Qualifikation „Fachkraft“ und „031300 - Sozialpädagogik“ mit der Qualifikation „Sozialpädagoge“. Tätigkeitsfelder der Absolventen sind die praktische Arbeit in Bildungseinrichtungen, sozialen Diensten, Organisationen und anderen Einrichtungen, ferner die Forschung, pädagogische Arbeit in der Rehabilitation und praktische Verwaltungsarbeit. Das theoretische Wissen umfasst die Haupttendenzen der Entwicklung der Sozialarbeit in Russland und im Ausland, Grundbegriffe, Kategorien und Prinzipien, die unterschiedlichen Arten und Ebenen der 31 Sozialarbeit, ihre Methoden und Techniken, Grundlagen der Psychologie und der pädagogischen Theorie, Grundlagen der Sozialmedizin und der rechtlichen Standards der Sozialarbeit. Eine besondere Bedeutung kommt der Integration von Theorie und Praxis zu. Daher werden praxisbezogene Lehrveranstaltungen angeboten sowie Praktika an Bildungseinrichtungen und in sozialen Diensten vermittelt. 3. Zunehmende Bedeutung im entstehenden System der Ausbildung von sozialen Fachkräften gewinnt die Qualifizierung, Fort- und Weiterbildung von bereits berufstätigen Sozialpädagogen und Sozialarbeitern. Dazu zählen Fortbildungskurse an den Fortbildungsinstituten und Fakultäten der Hochschulen, Seminare und wissenschaftliche Konferenzen, Wettbewerbe („Der Beste im Beruf“). Die Ausbildung der Fachkräfte mit höherer Qualifikation findet im Rahmen der Aspirantur (Vorbereitung auf die Promotion) statt. Generell gilt, dass insbesondere hinsichtlich der engeren Verbindung der Studiengänge mit der beruflichen Praxis, der Verbindung von Allgemeinbildung und fachlich-beruflicher Ausbildung sowie der Auswahl der Anwärter für soziale Berufe noch eine Reihe von Problemen zu lösen ist. T. Tscherpuchina Autismus ist die Bezeichnung für eine tiefgreifende Entwicklungsstörung unterschiedlichster Ausprägung, die bereits im Kindesalter auftritt. Der Begriff Autismus (griech. autos = selbst) wurde ursprünglich auf ein Grundsymptom der Schizophrenie bezogen (Bleuler), nämlich auf die extreme Einengung der Beziehungen zu Menschen und zur Außenwelt und den alleinigen Bezug zum Ich. Später haben Leo Kanner („Frühkindlicher Autismus”) im Jahr 1943 und Hans Asperger („Autistische Psychopathie”) im Jahr 1944 unabhängig voneinander mit Autismus ein Störungsbild bei Kindern beschrieben, welche unfähig schienen, normale affektive Beziehungen zu Menschen einzugehen. Beide glaubten, daß dieses Störungsbild 32 von Geburt an vorliege. Sie wählten den Begriff ”Autismus”, um das Wesen der 33 zugrundeliegenden Störung zu kennzeichnen. Heute wird der Begriff ”Autismus” fast ausschließlich auf Entwicklungsstörungen angewandt, deren Kernsymptomatik eine tiefgreifende Beziehungs- und Kommunikationsstörung ist, die mit weiteren Auffälligkeiten im Wahrnehmungs- und Verhaltensbereich einhergeht. Die Auffälligkeiten lassen sich gemäß dem DSM IV, einem international gebräuchlichen Disgnoseschema, folgenden Bereichen zugeordnet: - Qualitative Beeinträchtigung der sozialen Interaktion und Kommunikation; - beschränkte, repetitive und stereotype Verhaltensweisen, Interessen und Aktivitäten; - Beginn vor Vollendung des 3. Lebensjahres, Verzögerungen oder abnorme Funktionsfähigkeit in der sozialen Interaktion oder der Sprache als sozialem Kommunikationsmittel oder im symbolischen bzw. Phantasiespiel. Demzufolge ist Autismus eine Summationsdiagnose. Autistische Menschen galten früher sehr häufig als geistig behindert. Heute wird die Frage nach der Intelligenz sehr viel differenzierter betrachtet. Durch die Erfahrungen mit der Methode der ”Gestützten Kommunikation” (”Facilitated Communication”) wurde deutlich, daß viele autistische Menschen über intelligente Fähigkeiten und Fertigkeiten in der Schriftsprache verfügen, so daß sie nicht als geistig behindert einzustufen sind. Aufgrund ihrer Wahrnehmungsverarbeitungs- und Handlungsstörungen sind sie jedoch - trotz ihrer intellektuellen Fähigkeiten mehr oder weniger “lebens- und alltagspraktisch behindert”. Bei Autismus geht man von einer Vorkommenshäufigkeit von 4 - 5 Kindern unter 10000 Kindern aus. Es sind deutlich mehr Jungen als Mädchen betroffen (3 - 4 Jungen auf ein Mädchen). Es gibt viele Theorien über die Ursachen des Autismus. Vermutet werden chemische, biochemische, genetische, psychologische, hirnorganische Verursachungen sowie Informations- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörungen. Gegenwärtig stehen die genetischen und neurobiologischen Erklärungsansätze im Vordergrund. Man ist sich einig, daß autistisches Verhalten im Zusammenhang mit einer Wahrnehmungs- und Wahrnehmungsverarbeitungsstörung entsteht, die wahrscheinlich 34 eine neurologische Grundlage (angeborene bzw. erworbene abweichende Entwicklungen des Zentralnervensystems) hat. Aussagen von autistischen Menschen bestätigen diese Annahme. Demnach entsteht autistisches Verhalten durch eine verzerrte und chaotische Wahrnehmung der Umwelt. Die Eigenarten der autistischen Menschen erfordern ein flexibles Vorgehen in Förderung und Therapie, das auf den Einzelfall abgestimmt ist und die spezifischen Störungen berücksichtigt. Es ist ein ganzheitliches, integratives therapeutisches Konzept zu verfolgen, das sowohl (psycho)therapeutische als auch fördernde Maßnahmen beinhaltet. Zu den psychotherapeutischen Ansätzen zählen verhaltenstherapeutische Maßnahmen, nondirektive bzw. psychoanalytische Spieltherapie, Interaktionstherapien, systemische Familientherapie; zum Bereich der Förderung gehören Körperübungen, Wahrnehmungsförderung, Entwicklungsförderung, Rhythmische Förderung, Entwicklungsförderung, Sprachanbahnung. Bei nicht sprechenden autistischen Menschen kann darüber hinaus die Methode der ”Gestützten Kommunikation” angebracht sein. Wichtig ist ferner die Zusammenarbeit mit der Familie und sonstigen Bezugspersonen. Für den Verlauf und die Prognose des Autismus sind insbesondere die Sprachentwicklung (vor allem der sinnvolle Gebrauch von Sprache) und die ”spezifische” Intelligenz des autistischen Menschen von Bedeutung. Autistische Menschen können lebenslang auf soziale Unterstützung angewiesen sein. Es ist aber auch ebenso möglich, daß sie ein selbständiges, unabhängiges Leben führen können. M. Hellmann Behinderte Personen, die in ihren wichtigen körperlichen, geistigen und psychischen Funktionen beeinträchtigt sind, werden als Behinderte bezeichnet. Art und Umfang der Beeinträchtigung wird in der Regel von der - meist staatlichen - Sozialadministration festgestellt, die besondere Leistungen zum Ausgleich oder zur Minderung 35 der Behinderungsfolgen bereitstellt. Bezugsgröße zur Feststellung des Grades der Behinderung ist traditionell die Erwerbsfähigkeit; neuerdings setzt sich aber immer mehr das allgemeinere Kriterium der Fähigkeit zur Alltagsbewältigung durch, was sich in dem Begriff der „Beeinträchtigung“ niederschlägt. Mit der Feststellung der Behinderung geht - z.B. in Deutschland - eine Klassifikation in „schwerbehindert“ (mindestens 50 Prozent Beeinträchtigung), „schwerst-“ oder „leichtbehindert“, aber auch „mehrfach-schwerst-behindert“ usw. einher. Diese Klassifikation definiert Art und Umfang der sozialen Ausgleichsleistungen. Auch die Zuordnung zu Arten der Behinderung als körperliche, geistige oder psychische ist Maßstab für die Leistungsvergabe. Je nach Anerkennungspraxis gelten in den westlichen Industriegesellschaften etwa 5 Prozent bis 9 Prozent der Bevölkerung als schwerbehindert. Nur weniger als etwa 15 Prozent bis 20 Prozent der Behinderungen sind angeboren, die meisten werden durch Geburtshilfefehler, Krankheiten, Unfälle, zivile Verbrechen oder Kriege erworben. Besonders groß ist die Zahl der älteren Behinderten, so daß davon ausgegangen werden muß, daß die Gesamtzahl der Behinderten mit zunehmender Zahl der alten Menschen weiter ansteigt. Die sozialpolitischen Leistungen bei Behinderungen können neben Renten- und anderen Geldleistungen (z.B. Blindengeld) auch steuerliche Vergünstigungen umfassen. Daneben gibt es zahlreiche spezielle Einrichtungen für Behinderte: Kliniken, Sonderschulen, besondere Arbeitsstätten und Heime. Die moderne Behinderten-Politik strebt - inzwischen mit beachtlichem Erfolg - an, die Behinderten so weit wie möglich mit Nichtbehinderten zusammenzulassen, z.B. in „integrierten“ Schulklassen, in Fabriken und anderen Betrieben oder Gesundheitseinrichtungen (¤ Integration). Diese Politik impliziert, daß behinderte Menschen nicht mehr funktional von den anderen isoliert und um einen hohen Preis an die nichtbehinderte Welt angepaßt oder einfach ausgegrenzt werden, sondern daß sie nach ihren Möglichkeiten an ihr teilnehmen sollen. Behinderte sind in den meisten Industrieländern in ¤ Verbänden organisiert, die für ihre Mitglieder bzw. deren Angehörige fachliche und rechtliche Unterstützung bieten und die versuchen, sich in der sozialpolitischen Öffentlichkeit Gehör zu verschaffen. 36 In Rußland werden Behinderte nach mehreren Kategorien in Gruppen eingeteilt: - nach dem Alter: behinderte Kinder, behinderte Erwachsene; - nach der Ursache der Behinderung: angeborene Behinderung, Kriegsinvaliden, Arbeitsinvaliden, durch Krankheit Behinderte; - nach dem Grad der Erwerbsfähigkeit: Behinderte der 1. Gruppe (erwerbsunfähig), Behinderte der 2. Gruppe (zeitweilig erwerbsunfähig oder mit eingeschränkter Erwerbsfähigkeit), Behinderte der 3. Gruppe (erwerbsfähig unter schonenden Arbeitsbedingungen). Je nach Ursache und Ausmaß ihrer Beeinträchtigung gehören Behinderte zu mobilen, beschränkt mobilen und nicht mobilen Gruppen. Die Anerkennung der Behinderung und die Zuordnung zu einer der Behindertengruppen erfolgt durch den staatlichen medizinisch-sozialen Begutachtungsdienst. Je nach der Zugehörigkeit zu einer der Gruppen werden die Probleme des sozialen Schutzes der Behinderten gelöst. Der „Soziale Schutz Behinderter“ ist ein System der vom Staat gewährleisteten wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Maßnahmen, die den Behinderten bei der Bewältigung ihres Alltags helfen und ihnen gleiche Möglichkeiten verschaffen sollen, am gesellschaftlichen Leben teilzunehmen (Artikel 2 des Föderalen Gesetzes „Sozialer Schutz Behinderter“). Die Grundrichtungen der staatlichen Sozialpolitik gegenüber den Behinderten sind: - Prophylaxe/Prävention als ein System vorbeugender Maßnahmen; - medizinisch-soziale Begutachtung; - ¤ Rehabilitation - sozialer Dienst für Behinderte; - Hilfen bei der Gestaltung von Alltag und Wohnumwelt. Die Umsetzung dieser sozialpolitischen Ziele basiert auf einer Anzahl normativrechtlicher und reglementierender Dokumente verschiedenen Ranges. Dazu gehö37 ren: 1. internationale Dokumente: Internationale Deklaration der Behindertenrechte (1975), Konvention und Empfehlungen zur beruflichen Rehabilitation und Beschäftigung Behinderter (1983); 2. innerstaatliche Dokumente: Nationalstaatliche Gesetze föderalen Ranges: Verfassung der Russischen Föderation, Gesetz „Sozialer Schutz Behinderter“ (1995), Gesetz „Sozialleistungen für Bürger im Alter und Behinderte“ (1995), Gesetz „Grundlagen der sozialen Betreuung der Bevölkerung in der Russischen Föderation“ (1995), Gesetz „Veteranen“ (1995), Erlasse und Anordnungen des Präsidenten der Russischen Föderation; 3. Gesetzliche Maßgaben der Subjekte der Russischen Föderation, Anordnungen und Bestimmungen der Gouverneure der Regionen und Gebiete; 4. Bestimmungen der örtlichen Macht- und Verwaltungsorgane; 5. Befehle und Verordnungen der Leiter bestimmter sozialer Dienste und Einrichtungen der Behindertenhilfe. Der Sozialarbeiter muß nicht nur die Grundpositionen der bestehenden Gesetzgebung kennen, die die Beziehungen zwischen dem Staat sowie der Gesellschaft und den Behinderten regeln, sondern auch seine eigenen Möglichkeiten bei der Nutzung des jeweiligen normativ-rechtlichen Dokuments in der praktischen Tätigkeit. T. Tscherpuchina / M. Bellermann Behinderte Kinder Als behinderte Kinder gelten minderjährige Behinderte bis zum 16. Lebensjahr. Eine andere Bezeichnung ist Kinder mit eingeschränkten Möglichkeiten. Folgende Formen von Behinderungen werden unterschieden: 1. körperliche Behinderung - zeitweilige oder chronische Behinderung bei der 38 Entwicklung und/oder beim Funktionieren von Körperorganen, die eine langfristige Behandlung erfordern; 2. psychische Behinderung - zeitweilige oder chronische Behinderung bei der Entwicklung und/oder beim Funktionieren der Psyche, eingeschlossen sensorische Störungen, Autismus, geistige Behinderung und Lernstörungen; 3. Mehrfachbehinderung - Kumulierung von mehr als einer psychischen und/oder körperlichen Behinderung. Hinreichende Erkenntnisse gibt es heutzutage über Kinder mit Sehbehinderungen (einschließlich Blindheit), mit Hörbehinderungen (gehörlose, schwerhörige), mit Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungsapparates, mit geistigen Behinderungen (mit hohem Behinderungsgrad), mit Sprachbehinderungen sowie mit Mehrfachbehinderung. Eine konkrete Behinderung (etwa der Verlust der Sehkraft oder des Gehörs oder Störungen der Motorik) beeinträchtigt in aller Regel die Entwicklung des Kindes und seiner Persönlichkeit in erheblichem Maße. Doch kann man nicht alle Kinder mit einer körperlichen und/oder psychischen Behinderung generell in die Kategorie der Behinderten einordnen. So können etwa zahlreiche seh- und hörbehinderte Kindern mit Hilfe spezieller Hilfsmittel (z.B. Hörgeräte für Schwerhörige, Brillen und Kontaktlinsen für Schwachsehende) die durch ihre Behinderung bedingten Einschränkungen in bestimmtem Umfang bewältigen und, unterstützt durch geeignete Erziehungsmaßnahmen, eine vollständige soziale Integration erreichen. Kinder mit geistigen Behinderungen leichter oder mittlerer Intensität können ebenfalls im Rahmen ihrer Möglichkeiten sozial integriert werden. Besonders problematisch bei der Behinderung von Kindern ist, dass die Einschränkungen in einer Periode stattfinden, in der persönlichkeitsprägende psychische Funktionen entwickelt sowie grundlegende Kenntnisse und Fertigkeiten angeeignet werden. Insofern ist die Behinderung bei Kindern noch gravierender als bei Erwachsenen, da sie nicht nur Selbstäußerungen der Persönlichkeit einschränkt, sondern vor allem auch deren Entwicklung und Gestaltung beeinträchtigt. In Russland sind drei verschiedene Institutionen für die Behandlung behinderter 39 Kinder zuständig: Kinder im Alter bis zu vier Jahren mit schweren Beeinträchtigungen des Stütz- und Bewegungsapparats sowie Kinder mit Schwachsinnssymptomen werden in Spezialkliniken behandelt und gepflegt, die dem Ministerium für Gesundheitswesen der Russischen Föderation unterstehen. Kinder mit nicht stark ausgeprägten Störungen ihrer körperlichen und psychischen Entwicklung lernen in Sondereinrichtungen des Ministeriums für Allgemeine Bildung der Russischen Föderation (Sonderkindergärten, -kinderheime, -gruppen in den Kindergärten, -rehabilitationszentren, -schulen, -internaten). Kinder im Alter von vier bis 18 Jahren mit gravierenden psychosomatischen Störungen leben in Heimen der Organisation für den sozialen Schutz der Bevölkerung. N. Jalpajewa Behindertenrehabilitation Behindertenrehabilitation ist ein System von medizinischen, psychologischen, pädagogischen und ökonomischen Maßnahmen, die auf die Beseitigung oder eine möglichst umfassende Entschädigung der durch die Behinderung verursachten Einschränkungen gerichtet sind. Das Ziel der Rehabilitation ist die Wiederherstellung des sozialen Status des Behinderten, seine materielle Unabhängigkeit und seine soziale Integration. Im Föderalen Gesetz „Sozialer Schutz der Behinderten in der Russischen Föderation“ (1995) sind drei Arten der Behindertenrehabilitation vorgesehen: - medizinische Rehabilitation (Rehabilitationstherapie, rekonstruktive Chirurgie, Prothetik), die für eine volle oder teilweise Wiederherstellung oder Kompensierung der jeweiligen gestörten oder verlorenen Funktionen sorgen soll und/oder zur Verlangsamung der Krankheitsentwicklung führt und/oder die Kräfte und Fähigkeiten des Behinderten unterstützt; - berufliche Rehabilitation, die durch die Wiederherstellung verlorener beruflicher Fähigkeiten und Fertigkeiten, durch Berufsausbildung oder Umschulung und durch betriebliche Maßnahmen zur (Wieder-)Eingliederung in das Ar- 40 beitsleben beiträgt; - soziale Rehabilitation, die durch ein Bündel von Maßnahmen die allgemeine Lebensführung der Behinderten erleichtern soll. Dazu gehören finanzielle Hilfen (Zuschüsse, Renten, einmalige Leistungen, Entschädigungen), Sachhilfen (Medikamente, Kleidung, Lebensmittel, technische Hilfsmittel u.a.), Hilfen zur sozialen Integration (behindertengerechter Umbau der Wohnung), soziale Dienstleistungen (Tagesstation, häusliche Pflege, Wohnheim) sowie Kultur- und Freizeitangebote. Umfang und Art der Rehabilitationsmaßnahmen werden gemäß dem Erlass des Ministeriums für Arbeit und soziale Entwicklung „Regelungen zum individuellen Programm der Behindertenrehabilitation“ (1996) in individuellen Programmen für jeden Einzelfall festgelegt. Zwei unterschiedliche Programme, die als Empfehlungen zu verstehen sind - der Behinderte kann auf einzelne Maßnahmen wie auch auf das ganze Programm verzichten -, sind vorgesehen: - langfristig (strategisch): entwickelt auf Grundlage eines medizinisch-sozialen Gutachtens (MSG) auf Dauer, im Blick auf die grundlegenden Ziele und Aufgaben der Rehabilitation; - kurzfristig (taktisch): entwickelt von Fachkräften aus Rehabilitationseinrichtungen, darunter Ärzten und Sozialarbeitern, auf Grundlage des langfristigen (strategischen) Programms auf kürzere Dauer angelegt. Diese gesetzlich vorgesehenen Maßnahmen zum sozialen Schutz Behinderter sollen ein akzeptables Lebensniveau der Betroffenen sichern, zur Bewältigung von Problemen und zu ihrer gesellschaftlichen Integration beitragen. T. Tscherpuchina Beratung ist ein Prozeß, in dem Klienten/Ratsuchenden Handlungsmöglichkeiten in konkreten Lebenssituationen - unter Darlegung gegebenenfalls kategorial verschieden 41 bewertbarer Vor- und Nachteile (z.B. Ethik/Finanzen) - bewußt werden. Das Ziel ist: Hilfe bei der Realisierung der (gesetzlichen verbürgten) Rechte und der Interessen des Bürgers zu leisten sowie Unterstützung bei der Problemlösung zu gewähren. Dabei ist es wichtig, Handlungskompetenzen und Ressourcen des Betroffenen zu beachten und zu aktivieren, um seine Selbständigkeit und Autonomie zu wahren, denn Beratung ist Dienst - keine Bevormundung. Das setzt voraus, daß der professionelle Berater (Sozialarbeiter/Sozialpädagoge) Achtung vor der Person des Ratsuchenden hat, daß er das ihm Anvertraute vertraulich behandelt, daß er die Freiheit, die Werte und die Normen des Ratsuchenden (Klienten) in gebührendem Maße beachtet und daß er die Person in den Prozeß der Beratung einbezieht, ihm jedoch die Entscheidung zur Gestaltung seiner Lebenssituation, soweit dies rechtlich und ethisch/moralisch zulässig ist, überläßt. Beratung kann als Einzel- und/oder Gruppenberatung erfolgen. Es gibt unterschiedliche Ansätze bzw. Konzepte und Methoden der Beratung. Die Entscheidung, welcher Ansatz und welche Methode zur Anwendung kommt, trifft der professionelle Berater unter Berücksichtigung der Situation und der Problematik der zu beratenden Person bzw. Gruppe. Beratung kann an unterschiedlichen Orten (in der Wohnung des Klienten, einer entsprechenden Institution etc.) oder fernmündlich durchgeführt werden. Ihr kommt in Rußland wie auch in Deutschland wachsende Bedeutung zu. Insbesondere aufgrund der sich ändernden Strukturen, Normen und Werte (Wertewandel) hat Beratung im Rahmen professioneller sozialer Arbeit eine zentrale sozialintegrative Funktion. In Deutschland hat der Klient Anspruch auf Beratung; demgemäß besteht eine Beratungspflicht des Leistungsträgers. Der Klient hingegen ist zur Mitwirkung verpflichtet. Das gilt vornehmlich im Leistungsrecht. Es gibt u.a. Mütter- und Säuglingsberatung, Familien-, Ehe- und Schwangerschaftskonfliktberatung, Scheidungs-, Schuldner-, Berufs-, Drogen-, Arbeitslosenund Krebsberatung, dazu die entsprechenden Beratungsstellen. In Rußland sind unterschiedlichste Beratungsstellen eingerichtet und arbeiten professionell; viele befinden sich (noch) in der Aufbauphase. L. Maschirowa / S. Michailowa / L. Haag 42 Betreuung ¤ Patronat und Betreuung Bewährungszeit Die Bewährungszeit wird vom Gericht bei der Verurteilung von Straftätern auf Bewährung festgesetzt. Die Dauer der Bewährungszeit hängt vom Strafmaß und der Art der Strafe ab. Bei Freiheitsentzug von einem Jahr oder darunter darf die Bewährungszeit nicht kürzer als sechs Monate und nicht länger als drei Jahre dauern, bei einem Strafmaß von einem Jahr und darüber beträgt sie mindestens sechs Monate und höchstens fünf Jahre. Die Bewährungsaufsicht obliegt der Strafvollzugsinspektion am Wohnort des Verurteilten, bei Angehörigen der Streitkräfte dem Kommando der Militärtrupps und -einrichtungen. Die Strafvollzugsinspektionen kontrollieren das Verhalten der auf Bewährung Verurteilten während der Bewährungszeit; gemeinsam mit Mitarbeitern anderer Dienste des Innenministeriums überprüfen sie, ob die Verurteilten die Bewährungsauflagen erfüllen (→ Verurteilung auf Bewährung). Das Strafrecht der Russischen Föderation ermöglicht den Gerichten eine Aufhebung des Bewährungsurteils sowohl zugunsten als auch zu Lasten des Verurteilten. O. A. Sigmunt Beziehung Beziehung ist ein sehr entscheidendes Element im Kontext sozialer Arbeit. Als „helfende Beziehung“ charakterisiert sie den Prozeß, der mit der Bezeichnung „berufliche Beziehung“ Grenzsetzungen vorgibt. Gleichwohl oder gerade deshalb ist eine gewisse Generalisierung erwartbaren Verhaltens der Interaktionspartner zulässig. Die Begriffe „helfende Beziehung“ und „berufliche Beziehung“ sind insbesondere durch das (amerikanische) ¤ Casework in die deutsche Sozialarbeit 43 eingeführt worden und gelten als Grundbedingung professioneller Handlungsfähigkeit. In der „Sozialarbeiter-Klient-Beziehung“ sind gegenseitiges Vertrauen, Akzeptanz und gegenseitige Erwartungen konstituierende Elemente. Die helfende/berufliche Beziehung soll dem Klienten das Durchleben-Können einer exemplarischen zwischenmenschlichen Beziehung ermöglichen, in der ihm seine Problematik verstehbar wird und er die Fähigkeit entwickelt, sie zu bearbeiten. Die Beziehung zwischen Sozialarbeiter/Sozialpädagoge und Klient(en) wird zudem durch eine Fülle von individuellen und situativen Fakten und Gegebenheiten bestimmt und strukturiert. So gehen u.a. lebensgeschichtliche Erfahrungen und Erlebnisse - auch des Professionellen - in die Beziehung mit ein und beeinflussen sie. Wichtige Aspekte in der Beziehung zwischen professionellem Helfer und Klient sind Nähe und Distanz, die es immer wieder auszubalancieren gilt, insbesondere im Hinblick auf (beruflich zu gestaltende) Vertrauensbildung. Durch die interdisziplinär breit angelegte Kommunikationsforschung hat auch die soziale Arbeit neue theoretische und praxisrelevante Erkenntnisse für berufliche Beziehungsprozesse gewonnen, z.B. durch Watzlawick u.a. (die sog. Palo-AltoGruppe), die die Kommunikation im Beziehungsprozeß in einer Theorie zusammengefaßt haben. Die von den Autoren noch nicht abschließend erforschten fünf Axiome besagen: Jedes menschliche Verhalten hat Mitteilungscharakter - man kann nicht nicht kommunizieren. Jede Kommunikation hat einen Inhalts- und einen Beziehungsaspekt. Die Art der Beziehung ist von der Interpunktion der Ereignisfolgen durch die Partner abhängig. Es gibt „digitale“ und „analoge“ Ausdrucksformen, die als die zwei „Sprachen“ menschlicher Kommunikation angesehen werden können. Zwischenmenschliche Kommunikation und Beziehungen verlaufen entweder symmetrisch oder komplementär. Darüber hinaus bezieht sich die Sozialarbeit/Sozialpädagogik auf wissenschaftliche Erkenntnisse aus der qualitativen Sozialforschung. Sie widmet ihr Interesse dem Verstehen der subjektiven Ebene der Handlungen (des Klienten) und dem Erschließen der Sinnhaftigkeit dieser Handlungen. Eine so geartete Sichtweise in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik bietet Möglichkeiten, Entwicklungs- und Erziehungsprozesse beim Klienten zu initiieren sowie mit ihm seine Ressourcen zu er44 schließen. L. Haag Bildung und Erziehung Mit dem Begriffspaar „Bildung und Erziehung“ wird im Deutschen - anders als im Englischen (education), aber vergleichbar der russischen Unterscheidung von „оъразование“ und „воспитaийе“ - der zentrale Themenbereich der Erziehungswissenschaft beschrieben. Dabei lassen sich anerkannte und eindeutige Definitionen der beiden Begriffe nicht geben, ohne den jeweiligen historischen und gesellschaftlichen Hintergrund zu berücksichtigen; zugleich gilt, wer etwas über Bildung sinnvoll sagen will, muß gleichzeitig etwas über Erziehung sagen, und umgekehrt. Der sprachlich ältere Begriff der Erziehung bedeutet schon sehr früh die Angleichung des Neugeborenen an die menschliche Gesellschaft, in die er hineingeboren wurde. Damit sind die grundlegenden pädagogischen Fragen verbunden, was soll durch erzieherische Maßnahmen erreicht werden, und wie kann die beabsichtigte Erziehung bewirkt werden? - Die Beantwortung dieser Fragen wird im Fortgang der Geschichte zunehmend schwieriger und uneindeutiger werden. Im Verlauf des 18. Jahrhunderts wird der Begriff der Bildung zu einem zentralen Begriff der Pädagogik. Im deutschen Humanismus, namentlich bei Wilhelm von Humboldt, wird mit dem Konzept der harmonisch-pro-portionierlichen Ausbildung aller Kräfte des Menschen der Bildungsbegriff erweitert, indem sich der Mensch als den, der er seiner Natur oder Idee nach ist oder sein könnte, in den Blick bringt und durch Selbstbildung zur Aufgabe macht. So versteht sich Bildung als Freisetzung der je einzigartigen Individualität, und sie wird „zu einem die Menschwerdung des Menschen verbürgenden Grundrecht... Sie tritt gleichberechtigt neben die Ansprüche des Menschen auf Freiheit und körperliche Unversehrtheit“ (C. Menze). Zu seiner Bildung bedarf der Mensch der Welt außer sich: Das Konzept der „rei45 nen“ oder „allgemeinen“ Bildung wählte „Welten“ aus ohne Rücksicht auf spezielle Zwecke oder besondere Bildungsvorstellungen wie etwa bei der beruflichen Ausbildung. Im Verlaufe des 19. Jahrhunderts jedoch werden die klassischen Bildungsgüter der Humanisten wie Sprachen und Kunst kanonisiert und neue, gesellschaftlich bedeutsame Wirklichkeitsbereiche wie Politik (!), Wirtschaft und Technik ausgeklammert. Es charakterisiert daher die nun einsetzende Verfallsgeschichte des Bildungsbegriffes, daß das wirtschaftlich und wissenschaftlich erfolgreiche deutsche Bürgertum sich einerseits mit dem feudal geprägten kaiserlichen Deutschland arrangierte und andererseits blind blieb für die grundlegenden Menschen- Bildungs- und Freiheitsrechte eines jeden Bürgers einschließlich des sich entwickelnden Proletariats. So überrascht es nicht, daß die durch die Industrialisierung Deutschlands bewirkten Probleme des gesellschaftlichen Wandels allein im Horizont des Sozialen wahrgenommen und mit den Mitteln der sich entfaltenden Sozialarbeit und Sozialpädagogik oder - diese unterstützend und ergänzend - der Sozialpolitik beantwortet worden sind; eine politische Antwort im Geist der Demokratie unterblieb, was nicht zuletzt das Scheitern der Weimarer Republik belegt. Die nach dem Zweiten Weltkrieg einsetzende Diskussion knüpft kritisch an diese Traditionen an, ohne über sie hinauszuführen. So wird etwa in der Tradition der geisteswissenschaftlichen Pädagogik bei W. Flitner das „Erzieherische“ als „Gefüge“ von vier Hauptansichten (das Biologisch-Anthropologische, GeschichtlichGesellschaftliche, als geistige Erweckung sowie als personale Betrachtungsweise) verstanden und Bildung als „das Werk von Erziehung“, das sich als bildendes Geschehen der Planung und dem bewußten Eingriff entzieht. Sie sind nach H. Nohl eingeordnet in die je vorgefundene „Erziehungswirklichkeit als Ausgangspunkt der Theorie“ der Pädagogik. Erziehung und Bildung als Prozesse sind danach eingebunden in einen pädagogischen Bezug zwischen Erzieher und Zögling, der sowohl wechselseitiges Vertrauen, partnerschaftliche Interaktionen als auch eine Doppelrolle des Erziehers gegenüber dem Kind verlangt, nämlich es einerseits gegen ungerechtfertigte Ansprüche von seiten der Gesellschaft zu schützen und andererseits die Ansprüche der Kultur ihm gegenüber zur Geltung zu bringen. T. Litt hingegen bezieht bisher vernachlässigte Dimensionen von Arbeit, Technik und Politik in den Bildungsbegriff mit ein und mit ihnen Mitmenschlichkeit, Ver46 antwortung und den Umgang mit Widersprüchen und Konflikten. In der zweiten Hälfte der 60er Jahre dagegen schien das Wissenschafts- und Gesellschaftsverständnis der nun so genannten Erziehungswissenschaft neu bestimmt zu werden: Die empirisch-analytisch orientierte Erziehungswissenschaft zum Beispiel (W. Brezinka) verwirft die komplexen Begriffe Erziehung und Bildung wegen ihrer Vieldeutigkeit oder versucht sie in empirisch überprüfbare Komponenten aufzulösen. Die Kritische Erziehungswissenschaft dagegen bezieht sich auf die Kritische Theorie - eine nicht-orthodoxe Form des Marxismus -, die bedeutsame Elemente der bürgerlichen Philosophie der Aufklärung, des Marxismus, der Psychoanalyse (z.B. Th. W. Adorno, E. Fromm, M. Horkheimer) sowie des Symbolischen Interaktionismus (J. Habermas) verbindet, und sie versteht die traditionellen Begriffe von Bildung und Erziehung in ihrer nicht durchschauten ideologischen und affirmativen Funktion hinsichtlich bestehender gesellschaftlicher Verhältnisse. Im Kontext der zentralen Begriffe von Emanzipation, Verdinglichung, Kommunikation, Diskurs, Theorie und Praxis interpretiert sie sie auf Selbstverwirklichung, Abbau von Selbstentfremdung und Änderung entsprechender gesellschaftlicher Herrschaftsverhältnisse. Der Bedeutung des Alltäglichen im Leben des einzelnen Menschen wie dem sich abzeichnenden historisch-strukturellen Wandel in den vielfältigen eigenständigen kulturellen Welten gegenüber bleibt die Kritische Erziehungswissenschaft aber merkwürdig blaß und ihrerseits ideologisch fixiert. Daher bestimmen die sogenannte Alltagswende (H. Thiersch) und der Befund der Risikogesellschaft in Verbindung mit der Individualisierungs-Hypothese (U. Beck) die theoretischen Diskussionen der 80er und 90er Jahre. - Auf diesem theoretischen Hintergrund versteht sich - angesichts der rapiden Auflösung vertrauter Alltags-Strukturen und Traditionen sowie von möglichen Brüchen in den alltäglichen Lebenswelten - Erziehung als Hilfe zur alltäglichen Lebensbewältigung und Bildung als der Versuch, dem Individuum Optionen in der Gestaltung seiner Biographie offen zu halten bzw. da, wo sie festgefahren ist, sie wieder zu „verflüssigen“ (L. Böhnisch). Das aber schließt ein, daß Alltäglichkeit immer wieder überschritten werden muß, indem das Individuum schon als Kind im vorschulischen, schulischen und außerschulischen Bereich sich eigene Zugänge zu Teilen der komplexen kulturellen Lebensbereiche lernend erwirbt: Im Spiel, in der Bewegung oder dem 47 ästhetischen Gestalten wie im Erwerb der Schrift, im Sammeln und im Konstruieren von Welt-Bildern (L. Duncker) findet die Pädagogik eigene Methoden - diese hier anthropologisch verstanden - des Lernens als Aneignung von Kultur, um so den jungen Menschen befähigen zu können, die vorgefundenen alltäglichen Lebenswelten wenigstens probeweise überschreiten und die komplexen Kulturen „lesen“, also verstehen, sie analysieren wie auf eine individuelle Weise an ihnen mitgestaltend teilhaben zu können. In dieser Sicht hat es die Pädagogik in allen ihren institutionellen Formen immer mit dem einzelnen zu tun. Pluralität ist daher ein konstituierendes Moment des pädagogischen Alltags, Demokratie die Chance, der Individualität politisch Zukunft zu sichern. Die für die Pädagogik zentralen Begriffe von Bildung und Erziehung erweisen sich demnach als wechselseitig aufeinander verwiesen. Erziehung kann zuletzt als „Methode“ der selbständigen und eigen-initiativen Aneignung von Kultur verstanden werden, sie endet mit dem Lernerfolg. Bildung dagegen ist - zumal als Selbstbildung - als ein lebenslanger Prozeß zu verstehen, der das Individuum befähigt, in kritischer und reflexiver Distanz sich selbst wie den kulturellen und gesellschaftlichen Wandel in seinen aktuellen Problemlagen anzunehmen und kreativ wie verantwortungsvoll dazu Stellung zu nehmen. Hierin ist die entscheidende Differenz zwischen Sozialarbeit und Sozialpädagogik zu sehen: In Deutschland stellen sie zwei unterschiedliche Traditionen in den - im einzelnen wie auch immer gestalteten - Hilfen zur Lebensbewältigung dar. So sehr sie vielfach übereinstimmen mögen, so sehr unterscheiden sie sich in den angesprochenen, genuin pädagogischen Denk- und Handlungsformen. K.-J. Spangenberg 48 Biographischer Ansatz Die (sozial-)wissenschaftliche Begründung des biographischen Ansatzes in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik liegt in der qualitativen bzw. kommunikativen Sozialforschung, die sich u.a. aus der Wissenssoziologie, dem symbolischen Interaktionismus und der Ethnomethodologie ableiten läßt. Die Relevanz für die Sozialarbeit/Sozialpädagogik liegt in der neuen Definition ¤ „Alltag“ und „Lebenswelt“ sowie im „methodisch kontrollierten Fremdverstehen“, jenseits von Bewertung und Beurteilung. Sozialarbeiter/Sozialpädagogen haben es - allgemein formuliert - mit Menschen zu tun, die in alltägliche wie dramatische Probleme so verstrickt sind, daß sie diese nicht mehr ohne professionelle Hilfe bewältigen können. Die Komplexität der Probleme steht in der Regel in engem Zusammenhang mit der Lebensgeschichte des Klienten. In ihr wird alles „aufbewahrt“, was das Leben ausmacht, was erlebt, erlitten und erfahren wurde. Die Lebensgeschichte ist das Persönlichste, das Ureigenste unseres Daseins. Biographisches Erzählen - praktisch durchzuführen mit der Methode des narrativen Interviews - kann sich auf die Gesamtgeschichte oder die (aktuelle) Problemgeschichte („Warum es so und nicht anders gekommen ist“), auf die Krankheitsoder die Berufsgeschichte etc. richten. Das narrative Interview vollzieht sich nach flexibel zu gestaltenden Regeln. Es kann dem Klienten nicht aufgezwungen werden. Doch durch eine erzählgenerierende (sehr offene) Frage löst es beim Klienten einen Erzählstrom aus, in dem dieser rückblickend, sich am Ablauf seines Lebens orientierend, erzählt. Er begibt sich in den Erfahrungsstrom seines Lebens (oder seiner Problem-, Krankheitsbzw. Berufsgeschichte etc.). Nach der Haupterzählung kann es einen erzählgenerierenden Nachfrageteil geben, um Plausibilität zu erzeugen oder (zeitliche) Lükken zu schließen etc. Im letzten Teil geht es mittels Fragen darum, die Erklärungsund Abstraktionsfähigkeit des Klienten zu aktivieren, die ihn zum „Experten und Theoretiker seiner selbst“ werden läßt. Das (biographisch-)narrative Interview vermittelt dem (professionellen) Zuhörer „objektive“ Daten des Betroffenen, die von diesem durch Deutungen und Interpretationen kommentiert und auch legitimiert werden und so seine „Innenansicht“ erfahrbar werden lassen. Dem Klienten 49 wird durch dieses Vorgehen die Möglichkeit gegeben, seine Identität und (Lebens-)Sinndimensionen darzulegen und Selbstvergewisserungsprozesse einzuleiten. Damit präsentiert er sich auch als Teil der Gesellschaft, als Person, die in das institutionelle Ganze eingebunden ist. Hierin liegen Anknüpfungspunkte, Handlungskompetenzen des Klienten zu stärken, Ressourcen (zurück-) zu gewinnen und Problemlösungsstrategien zu entwikkeln, die dem Klienten die Autonomie seiner alltäglichen Lebensführung (wieder) gewährleisten. Der professionelle Helfer muß die Erzählung reflektieren und gründlich analysieren, um zu jenem Verständnis zu gelangen, welches ihn befähigt, mit dem Klienten die erforderlichen Veränderungs- und Entwicklungsprozesse einzuleiten, damit dieser seinen Alltag und seine Schwierigkeiten (wieder) autonom, selbständig und mündig zu bewältigen vermag. L. Haag Case Management Das Konzept des Case Managements entwickelte sich in den 70er Jahren in den USA durch eine zunehmende Spezialisierung und verstärkte Differenzierung der Träger der Sozialen Arbeit. Case Management ist auch in Deutschland eingeführt mit der Begründung, den Nutzen der zur Verfügung stehenden finanziellen Mittel für die Bevölkerung zu mehren. Ausgangspunkt des Case Managements ist der Einzelfall. Case Management will durch die Verknüpfung persönlicher, sozialer und institutioneller Ressourcen die nötige Unterstützung und Versorgung von Menschen mit höchstmöglicher Effizienz sicherstellen. Case Management verläuft in sich aufeinander beziehenden Phasen: Bedarfsfeststellung, Ressourcenermittlung, Planung der Hilfestellung, Durchführung, Überwachung der eingeleiteten Hilfen und Auswertung der Maßnahme. Im Case Management schließen Klient und Sozialarbeiter einen → Kontrakt, der den Grund, die Art und Weise und die Dauer der Zusammenarbeit für 50 beide verbindlich regelt. Im Case Management hat der Sozialarbeiter als „Casemanager“ die vollständige Fallverantwortung. Er selbst gestaltet in der Regel keine direkten personenbezogenen Leistungen, er ist Leistungseinkäufer. Er vereinbart mit den Leistungserbringern in jedem einzelnen Fall die Art, den Umfang, die Dauer und die Kosten der Hilfe und kontrolliert, ob Leistungen im ausreichenden Sinn erbracht werden. Angezeigt ist das Konzept des Case Managements bei komplexen sozialen Problematiken, bei denen mehrere Helfer über einen längeren Zeitraum in vernetzten Bezügen tätig sind. Durch Case Management wird das System der Zusammenarbeit unterschiedlicher Helfer organisiert. Zum Einsatz kommt Case Management insbesondere bei der ambulanten Betreuung psychisch Kranker, Pflegebedürftiger, geistig Behinderter sowie in der Jugend- und Familienhilfe. U. Zinda Casework (¤ Einzelhilfe bzw. Einzelfallhilfe) Das Casework galt bis in die jüngste Zeit (neben sozialer ¤ Gruppenarbeit und ¤ Gemeinwesenarbeit) als „klassische Methode“ der Sozialarbeit, während sie in neuen deutschen Definitionen als Form bzw. System der Hilfe bezeichnet wird (¤ Methoden). In Anlehnung an M. Richmonds Werk („Social Diagnostic“, 1917) hat A. Salomon (1926) mit ihrem Werk „Soziale Diagnose“ erstmals eine fachtheoretische Grundlage für die soziale Einzelhilfe geschaffen. 51 Während Richmond im Sinne empirischer Sozialforschung die Klientsituation unter Einbeziehung der sozialen Umwelt erforschte, um − daraus resultierend die Vorstellung von der „helfenden Beziehung“ als demokratischen Prozeß der Zusammenarbeit von Sozialarbeiter und Klient zu würdigen, konnte sich diese Sicht, als Leitlinie methodischen Handelns in der deutschen sozialen Arbeit, nicht durchsetzen. Sie verstand sich emanzipationstheoretisch, als weibliche Form gesellschaftlichen Handelns, als „angewandte auf die Welt übertragene Mütterlichkeit“ (J. Schwerin), unter Vernachlässigung einer empirisch-wissenschaftlichen Fundierung. Erst nach 1945 übernahm die deutsche Sozialarbeit die aus den USA kommenden Konzepte und Methoden. Basierend auf der Ich-Psychologie soll im Casework eine Ich-Stärkung beim Klienten erreicht werden, u.a. zur Anpassung an gesellschaftliche Normalität. Dabei geht das Casework davon aus, daß die Ursachen für die sozialen Schwierigkeiten (Beziehungsschwierigkeiten) in mangelnder Reife des Gefühlslebens oder akuten seelischen Belastungen des Klienten liegen. Das Ziel ist die „Hilfe zur Selbsthilfe“, d. h. die Befähigung des Klienten, unabhängig vom Sozialarbeiter und unabhängig vom System staatlicher und privater Hilfsunternehmungen und deren Leistungen sein Leben und seine Probleme meistern zu können. Diese Befähigung soll durch die Einflußnahme des Sozialarbeiters im Rahmen der „helfenden Beziehung“ erreicht werden. In ihr kommen die Prinzipien des Casework zum Tragen. Das sind u.a. das Prinzip der Individualisierung, der kontrollierten gefühlsmäßigen Anteilnahme, der Annahme des anderen, der nicht richtenden Haltung, der Selbstbestimmung des Klienten und der Verschwiegenheit. Die üblichen Schritte bei der Durchführung des Casework sind: Fallstudie bzw. ¤ Anamnese (eine systematische Erkundung der Situation des Klienten und seiner Umwelt), ¤ Diagnose (die Beschreibung des Problems) und ¤ Hilfeplan bzw. Behandlungsplan (Planung und Umsetzung von Maßnahmen). Darüber hinaus sind keine Interventionsformen, Techniken oder systematischen Handlungsschritte beschrieben. 52 Freiwilligkeit erschien lange Zeit als eine unabdingbare Voraussetzung für den Hilfsprozeß. Man unterstellte damit die Anerkennung und Bejahung grundsätzlicher Regeln und Normen durch den Klienten. Ende der sechziger Jahre geriet das Casework in die (sozial-)wissenschaftliche Kritik. Der Vorwurf der Individualisierung gesellschaftlich verursachter Problemlagen wurde erhoben sowie die Vermischung von Methoden und Zielen durch den Sozialarbei- ter/Sozialpädagogen. Casework im Sinne psychoanalytischer Grundannahmen erschien veraltet. Eine grundlegende Modifikation und die Einbeziehung sozialwissenschaftlicher Erkenntnisse ließ die soziale Einzelhilfe später zu einem anerkannten Verfahren werden, das in der Praxis der sozialen Arbeit von großer Notwendigkeit und unverzichtbar ist. L. Haag Demenz Als Folge von Beeinträchtigungen der Hirnfunktion können charakteristische psychische Störungsbilder auftreten, die als organische Psychosyndrome bezeichnet werden. Man unterscheidet dabei im wesentlichen zwischen dem Delir, das akut und mit Bewußtseinstrübungen auftritt, und der Demenz als chronischem und meist irreversiblen Psychosyndrom. Das Erscheinungsbild der Demenz tritt als Folge von Schädel-Hirn-Traumen, Durchblutungsstörungen, degenerativen Abbauprozessen, Vergiftungen usw. auf. Sofern diese Schädigungen fortschreiten, nehmen auch die psychischen Störungen zu. Die charakteristischen Merkmale der Demenz sind Konzentrations- und Merkfähigkeitsstörungen sowie sich daraus ergebende Beeinträchtigung der Orientierungsfähigkeit, ferner absinkendes Vermögen zu abstrakt-logischem Denken und zum Verständnis komplexer Zusammenhänge, Antriebsstörungen und in fortgeschrittenem Stadium Beeinträchtigungen des Sprachverständnisses, des sprachlichen Ausdrucksvermögens und praktischer Handlungsabläufe. 53 Das Erscheinungsbild der Demenz ist bei 2 Prozent bis 3 Prozent aller über 15 Jahre alten Personen festzustellen. Dabei nimmt das Risiko mit dem Alter zu; von den Personen über 90 Jahre sind 30 Prozent betroffen. Die Demenz im Alter ist bei 65 Prozent als Folge der Alzheimerschen Krankheit und bei 20 Prozent als Ergebnis von Kreislauferkrankungen anzusehen. Neben der allgemeinärztlichen Behandlung insbesondere eventueller Herz-Kreislauf-Störungen ist vor allem die Entwicklung geeigneter Formen des Umgangs mit dem kranken Menschen hilfreich, die seiner eingeschränkten Orientierungsfähigkeit und seinem verminderten Verständnis für komplexe Zusammenhänge gerecht werden. Die Pflege erfolgt meist durch Angehörige oder ambulante Pflegedienste. Zur Beratung der Betreuungspersonen und zur vorübergehenden ambulanten oder tagesklinischen Behandlung von krisenhaften Entwicklungen und Depressionen werden seit einigen Jahren Gerontopsychiatrische Zentren aufgebaut. W. Crefeld Demographische Entwicklung In einem eng verstandenen Sinne befasst sich die Demographie als deskriptive Wissenschaft mit der Struktur der Bevölkerung eines Staates und mit den Prozessen der Bevölkerungsentwicklung. Ein weiter gefasstes Verständnis von der Entwicklung der Bevölkerung umfasst auch qualitative Aspekte. In der deskriptiven Demographie geht es um die statistische Erfassung der Einwohnerzahl, der Zusammensetzung der Bevölkerung nach Alter und Geschlecht, der Heirats- und Scheidungsraten, der Geburtenentwicklung, der Lebenserwartung bzw. Sterblichkeit und der Wanderungsbewegungen (¤ Migration) in einer gegebenen Gesellschaft. Aus diesen Faktoren lassen sich Prognosen über Wachstum oder Rückgang der Bevölkerung ableiten und soziale Probleme erkennen (z.B. Bedarf an Kinderbetreuungseinrichtungen, Entwicklung der Renten, Bedarf an Pflegeeinrichtungen für alte Menschen etc.). 54 In der Bundesrepublik Deutschland unterschieden sich Anfang der 1990er Jahre die neuen und die alten Bundesländer (ehemalige DDR und ehemalige BRD) hinsichtlich der Lebenserwartung, der Geburtenraten und der Haushaltsformen. Doch seitdem gleicht sich die demographische Entwicklung immer deutlicher an. Insgesamt ist sie, wie in den meisten westeuropäischen Industrieländern, gekennzeichnet durch: - einen Rückgang der Geburtenraten (die so genannte Nettoreproduktionsrate der deutschen Bevölkerung liegt seit den 1990er Jahren bei zirka zwei Dritteln, d. h. jede Kindergeneration schrumpft im Vergleich zur Elterngeneration um zirka ein Drittel); - einen Anstieg der Lebenserwartung (bei Frauen in Westdeutschland von 68,75 Jahren im Jahr 1950 auf 80,3 Jahre im Jahr 1998; Frauen in Ostdeutschland hatten im Jahr 1998 eine Lebenserwartung von 79,3 Jahren. Die Lebenserwartung der Männer in Westdeutschland stieg von 64,5 Jahren auf 74,4 Jahre im Jahr 1998; die der Männer in Ostdeutschland auf 71,9 Jahre); - eine Verkleinerung von Haushalten und Familien (der Anteil der Einpersonenhaushalte stieg von 7 Prozent im Jahr 1900 auf 35 Prozent im Jahr 1998, wobei der größte Teil der Einpersonenhaushalte von älteren Menschen über 65 Jahren gebildet wird); - starke Wanderungsbewegungen (Arbeitsmigration, innerdeutsche Ost-WestWanderungen, Zuwanderungen aus Osteuropa, vorübergehende Zuwanderung von Flüchtlingen. 1998 lebten zirka 7,3 Millionen Menschen, knapp 9 Prozent der Gesamtbevölkerung, mit einer anderen als der deutschen Staatsbürgerschaft in Deutschland. In ihrer Geschlechts- und Altersstruktur unterscheidet sich die ausländische deutlich von der deutschen Bevölkerung). Die demographische Entwicklung in Russland ist in den letzten Jahren durch negative Tendenzen gekennzeichnet: - Rückgang der Geburtenzahlen und Anstieg der Todesfälle (die Geburtenrate sank von 14,6 pro Tausend im Jahr 1989 auf 8,7 im Jahr 2000; die Todesrate stieg im gleichen Zeitraum von 10,7 pro Tausend auf 15,4 ); 55 - Rückgang der Lebenserwartung (bei Männern von 64,2 Jahren im Jahr 1989 auf 59,9 im Jahr 1999; bei Frauen von 74,5 Jahren auf 72,4 Jahre im gleichen Zeitraum); - Überalterung der Bevölkerung (von 1989 bis 2000 nahm der Anteil der Personen unter dem erwerbsfähigen Alter an der Gesamtbevölkerung von 24 Prozent auf 20 Prozent ab und der Anteil der Personen über dem erwerbsfähigen Alter von 19 Prozent auf 21 Prozent zu). Einen Orientierungsrahmen für eine positive demographische Entwicklung kann das UNO-Programm „Entwicklung der Menschheit“ bilden, das u.a. Gesundheitsstandards, Ausbildungsmöglichkeiten, Lebensstandards und die Einhaltung der Menschenrechte beschreibt. M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn Devianz (¤ Abweichendes Verhalten / Devianz) Diagnose In der Diagnose soll ein (psycho-) soziales Problem so erkannt, verstanden und nachvollzogen werden können, daß sich daraus Handlungsschritte zur Lösung des Problemkomplexes ableiten bzw. erarbeiten lassen. Von M. Richmond („Social Diagnostic“, 1917) wurde im Rahmen des ¤ Casework die Diagnose als unverzichtbarer beruflicher Arbeitsvorgang in der Sozialarbeit eingeführt, in Anlehnung an das medizinische Modell. Die Diagnose basiert auf den in der ¤ Anamnese gesammelten Informationen, aus denen sich dann der ¤ Hilfeplan bzw. Behandlungsplan erarbeiten läßt. 56 Im Rahmen der interdisziplinären Theorieansätze in der sozialen Arbeit steht die mehrdimensionale Sichtweise, in der die Trias „Person − Problem − Situation“ Berücksichtigung findet. Darüber hinaus werden Umwelt, Familie, Beruf, außerfamiliäre Beziehungen und Freundschaften des Klienten sowie seine finanzielle, wirtschaftliche, gesundheitliche und psychische Situation etc. in den Diagnoseprozeß einbezogen. Das veränderte Verständnis von Hilfe, welches die Wandlung der „Hilfe zur Selbsthilfe“ in den Vordergrund rückte, billigte dem Klienten in zunehmendem Maße eine aktive Rolle bei der Definition seiner Problemsituation zu und in bescheidenem Umfang Mitsprache bei der Zielsetzung der Hilfe. Trotz dieser Fokuserweiterung und der daraus resultierenden neuen Bezeichnung „psychosoziale Diagnose“ blieb das Verfahren vornehmlich an den Defiziten und Defekten des Klienten orientiert. Die Gefahr der Stigmatisierung des Klienten kann dabei nicht ausgeschlossen werden. Erst die neueren Konzepte der sozialen Arbeit (kommunikations- und systemtheoretische sowie lebenswelt- und biographieorientierte Konzepte) führten zur Hinwendung der Kompetenz- und Ressourcenorientierung und zur Abwendung von etikettierenden Diagnoseverfahren. Heute wird zunehmend mit gemeinsam erarbeiteten Hypothesen, mit Deutungsverfahren und gleichberechtigten Aushandlungsprozessen umgegangen und gearbeitet. Der Dialog - zwischen dem Klienten mit seinem anerkannten, lebensweltlichen Betroffenheitswissen und dem Sozialarbeiter mit seinem beruflichen Erklärungsund Handlungswissen - steht im Vordergrund und bietet die Basis für flexible, zielorientierte Veränderungsprozesse. L. Haag 57 Down-Syndrom Das Down-Syndrom (auch Morbus Langdon-Down, Trisomie 21, Mongolismus genannt) wurde erstmals 1866 von dem englischen Arzt J. Langdon Down beschrieben. Das Down-Syndrom ist die bekannteste Chromosomenabberation (Auftretenshäufigkeit 1 auf ca. 700 Geburten). Bei der klassischen Trisomie ist das Chromosom 21 infolge einer Non-disjunction in der Meiose 3fach vorhanden; in wenigen, familiär auftretenden Fällen ist das zusätzliche Chromosom 21 oder ein wesentliches Stück an ein anderes Autosom angeheftet. Beide Formen führen zu einer intra- und extrauterinen Fehlentwicklung fast sämtlicher Gewebe und Organe, die u.a. langsamer wachsen, unreif bleiben und Fehlentwicklungen aufweisen können. Das äußerliche Erscheinungsbild ist sehr ähnlich; es zeigt u.a. eine kurze Schädelform, schräg gestellte Augen, Epikanthus (angeborene sichelförmige Hautfalte am inneren Rand des oberen Augenlids), Unterentwicklung des Kiefers und der Zähne, einen kleinen Gaumen, für den häufig die gefurchte Zunge zu groß erscheint, Vierfingerfurche an der Handfläche, Muskelhypotonie. Die Schleimhäute sind sehr anfällig für Infektionen, das Bindegewebe und der Muskeltonus sehr schlaff. An den inneren Organen kommen oft krankhafte Veränderungen vor, so z.B. Herzfehler in ca. 40 bis 60 Prozent der Fälle. Die geistige und körperliche Entwicklung von Kindern mit Down-Syndrom ist insgesamt verlangsamt. Sie bleibt aber nicht, wie früher angenommen, auf einer bestimmten Altersstufe stehen. In ihrem Körperwuchs bleiben Kinder mit DownSyndrom stark zurück; in ihrer geistigen Entwicklung zeigen sie sehr unterschiedliche Intelligenzgrade (von geistiger Behinderung bis hin zur Lernbehinderung). Ein wesentliches Merkmal ist die deutliche Sprachentwicklungsverzögerung, die sich vor allem in der Lautbildung, Störungen des Redeflusses und Stottern zeigt. Verantwortlich hierfür sind neben interaktiven Faktoren u.a. die Fehlbildungen der Sprechwerkzeuge sowie die Muskelhypotonie. 58 Menschen mit Down-Syndrom sind in ihrem Sozialverhalten häufig freundlich und aufgeschlossen; sie gelten als emotional ausgeglichen und heiter. Insgesamt ist ihre soziale Kompetenz höher als ihre intellektuelle. Neben der rechtzeitigen Abklärung medizinischer Fragen sind frühe pädagogische Hilfen („Frühförderung“; Entwicklungsförderung), die an der Alltagswelt orientiert und in diese eingebunden sind, für die körperliche und psychosoziale Entwicklung von Menschen mit Down-Syndrom von großer Wichtigkeit. Ebenso von Bedeutung ist eine informative und partnerschaftliche Zusammenarbeit mit den Eltern. M. Hellmann Drogensucht als Krankheit ist gekennzeichnet durch physische und psychische Abhängigkeit von Rauschgiften; Folge ist unter anderem der Abbau körperlicher und geistiger Fähigkeiten. In vielen Ländern der Erde ist Drogensucht ein akutes Problem. Vor diesem Hintergrund hatten die Vereinten Nationen das Jahrzehnt von 1991 bis 2000 zur Dekade des Kampfes gegen Drogen erklärt. 1988 war die UNOKonvention über den Kampf gegen die Verbreitung und den Handel mit Drogen verabschiedet worden. Soziologische Untersuchungen haben ergeben, dass etwa zwei Millionen Russen Drogen konsumieren. Drogensucht wird immer deutlicher zu einem Jugendproblem. 1996 wurden 20.200 Jugendliche von medizinischen Einrichtungen als drogensüchtig registriert. Die tatsächliche Zahl der behandlungsbedürftigen Drogenkonsumenten liegt viel höher. 68 Prozent der Drogenabhängigen sind Jugendliche im Alter von 16 bis 17 Jahren; bei der weiter gefassten Altersgruppe von 15 bis 20 Jahren sind es 60 Prozent. Rund 51 Prozent der drogenabhängigen Jugendlichen haben einen Mittelschulabschluss, 1,9 Prozent einen Hochschulabschluss. Etwa 80 Prozent lernen oder studieren. Mehr als 30 Prozent haben Erfahrungen mit dem Strafrecht gemacht und standen bereits einmal vor Gericht. Etwa 28 Prozent sind verheiratet. Während der Anteil der weiblichen Drogenabhängigen bei den Erwachsenen 28 Prozent beträgt, liegt er bei Jugendlichen bei 35 Prozent. Bereits 59 bei 37 Prozent der 10- bis 11-jährigen Schüler kann eine Affinität zu Drogen festgestellt werden. Zu den die Drogensucht auslösenden Faktoren gehören negative Einflüsse des sozialen Umfeldes wie etwa eine defizitäre familiäre Erziehung, Gruppendruck, „Vorbildfunktion“ von drogenabhängigen Erwachsenen, darunter auch Eltern, sowie vielfältige Persönlichkeitsstörungen. Angesichts der komplexen Ursachen der Drogensucht und der schwierigen gesellschaftlichen und sozialen Bedingungen in Russland sind rasche Erfolge weder in der präventiven noch in der Rehabilitationsarbeit zu erwarten. Das Regierungsprogramm „Umfassende Maßnahmen gegen die Verbreitung der Drogensucht und den Schattenhandel mit Drogen“ ist eine Antwort auf die steigende Bedeutung des Problems. Ein weiteres Programm zur Rehabilitation der Drogensüchtigen ist in Ausarbeitung; es kann an bereits existierende Hilfsprogramme in Kliniken, Beratungsstellen und Zentren der Sozialarbeit für Familien und Kinder anknüpfen, muss aber noch weiter entwickelt werden. S. Michailowa 60 Ehemündigkeit Ehemündigkeit ist das Mindestalter, ab dem die Eheschließung gesetzlich erlaubt ist. In Rußland beträgt dieses Alter für Männer wie für Frauen 18 Jahre. Für die Eheschließung ist − neben dem Erreichen des Mindestalters − gegenseitiges freiwilliges Einverständnis der Partner notwendig. Bei Vorliegen gewichtiger Gründe können die örtlichen Behörden eine Genehmigung an Personen, die erst das 16. Lebensjahr vollendet haben, erteilen. Ebenso kann in Ausnahmefällen nach den gesetzlichen Grundlagen der Russischen Föderation unter Berücksichtigung besonderer Umstände eine Eheschließung von Personen, die das 16. Lebensjahr noch nicht vollendet haben, genehmigt werden. T. Tschulkowa Einrichtungen für soziale Betreuung sind Institutionen unterschiedlicher Rechtsformen, die entsprechend den gesetzlichen Regelungen der Russischen Föderation Bürgern in schwierigen Lebenssituationen soziale Leistungen und materielle Unterstützung zur Verfügung stellen. Sie werden als stationäre, halbstationäre und ambulante Einrichtungen geführt. Stationäre Einrichtungen sind beispielsweise Einrichtungen für Alte und Kranke wie psychoneurologische Stationen und Hospize, Einrichtungen der Nichtsesshaftenhilfe, Einrichtungen zur sozialen Rehabilitation Minderjähriger, Frauenhäuser für Opfer von (familiärer) Gewalt. Ferner gehören zu den stationären Einrichtungen Heime für Arbeitsveteranen und Behinderte, für Kriegsveteranen, für alte Angehörige bestimmter Berufsgruppen (etwa Schauspieler), für alte alleinstehende und kinderlose Ehepaare sowie für alte Strafentlassene. Eine neue Form stationärer Einrichtungen sind Wohnhäuser für betreutes Wohnen. Sie sind für alleinstehende Alte und Ehepaare bestimmt, die den Ablauf des täglichen Lebens noch vollständig oder teilweise organisieren können, dabei aber auf Unterstützung, Beaufsichtigung oder Anleitung angewiesen sind. Dement61 sprechend werden medizinische Dienste und Dienste für die hauswirtschaftliche Versorgung eingerichtet. J. Worobjewa Einrichtungen der Nichtsesshaftenhilfe Zu den Einrichtungen der Nichtsesshaftenhilfe gehören unter anderem Nachtasyle, Heime, Hotels, Zentren für soziale Integration. Sie unterstehen der Verwaltung für den sozialen Schutz der Bevölkerung. Die Hauptaufgaben dieser Einrichtungen sind die zeitweilige Unterbringung oder die Bereitstellung von Übernachtungsmöglichkeiten für Nichtsesshafte, in erster Linie Alte und Behinderte, sowie die Förderung der sozialen Integration von Personen, deren soziale Beziehungen abgebrochen sind oder sich verschlechtert haben (in erster Linie von Strafentlassenen). Die Einrichtungen stellen Betten mit Bettwäsche und Artikel für Körperpflege sowie Bons für kostenlose Mahlzeiten zur Verfügung; eine erste Versorgung durch Krankenschwestern wird sichergestellt; Bedürftige werden an Gesundheitseinrichtungen weitervermittelt; es werden Einweisungsscheine für Heime ausgestellt. Außerdem gibt es Hilfen bei der Arbeitsvermittlung, der Ausstellung von Personalpapieren und Krankenversicherungsscheinen sowie Beratung und Hilfe anderer Art. Die Unterhaltsdauer wird für jede Einrichtungsart von den entsprechenden Behörden festgelegt. J. Worobjewa 62 Einsamkeit Einsamkeit als sozialpsychologisches Problem entsteht durch den Mangel an sozialen Kontakten und/oder durch unbefriedigende soziale und kommunikative Beziehungen. Dabei kommt es weniger auf die „objektive“ Menge der Kontakte oder die reale Isolierung des Individuums an als auf sein subjektives Empfinden. Vor allem unter den Bedingungen unfreiwilliger Einsamkeit (z.B. isolierende Arbeitsbedingungen, Inhaftierung) entwickelt sich das Verlangen nach Kommunikation. Um es zu befriedigen, können die einsamen Menschen Ersatzstrategien entwickeln, indem sie beispielsweise Gegenstände personifizieren oder mit fiktiven Gespärchspartnern kommunizieren. Diese Schutz- und Kompensationsmechanismen können bei längeren Einsamkeitssituationen zu psychischen Störungen führen (z.B. Spaltung der Persönlichkeit). Einsamkeit kann aber auch als Folge von bereits vorhandenen Persönlichkeitsstörungen entstehen bzw. als Symptom hierfür verstanden werden. In modernen Gesellschaften, die u.a. durch ein hohes Lebenstempo, eine Vielzahl von unfreiwilligen sozialen Kontakten und hohe Verhaltensanforderungen bei gleichzeitig wegfallenden Sitten und Bräuchen gekennzeichnet sind, können Entfremdungs- und Identitätsprobleme auftreten und bei den Individuen das Gefühl von Einsamkeit, Verlorenheit und Ausweglosigkeit hervorrufen. Einsamkeit wird deshalb manchmal als „typische Krankheit des 20. Jahrhunderts“ bezeichnet. Hinzu kommt die hohe Zahl von Alleinlebenden, die zum Teil keine Kontakte zu ihren Verwandten haben oder pflegen. In einigen Ländern Westeuropas (Belgien, Deutschland, Niederlande) sind etwa 30 Prozent der Bevölkerung alleinlebend, bei steigender Tendenz. 1989 gab es in Rußland nach amtlichen Erhebungen rund 10,12 Millionen Alleinlebende, darunter etwa 6,8 Millionen Frauen. Durch die hohe Sterblichkeitsrate unter der männlichen Bevölkerung und zunehmende Familienkrisen nimmt die Einsamkeit von Frauen zu; die Folge ist unter anderem eine Zunahme geistiger und psychischer Erkrankungen. 63 Um einsamen Menschen zu helfen, ist ein Netz von Sozialdiensten nötig, in denen professionelle Kräfte präventive und beratende Hilfen bieten. S. Michailowa Einzelhilfe / Einzelfallhilfe Der Begriff besagt zunächst einmal nur, daß sich die professionelle Hilfe durch den Sozialarbeiter/Sozialpädagogen auf eine einzelne Person (Klient), auf einen Einzelfall richtet. Die (Arbeits-)Form des Handelns (das Setting) bezieht sich auf den einzelnen (in Abgrenzung zu anderen Formen des beruflichen Handelns, nämlich mit Familien, Gruppen oder Gemeinwesen). Im Rahmen der Einzelhilfe bzw. Einzelfallhilfe (beide Begriffe werden gleichermaßen verwendet) gibt es mehrere Konzepte bzw. Ansätze. Diese geben in der Regel Auskünfte, wie und warum Schritte der beruflichen, psycho-sozialen Hilfeleistung zu erfolgen haben und welches Menschenbild grundlegend ist. Untrennbar verbunden mit den Begriffen Einzelhilfe und Einzelfallhilfe ist das aus dem amerikanischen Kontext stammende Konzept des ¤ Casework. Es wurde als Praxistheorie verstanden und gewertet und dann als Modell für Theoriebildung und -entwicklung in der Sozialarbeit eingeführt. Darüber hinaus ist das aus der 64 Gesprächspsychotherapie entwickelte Konzept der klient- bzw. personenzentrierten Gesprächsführung nach der Form (und dem Setting) der Einzel(fall)hilfe zuzuordnen sowie der biographische Ansatz, der aus der qualitativen Soziologie bzw. der kommunikativen Sozialforschung entwickelt wurde. Als Konzept der Einzel(fall)hilfe ist auch das umfassende, bei multifaktoriellen Problemlagen anzuwendende ¤ Case Management zu nennen. Bedeutsam ist jedoch, daß zwischen der Individualisierung gesellschaftlich verursachter Probleme und der individuellen Behandlung und Beratung von problembelasteten Klienten unterschieden wird. L. Haag Empowerment In der anglo-amerikanischen Alltagssprache wird der Begriff für ein breit gefächertes Grundverständnis von „stärker werden“, „handlungsfähig werden“, „sich durchsetzen können“ verwendet. In der sozialen Arbeit beschreibt Empowerment ein Konzept, das die Menschen zur Entdeckung eigener Stärken ermutigt und ihnen Hilfestellungen bei der Aneignung von Selbstbestimmung und Lebensautonomie vermittelt. Es geht von der Überzeugung aus, daß eine aktive Teilhabe am gesellschaftlichen Leben möglich ist und gemeinsam mit anderen Menschen Veränderungen herbeigeführt werden können sowie Lebensräume gestaltbar sind. Die Erfahrungen aus dem selbstgesteuerten Gestaltungsprozeß sind dabei wichtiger als die Orientierung an konkreten Vorgaben und Normen. Der anthropologische Ausgangspunkt des Empowerment ist der, daß die Menschen das Potential ihrer „Selbstaktualisierung“ („personal power“; C. Rogers) in sich tragen und weitgehend autonom und in der Lage sind, ihre Interessen und 65 Vorstellungen gemeinsam mit anderen zu verfolgen. Ableitbar von diesem Menschenbild sind Haltungen und Ziele, die die Begleitung von Menschen in Empowerment-Prozessen prägen. Grundlegend ist die symmetrische, partnerschaftliche Arbeitsbeziehung zwischen den Klienten und den beruflich tätigen Fachkräften. Ihre Zusammenarbeit wird über den ¤ Kontrakt geregelt. Empowerment-Prozesse können in den verschiedenen Arbeitsformen der ¤ Einzelhilfe, ¤ Gruppenarbeit, Familienarbeit (¤ Familienberatung) und der regionalen/lokalen Arbeit stattfinden. Auf der individuellen Ebene kann es gelingen, defizitäre Selbstwahrnehmung und ein negatives Selbstbild zu überwinden, eigene Fähigkeiten zu entdecken und realistische selbstgewählte Lösungswege zu gehen. Bei Gruppenarbeit ist das Konzept des Empowerment, die Teilhabe der Gruppenmitglieder an den Entscheidungsprozessen zu sichern und die Verantwortlichkeit aller Gruppenmitglieder für die Gruppenergebnisse zu ermöglichen. Auf der lokalen/regionalen Ebene sind Empowerment-Prozesse ein erfolgreiches Zusammenspiel von Individuum, organisatorischen Zusammenschlüssen und strukturellen Rahmenbedingungen. Ernpowerment-Prozesse verstärken sich durch die Interaktion zwischen den Arbeitsformen der Sozialarbeit (¤ Einzelhilfe, ¤ Gruppenarbeit, ¤ Familienberatung, lokale/regionale Arbeit). Methodische Arbeitsschritte im Empowermentprozeß sind: - die Formulierung von wünschenswerten Lebenszielen; - Rückbesinnung auf Lebensepisoden, die als gelungen erfahren wurden; - Entdecken und Mobilisierung der eigenen Stärke; - Förderung und Unterstützung der Aktivität und des Engagements; - Entwicklung von Routinen und ihre Integration in den Alltag. - Empowerment-Prozesse können beeinträchtigt werden durch: 66 - starre hierarchische Organisationsstrukturen; - akute persönliche Krise; - Selbstüberschätzung und Betriebsblindheit, die nur noch die eigenen Leistungen gelten lassen. U. Zinda Entwicklungsförderung Entwicklung wird verstanden als ein lebenslanger Prozeß der Persönlichkeitsveränderung durch Handeln, Erfahrungsverarbeitung und Lernen, als interaktive Auseinandersetzung einer sich entwickelnden Person mit der sie umgebenden personalen und sozialen Umwelt. Individuelle Entwicklungsfaktoren und soziokulturelle Bedingungen stehen hierbei in einem unauflösbaren Wechselverhältnis, in welchem das Individuum als Akteur seiner Entwicklung zu sehen ist. Fördern bedeutet etymologisch „etwas voranbringen“, „etwas befördern“ u. ä. In jedem Fall ist eine von außen ansetzende Veränderung gemeint, wobei das zu Fördernde eine abhängige Größe darstellt. Im pädagogischen und entwicklungspsychologischen Zusammenhang ist der Begriff Förderung nur dann zu akzeptieren, wenn er sich nicht im Sinne des „Konditionierens“ und einer einseitigen „Behandlung“ verselbständigt, sondern in einem ganzheitlichen Sinne (systemisch-ökologisch) in Erziehungs- und Alltagsprozesse eingebunden bleibt. Eine Entwicklungsförderung wird dann erforderlich, wenn Kinder und Jugendliche in ihrer allgemeinen Enwicklung bzw. in bestimmten Grundfunktionen (Motorik, Perzeption, Emotionalität/Affektivität, Kognition, Sprache, Soziabilität) aufgrund einer Schädigung (biologisch, psychologisch und/oder sozial) zeitlich verzögert, gehemmt, beeinträchtigt und/oder behindert sind. Auch wenn einzelne dieser Funktionsbereiche zunächst im Vordergrund der Entwicklungsförderung stehen, so können sie nicht aus dem Zusammenhang der gesamten bio-psychosozialen Entwicklung des Menschen isoliert werden. Sie sind miteinander vernetzt, voneinander abhängig, und sie beeinflussen sich gegenseitig. Entwick67 lungsprozesse und -verläufe unterliegen sozialen und gesellschaftlich-kulturellen Bedingungen, Erwartungen und Bewertungen. Entsprechend muß eine ganzheitliche Entwicklungsförderung von dem individuellen Entwicklungsstand und der psychosozialen und ökonomischen Lebenssituation ausgehen und das soziale Umfeld mit einbeziehen. Die aktive Auseinandersetzung mit der personalen und materialen Umwelt und die Möglichkeit, sich als aktiv handelnd zu erfahren, befähigt die Person, Erfahrungen zu integrieren, Selbstvertrauen auszubilden und Fertigkeiten zu erlangen. Entwicklungsfördernde Maßnahmen und Konzepte erfordern u.a.: - Aufbau einer tragfähigen, vertrauensvollen Beziehung, - Individuale und soziale Kompetenz/Persönlichkeitsbildung/ethische Reflexion, - Fachkompetenz (u.a. medizinische, psychologische, pädagogische Kenntnisse), - Methodenkompetenz (u.a. Spiel, Spielen, Wahrnehmungsförderung, Bewegungsförderung, Sprachförderung, rhythmische Erziehung, alltagspraktische Förderung, musisch-ästhetische Bildung [gestaltende Methoden]), - Diagnostik/Handlungskonzeptentwicklung, - Alltagsorientiertheit und Einbeziehung des sozialen Umfeldes, - Zusammenarbeit mit den Eltern. M. Hellmann 68 Erziehungsmaßregel Erziehungsmaßregeln sind besondere Erziehungsmaßnahmen des Staates bei straffällig gewordenen Heranwachsenden. Im Unterschied zu Strafmaßnahmen haben sie nicht zur Folge, dass der jugendliche Delinquent als Straftäter gilt. Sie werden unter Berücksichtigung der Persönlichkeit des Delinquenten und gemäß seinen Lebensumständen festgesetzt und dienen vornehmlich der Erziehung des Heranwachsenden. Gemäß Artikel 90 des Strafrechts der Russischen Föderation können bei dem Heranwachsenden folgende Erziehungsmaßregeln festgesetzt werden: - Übergabe an die Aufsicht der Eltern oder anderer vertretungsberechtigter Personen; - Ermahnung; - Auflage, den angerichteten Schaden zu ersetzen; - Einschränkung der Freizeit und Festsetzung besonderer Anforderungen an das Verhalten. Gleichzeitig können auch bestimmte Erziehungsmaßnahmen festgesetzt werden, deren Dauer von staatlichen Stellen bestimmt wird. Artikel 92 Abs. 2 des Strafrechts der Russischen Föderation sieht die Möglichkeit vor, den jugendlichen Delinquenten in eine besondere Erziehungs- oder Heil-Erziehungseinrichtung für Heranwachsende einzuweisen. Diese Maßnahme gilt auch als besonders strenge Form der Erziehungsmaßregel. Sie ist verbunden mit erheblichen Freiheitseinschränkungen sowie besonderen Anforderungen an die Organisation des alltäglichen Lebens, der Ausbildung und der Arbeit. O. A. Sigmunt 69 Ethik der Sozialarbeit Die Ethik der Sozialarbeit ist ein selbständiger Bereich der ethischen Wissenschaft. Ihr Gegenstand sind die moralisch-sittlichen Grundlagen der Sozialarbeit sowie die ethischen Prinzipien, Normen und Regeln, nach denen die berufliche Sozialarbeit sich vollziehen soll. Unterschieden werden können fünf Bereiche der sozialarbeiterischen Berufstehik: 1. das Verhältnis des Sozialarbeiters zu seinen Klienten: Achtung der Menschenwürde des Klienten, Förderung der Selbsthilfefähigkeiten des Klienten, Wahrung des Berufsgeheimnisses; 2. das Verhältnis des Sozialarbeiters zu seinen Kollegen/Kollegen anderer Berufsgruppen: wechselseitiges Vertrauen, Bereitschaft zu fachlicher Hilfe, Kooperationsbereitschaft; 3. das Verhältnis des Sozialarbeiters zu kooperierenden Organisationen: Einhalten von Verpflichtungen, wechselseitige Förderung und Anerkennung des Beitrages der jeweils anderen Organisationen zur gemeinsamen Aufgabe; 4. das Verhältnis des Sozialarbeiters zur eigenen Profession: Förderung des gesellschaftlichen Ansehens, Einhalten von Qualitätsstandards auch in schwierigen und kritischen Situationen, Bereitschaft zur ständigen beruflichen Weiterentwicklung; 5. das Verhältnis des Sozialarbeiters zur Gesellschaft: Verpflichtung auf das Gemeinwohl, Beitrag zur gesellschaftlichen Entwicklung, Verpflichtung zur Hilfe für alle Klienten ungeachtet ihrer ethnischen oder religiösen Zugehörigkeit, politischen Orientierung etc. 70 Die Beschäftigung der ethischen Wissenschaft mit Fragen der Sozialarbeit und die Auseinandersetzung mit verschiedenen ethischen Konzepten und Theorien haben dazu beigetragen, daß von der „Rusischen Konferenz der interregionalen Assoziation der Mitarbeiter von sozialen Diensten“ ein professionsethischer Kodex angenommen wurde. S. Michailowa Europäische Sozialpolitik Eine Europäische ¤ Sozialpolitik, verstanden als eigene sozialpolitische Regelungsebene neben der Kommune, der Region und dem Nationalstaat, existiert bislang nur in Ansätzen im Rahmen des 1949 gegründeten Europarates (dem Rußland 1996 beigetreten ist) und vor allem im Rahmen der 1957 als “Europäische Wirtschaftsgemeinschaft” (EWG) gegründeten Europäischen Gemeinschaft/Europäischen Union (EU). Die ”Europäische Sozialcharta” des Europarates von 1961 definiert einen umfangreichen Katalog an sozialen Grundrechten (z.B. das Recht auf besonderen Schutz für Kinder und Jugendliche, auf Schutz bei Mutterschaft und das Recht auf Fürsorge und soziale Sicherheit). Diese Charta bindet die beigetretenen Staaten jedoch nur im Sinne einer politischen Zielbestimmung. Die Rechte sind von den einzelnen Bürgern gegenüber ihren Staaten vor Gerichten nicht einklagbar. Ebenso verpflichtet die zwölf Mitgliedstaaten der Gemeinschaft Unabhängiger Staaten (GUS) seit 1995 eine eigene “Konvention über die Rechte und Grundfreiheiten der Menschen” auf diverse soziale Rechte, wiederum im Sinne politischer Zielbestimmungen. Die Sozialpolitik der EU geht zurück auf den Gründungsvertrag der EWG. Dieser legte im sozialpolitischen Bereich fest, daß sich Arbeitnehmer innerhalb der Wirtschaftsgemeinschaft frei um Arbeit bemühen können und daß Männer und Frauen in der Arbeitswelt gleichbehandelt werden sollen. Die Gleichstellungspolitik und die Regelungen zur Sicherung der Nichtdiskriminierung von sogenannten ”Wanderarbeitnehmern” durch die nationalen Sozialrechtsbestimmungen bilden noch heute, zusammen mit den Gemeinschaftsregelungen zum Gesundheitsschutz 71 und zur Sicherheit am Arbeitsplatz, den vornehmlichen Kompetenzbereich EUweiter Regelungen. Die Ausgestaltung des Sozialen Sicherungssystems - insbesondere die Art und Höhe der Sozialleistungen - verbleibt hingegen weitestgehend in der Kompetenz der Nationalstaaten. Seit Mitte der 1980er Jahre verstärkt sich die Diskussion um gemeinschaftsweite sozialrechtliche Mindeststandards, eine Harmonisierung der nationalen Regelungen und die Verlagerung sozialpolitischer Kompetenzen auf die EU. Umgesetzt wird dies zur Zeit im wesentlichen (nur) über einen Informationsaustausch, die Suche nach ”besten” Lösungen im Nationenvergleich, die Formulierung von gemeinsamen kurz- und mittelfristigen Zielen (Leitlinien) und deren Umsetzungs- und Wirksamkeitskontrolle über ein System nationaler und europäischer Berichterstattung. Im Dezember 2000 wurde eine ”Charta der Grundrechte der Europäischen Union” verkündet, die auch soziale Rechte proklamiert. Die EU anerkennt und achtet darin z.B. “das Recht auf eine soziale Unterstützung und eine Unterstützung für die Wohnung” um Armut und Ausgrenzung zu bekämpfen, wenn es dazu nationale oder EU-europäische Rechtsvorschriften gibt (Art. 34 Abs. 3). Sie garantiert damit allerdings nicht das Recht auf eine Wohnung oder auf Sozialhilfe. Mit Blick auf die Osterweiterung der EU (frühestens ab 2004) und die enger werdenden ökonomischen, politischen und sozialen Interdependenzen auch zwischen den EU- und GUS-Staaten gewinnt die noch schwach konturierte Europäische Sozialpolitik zunehmend an Bedeutung. Ihre “Vertiefung” steht dabei in einem spannungsvollen Zusammenhang mit der “Erweiterung” der EU und des Europarates; sie wird gleichzeitig dringlicher und schwieriger zu realisieren. Zukünftig ist zumindest mit einer weiteren allmählichen Ausweitung der Kompetenzen der EU-europäischen Ebene in der Sozialpolitik zu rechnen. Daß eine genuin europäische Sozialpolitik an die Stelle der nationalen, regionalen und lokalen sozialpolitischen Ebenen tritt, ist mit Blick auf das ¤ Subsidiaritätsprinzip, angesichts der Heterogentität der sozialpolitischen Regelungen in Europa und der ablehnenden Haltung einiger Staaten gegen mehr europäische Kompetenzen in der 72 Sozialpolitik nicht zu erwarten. Die ”soziale Dimension Europas” - nicht nur EUEuropas - fordert jedoch ein energisches Bemühen um einen verbindlicheren Konsens über soziale Grundrechte und Rahmen setzende europäische Mindeststandards. B. Benz Evaluation Unter Evaluation verstehen wir Verfahren, die belegen, ob und mit welchem Aufwand die Ziele eines Programms erreicht wurden und welche Wirkungen es auf einen vorher bestimmten Praxis- oder Personenkreis hat (z.B. Effektivität und Effizienz von Gesundheits-, Sozialhilfe- oder anderen sozialen Interventionsmaßnahmen). Zwei Fragen gilt es zu beantworten: 1. Tun wir die richtigen Dinge? (Effektivitäts- oder Wirkungskontrolle) 2. Wie können wir die Dinge richtig tun? (Effizienz- oder Aufwandskontrolle) Die Evaluationsforschung unterscheidet einige Evaluationsansätze, etwa: - Output-Evaluation − Input-Evaluation (Ergebnis-Evaluation versus Untersuchung der eingesetzten Ressourcen); - vergleichende - nichtvergleichende Evaluation (Untersuchung mehrerer Einheiten versus Einsatz von wissenschaftlich begründeten Standards zur Überprüfung); - summative Evaluation - formative Evaluation (zusammenfassende Bewertung nach Abschluß eines Programms versus Verlaufsuntersuchung); - externe Evaluation - interne Evaluation (Fachleute von außen versus Einbeziehung der beteiligten Mitarbeiter); 73 - Selbstevaluation (systematische, ggf. schriftliche Sammlung und Auswertung von Daten; das eigene Handeln und die eigene Zuständigkeit werden im Hinblick auf organisationsbedingte Auswirkungen und professionelle Beziehungen überprüft). Bestimmte Themengebiete können auch eine Kombination der o. g. Evaluationsansätze notwendig machen. In jedem Fall kommen bei Evaluationsvorhaben im sozialen Bereich vier Bestimmungselemente zum Tragen. Evaluation ist danach: - ziel- und zweckorientiert, d. h. praktische Maßnahmen sollen verbessert oder legitimiert werden; - systematisch, d. h. es werden relevante Daten über Voraussetzungen, Prozesse und Wirkungen einer praxisnahen Maßnahme erhoben; - bewertend, d. h. die gewonnenen Daten werden auf dem Hintergrund von Wertmaßstäben nach bestimmten Regeln geprüft; - sie bezieht sich nicht auf personenbezogene Leistungsfeststellung (Ausnahme Selbstevaluation), sondern auf die Entwicklung, Realisierung und Kontrolle planvoller sozialer Arbeit in einem bestimmten Bereich. R. Kulbach Familie Als Familie werden soziale Gruppen bezeichnet, deren Mitglieder durch Abstammung, Heirat oder ¤ Adoption unmittelbar miteinander verbunden sind. Die Mitglieder einer Familie können, müssen aber nicht zusammen leben, d. h. einen Haushalt bilden. Merkmale der Familie aus soziologischer Sicht sind: - ihre biologisch-soziale Doppelnatur, die sich aus ihrer Reproduktions- und ihrer Sozialisationsfunktion ergibt; 74 - ihre Generationendifferenzierung, die mindestens zwei Generationen umfasst (Mutter-Kind und/oder Vater-Kind; eine formal geschlossene Ehe kann, muss aber nicht vorhanden sein); - ein spezielles Solidaritäts- und Kooperationsverhältnis, das sich in gesellschaftlich sanktionierten Rollenerwartungen niederschlägt und z. T. auch verpflichtenden Charakter hat (¤ Subsidiaritäts-Prinzip). Die Familie erfüllt somit wesentliche Funktionen für die Erhaltung der Gesellschaft und die Integration der jeweils nachfolgenden Generationen in die Gesellschaft. Aus psychologischer Sicht ist die Bedeutung der Familie für die psychische Gesundheit hervorzuheben. Gestörte Familien können zu psychischen Krankheiten ihrer Mitglieder führen. Umgekehrt können Familien eine quasi-therapeutische Funktion für ihre Mitglieder haben und wesentlich zur Bewältigung schwieriger Lebenslagen beitragen. Die soziale Arbeit mit Familien gehört deshalb zu den wichtigsten Aufgabenbereichen von Sozialarbeitern und Sozialpädagogen. In verschiedenen Gesellschaften und unterschiedlichen historischen Epochen existier(t)en eine Fülle von Familienformen. Auch innerhalb einer Gesellschaft und Epoche können unterschiedliche Familienformen bestehen. Seit dem 18. Jahrhundert herrschte in Westeuropa das Ideal der „bürgerlichen Familie“, die gekennzeichnet ist durch die Trennung von Wohn- und Arbeitsstätte und die nicht erwerbstätige Mutter. Obwohl zu keiner Zeit die Mehrheit der Bevölkerung diesem Ideal entsprechend leben konnte, lag dieses Familienmodell bis vor kurzem der Gesetzgebung, Rechtsprechung und Sozialpolitik in Westdeutschland ausschließlich zugrunde. In der früheren Deutschen Demokratischen Republik wurde dagegen die Berufstätigkeit beider Eltern gefördert. Seit den 1950er Jahren haben sich die Familien und auch die Haushalte in Deutschland stetig verkleinert (¤ Demographische Entwicklung). Am häufigsten sind Familien mit zwei Kindern (44,9 Prozent in 1995), gefolgt von Familien mit einem Kind (31,3 Prozent). In 16,6 Prozent der Familien lebten drei Kinder und in 7,2 Prozent vier Kinder. Trotz der gestiegenen Scheidungsraten (mehr als ein Drittel aller Ehen werden geschieden), der zunehmenden Anzahl von Stief- und 75 Adoptionsfamilien und der Pluralisierung von Lebensformen wachsen die meisten der Kinder in Deutschland mit beiden leiblichen Eltern auf: 82 Prozent der Familien mit Kindern unter 18 Jahren wurden 1997 von verheirateten Elternpaaren geführt, in 4 Prozent lebten beide Eltern unverheiratet mit ihren Kindern zusammen, 13 Prozent waren Ein-Elternteil-Familien. Allerdings wird Familie mehr und mehr zu einer Lebensform, die frei gewählt werden kann und nicht das ganze Leben, sondern nur bestimmte biographische Phasen prägt. Auch in Russland nehmen die durchschnittliche Größe und die Stabilität der Familien ab. Dazu trägt vor allem die ökonomische und moralische Krise in Russland seit den 1990er Jahren bei. Das Verhältnis zwischen Eheschließungen und Scheidungen betrug 2000 6,4 zu 4,3 pro 1000 Einwohner, während 1989 dieses Verhältnis bei 9,4 zu 3,9 lag. Die durchschnittliche Zahl der Kinder je Frau ging von 1,9 in 1990 auf 1,2 in 1999 zurück. Nach dem Mikrozensus von 1994 überwogen Mitte der 1990er Jahre die Familien mit einem Kind (54 Prozent); in 37 Prozent der Familien lebten zwei Kinder; in 9 Prozent drei oder mehr Kinder. Seit Ende der 1990er Jahre, also mit Erreichen der Volljährigkeit der in den geburtenstarken Jahrgängen um die 1980er Jahre geborenen Kinder, steigt der Anteil der Ein-Kind-Familien. Die Zahl der außerehelichen Geburten stieg in den Jahren von 1990 bis 1999 von 15 auf 28 Prozent. Häufig sind Kinder unter 18 Jahren von der Scheidung ihrer Eltern betroffen (bei 10 Scheidungen sind durchschnittlich 8 Kinder betroffen). Etwa die Hälfte aller Kinder lebt in unvollständigen Familien bzw. in Familien mit nur einem leiblichen Elternteil. M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn 76 Familienberatung Familienberatung wird in einer Vielzahl von Konzepten und in einer weitreichenden Begriffsdefinition im Arbeitsfeld der Sozialarbeit/Sozialpädagogik angewandt. Unter den Begriff „familienrelevante Beratung“ fallen alle Beratungsformen, die das Familiensystem als Ganzes bei der Erfüllung seiner Funktionen erfassen. Damit sind funktionsstärkende und funktionsentlastende Maßnahmen gemeint. Zu den funktionsstärkenden Maßnahmen zählen die Familien- und Lebensberatung, Erziehungs-, Ehe-, Alleinerziehenden-, Sexual- und Schwangerschaftsberatung, Familienplanung, Familienbildung, Familienerholung. Zu den funktionsentlastenden Maßnahmen gehören alle Angebote, die eine Entlastung bei der Erfüllung einzelner Funktionen anbieten, wie Hilfe zur Weiterführung des Haushaltes, Heimerziehung u.a. m. Im engeren Sinne bezeichnet der Begriff Familienberatung den Prozeß, den Familie und Sozialarbeiter gestalten, um eine konstruktive Auseinandersetzung mit den vorliegenden Schwierigkeiten und Konflikten zu ermöglichen. Familienberatung ist gerichtet auf die Stärkung des Selbsthilfepotentials der Familie. Es werden drei Formen der Beratung unterschieden: 1. die problemzentrierte Beratung, 2. die krisenzentrierte Beratung und 3. der stützende Langzeitkontakt. Der stützende Langzeitkontakt gilt Familien, die über längere Zeit nicht in der Lage sind, bestimmte Aufgaben ohne Unterstützung von außen zu erfüllen. Die unzureichende Möglichkeit der Selbststeuerung der Familie muß durch Außensteuerung ersetzt werden. 77 Krisenzentrierte Beratung setzt ein bei plötzlich eintretenden Ereignissen, beispielsweise Tod oder Trennung, die eine Familienkrise auslösen können. Unter der emotionalen Belastung einer Krise fallen die Familienmitglieder hinter ihre Möglichkeiten zurück, Konfliktsituationen zu durchschauen und wirksam zu beeinflussen. Der Familienberater übernimmt vorübergehend die Steuerungsfunktion in der Familie, indem er die Situation analysiert, Aufgaben formuliert und ressourcenorientiert die Familienmitglieder aktiviert, Aufgaben zur Erledigung überträgt und Hilfemöglichkeiten aus dem Umfeld erschließt. Die direktive und handlungsorientierte Vorgehensweise verfolgt zwei Ziele: 1. die Anerkennung der Realität, 2. die Rückgewinnung der Autonomie und Entscheidungsmacht. Der Familienberater sollte bei Kriseninterventionen selbst in ein Netz von Fachberatung eingebunden sein und auf das Spezialwissen von Fachleuten (z.B. aus der Suchtkrankenhilfe, der Psychiatrie, den Gerichten usw.) zurückgreifen können. An eine krisenzentrierte Familienberatung schließt sich meist eine problemzentrierte Beratung an, da die gefühlsbetonten Konflikte der Krise noch nicht bearbeitet werden konnten. Problemzentrierte Familienberatung wird von Sozialarbeitern/Sozialpädagogen angeboten, wenn die Rahmenbedingungen für Familientherapie nicht vorhanden sind. Im Gegensatz zur Familientherapie zielt die Familienberatung auf die Lösung konkret eingegrenzter Schwierigkeiten. Familienberatung erfolgt in persönlichen, rechtlichen und materiellen Fragen. Diese Beratungsaspekte treten in der Regel bei Klienten der Sozialarbeit/Sozialpädagogik gleichzeitig auf. Die Familienberatung vollzieht sich nach folgender Struktur: 1. Orientierungsphase: gegenseitiges Kennenlernen, Ressourcen- und Problemerkundung; 2. Strukturierungsphase: Fokussierung eines begrenzten Problemaspektes, Einleitung konkreter Hilfen; 3. Modifizierungsphase: gegenseitige Absprache über Verhaltensänderungen unter Berücksichtigung der Wertehaltungen und Einstellungen in der Familie; 78 4. Ablösungsphase: Rückblick auf die geleistete Arbeit, Vorschau, wie Erfahrungen aus dem Beratungsprozeß nutzbringend zukünftig eingesetzt werden können. Theoretische Bezüge des Konzeptes der Familienberatung bestehen zur Systemund Kommunikationstheorie und zur Familiensoziologie. Die ¤ Familie wird als soziales System begriffen, das auf drei Systemebenen beschrieben wird: auf der personellen, der familialen und der sozio-ökonomischen Ebene. Bei der personalen Systemebene werden Bedingungen des Familienlebens erfaßt, die durch den einzelnen in der Familie gesetzt werden. Dabei werden berücksichtigt: kognitive Merkmale, Gefühle und Bedürfnisse, soziales Verhalten, Selbstbild, Einstellungen und Wertehaltungen, Konfliktverhalten, Entwicklungsstand der Persönlichkeit. Auf der famialen Systemebene werden die Beziehungen der Familienmitglieder zueinander erfaßt. Die sozio-ökonomische Systemebene beschreibt die Beziehungen der Familie zu ihrem Umfeld und die Gestaltung der formellen und informellen Kontakte. Bei der Beratung strebt der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge die „Allparteilichkeit“ an, regt zur Metakommunikation an, erschließt mit der Familie den Zugang zu außenstehenden Ressourcen und arbeitet mit kreativen Mitteln, z.B. Rollenspiel, Skulptur, Metaphern. Die Familienberatung wird in Deutschland von Institutionen durchgeführt, die in kommunaler, kirchlicher und privater Trägerschaft stehen. U. Zinda Familienkinderheime ¤ Kinderheime 79 Familienpolitik bezeichnet öffentliche Maßnahmen und Bestrebungen zum Erhalt und zur Veränderung von familialen Lebenslagen. Familienpolitik schließt Beihilfen an die Familien ein - im Zusammenhang mit der Geburt, dem Unterhalt und der Erziehung der Kinder -, sowie Vergünstigungen für Familien mit Kindern oder für Ehepaare (Arbeits-, Wohnungs-, Steuer-, Kredit- und medizinische Vergünstigungen) sowie sonstige Unterstützungen (z.B. Beratungsdienste in Fragen der Familie und Ehe). Die Familienpolitik kann verschiedene Motive haben: Ist sie bevölkerungspolitisch orientiert, so liegt ihr Schwerpunkt auf der Förderung der Kinder bzw. dem „Lasten-ausgleich“ für Kindererziehung. Ist die Familienpolitik primär an der Familie als sicherem und gesellschaftspolitisch zu unterstützendem sozialem Ort interessiert, so liegt ihr Schwerpunkt auf der Unterstützung der Ehe und dem Erhalt der Familienstrukturen (z.B. durch entsprechende Familienberatung). Stellt die Familienpolitik die Lebenslage und Perspektive der einzelnen Mitglieder von Familien in den Vordergrund, so richtet sie die Beratungsdienste entsprechend ein und versucht, im Bereich von Freizeit, Berufsberatung und Maßnahmen zur Rückkehr oder zum Eintritt von Familienmitgliedern − hauptsächlich von Müttern − in das Erwerbsleben Akzente zu setzen. Dominierte der bevölkerungspolitische Typ in einigen Ländern Westeuropas in den 30er bis 50er Jahren (z.B. in Deutschland und Frankreich), so war die Familienpolitik in den 60er und 70er Jahren eher strukturpolitisch geprägt. Seitdem setzt sich jetzt überall - parallel zum Strukturwandel der ¤ Familien - der dritte Typ durch. In vielen Ländern wird die Bedeutung des Politikfeldes Familie dadurch unterstrichen, daß es eigene Familienministerien gibt. In der Russischen Föderation werden alle Maßnahmen der Familienpolitik von der föderalen Gesetzgebung bestimmt. Betriebe, soziale Einrichtungen, Stiftungen und Privatpersonen können beliebige zusätzliche Zuschüsse und Vergünstigungen gewähren. Der soziale Schutz der Familien im heutigen Rußland wird unter sehr ungünstigen demographischen (Bevölkerungsrückgang, Zunahme der Ehescheidungen, Abnahme der Kinderzahl) und wirtschaftlichen (Sinken des Lebensniveaus, Verschlechterung der Verhältnisse der Kinderversorgung) Bedingungen 80 verwirklicht. Erschwert wird eine effiziente Familienpolitik durch den unzureichenden Entwicklungsstand der gesetzlichen Basis, der Strategien und praktischen Mechanismen für ihre Realisierung; durch die Unterschätzung der Familienpolitik als Schwerpunkt der Tätigkeit des Staates, vor allem auf Föderationsebene, und durch das Fehlen eines mittelfristigen Entwicklungsprogramms. Rechtliche Grundlagen für den derzeitigen Stand der Familienpolitik in Rußland sind das „Familiengesetz der Russischen Föderation“ (1995), der Präsidentenerlaß „Zu den Hauptrichtlinien der staatlichen Familienpolitik“ (1996) sowie das „Gesetz zu den Grundlagen der sozialen Dienstleistungen für die Bevölkerung der Russischen Föderation“. Leitende Organe der Familienberatung wurden in den beiden Kammern des Parlaments und in der Präsidentenadministration eingerichtet. Im Ministerium für Arbeit und Soziale Entwicklung gibt es ein Referat für Probleme der Familie, Frauen und Kinder. Diese Strukturen sollen die Familienpolitik koordinieren und ihre Durchführung gewährleisten. L. Maschirowa / T. Tschulkowa /M. Bellermann Familientherapie Familientherapie ist eine Gesamtheit von Theorien und Techniken, die das Individuum innerhalb seines sozialen Kontextes betrachtet. Theoretisch impliziert die Familientherapie eine Abkehr vom medizinischen Krankheitsmodell, da Diagnostik und Therapie nicht nur individuumbezogen sind. Sie stellt die Entwicklung individueller psychischer Störungen in den Kontext der interpersonellen Beziehungen in der Familie und macht vor diesem Hintergrund die gesamte Familie zum Adressaten der Therapie. Als Vorläufer für die familienbezogenen Sichtweisen von Problemen gelten u.a. K. Lewin mit der von ihm entwickelten Feldtheorie und J. Moreno, der den Menschen und sein soziales Netz als unauflösliche Einheit betrachtet. Mit Hilfe der Annahme der frühen Ansätze der Systemtheorie (v. Bertalanffy, 1956) wurde dann versucht, Regelkreisläufe und homöostatische Bedingungen in 81 Familien zu klären. Durch die Entwicklung der Theorie autopoietischer Systeme (H. Maturana, F. Varela), des Konstruktivismus, des sozialen Konstruktionismus und der Sprachphilosophie, die „Wirklichkeit“ als ein Ergebnis konsensueller Übereinkünfte ansieht, differenzieren sich die Konzepte der Familientherapie. Die ersten systemischen Therapiekonzepte wurden in den 50er und 60er Jahren dieses Jahrhunderts vor allem am National Institute for Mental Health und am Mental Research Institute, beide USA, entworfen. An der Entwicklung sind insbesondere G. Bateson, J. Haley, P. Watzlawick, V. Satir u.a. beteiligt. In Deutschland beziehen sich frühe familientherapeutische Konzepte auf die Annahmen der Psychoanalyse, entwickelt wurden sie von H. E. Richter und H. Stierlin. Klassische Modelle der systemischen Familientherapie sind: 1. Strukturelle Familientherapie (S. Minuchin): Die theoretischen Quellen liegen im Strukturfunktionalismus. Wesentliche Merkmale sind die Untergliederung der Familie in Subsysteme, die Gestaltung der Grenzen zwischen Subsystemen und die Ausformung der familialen Hierarchie. Die zentral angewandte Methodik bezieht sich auf die Herausforderung der Grenzen der Subsysteme und der Stabilisierung ihrer Funktionen. 2. Entwicklungsorientierte Familientherapie (V. Satir): Der theoretische Bezug ist die humanistische Psychologie. Im Mittelpunkt des Konzeptes steht der Selbstwert des Individuums und seine daraus abgeleitete kommunikative Kompetenz. Skulpturierung, Reframing, analoge Mittel und modellhafte Kommunikation des Therapeuten sind hervorzuhebende therapeutische Mittel. 3. Mehrgenerationenkonzept (J. Boszormenyi-Nagy, H. Stierlin): Der theoretische Bezug besteht zu dem Konzept der Psychoanalyse. Im Mittelpunkt der therapeutischen Aufmerksamkeit stehen die unsichtbaren Bindungen über Generationen und das Konzept von Delegation und bezogener Individuation. 4. Systemisch-kybernetische Familientherapie, auch als Mailänder Modell bekannt (M. S. Palazzoli u.a.): Theoretische Leitlinien werden der Kybernetik entnommen. Die Familie wird als regelgeleitetes System gesehen. Motive, Gefühle, Bedürfnisse und individuelle Konflikte sind Konstrukte einer übernommenen Sichtweise. Therapeutische Techniken sind insbesondere paradoxe 82 Verschreibungen, Hausaufgaben, zirkuläre Fragen. Familientherapie hat sich weiterentwickelt zur Systemtherapie, in der angewandte Prinzipien der Familientherapie auf die Arbeit mit anderen sozialen Systemen übertragen werden. Da der Fokus aller familientherapeutischen Konzepte ausgerichtet ist auf Lebensprobleme bzw. Störungen im interaktionellen Lebenskontext, hat der Ansatz auch für die sozialarbeiterischen/sozialpädagogischen Tätigkeitsbereiche Bedeutung, insbesondere im Bereich der ¤ Familienberatung. Um familientherapeutisch arbeiten zu können, ist eine umfassende Weiterbildung für Angehörige der Sozial- und Heilberufe erforderlich. U. Zinda Frauen- und Kinderpolitik in Russland Der Beschluss des Obersten Sowjets der UdSSR „Über dringende Maßnahmen zur Verbesserung der Lage der Frauen, zu Mutter- und Kinderschutz und zur Stärkung der Familie“ (1990) bestimmte die Grundlinien der Politik zur Lösung der bestehenden Probleme. Diese sind vor allem: - Ausarbeitung eines einheitlichen Systems staatlicher Hilfen für Familien mit Kindern unterschiedlicher Formen (mit einem Elternteil, kinderreiche Familien, Familien mit behinderten Kindern u.a.); - Aufbau eines Systems von Maßnahmen zur Verbesserung der Effektivität des Gesundheitsfürsorgewesens für Schwangere und ihre Kinder; Urlaubssystem; 83 - Schaffen von günstigen Bedingungen für Mütter, deren Kinder nicht älter als 14 Jahre sind: Kürzung des Arbeitsstunden pro Tag oder pro Woche, Begrenzung der Nacht-, Überstunden-, und Schwerarbeiten, Kinderberücksichtigungszeiten; - Ausarbeitung von Maßnahmen für günstige Bedingungen für Familien mit behinderten Kindern: ein zusätzlicher freier Tag pro Monat, Kurbehandlung kranker Kinder u.a.; - Schaffen von günstigen Arbeitsbedingungen für Frauen und Personen unter 18 Jahren: Vermittlung von Arbeitsstellen, die ihren besonderen psychophysiologischen Voraussetzungen entsprechen und altersgerecht sind; Fortbildung; Arbeitsschutz u.a. In den letzten zehn Jahren wurden etwa 100 gesetzliche Regelungen über die Rechte von Kindern auf Grundlage der entsprechenden Uno-Deklaration verabschiedet; zuletzt das Föderale Gesetz „Grundlagen des Systems zur Vorbeugung der Verwahrlosung und Rechtsverletzung von Minderjährigen“, das am 9. September 1999 verabschiedet wurde. In der Russischen Föderation existiert eine Reihe von Frauenorganisationen mit unterschiedlichen Zielsetzungen, unter anderem der Rat („Konsilium“) der nichtstaatlichen Frauenvereinigungen, dem allein mehr als 100 Frauenorganisationen angehören. Auf Initiative des Rates wurde der Gesetzentwurf „Staatliche Garantien zur Verwirklichung gleicher Rechte und Möglichkeiten für Männer und Frauen“ vorbereitet. Die ungleiche Lage von Männern und Frauen drückt sich besonders deutlich in einer Feminisierung der Armut aus. Soziologische Forschungen haben ergeben, dass in den ökonomisch benachteiligten Bevölkerungsgruppen die Frauen die Mehrheit bilden: bei den Rentnern, den Arbeitslosen, den vorübergehend Beurlaubten. Bezeichnend für die Situation ist auch, dass Frauen in der Politik kaum vertreten sind. Das Land wird von Männern regiert: im Präsidentschaftsapparat, in der Regierung, im Parlament. Männer bekleiden praktisch alle Gouverneursämter und Bürgermeisterposten in den großen Städten. In ihrer Gesetzgebung werden die 84 Interessen von Frauen und Kindern häufig negiert. Laut einer UN-Studie muss der Frauenanteil in verantwortlichen Positionen mindestens 30 Prozent betragen, wenn Gesetze und staatliche Programme die Interessen von Frauen angemessen berücksichtigen sollen. Der o.g. Gesetzentwurf will im politischen Bereich gleiche Voraussetzungen für Männer und Frauen garantieren; legt die Pflichten des Staates und der Arbeitgeber fest, was gleiche soziale und ökonomische Rechte von Männern und Frauen im privaten wie im öffentlichen Bereich betrifft; bestimmt die Modalitäten für Einsprüche gegen erlittene Diskriminierung und regelt die Verantwortlichkeiten der zuständigen Institutionen und Personen. Die gesetzlichen Grundlagen für die neue Politik der Gleichberechtigung von Männern und Frauen wurden in der ersten Hälfte der 1990er Jahre geschaffen. Zunächst wurde beim Präsidenten der Russischen Föderation eine Frauen-, Familien- und Demografiekommission eingerichtet; es folgten das Frauen-, Familienund Jugendkomitee in der Staatsduma, die Kommission zur Verbesserung der Situation der Frauen bei der Regierung und das Departement für Familien-, Frauenund Kinderprobleme im Ministerium für Arbeit und soziale Entwicklung. Die Frauen-, Familien- und Demografiekommission hatte hauptsächlich eine Beratungs- und Koordinationsfunktion. Sie bestimmte die Grundlinien der Politik. Zu ihren wesentlichen Arbeitsergebnissen zählten die Einrichtung des Präsidenten-Programms „Kinder Russlands“ mit elf Unterprogrammen und die durch sie mit vorbereiteten Präsidentenerlasse über „Die vordringlichsten Aufgaben der Staatspolitik zur Lage der Frauen“ (1993), „Die Stärkung der Rolle der Frauen im System der föderalen Organe des Staates und der Organe der Subjekte der Russischen Föderation“ (1996), sowie die „Grundlagen der staatlichen Familienpolitik“ (1996). Nach einem Präsidentenerlass wurde die Kommission aufgelöst. J. Worobjowa 85 Freie Wohlfahrtspflege Der Ursprung der Freien Wohlfahrtspflege in der Bundesrepublik Deutschland ist auf die von kirchlichen Gruppen und Vereinen geleistete soziale Arbeit im 19. Jahrhundert zurückzuführen. Der historisch erste Wohlfahrtsverband, die Innere Mission, begründet sich aus der sozialen Verantwortung des Protestantismus und verknüpft den Gedanken der sozialen Tat (Caritasgedanke) mit dem Zusammenhang von Glaube und Liebesarbeit, individueller Bekehrung und gesellschaftlicher Veränderung. Leitgedanke der Freien Wohlfahrtspflege ist die Überzeugung, dass gesellschaftliche Aufgaben zwar eine Angelegenheit der staatlichen Gemeinschaft darstellen, was aber nicht heißt, dass sie in öffentlich-rechtlichen Organisationsformen wahrgenommen werden müssen. Staatsfrei, staatsunabhängig, ohne Gewinnabsicht sind die wesentlichen formaldefinitorischen Wesensmerkmale von freier Wohlfahrtspflege. Mit dem Gesetz über die Ablösung öffentlicher Anleihen von 1926 erhielten die Freien Wohlfahrtsverbände den rechtlichen Status eines Spitzenverbandes, was bedeutete, nicht nur von der damaligen Reichsregierung anerkannt zu sein, sondern darüber hinaus einen Handlungsvorrang gegenüber der öffentlichen sozialen Arbeit übertragen zu bekommen. Diese Vorrangsstellung der Freien Wohlfahrtsverbände wurde in den derzeit geltenden Leistungsgesetzen (Bundessozialhilfegesetz; Jugendhilfegesetz) untermauert und in den 60er Jahren durch ein Bundesverfassungsgerichtsurteil bestätigt. Die organisierte Wohlfahrtspflege in der BRD zeigt sich durch drei wesentliche Strukturmerkmale geprägt: die Existenz von öffentlichen (staatlichen) und freien Trägern (Dualität), den bedingten Handlungsvorrang Freier Träger (Subsidiarität) und die Vielschichtigkeit und Pluralität der handelnden Organisationen (Pluralität). Heute stellt die Freie Wohlfahrtspflege in der BRD den weitaus größten Anteil von Trägern und Einrichtungen im Bereich der Pflege und sozialen Arbeit. Dabei sind es nach wie vor kirchliche Verbände, die an vorderster Stelle der Leistungserbringer zu nennen sind. Die Wohlfahrtsverbände verstehen sich auf Grund ihrer historischen Tradition als Interessenvertreter der Betroffenen (Sozialanwaltsfunktion) und Dienstleistungserbringer gleichzeitig. Diese Doppelfunktion führt zu einem ständigen Ringen und 86 einer Auseinandersetzung um das Verhältnis von Werteorientierung und sachbezogener Aufgabenerfüllung. Dabei ist in den letzten Jahren deutlich geworden, dass sich die Ausgestaltung subsidiärer Beziehungen im Bereich der Wohlfahrtspflege nicht auf ein Verhältnis zwischen dem Staat und traditionellen Wohlfahrtsverbänden reduzieren lässt. Die aktuelle Diskussion um die Zukunft Freier Wohlfahrtspflege ist deshalb von der Auseinandersetzung um die Frage geprägt, wie subsidiäre Beziehungen und angemessene Hilfeformen im Bereich der sozialen Arbeit jenseits bestehender Besitzstände und Trägerzuständigkeiten neu geordnet werden können. N. Wohlfahrt Gemeinwesenarbeit Gemeinwesenarbeit ist eine Aktionsrichtung der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, die durch makrosoziale Gestaltungsvorgänge die Verbesserung der Lebensqualität des einzelnen zum Ziel hat. Sie hat gemeinhin mit dem Ausbau sozialer Beziehungen und Kommunikationsmöglichkeiten und dem Aufbau sozio-kultureller Einrichtungen und Hilfen zu tun. Sie ist stärker als andere Arbeitsformen der Sozialarbeit/Sozialpädagogik (¤ Einzelhilfe; ¤ Gruppenarbeit) mit den gesellschaftlichen Bedingungen des jeweiligen Landes verflochten. Die Ursprünge der Gemeinwesenarbeit liegen in der Settlement-Bewegung in England (Samuel Barnett) und den USA (Jane Addams). Maßgebend für die Settlement-Bewegung sind die Hauptziele: solidarische Teilung der Ressourcen Vermögen und Bildung; Erziehung der Armen zur Selbsthilfe; Bildung für Kinder und Erwachsene; Gestaltung von gezielten Freizeitangeboten; Geselligkeit, um das Vertrauen der Nachbarschaft zu gewinnen und unterschiedliche soziale Klassen miteinander in Kontakt zu bringen. 87 Ende des 19. Jahrhunderts entwickelt sich die Gemeinwesenarbeit in den Vereinigten Staaten unter dem Begriff „community organization“. Ihre Ziele und Methoden sind bestimmt von der Demokratisierungsideologie amerikanischer Prägung. Aufgrund der engen Zusammenhänge mit der gesellschaftlichen Entwicklung sind sie steter Wandlung unterworfen. In den USA wird „community organization“ in vielen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens praktiziert, so u.a. im Unterrichts- und Bildungswesen, im Agrarbereich, in der Politik, in der Arbeit in überbevölkerten Elendsquartieren und Altbaugebieten. Auf Gebiete der Sozialarbeit/Sozialpädagogik angewandt, erfährt der Begriff eine Erweiterung zu „community organization for social welfare“. Es sollen soziale Mißstände innerhalb der Gesellschaft durch planvolle Koordination der Sozialarbeit/Sozialpädagogik und aktiver Beteiligung der Bürger behoben werden. Daneben wird der Begriff „community development“ benutzt. Er bezeichnet zumeist öffentlich geförderte Programme, die dazu bestimmt sind, eine Vielfalt von Verbesserungen kultureller und sozialer Lebensbedingungen insbesondere in Entwicklungs-, Neusiedlungs- und Förderungsgebieten zu erreichen. Diese Arbeitsform wird erstmals 1955 durch die Vereinten Nationen näher beschrieben. Die europäische Sozialarbeit/Sozialpädagogik, insbesondere in Dänemark, England, den Niederlanden und Deutschland, hat die amerikanische Entwicklung rezipiert. In den Niederlanden wird der Begriff „Opbouwwerk“ für diese Arbeitsform verwendet. Es bestehen hier wie auch in Deutschland drei Kategorien der Arbeit: 1. Territoriale Gemeinwesenarbeit; sie bezieht sich auf einen geographisch begrenzten Sozialraum. 2. Funktionale Gemeinwesenarbeit; sie ist bezogen auf bestimmte Lebensbereiche wie Wohnen, Freizeit, Verkehr. 3. Kategoriale Gemeinwesenarbeit; sie arbeitet mit bestimmten Zielgruppen, deren Mitglieder sich durch bestimmte gemeinsame Merkmale auszeichnen, z.B. Lebensalter, eine bestimmte Problemsituation, Herkunft. 88 In Deutschland wird die Arbeitsform um 1960 in die Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingeführt. In der Fachdiskussion gibt es unterschiedliche konzeptionelle Ansätze: 1. Gemeinwesenarbeit als wohlfahrtsstaatliche Initiative, die die sozialen/pädagogischen Bedürfnisse der Bürger durch die verstärkte Kooperation der traditionellen Träger der Sozialarbeit/Sozialpädagogik und die Verbesserung sozialer Dienstleistungen befriedigen will. 2. Gemeinwesenarbeit als Demokratisierungsprozeß, in dem die Bürger durch Emanzipation, Partizipation und Solidarität ihren Einfluß auf die soziale Administration und ihre Möglichkeiten zur Mitgestaltung gesellschaftlicher Felder erleben. 3. Gemeinwesenarbeit als aggressive Intervention gegen ein gesellschaftliches Machtgefüge, das die Interessen der Bevölkerung unberücksichtigt läßt. Sie zielt auf die Veränderung der Kräfteverhältnisse durch den solidarischen Zusammenschluß von Minderheiten. 4. Gemeinwesenarbeit als katalytisch-aktivierende Arbeitsform. Zentraler Gedanke dieses Ansatzes ist die Gruppenselbsthilfe. Menschen, die unter gleichen Benachteiligungen leiden, schließen sich zusammen, um gemeinsam eine Problemlösung zu erarbeiten. Der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge unterstützt den Selbsthilfeprozeß. Allen Ansätzen gemeinsam ist der Anspruch, die Bewohner in einem Stadtteil zu ermutigen und zu befähigen, ihre gemeinsamen Probleme zu erkennen und deren Lösung durch öffentliche Aktionen anzugehen. In der Praxis werden in der Regel folgende Arbeitsschritte vollzogen: (a) Feststellung des Bedarfs, (b) Aktivierung der Betroffenen, (c) Erkunden von Hilfequellen, (d) Planung von Strategien der Umsetzung, (e) Durchführung der Aktion, 89 (f) Evaluation des Prozesses. Die Methoden der Umsetzung unterscheiden sich nach den konzeptionellen Ausrichtungen. Durch die Einflüsse systemtheoretischer Erkenntnissse auf die Definition sozialer Probleme wird Gemeinwesenarbeit zu einem Arbeitsprinzip der Sozialarbeit / Sozialpädagogik und realisiert sich in Ansätzen der ¤ Stadtteilarbeit. U. Zinda Geschichte der beruflichen Sozialarbeit in Deutschland Aus der Verbindung bürgerlicher Frauenbewegung und bürgerlicher Sozialreformen ist zu Beginn dieses Jahrhunderts in Deutschland die berufliche Sozialarbeit als typischer Frauenberuf hervorgegangen. Anknüpfend an die Traditionen der freigemeinnützigen Wohltätigkeit und der kommunalen Armenpflege des 19. Jahrhunderts − als einer Domäne der Männer − begann eine Entwicklung, Töchter und junge Frauen aus der gehobenen Schicht zu „ernster Pflichterfüllung im Dienste der Gesamtheit“ heranzuziehen. Die ersten Konzepte (1899) der (unentgeltlichen) sozialen Arbeit sahen neben der Vermittlung spezifischer Fachkenntnisse die Bildung der Persönlichkeit zur sozialen Gesinnung und Verantwortung vor sowie die Ausbildung kommunikativer Fähigkeiten im Umgang mit dem Hilfesuchenden, um die Frauen zu befähigen, an der Heilung sozialer Schäden mitzuwirken und dadurch den sozialen Frieden sichern und erhalten zu helfen. Aus den von Alice Salomon − der Begründerin der deutschen Sozialarbeit − entwickelten Lehrgängen für soziale Arbeit entstand die zweijährige Berufsausbildung, die ab 1908 an den von ihr und anderen Frauenrechtlerinnen gegründeten sozialen Frauenschulen absolviert werden konnte. Die ausgebildeten Frauen konnten nunmehr in kommunalen (aber auch in privatrechtlichen bzw. konfessionellen) Institutionen der Fürsorge die Sozialarbeit als besoldeten Frauenberuf 90 konstituieren. Der Erste Weltkrieg war für diese Entwicklung von entscheidender Bedeutung. Es entstand die Kriegswohlfahrtspflege, die neue Maßnahmen und Organisationen der Fürsorge erforderlich machte, so z.B. die Kriegsbeschädigten-, Invaliden- und Hinterbliebenenfürsorge, die (finanzielle) Familienunterstützung und die Koordination und Betreuung der Frauenarbeit im Krieg sowie die Kinder, Waisen- und Ausgebombtenfürsorge. Linderung der Kriegsnot war die vordringlichste Aufgabe der sozialen Arbeit. Vor diesem Hintergrund stieg der Bedarf an ausgebildeten Fachkräften. Die Ausbildungsstätten - in pluralistischer Trägerschaft − expandierten; dies kann u.a. als ein Zeichen der Bedeutsamkeit sozialer Arbeit und dieses Berufes gesehen werden. 1916 konstituierte sich der „Deutsche Berufsverband der Sozialbeamtinnen“, ein selbständiger, unabhängiger Berufsverband mit gewerkschaftlichem Charakter, der sich beruflicher und gesellschaftspolitischer Fragen annahm. Durch den Zusammenschluß der sozialen Ausbildungsstätten in der „Konferenz sozialer Frauenschulen in Deutschland“ wurden 1917 Schritte zur Vereinheitlichung und zur staatlichen Anerkennung des Berufs in die Wege geleitet. 1920 trat die erste staatliche Prüfungsordnung in Kraft, in der die Bezeichnung „Wohlfahrtspflegerin“ festgeschrieben wurde und die drei Schwerpunkte vorsah: Gesundheitsfürsorge, Jugendfürsorge sowie allgemeine und wirtschaftliche Fürsorge. Nach zweijähriger Ausbildung, Prüfung und nachfolgendem Berufsanerkennungsjahr wurde die staatliche Anerkennung ausgesprochen. Damit war die Grundstruktur der Ausbildung zur Sozialarbeit für Jahrzehnte festgelegt. Deutschland war damit im Kontext der europäischen Länder Vorreiter: mit staatlich geregelter Fachausbildung, fester Besoldungsstruktur, integriert in den Apparat öffentlicher Sozialverwaltung und unabhängiger Berufsorganisation. Traditionsreich sind aber auch die Niederlande mit einer sozialen Ausbildung ab 1899 und England, das ein eigenes Ministerium für soziale Dienste geschaffen hatte. Insbesondere Schweden, aber auch Finnland galten als „Inbegriff eines entwickelten Wohlfahrtsstaates“ und haben um die Jahrhundertwende Ausbildungsformen für berufliche Sozialarbeit geschaffen. Demgegenüber hat sich in Frankreich, Österreich, Spanien und Italien die professionelle Arbeit im sozialen Bereich erst in den 30er Jahren bzw. Ende der 40er Jahre etabliert. Doch alle 91 (west-) europäischen Länder können über die Entwicklung beruflicher Sozialarbeit hinaus auf reiche Traditionen des Armen-, Almosen- und Fürsorgewesens blicken. So gab es Armen-, Waisen- und Siechenhäuser sowie Elementarschulen, die die Lebensbedingungen der Armen verbessern bzw. ihre Arbeitskraft verfügbar machen sollten. In der Verbindung polizeilicher, medizinischer, fürsorgerischer und erzieherischer Maßnahmen liegen Wurzeln des Aspekts von „Hilfe und Kontrolle“ in der modernen Sozialarbeit. Doch vornehmlich ist sie zu betrachten als Antwort auf die soziale Not im Zusammenhang mit der Industrialisierung in Großstädten und Ballungszentren zu Beginn des Jahrhunderts. Gebunden an die politische und gesellschaftliche Situation war mit der Verabschiedung weitreichender Sozialgesetze im demokratischen Staat - der Weimarer Republik - ab 1919 ein großes und innovatives Arbeitsfeld für die Sozialarbeit gegeben, bevor von Ende der 20er bis Anfang der 30er Jahre vor dem Hintergrund der (welt-) wirtschaftlichen Krisensituation die Sozialarbeit zur „Armutsverwaltung“ zurückkehren mußte. Mit der nationalsozialistischen Machtergreifung 1933 wurde die Wohlfahrtspflege zur „Volkspflege“ auf der Grundlage erbbiologischer und rassehygienischer Ideologien. Die öffentliche Fürsorge behielt zwar ihre Funktion der Grundversorgung der Armen, doch im Rahmen der Gesundheitsfürsorge stand eine gesetzlich fixierte selektierende Erb- und Rassenpflege. Ausgehend von der Stärkung der „Volksgemeinschaft“ und der Produktion des „gesunden Volkskörpers“ sah die nationalsozialistische Fürsorgekonzeption die Unterstützung und Förderung der „Wertvollen“ und „Erbgesunden“ vor, untrennbar verbunden mit der Ausgrenzung und „Ausmerzung“ der „Minderwertigen“. Die freie und konfessionelle Wohlfahrtspflege wurde zurückgedrängt. Die Nationalsozialistischen Volkspflege 92 (NSV), ein mächtiger Wohlfahrtskonzern zur Durchsetzung nationalsozialistischer Leitlinien wurde geschaffen. Die Ausbildungsstätten mußten sich „Nationalsozialistische Frauenschule für Volkspflege“ nennen und die entsprechende Geisteshaltung vermitteln. Die Berufsbezeichnung lautete „Volkspflegerin“. In der Nachkriegszeit stand die Fürsorge/Sozialarbeit erneut vor Massennotständen, in der die Hilfemöglichkeiten nie ausreichten. Ausländische Spenden waren zu verteilen, Wohnraum, Arbeit, Lebensmöglichkeiten für Flüchtlinge, Ausgebombte und Heimkehrer zu beschaffen und Hilfen für heimat- und arbeitslose Jugendliche und verwaiste Kinder zu organisieren etc. Nach der Linderung der materiellen Notstände rückten bald schon die psychosozialen Nöte der Bevölkerung ins Blickfeld und forderten die „persönliche Hilfe“ der Sozialarbeit. Die Ausbildungsstätten lehrten die aus den USA kommenden ¤ Methoden, um den Anforderungen einer sich wandelnden, demokratieorientierten Sozialarbeit gerecht zu werden. 1959 kam es zur Ausbildungsreform. Aus den sozialen Frauen- bzw. Wohlfahrtsschulen wurden Höhere Fachschulen für Sozialarbeit. Die Berufsbezeichnung Sozialarbeiter/in wurde offiziell eingeführt, die Ausbildung um ein Jahr verlängert. In dieser Zeit − zögerlich begonnen hatte diese Entwicklung Ende der 20er Jahre − strebten vermehrt Männer in den typischen Frauenberuf, insbesondere in die Jugend- und Bildungsarbeit. Ende der 60er Jahre setzte die Debatte um die Professionalisierung und wissenschaftliche Fundierung der Sozialarbeit zur fachlichen Autonomie ein, die in der Errichtung von Fachhochschulen Anfang der 70er Jahre mündete. In diese Zeit fällt auch die fachliche Annäherung von Sozialarbeit/Sozialpädagogik, die sich insbesondere durch die Bezeichnung Fachhochschulen für Sozialwesen institutionalisierte. Die berufliche Sozialarbeit/Sozialpädagogik expandierte erheblich. Die Zahlen der Studenten/-innen erhöhte sich um ein Vielfaches. Es kam eine Vielzahl neuer Arbeitsgebiete und Aufgaben hinzu. 93 Immer schon waren öffentliche Träger (Bund, Länder, Kommunen) der wichtigste und größte Arbeitgeber vor den freien Verbänden. Doch inzwischen sind Sozialarbeiter/ Sozialpädagogen auch in der freien Wirtschaft, bei Selbsthilfegruppen, Bürgerinitiativen etc. tätig, u.a. wegen zunehmender Entstaatlichung sozialer Dienstleistungen; zu einem geringen Anteil sind sie selbständig tätig. Ende 1996 gab es 96.000 erwerbstätige und ca. 7000 gemeldete arbeitslose Sozialarbeiter/Sozialpädagogen in Westdeutschland. Als Herausforderung für die kommenden Jahre gilt die Konsolidierung der Studiengänge in den neuen Bundesländern, die Integration ins „europäische Haus“ sowie die Fortsetzung der Professionalisierung der Sozialarbeitsforschung und der Sozialarbeitswissenschaft. L. Haag Geschichte der sozialen Arbeit in Rußland Die Anfänge der Sozialarbeit in Rußland sind auf die jahrhundertealte Tradition der Wohltätigkeit zurückzuführen, die als soziale Erscheinung bereits im 7. Jahrhundert wurzelt. Schon in dieser Zeit waren bei ostslawischen Stämmen mit der Verteilung von Nahrung und Kleidung wohltätige Maßnahmen verbreitet. Die Annahme des Christentums (988) und dessen Etablierung als Staatsreligion im Kiewer Rus verlieh der Wohltätigkeit gemäß dem christlichen Gebot der Nächstenliebe, vor allem mit der Hilfe für Kranke und Bettler, einen Aufschwung. Zumal die Fürstenhäuser widmeten sich der sozialen Fürsorge, unter anderem durch die Errichtung von Heimen für Krüppel. Ebenso wirkten kirchliche Einrichtungen wohltätig: Krüppel, Hungrige und Bettler fanden in Klöstern Unterstützung. Klerus und Adel finanzierten außerdem unter anderem Berufsausbildung für Kinder bedürftiger Eltern; sie kauften Gefangene los, beteiligten sich mit finanzieller Hilfe am Wiederaufbau von durch Feuer zerstörten Häusern. Wohltätigkeit galt als einer der wichtigsten Aspekte bei der „sittlichen Erziehung des Volkes“. 94 Mit der Gründung eines einheitlichen russischen Staates und seiner Festigung wuchs die Bedeutung des Staates in Fragen der Fürsorge. Bei einem Konzil der russischen Kirche (1551; zur Regierungszeit Iwans des Schrecklichen) wurde die „Armenhilfe“ als gesellschaftliche Aufgabe anerkannt. Auch die Notwendigkeit der Regulierung gesellschaftlicher Verpflichtungen per Gesetz („mit Hilfe staatlicher Maßnahmen“, „auf Zarenbefehl“) wurde gesehen. Als konkretes Vorhaben wurde etwa die Errichtung von Altenheimen für Männer und Frauen in allen größeren Städten beschlossen; die Finanzierung sollte aus Spenden und staatlichen Zuschüssen erfolgen. Die Realisierung scheiterte aber an den politischen Zuständen und fehlenden finanziellen Mitteln, so daß die Formen der Armenhilfe und Fürsorge noch lange Zeit unverändert blieben. Erst gegen Ende des 17., Anfang des 18. Jahrhunderts entstehen staatlich unterhaltene Einrichtungen wie Armenhäuser, Spitäler und Heime. Unter Zar Peter I. wurde schließlich die Wohltätigkeit in ein System staatlich verantworteter Pflege und Fürsorge transformiert. Das Bewußtsein für die Notwendigkeit einer solchen Änderung, die nicht nur Hilfe durch Almosen, sondern auch die Möglichkeit für arbeitsfähige Bedürftige, durch selbständige Arbeit eigenen Verdienst zu erwirtschaften, beinhaltete, war in der russischen Gesellschaft im Laufe der Zeit gewachsen. Es wurden gesetzliche Grundlagen zur Fürsorge für Behinderte und Alte, ausgeschiedene Soldaten und Kinder geschaffen; für sie wurden Invalidenhäuser, Land- und Marinelazarette, Heime für außereheliche Kinder, später auch allgemeine Waisenhäuser und andere soziale Einrichtungen errichtet. Die von Peter I. eingeleiteten Grundlagen der Staatspolitik in der Fürsorge haben die weitere Entwicklung des Systems der Sozialhilfe in Rußland wesentlich beeinflußt. Systematisiert wurde diese Arbeit unter Katharina II. in der zweiten Hälfte des 18. Jahrhunderts. In diese Zeit fällt der Bau von Erziehungsheimen für die Pflege unehelicher und untergeschobener Kinder in Moskau und St. Petersburg sowie die Schaffung eines Netzes von Gouvernementsämtern für die Fürsorge per 95 Erlaß in 40 Gouvernements. Diesen Ämtern wurden alle medizinischen und karitativen Einrichtungen wie Volksschulen, Waisenhäuser, Altenheime, Lazarette oder Krankenhäuser, Irrenanstalten usw. untergeordnet; sie betreuten alle Sozialhilfebedürftigen sowie die Rentenversicherung. Zwar versuchte der Staat, alle sozialhilfebedürftigen Bevölkerungsschichten zu erfassen, doch es mangelte an Mitteln. Mit dem Aufkommen der Überzeugung, daß Hilfe für Bedürftige nicht nur eine staatliche, sondern auch eine gesamtgesellschaftliche Aufgabe sei, gewann die Fürsorge einen hohen Stellenwert. Auch Angehörige der Zarenfamilie unterstützen diesen Gedanken. Ebenso leisteten die unterschiedlichen wohltätigen Gesellschaften und Organisationen einen wichtigen Beitrag zur Entwicklung des Systems der sozialen Hilfe, darunter von der Zarenfamilie gegründete Institutionen und die Gesellschaft vom Roten Kreuz. Das staatliche Fürsorgesystem, das vor allem im 18. und in der ersten Hälfte des 19. Jahrhunderts eine Festigung seiner Strukturen erfuhr, wurde nicht nur von staatlichen Institutionen, sondern auch von gemeinnützigen Organisationen, der Kirche und Privatpersonen getragen. Von besonderer Bedeutung waren auch die Reformen der Gouvernements-, Kreisund Stadtverwaltungen in der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts. Die Kreis- und Stadtverwaltungen wurden zu Hauptträgern der sozialen Fürsorge; ihr weitgefächertes Aufgabengebiet umfaßte die Unterstützung von Armen, Kranken und Geistigbehinderten, das Gesundheitswesen, die Verwaltung von Wohltätigkeits- und Heilanstalten, die Unterstützung von Volksbildungsmaßnahmen, die Gründung und Unterhaltung von öffentlichen Bibliotheken, Theatern und Museen sowie anderen gemeinnützigen Einrichtungen. Anfang der neunziger Jahre des 19. Jahrhunderts unterhielten die Kreisorgane insgesamt 300 Altenheime sowie 318 Waisenhäuser und andere Einrichtungen für Kinder, in denen mehr als eine Million Menschen betreut wurden. Die Reformen förderten auch die Aktivität von Wohltätigkeitsgesellschaften, von denen es gegen Ende des 19. Jahrhunderts mehr als 14.000 gab. Private Initiativen brachten erhebliche Geldmittel zur Finanzierung von Krankenhäusern, Altenheimen, Berufsschulen und anderen Einrichtungen auf; vor allem auch Unternehmerfamilien wie die in Rußland bekannten Stroganows und Tretjakows, oder W. 96 M. Bechterew, S. I. Mamontow und A. N. Strekalowa, unterstützten diese Tätigkeit. Nach Aufhebung der Leibeigenschaft in Rußland durch Alexander II. und Annahme eines Gesetzes zu Gemeindepflegeanstalten nahmen auch die Kirchengemeinden wieder einen bedeutenden Teil der sozialen Fürsorge wahr; gegen Ende des 19. Jahrhunderts unterhielten sie mehr als 18.000 Einrichtungen, darunter zahlreiche Gemeindeschulen, Krankenhäuser und Altenheime. In der zweiten Hälfte des 19. Jahrhunderts wurde vom Staat ein Rentensystem eingeführt; außerdem leistete er einmalige Beihilfen, vor allem für Militärs und Beamte. Um die Jahrhundertwende folgte die Sozialversicherung für Arbeiter. Während also im 19. Jahrhundert, vor allem in der zweiten Hälfte, ein reiches Instrumentarium für die staatliche und private soziale Arbeit entwickelt wurde, kam mit der Oktoberrevolution 1917 das Ende jeglicher Betätigung von privaten und kirchlichen Einrichtungen. Wohltätigkeit wurde als „bürgerliches Relikt“ verboten, die Aufhebung des Privateigentums und die Trennung von Kirche und Staat entzog die Finanzmittel. Der Sowjetstaat übernahm sämtliche Verpflichtungen für die soziale Fürsorge. Die Zahl der Bedürftigen war nach der Revolution, den Wirren des Ersten Weltkriegs und dem Bürgerkrieg stark angestiegen. Besonders die Kinder litten unter den Verhältnissen; zahlreiche Waisen und verwahrloste Kinder bedurften einer intensiven Betreuung. Soziale Fürsorge und Sozialarbeit in der Sowjetunion sahen sich ungeheuren Aufgaben gegenüber. T. Tscherpuchina Geschlecht Die Geschlechtzugehörigkeit ist zunächst ein biologisches Faktum. Aber wie alle anderen biologischen oder „natürlichen“ Tatbestände wird auch dieser Tatbestand in jeder Gesellschaft kulturell überformt, das heißt: mit für die jeweilige Gesellschaft und ihre Mitglieder spezifischen Bedeutungen und „Sinn“ versehen. In der englischsprachigen Literatur wird die biologische Geschlechtszugehörigkeit mit dem Begriff „sex“, ihre soziale Bedeutung bzw. das soziale Geschlecht als „gender“ bezeichnet. Mit der Geschlechtszugehörigkeit werden in einer für die jewei97 lige Gesellschaft spezifischen Weise die Zuständigkeit von Frauen und Männern für bestimmte Tätigkeiten und Aufgaben (geschlechtsspezifische Arbeitsteilung) sowie die Zuweisung bestimmter Eigenschaften (geschlechtsspezifische Sozialisation) verknüpft. In der sozialen Arbeit finden die geschlechtsspezifischen Besonderheiten von ¤ Lebenslagen, sozialen Problemen und Sozialisationsprozessen zunehmende Beachtung. H. Mogge-Grotjahn Gesellschaft 1. Als deskriptiver Begriff bezeichnet der Gesellschafts-Begriff eine Anzahl von Personen beiderlei Geschlechts und aller Altersstufen, die in einem räumlich begrenzten Territorium zusammenleben, sich selbst reproduzieren und über eine gemeinsame Sprache und Kultur verfügen; Gesellschaft existiert immer über die Lebenszeit der Individuen hinaus. Diese Merkmale von Gesellschaft als einer Vereinigung von Personen zur Befriedigung und Sicherstellung gemeinsamer Bedürfnisse treffen auf vormoderne Stammes-Gesellschaften ebenso zu wie auf feudale Agrargesellschaften oder moderne Industriegesellschaften kapitalistischer oder sozialistischer Prägung. Als analytischer Begriff bezieht sich der Gesellschafts-Begriff auf unterschiedliche Traditionen philosophischen und sozialwissenschaftlichen Denkens. Zu unterscheiden sind klassisch-politische Gesellschaftsbegriffe in der aristotelischen Tradition und naturrechtlich-aufklärerische Gesellschaftsbegriffe in der Tradition der Moralphilosophie des 17. und 18. Jahrhunderts. Bis heute wirksame Theorietraditionen der Philosophie der Aufklärung waren/sind Liberalismus und Utilitarismus. Der Liberalismus setzt(e) eine moralische Grundhaltung der einzelnen voraus und vertraut darauf, daß das Handeln der vielen einzelnen in ihrem je eigenen Interesse quasi-automatisch das Beste für die Gesamtgesellschaft hervorbringt. Staatliche Eingriffe sollten sich deshalb auf ein Minimum beschränken. Dagegen gingen und 98 gehen utilitaristische Theorien davon aus, daß die Integration der vielen Einzelinteressen staatlich geregelt werden muß, und zwar so, daß das größtmögliche Glück der größtmöglichen Zahl von Gesellschaftsmitgliedem erreicht werden kann. Bürgerliche und marxistische Gesellschaftstheorien und -begriffe setzen an diesen unterschiedlichen Ausgangspunkten an. Der bürgerliche Gesellschaftsbegriff sieht eine strikte Trennung von Staat und Gesellschaft bzw. öffentlicher und privater Sphäre vor. Parlamentarische Demokratie, marktwirtschaftliche Ökonomie, die Verwirklichung der Menschen- und Bürgerrechte sind in diesem Verständnis konstitutionelle Merkmale der modernen Gesellschaft. Der marxistische Gesellschaftsbegriff als systematischer Gegenentwurf hierzu beruht dagegen auf einem Grundverständnis antagonistischer Interessen der gesellschaftlichen Klassen und setzt auf die bewußte Lenkung des gesamten gesellschaftlichen Entwicklungsprozesses durch den Staat. Gesellschaftstypologien bzw. -modelle (wie z.B. „postindustrielle Gesellschaft“, „Informationsgesellschaft“, „Risikogesellschaft“ u. ä. m) sind begriffliche Hilfsmittel zur Kennzeichnung wesentlicher Merkmale und Entwicklungstrends einer gegebenen Gesellschaft, ohne daß ihnen eine ausgearbeitete Gesellschaftstheorie zugrundeliegen muß. Gesellschaftsanalysen wiederum haben zum Ziel, u.a. mit Hilfe der Methoden der empirischen Sozialforschung soziale Tatbestände einer Gesellschaft zu ermitteln (Sozialstruktur). Grundelemente der Sozialstruktur einer Gesellschaft sind: - die Gesamtheit der sozialen Beziehungsmuster und Regelsysteme in den für die Gesellschaft zentralen Handlungsbereichen, - die sich aus der Verteilung der gesellschaftlich wichtigsten Ressourcen (z.B. Boden, Kapital, Bildung) ergebenden Klassen- und Schichtungsstrukturen, die Formen sozialer Ungleichheit und der Herrschaftsordnung. Im Einzelnen sind zu untersuchen die Altersstruktur (¤ demographische Entwicklung), die Haushalts- und Familienstruktur, die Bildungsstruktur, die Erwerbs-, Berufs- und Einkommensstruktur, die Strukturen des ökonomischen und politischen Systems, die Rechts- und Verwaltungsstrukturen, die Strukturen sozialer Ungleichheit (Klassen, Schichten, Lebenslagen, soziale Milieus). Weitere Faktoren sind das technologische Niveau einer Gesellschaft, die Bedeutung und 99 Entwicklung der unterschiedlichen Produktionssektoren, außerdem die jeweiligen religiösen und normativen Traditionen und Systeme. Diese Vielfalt von Bedingungsfaktoren der Sozialstruktur führt dazu, daß zwischen dem politischen System und dem ökonomischen System einer Gesellschaft sowie dem in dieser Gesellschaft vorhandenen Ungleichheitsgefüge, den Wertorientierungen und Lebensstilen der Gesellschaftsmitglieder höchst unterschiedliche Beziehungsmuster existieren. Vergleichende Analysen unterschiedlicher industriekapitalistischer Gesellschaften oder auch unterschiedlicher sozialistischer Gesellschaften zeigen innerhalb der jeweiligen Grundmodelle eine breite Vielfalt von Gesellschaftstypen. Ob und wieweit diese Vielfalt durch die Prozesse der ökonomischen und politischen Globalisierung eingeebnet werden wird, ist umstritten. Die Frage nach der Entstehung und dem Wandel sozialer Strukturen, also der Entwicklung von Gesellschaften, ist zentrales Thema von Gesellschaftstheorien. H. Mogge-Grotjahn 2. Unter Gesellschaft ist die Gesamtheit der sozialen Beziehungen und Verhältnisse von Menschen zu einem historisch gegebenen Zeitpunkt zu verstehen. Sie entsteht aus den gemeinsamen Tätigkeiten von Menschen und ist auf die Befriedigung ihrer Bedürfnisse und die Reproduktion der materiellen Lebensbedingungen gerichtet. Als dynamisches, überindividuelles, sich selbst regulierendes System ist Gesellschaft etwas qualitativ Eigenständiges und nicht nur die Summe einzelner Tätigkeiten; sie exisitiert jenseits des Willens der einzelnen Gesellschaftsmitglieder. Der Gesellschaftsbegriff kann auf kleine soziale Einheiten ebenso bezogen werden wie auf nationalstaatlich definierte soziale Einheiten und letztlich auf die Menschheit insgesamt. Jede Gesellschaft bildet verschiedene Untersysteme aus, die sich je nach ihrer Struktur und Funktion unterscheiden. 100 In der modernen Soziologie werden unterschiedliche Theorien herangezogen, um die Entstehung von Gesellschaften zu erklären. Die normativistische Theorie versteht Gesellschaft in erster Linie als soziokulturelles System, das vor allem durch Normen, Werte, Verhaltensstandards und soziale Rollen bestimmt wird. Die objektivistische Theorie dagegen erklärt das Phänomen Gesellschaft in erster Linie als Wirkung objektiver Faktoren, d.h. als Folge von ökonomischen und sozialen Strukturen. In jedem Fall wird unter Gesellschaft ein soziales System verstanden, dessen wichtigstes Merkmal seine Ganzheit ist, die durch das Zusammenwirken der Menschen in allen Lebensbereichen entsteht. Das soziale System Gesellschaft besitzt große integrative Kraft, so daß die jeweils nachwachsenden Generationen in die schon bestehende Gesellschaft integriert (sozialisiert) werden können. Die Stabilität von Gesellschaften hängt nicht nur von ihrer Ganzheit und Integrationskraft, sondern auch von ihrer territorial-geographischen Identität ab. Die Raumbezogenheit der Kommunikationsformen von Menschen spielt hierbei eine wichtige Rolle. Ferner sind die Vielfalt der Funktionen und die Selbstregulation wesentliche Voraussetzungen dafür, daß die verschiedenen Bedürfnisse der Menschen befriedigt werden können. Gesellschaft kann sich spontan, d. h. als Folge der ungeplanten Handlungen der Gesellschaftsmitglieder, aber auch zielgerichtet und geplant entwickeln; zur planmäßigen Steuerung von Gesellschaften bedarf es eines Systems von Normen, Regeln, Gesetzen, Rechten und Pflichten. Daraus folgt nicht zwangsläufig eine starre Unbeweglichkeit oder eine Abwehr von Veränderungen; vielmehr sind Gesellschaften ihrem Wesen nach offen. Mit der Umwelt treten Gesellschaften durch den Austausch von Informationen, durch Energie- und Stoffströme sowie durch kulturellen Austausch und die Auseinandersetzung mit der Geschichte in Beziehung. M. Beznin / K. Gulin 101 Gesundheitsförderung ¤ Public Health Gesundheitspolitik in Russland Gesundheit hat eine hohe Bedeutung für die Gesellschaft. Deshalb ist staatliche Gesundheitspolitik gehalten, alle Maßnahmen zu ergreifen, die dem Erhalt (primäre Prävention) oder der Wiederherstellung (Kur, Rehabilitation; sekundäre Prävention) und der Stärkung der Gesundheit dienen. Dabei hat sich die Gesundheitspolitik immer auch mit widerstreitenden Interessen auseinander zu setzen, so u.a. zwischen den Interessen der Arbeitgeber und der Versicherten, der Versicherungsgesellschaften sowie der Heil- und Präventionseinrichtungen und des Staates zu vermitteln. Zu Zeiten der Sowjetunion war das Gesundheitswesen öffentlich; sämtliche Leistungen wurden in den staatlichen Einrichtungen kostenlos erbracht. Der Umfang der medizinischen Leistungen wurde in der Praxis durch das vom Staat gestellte und gesicherte Angebot bestimmt. Nach Auflösung der Sowjetunion und mit Einführung der Marktwirtschaft wurden ab 1989 im Gesundheitswesen tiefgreifende Reformen eingeleitet. Ziel dieser Reformen, dargestellt im Gesetz zur „Krankenversicherung der Bürger in der Russischen Föderation“ (1991), ist die Einführung einer obligatorischen Krankenversicherung. Die Durchführung der Reformen erweist sich als schwieriger als zunächst angenommen. Das neugestaltete Gesundheitswesen, das nach dem Restprinzip finanziert wurde - das heißt, dass nur Rest-Mittel, die nicht in die wichtigsten Zweige der Wirtschaft, der Verteidigung etc. flossen, für die „nachgeordneten“ Bereiche Gesundheitswesen, Bildung und Kultur übrig blieben - und nach dem Kostenerstattungsprinzip funktionierte, erwies sich als nicht in der Lage, negative Entwicklungen beim Gesundheitszustand der Bevölkerung aufzufangen. So hat sich in den letzten Jahren der allgemeine Gesundheitszustand der russischen Bevölkerung verschlechtert. Hauptindikatoren für diese Entwicklung sind: 102 - der Anstieg von Erkrankungen, die große Teile der Bevölkerung betreffen (und teilweise epidemiologischen Charakter haben): Infektionskrankheiten, Tuberkulose (Zunahme um 50 Prozent), ¤ Alkoholismus, Drogensucht (Verfünffachung), psychische Erkrankungen, Geschlechtskrankheiten (so ist beispielsweise die Zahl der Syphilis-Erkrankungen um das 35fache und der AidsErkrankungen um das 15fache gestiegen; Aids kann sich in Russland zu einer Bedrohung für das gesamte Gesellschaftsgefüge entwickeln); - der Anstieg von chronischen Erkrankungen (beispielsweise Verdoppelung der Zahl der Erkrankungen des Herzkreislaufsystems); - das unzureichende Niveau des Mutter- und Kinderschutzes: hohe Säuglingssterberate; die Zahl der Erkrankungen bei neugeborenen Kindern hat um 60 Prozent zugenommen; der allgemeine Gesundheitszustand der Kinder hat sich verschlechtert; die Zahl der Erkrankungen von Schwangeren nimmt zu. - die sinkende Lebenserwartung: Bei Männern sank die Lebenserwartung von 64,2 Jahren in 1989 auf 58,2 in 1994, bei Frauen von 74,5 auf 71,4 Jahre. Im selben Zeitraum stieg die Sterberate von 10,7 auf 15,6 pro Tausend. - Seit 1995 ist hier allerdings eine umgekehrte Tendenz festzustellen. 1995 betrug die durchschnittliche Lebenserwartung 64,6 Jahre (58,3 Jahre bei Männern, 71,7 bei Frauen), in 1996 lag sie bei 65 Jahren (Männer 59,8, Frauen 72,9), in 1997 bei 66,6 Jahren (Männer 60,8, Frauen 72,9). Die Sterberate betrug 1997 13,8 pro Tausend, 1998 13,6 pro Tausend. Als völlig gesund können nur etwa 20 Prozent der Bevölkerung Russlands betrachtet werden. Der Anteil derjenigen Kranken, die ihre Beeinträchtigungen so kompensieren können, daß sie einen stabilen Zustand erreichen, wird mit 30 Prozent angegeben; der Anteil derjenigen, bei denen dies nicht möglich ist, ebenfalls. Diese Zahlen belegen die relativ geringe Effizienz der präventiven Maßnahmen im Gesundheitswesen und die Notwendigkeit einer Umstrukturierung. Die Übergangsperiode der 1990er Jahre ist von großen Schwierigkeiten bei der Umsetzung von Präventionsmaßnahmen gekennzeichnet. Da das Gesundheitswesen in Russland traditionell nicht auf Prävention, sondern auf die reine Behandlung von Erkrankungen gerichtet ist, werden 70 bis 80 Prozent der vorhandenen Ressourcen in den stationären Bereich investiert; Prävention und Stärkung der Gesundheit 103 werden kaum gefördert. Um wirksame Maßnahmen für eine allgemeine Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung zu leisten, muss aber das gesamte Finanzierungssystem des Gesundheitswesens neu geordnet werden; im Mittelpunkt sollte dabei die Prävention stehen. Sozialarbeit hat eine originäre Aufgabe bei der Gesundheitssicherung. Sie wird verstärkt bei ihren Interventionen und Methoden den gesundheitlichen Zustand, die möglichen Leistungen zur Verbesserung des allgemeinen Gesundheitszustandes und die dazu notwendigen finanziellen Ressourcen im Blick haben müssen. Wesentlich ist auch eine enge Kooperation zwischen Sozialarbeit und dem öffentlichen Gesundheitswesen. Um die Entwicklung einer Präventivmedizin zu fördern, bedarf es einer verstärkten Zusammenarbeit von Medizinern, Pädagogen und Sozialarbeitern; auch eine Harmonisierung der politischen und der Verwaltungsstrukturen ist geboten, um im Haushalt Mittel zur Realisierung von Präventionsprogrammen bereitstellen zu können. T. Tschulkowa / E.-U. Huster Gesundheitsreform in Russland Die Gesundheitsreform in Russland hat zum Ziel, die grundlegende medizinische Erstversorgung und die Qualität der medizinischen Leistungen zu verbessern. Dies soll durch Dezentralisierung der Administration und Verzicht auf das Staatsmonopol auf medizinische Hilfeleistung erreicht werden. Ebenso sollen marktwirtschaftliche Elemente eingeführt werden, die von einer Anerkennung der Rechte der Patienten ausgehen, darunter auch das Recht auf freie Wahl des Arztes und des Krankenhauses. Im Verlauf des Gesetzgebungsverfahrens und der Parlamentsdebatten wurden diese Prinzipien mehrfach überarbeitet; gegenüber der im Juni 1991 angenommenen Vorlage wurden sie dadurch deutlich verwässert, und trotz mehrerer Verbesserungsvorschläge konnten die Vorschläge in der ursprünglichen Form nicht durchgesetzt werden. Zur Sicherstellung eines Gleichgewichts zwischen den unterschiedlichen Regio104 nen wurde ein unabhängiges, nicht kommerzielles Institut für Finanzen und Kredite - der Föderale Fonds der gesetzlichen Krankenversicherung - geschaffen. Die Einnahme von Versicherungsbeiträgen und die Bezahlung von Leistungen an die Versicherten obliegt territorialen Fonds der Krankenversicherung in der Rechtsform privater Versicherungsgesellschaften. Diese Gesellschaften schließen die Verträge mit den Arbeitgebern und den örtlichen Verwaltungsorganen über die Versicherung der Mitarbeiter ab und bezahlen die Leistungen der medizinischen Einrichtungen, auch die Leistungen, die vom privaten medizinischen Sektor erbracht werden. Als problematisch erweist sich, dass der ursprünglich angesetzte Versicherungsbeitrag von 3,6 Prozent des Einkommens zu niedrig ist; die tatsächlichen Kosten belaufen sich auf 11,2 Prozent. Das Haushaltsdefizit wird durch die Zahlungsunfähigkeit der gesetzlich zuständigen lokalen Verwaltungsorgane noch vergrößert. Ein weiteres Problem ist, dass viele Fonds der gesetzlichen Krankenversicherung ihre Haushaltszuweisungen zunehmend zur eigenwirtschaftlichen Tätigkeit und Gewinnsteigerung nutzen, statt diese Mittel zur Anschaffung von medizinischen Einrichtung oder Arzneimitteln zu nutzen. Viele Einrichtungen zur medizinischen Versorgung konnten die Verträge mit den Versicherungsgesellschaften nicht selbst abschließen; sie sind weiter von der Finanzierung durch den Staatshaushalt abhängig. Ein großer Teil der Mittel wird für den Aufbau und Unterhalt der bürokratischen Strukturen und nicht für die Bedürfnisse der Patienten verwendet. Außerdem hat die teilweise unklare Gesetzeslage dazu geführt, dass die Krankenversicherung in den Regionen teilweise unterschiedlich gehandhabt wird, was eine Ungleichheit in der Versorgung mit medizinischen Leistungen zur Folge hat. S. Jusgin 105 Gesundheitsschutz in Russland Gesundheitsschutz umfasst in verschiedenen Ländern eine ganze Reihe von Begriffen - von der traditionellen Hygiene bis zur Sozialmedizin. In einem Gutachten der Weltgesundheitsorganisation (WHO) von 1952 werden unter Gesundheitsschutz eine Reihe von Themen aufgelistet; sie umfassen Krankheitsprävention, Steigerung der Lebenserwartung, geistige und körperliche Gesundheit, Kampf gegen Infektionskrankheiten, Hygieneerziehung, ärztliche Hilfe bei der Frühdiagnostik und Prophylaxe sowie die Entwicklung geeigneter sozialer Mechanismen, um den Menschen zu ermöglichen, ihr Recht auf Gesundheit und langes Leben zu verwirklichen. Dienste des Gesundheitsschutzes funktionieren in vielen Ländern getrennt von den Gesundheitseinrichtungen. Ein besseres Zusammenwirken dieser beiden Sektoren ist dringend geboten. So können etwa die Einrichtungen des Gesundheitsschutzes medizinische Leistungen für die Bürger erbringen und an der Konzeption der Gesundheitsdienste für eine Erhöhung der Effektivität ihrer Institutionen mitwirken. Ein neuer Ansatz für ein differenziertes Konzept des Gesundheitswesens in Russland basiert auf dem allgemeinen Konzept des Gesundheitswesens in Europa, das von der WHO 1984 verabschiedet wurde, und auf der Charta von Ottawa 1986, in der fünf Schwerpunkte aufgeführt werden: gesellschaftspolitische Maßnahmen zur Stärkung der Gesundheit; Schaffung günstiger Umweltbedingungen; Intensivierung gesellschaftlicher Aktivitäten; Weiterentwicklung von persönlichen Kenntnissen, Fertigkeiten und Fähigkeiten; Neuorientierung der Gesundheitsdienste. Als wesentliche Voraussetzung für einen Erfolg des neuen Konzeptes wird die Notwendigkeit gemeinsamer überregionaler Aktivitäten betont. Ein Beispiel ist das von der WHO initiierte Projekt „Gesunde Städte“. Dieses im Aufbau befindliche Netzwerk vereint weltweit mehr als 1000 Städte, etwa 650 allein in Europa. In Russland beteiligen sich bisher drei Städte an dem Projekt. Die Region Wologda hat als erste Erfahrungen bei der Ausarbeitung einer langfristig angelegten regio106 nalen Politik im Gesundheitswesen gesammelt; erste Schritte zur Umsetzung des Projekts „Gesunde Städte“ haben Wologda und Tscherepowez unternommen. Erkenntnisse über die Bedeutung des Gesundheitsschutzes, etwa Krankheitsprävention und Konzepte für gesunde Lebensbedingungen der Bürger von Wologda, lagen der Ausarbeitung des Konzeptes „Region Wologda - Gesundheit 21“ zugrunde. Das Konzept beinhaltet Maßnahmen zur Verbesserung des Gesundheitszustandes der Bevölkerung, wirtschaftliche Maßnahmen und die Unterstützung benachteiligter Bevölkerungsgruppen. S. Jusgin Gewaltfreie Pädagogik Unter gewaltfreier Pädagogik ist erstens eine Bewegung fortschrittlicher Pädagogen zu verstehen, die sich gegen verschiedene Formen des Zwanges und gegen die Unterdrückung der Würde von Kindern und Jugendlichen richten. Sie orientieren sich am sog. Persönlichkeitsansatz, zu dessen zentralen Werten die Freiheit des Subjektes gehört. In Rußland gehören der „Assoziation gewaltfreie Pädagogik“ sowohl Wissenschaftler als auch praktische Pädagogen an. Zweitens werden mit dem Begriff gewaltfreie Pädagogik unterschiedliche Strömungen im Erziehungs- und Bildungswesen bezeichnet, deren gemeinsamer Kern das Bemühen darum ist, in Theorie und Praxis der Bildung und Erziehung ein humanes Verhältnis zum Kind zu ermöglichen. In einem noch allgemeineren Sinne werden drittens unter gewaltfreier Pädagogik alle Bestrebungen zusammengefaßt, der heranwachsenden Generation ein gewaltfreies Verhältnis zu sich selbst, zur Natur und zu anderen Menschen zu vermitteln. Hierzu gehören die Förderung prosozialen Verhaltens und das Einüben gewaltfreier Kommunikationsformen. Gewaltfreiheit ist mehr als nur die Abwesenheit von Gewalt. Sie gehört zu den allgemeinen menschlichen Werten (Wahrheit, Gerechtigkeit, Schönheit, das Gute schlechthin). Als solche grundlegende Idee, als lebensbejahendes Prinzip, ist sie 107 in allen religiösen und philosophischen Systemen zu finden. Auch in der Wissenschaftsgeschichte, vor allem in der Geschichte der Pädagogik, spielt das Prinzip der Gewaltfreiheit eine wichtige Rolle (J.J. Rousseau, M. Montessori, L. N. Tolstoj, K.N. Wentzel, C. Rogers, V.A. Suchomlinsky, S. A. Amonaschwili, u.a.m.). Die pädagogischen Aufgaben der Bildung und Erziehung bedürfen einer psychologischen Begründung, weshalb die gewaltfreie Pädagogik untrennbar mit der gewaltfreien Psychologie verbunden ist. Für das Verständnis der psychologischen Grundlagen gewaltfreier Pädagogik sind die Forschungen humanistischer Psychologen wie A. Maslow, C. Rogers, W. Frankl und F. Perls von Bedeutung. M. Uglitskaja Gruppe Die Gruppe ist eine Grundform des menschlichen Zusammenlebens. Sie entsteht aus dem jeweiligen gesellschaftlichen Ganzen als Gesamtheit von Menschen, die bestimmte gemeinsame Merkmale aufweisen, z.B. entsprechend ihrer sozialen Schicht- oder Klassenzugehörigkeit, den von ihnen ausgeübten Tätigkeiten, ihren sozialen Beziehungen oder ihren Wertorientierungen. Gruppen können mit Sozialisationsinstanzen identisch sein; so kann beispielsweise die Familie als Gruppe betrachtet werden. In der Regel existieren sie aber innerhalb oder „quer“ zu institutionalisierten sozialen Zusammenhängen − beispielsweise können innerhalb der Sozialisationsinstanz Schule unterschiedlichste Gruppen entstehen. Gruppen lassen sich unterscheiden: nach ihrer Größe; nach ihrer gesellschaftlichen Bedeutung; danach, ob sie eher formell oder informell strukturiert sind; danach, wie man Mitglied der jeweiligen Gruppe werden kann; nach dem Niveau ihrer Entwicklung. Allen gemeinsam ist, daß sie einen nicht an einmalige Ereignisse gebundenen, kontinuierlichen Kommunikations- und Interaktionsprozeß ihrer Mitglieder gewährleisten, daß sie über gemeinsame Normen und Regeln verfügen und ihren 108 Mitgliedern ein Gefühl der Zugehörigkeit - das sogenannte Wir-Gefühl - vermitteln. Der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen kommt große Bedeutung für die Persönlichkeitsbildung und die soziale Integration des einzelnen zu. Gruppenzugehörigkeiten vermitteln u.a. die Fähigkeit, sich in soziale Handlungsgefüge zu integrieren. Im Laufe ihrer Biographie gehören alle Menschen verschiedenen Gruppen an. Die Analyse der Zugehörigkeit zu sozialen Gruppen kann deshalb zum Verständnis der Persönlichkeitsentwicklung eines Menschen beitragen. S. Michailowa / H. Mogge-Grotjahn Gruppenanalyse Die Gruppenanalyse dient der Materialsammlung und Bestandsaufnahme und stellt die Voraussetzungen für die Gruppendiagnose und den Arbeitsplan des Gruppenleiters dar. Gleich der ¤ Anamnese in der ¤ Einzelhilfe ist die Gruppenanalyse nie endgültig abgeschlossen, sondern ein fortlaufendes Verfahren während der ¤ Gruppenarbeit. Mittel der Gruppenanalyse sind Beobachtung (Hinhören, Hinsehen), Befragung (Gespräch, Exploration) und Methoden der Soziometrie. Ihre Ergebnisse können in Form eines Soziogramms oder einer Soziografik dargestellt werden. Jede Analyse einer Gruppe trägt nur Augenblickscharakter. Sie muß immer überprüft, korrigiert und fortgeschrieben werden. Die Gruppenanalyse liefert das Material zur Erstellung der ¤ Diagnose. Sie ist der Versuch, Zusammenhänge und Hintergründe der Befunde speziell in psychosozialer Hinsicht zu verstehen. U. Zinda 109 Gruppenarbeit ist neben Einzel-, Familien- und regionaler/lokaler Arbeit (¤ Einzelhilfe; ¤ Familienberatung) eine Form der Sozialarbeit. Sie entwickelte sich in den 20er Jahren in den USA unter der Bezeichnung „Group Work“ und später „Social Group Work“. In Deutschland liegen ihre historischen Quellen in der nichtprofessionellen Gruppenarbeit der Arbeiter- und Jugendbewegung sowie in der Reformpädagogik (H. Lietz, 1898). Sie ist als spezielle Arbeitsform seit den 50er Jahren in die soziale Arbeit aufgenommen. Der Begriff „Gruppe“ wird für unterschiedliche Beziehungssysteme verwandt, die sich nach Merkmalen wie Größe, Struktur, Dauer, Gruppenkultur, Zielen und Zwecken sowie ihrem Verhältnis zur sozialen Umwelt u.a. m. unterscheiden. Sie ist eine Ansammlung von Personen, die - als Gruppenmitglieder - im Interesse einer für sie relevanten Angelegenheit direkte soziale Beziehungen zueinander unterhalten. Gruppenarbeit ist die Arbeit mit, an oder in einer Gruppe. Es werden drei spezifische Formen von Gruppenarbeit unterschieden: (a) sachorientierte Gruppenarbeit, (b) gruppenorientierte Gruppenarbeit, (c) personen- oder problemorientierte Gruppenarbeit. Bei der sachorientierten Gruppenarbeit arbeitet eine bestimmte Anzahl von Menschen gemeinsam an einer bestimmten Aufgabe, z.B. Bürgerinitiativen, Erwachsenenbildung u.a. m. Ziel dieser Gruppenarbeit ist es, einen Standpunkt, bezogen auf die gestellte Aufgabe, zu entwickeln. Der auf die Sache bezogene kognitive Prozeß wird durch Emotionen, die aufgrund persönlicher Bedürfnisse und Sichtweisen entstehen, durchkreuzt. Es ist Aufgabe des Gruppenleiters, eine Arbeitsstruktur zu entwickeln, die das gewünschte Arbeitsergebnis hervorbringt. 110 In der gruppenorientierten Gruppenarbeit steht die Gruppe als ganze Einheit, z.B. Arbeitsgruppe, Teams, Familien, im Mittelpunkt der Aufmerksamkeit des Gruppenberaters. Ziel der Arbeit ist es, die Funktionsfähigkeit dieser Gruppe zu erhalten. Die personen- oder problemorientierte Gruppenarbeit wird auf der Grundlage eines spezifisch ausgearbeiteten Konzeptes, dem der „Sozialen Gruppenarbeit“, durchgeführt. Soziale Gruppenarbeit wird praktiziert mit Menschen, die für diese spezielle Gruppe ausgewählt werden mit ihren subjektiven Bedürfnissen oder ihrer objektiven Bedürftigkeit. Die Gruppe soll nicht mehr als 5 bis 15 Mitglieder umfassen. Sie muß überschaubar sein. Ziel der Sozialen Gruppenarbeit ist zunächst die Erfüllung der grundlegenden Bedürfnisse des Menschen nach Sicherheit, Kommunikation, Kooperation und Anerkennung. Darüber hinaus will sie zur Individuation und Sozialisation des einzelnen beitragen. Er soll sozial kompetenter werden, sozialen Herausforderungen innerlich besser standhalten und zwischenmenschliche Beziehungen gestalten können. Es ist ein individualisierender Arbeitsansatz, so daß die Prinzipien der Einzelhilfe ebenso GüItigkeit haben. Der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge muß den Prozeß so handhaben, daß Situationen entstehen, die für die Gruppenmitglieder prägend sind. Dies geschieht unter Zuhilfenahme von Metakommunikation über soziale Beziehungen, Feed-back und mit Hilfe des Gruppenprogrammes. Wird das Konzept der Sozialen Gruppenarbeit auf therapeutische Aufgaben und Ziele bezogen, spricht man von Gruppentherapie. In den verschiedenen Formen der Gruppenarbeit werden vielfältige Methoden angewandt, die der Zielsetzung der jeweiligen Gruppe entsprechen. Über den ¤ Kontrakt werden die konkreten Ziele, die Arbeitsweise und die Dauer der Zusammenarbeit geregelt. Jede Gruppe durchläuft ihren speziellen Entwicklungsprozeß; in jeder Gruppe sind aber auch wiederkehrende Gruppenentwicklungsphasen zu beobachten: (a) die Orientierungsphase, in der die Gruppenmitglieder unverbindlich in ihrer Beziehungsgestaltung bleiben; 111 (b) die Macht- oder Kontrollphase, in der Funktionen und Positionen in der Gruppe erstritten werden; (c) die Intimitäts- oder Vertrauensphase, in der die Beziehungen untereinander eine gewisse Stabilität erfahren; (d) die Differenzierungsphase, in der die Fähigkeiten einzelner Gruppenmitglieder zur Erreichung des Gruppenziels eingesetzt werden und (e) die Abschlußphase, in der die Gruppenbeziehungen sich auflösen. Die wissenschaftlichen Grundlagen der Gruppenarbeit sind Ergebnisse der Kommunikationstheorie, Sozialpsychologie, Tiefenpsychologie und Soziologie; auch finden Annahmen der Gruppendynamik Anwendung. Außerdem besteht die theoretische Grundlegung dieser Arbeitsform aus einem Ensemble von a) Grundwerten, wie Selbstbestimmung, Selbstentfaltung, Selbstverwirklichung, Partizipation, b) handlungsorientiertem Wissen über Gruppenprozesse und -strukturen, c) handlungsorientiertem Wissen über die Funktion von Gruppenleitung und führung, d) handlungsorientem Wissen über die Handhabung von Kommunikations- und Kooperationsformen, von Arbeitstechniken und Medien. Kritik richtet sich häufig insbesondere an das Konzept der „Sozialen Gruppenarbeit“. Es wird ihm ein unreflektiertes, naives Demokratieverständnis unterstellt, das gesellschaftliche Widersprüche verdeckt. U. Zinda Gutachten Gutachten werden von Sachverständigen (Experten) oder einer Gruppe von Fachleuten erstellt, um zu professionellen Lösungen spezieller Probleme beizutragen. Es gibt medizinische, rechtliche, ökonomische, ökologische oder auch kunstgeschichtliche Gutachten. 112 Zur Erstellung von Gutachten muß der jeweilige Gegenstand zunächst analysiert und sodann systematische Schlußfolgerungen aus der Analyse gezogen werden, wobei auch unterschiedliche Wege beschritten und die jeweiligen Ergebnisse miteinander verglichen werden können. Die Sozialarbeit bedient sich für ihre Aufgaben der Gutachten aus verschiedenen wissenschaftlichen Bereichen, kann aber auch selber Expertenanalysen durchführen und Gutachten erstellen. T. Tschulkowa Heil- und Sonderpädagogik Der Begriff „Heilpädagogik“ (synonym: ¤ Sonderpädagogik, Behindertenpädagogik, Rehabilitationspädagogik, spezielle Pädagogik) (¤ Korrektionspädagogik) wurde durch die Pädagogen Georgens und Deinhardt Mitte des 19. Jahrhunderts eingeführt. In ihrer 1856 in der Nähe von Wien gegründeten „Heilpflegeund Erziehungsanstalt“ wurden geistigbehinderte, körperbehinderte, verwahrloste und auch nicht behinderte Kinder gemeinsam erzogen, gefördert und ausgebildet. Der Begriff Heil-Pädagogik beinhaltete das integrierte Zusammenwirken von Pädagogik und Medizin; hierbei sollte die Medizin die heilpädagogische Tätigkeit wirksam unterstützen. Von ihren praktischen Erfahrungen ausgehend entwickelten Georgens und Deinhardt erstmals eine systematische und wissenschaftliche Theorie der Heilpädagogik und ordneten sie der Pädagogik zu. Sie begründeten damit die Heilpädagogik als ein eigenständiges, pädagogisch verortetes Fachgebiet. An dem Begriff Heilpädagogik wird festgehalten, um die Ganzheitlichkeit (im systemisch-ökologischen Sinne), die Sinnbezogenheit der Erziehung und die Hinwendung zur Alltags- und Lebenswelt zu verdeutlichen. 113 Heilpädagogik als anwendungsbezogene Wissenschaft steht in einem sich ergänzenden Spannungsverhältnis von Theorie und Praxis; ihre Aufgabe ist es, unter Berücksichtigung der relevanten theoretischen und erfahrungsbezogenen Erkenntnisse der Human- und Sozialwissenschaften konkrete erzieherische bzw. soziale Problemdeutungen vorzunehmen, Handlungskonzepte zu entwickeln und diese gemeinsam mit betroffenen Menschen in sinnvollen (Alltags-)Situationen umzusetzen. Hierbei soll die Kenntnis unterschiedlicher wissenschaftlicher Positionen und Theorien eine „mehrdimensionale“ Annäherung an den Menschen und an heilpädagogisches Arbeiten ermöglichen sowie eine kritische Auseinandersetzung mit gesellschaftlichen Entwicklungen und Schlüsselproblemen herbeiführen. Eine so verstandene Heilpädagogik hat als Theorie und Praxis von der Erziehung die Aufgabe, die alltäglichen Lebenserfordernisse und die Alltagswelt gemeinsam mit geschädigten, beeinträchtigten und behinderten Menschen so zu gestalten, daß diese in ihrer Lebensführung zu größtmöglicher Autonomie, Normalität, Sinnerfülltheit und Bildung gelangen. Verbunden mit diesem pädagogischen Auftrag ist die Parteinahme und aktive Unterstützung in sozialpolitischen und gesellschaftlichen Belangen. Heilpädagogische Tätigkeit richtet sich vor allem an folgende Personenkreise und ihre Bezugspersonen: - Menschen jeden Alters mit körperlichen, geistigen, psychischen und/oder sozialen Behinderungen, - Kinder, Jugendliche und Adoleszenten mit Beeinträchtigungen der körperlichen, seelischen und sozialen Entwicklung, - Menschen mit gravierenden und komplexen Verhaltensauffälligkeiten, psychischen Störungen oder chronischen Krankheiten. Obwohl die heutige Heilpädagogik sich als genuin pädagogische Disziplin versteht, ist sie aufgrund ihres Arbeitsgebietes darauf angewiesen, relevante Entwicklungs- und Forschungsergebnisse vor allem aus der Medizin, der Psychologie, der Soziologie, des Rechts etc. in ihr Fachgebiet zu integrieren und auch therapeutische Elemente in ihr Handeln einzubeziehen. Von grundlegender Bedeutung für heilpädagogische Theoriebildungen sowie heilpädagogisches Handeln ist 114 hierbei die Reflexion ethischer und anthropologischer Grundannahmen und Fragestellungen. Ein wesentliches Prinzip heilpädagogischen Arbeitens ist die Kooperation mit anderen Berufsgruppen, z.B. Ärzten, Psychologen, Sozialpädagogen, Lehrern, Erziehern. Interdisziplinäre Zusammenarbeit ergibt sich aus den gegebenen institutionellen Rahmenbedingungen und aus der zunehmenden Komplexität der Problemlagen. Die heilpädagogischen Tätigkeitsfelder sind überwiegend Einrichtungen der Behinderten-, Jugend- und Altenhilfe sowie des Gesundheitswesens (u.a. heilpädagogische Heime, Wohnheime für Menschen mit Behinderungen, Sonderkindergärten, integrative Kindergärten, Sonderschulen, Regelschulen mit Integrationsklassen, Frühförderstellen, sozialpädiatrische Zentren, Erziehungs- und/oder Familienberatungsstellen, Kinder- und Jugendpsychiatrie, klinische Einrichtungen, rehabilitative Einrichtungen, sozialpädagogische Familienhilfe, Alteneinrichtungen, Internate, Wohlfahrtsverbände, Fortbildungseinrichtungen). Für das heilpädagogische Handeln sind das erzieherische bzw. heilpädagogische Verhältnis als dialogische Beziehung (Martin Buber) und ethische Begründungszusammenhänge leitend. Sie verbürgen das Personsein, die Würde und Integrität eines jeden Menschen, unabhängig von Alter, Grad der Beeinträchtigung, sozialen Not-lagen, Bildungs- und Lernerfahrungen. Entsprechend der Komplexität und Vielfältigkeit der heilpädagogischen Tätigkeitsfelder umfaßt das heilpädagogische Handeln unterschiedliche pädagogisch-therapeutische Tätigkeiten und Praxismethoden, welche die Adressaten befähigen sollen, sich ihren Möglichkeiten entsprechend mit den sie umgebenden gegenständlichen, personalen und sozialen Verhältnissen auseinandersetzen und sich diese aneignen zu können. Erziehungsund Bildungsinhalte werden hierbei in unterschiedlichster Form in gemeinsame Interaktions-, Kommunikations- und Lernsituationen einbezogen. 115 Heilpädagogische Praxismethoden sind u.a.: - (Ganzheitliche) Entwicklungsförderung, - Spiel und Spielen, - Spieltherapeutische Verfahren, - Wahrnehmungsförderung, - Sensorische Integrationsförderung, - Rhythmische Erziehung, - Bewegungspädagogische Förderung, - Gestaltende Verfahren, - Alltagspraktische Förderung, - Verhaltenstherapeutische Verfahren. Eine vorrangige Aufgabe ist, die Folgen gesellschaftlicher Ausgrenzung und Benachteiligung zu korrigieren und zu kompensieren sowie individuelle Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln bzw. deren Wiederherstellung zu befördern, mit dem Ziel, ein selbstbestimmtes Leben unter normalisierten Bedingungen zu führen. Hierbei sind die unterschiedlichen Bedingungen, die zu Benachteiligungen und Ausgrenzungen aus den regulären Lebens- und Lernprozessen geführt haben, zu erkennen, zu verstehen und zu verändern. Insofern orientieren sich diese heilpädagogischen Bemühungen an den Leitideen ¤ Empowerment (Ermächtigung), Integration und Normalisierung. M. Hellmann 116 Hilfeplan Der Hilfeplan ist im Rahmen des ¤ Caseworks neben ¤ Anamnese und ¤ Diagnose der dritte Arbeitsschritt. Häufig wird statt von Hilfeplan von Behandlungsplan gesprochen. Dabei ist zu berücksichtigen, daß es keine strenge Abgrenzung gibt. Jede Begegnung mit dem Klienten beinhaltet anamnestische und diagnostische Anteile und verlangt vom Sozialarbeiter/Sozialpädagogen, die weitreichendste Hilfe zu planen und diejenige Maßnahme zu ergreifen, die den besten Erfolg verspricht. Denn das Casework versteht sich als problemlösender Prozeß im Sinne individueller Einzelhilfe. Als Voraussetzung für die Umsetzung des Hilfe- bzw. Behandlungsplans wird gefordert, daß eine helfende ¤ Beziehung zum Klienten aufgebaut ist, die von Vertrauen, Akzeptanz und Wohlwollen geprägt ist und in der der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge als Autorität anerkannt wird. Dies wird als notwendig angesehen, um dem Klienten Einsicht in die Problematik seiner Lebenssituation zu vermitteln und in der Folge seine Kräfte für die Bewältigung der Problemsituation zu mobilisieren. Der Sozialarbeiter /Sozialpädagoge hat im Rahmen der Umsetzung des Hilfe- bzw. Behandlungsplans die Aufgabe, die IchFunktionen des Klienten zu stützen und zu stärken, damit sich die soziale Anpassung verbessert und das Funktionieren des Klienten, auch als Mitglied der Gesellschaft, gestärkt wird. Er soll selbstverantwortlich am Problemlösungsprozeß mitarbeiten und die Befähigung entwickeln, alternative Möglichkeiten der Lebensbewältigung zu erarbeiten und auszuprobieren. Ziel der Umsetzung des Hilfebzw. Behandlungsplans ist die Unabhängigkeit von professioneller Hilfe in psychosozialer und materieller Hinsicht. Das soll erreicht werden durch kontinuierliche und intensive Gespräche mit dem Sozialarbeiter/Sozialpädagogen. In jüngster Zeit hat der Hilfeplan Bedeutung im Rahmen gesetzlicher Kinder- und Jugendhilfe erfahren. Aus der Fülle der im Gesetz vorgegebenen Hilfsmöglichkeiten und -formen soll im Hilfeplan das für den konkreten Hilfsbedarf im Einzelfall am besten geeignete herausgefunden werden. Dieses soll − vornehmlich bei einschneidenden Maßnahmen wie z.B. Fremdplazierung − unter Beteiligung der Betroffenen (Eltern/Jugendliche) und interdisziplinär (mit Sozialarbeitern/Sozialpädagogen, Psychologen, Pädagogen, eventuell mit Therapeut, Arzt 117 und/oder Jurist) entwickelt werden und einer prozeßhaften Fortschreibung unterliegen. Die im Hilfeplan formulierten Ziele - sowohl für Kinder/Jugendliche wie für die Personensorgeberechtigten - unterliegen einer Erfolgskontrolle bzgl. der Einhaltung nachprüfbarer (Teil-)Ziele. Das geschieht im Rahmen regelmäßiger Erziehungsplangespräche. Diese Gespräche dienen aber auch der eventuell erforderlichen Modifikation des Hilfeplans. Das Vorgehen erfordert einen hohen Aufwand, der nicht immer und in jedem Jugendamt zu leisten ist. L. Haag Hospitalismus Unter Hospitalismus versteht man - psychologische Störungen infolge von langzeitigem Aufenthalt im Krankenhaus; - eine Verzögerung der Entwicklung bei Kindern, die im frühen Alter keine ausreichende Zuwendung von Seiten der Eltern erfahren haben. Das Hospitalismussyndrom zeigt sich unter anderem in einer verzögerten Entwicklung des Bewegungsapparates, insbesondere beim Gehen. Auch die Anfälligkeit gegenüber Infektionskrankheiten nimmt zu. Defizitäre Beziehungen zu den nahen Angehörigen können zu akuten Sprach- und Sprechstörungen sowie zu emotionalen Verhaltensdefiziten führen. In einigen Fällen kann Hospitalismus auch zu psychischen Erkrankungen wie etwa frühkindlichem Schwachsinn führen. Als Folge des Fehlens oder der Unterbrechung vor allem von sozialen Kontakten des Kindes mit den Erwachsenen seiner familiären Umgebung entsteht Hospita- 118 lismus gegebenenfalls trotz guter Pflege des Kindes und/oder hinreichender hygienischer Bedingungen. Andauernde negative Konditionen, etwa anhaltende emotionale Bindungslosigkeit, beeinflussen naturgemäß auch die Intensität der Symptome. J. Sagrebelnaja Hospiz Aus dem Lateinischen kommend bedeutet Hospiz „Herberge“ und „Gastfreundschaft“. Es geht um Orte des Sterbens, in denen Geborgenheit, Zuneigung und würdevolles Leben bis zuletzt vermittelt werden. Der Sterbende und die Angehörigen sind Adressaten der Hilfen der Hospizdienste. Niemals sind sie Orte aktiver Sterbehilfe. Sie beschränken sich ausdrücklich auf die Betreuung von Menschen, bei denen therapieresistene Erkrankungen (z.B. unheilbarer Krebs, Aids etc.) in absehbarer Zeit zum Tode führen. Ende der 60iger Jahre eröffnete die englische Krankenschwester, Sozialarbeiterin und Ärztin Cicley Saunders das erste Haus für Sterbende, das St. Christopher´sHospiz in London und stellte zugleich ihre Grundideen vor, die bis heute gelten. Prinzipiell gilt: - dem Patienten das Sterben zu Hause zu ermöglichen, seine Bedürfnisse zu erfüllen, d.h. nicht unter Schmerzen und alleine gelassen zu sterben, letzte Regelungen zu treffen und Sinnfragen zu erörtern; - der ambulante Hospizdienst bzw. das stationäre Hospiz sind immer erreichbar; 119 - ein interdisziplinäres Team steht zur Verfügung, welches sich der körperlichen, psychischen, sozialen und ev. religiösen Betreuung der Sterbenden annimmt. Es verfügt über Wissen und Erkenntnisse aus der Palliativmedizin (palliare (lat.) = mit dem Mantel bedecken, lindern), die die Schmerzfreiheit des Patienten bei vollem Bewußtsein anstrebt; - ausgewählten und geschulten ehrenamtlichen Helfern werden eigene Aufgabenbereiche übertragen; - Supervision / Praxisberatung soll für alle Mitarbeiter gewährleistet sein; - die Tabuisierung, Ausgrenzung und Verdrängung von Tod und Sterben aufzuheben und eine neue Kultur des Sterbens und der Trauer zu entwikkeln. Hospiz ist ein Konzept. Eine der drei Organisationsformen ist das ambulante Hospiz als eigenständig arbeitendes Team mit Verbindung zu einem stationären Hospiz bzw. zu einer Palliativstation; es kann aber ebenso zu einem Krankenhaus gehören oder einem Träger der freien Wohlfahrtspflege angeschlossen sein. Eine weitere Form ist das stationäre Hospiz als eigenständige Einrichtung oder einem Krankenhaus angegliedert als Palliativstation. Zu dem gibt es das Tageshospiz, die Betreuung Sterbender durch die Familie wie zeitweise durch ein Hospizteam. Die Finanzierung der Hospizarbeit speist sich aus vielerlei Quellen. Zu einem Teil finanziert sie sich aus Spenden. Die Betreuung ist für die Patienten der Regel kostenlos. In Deutschland gibt es z. Zt. knapp 600 ambulante Hospizdienste, etwa 45 stationäre Hospize (davon eines nur für Kinder) und 55 Palliativstationen. 1999 wurden ca. 26.000 Sterbende betreut. 120 Sozialarbeiter/Sozialpädagogen gehören mit einem festumrissenen Aufgabenbereich zum Team. In NRW gibt es einen „Arbeitskreis der Sozialarbeiter/Sozialpädagogen in der Hospizarbeit“, der Aufgaben und Konzepte der Berufsgruppe diskutiert und weiterentwickelt. In Rußland wurde das erste Hospiz 1980 in St. Petersburg gegründet. Viktor Sorsa hat es aufgrund familiärer Betroffenheit geschaffen. Ansätze ambulanter Hospizarbeit, eher im Sinne der Selbsthilfe, gibt es in Archangelsk. L. Haag Individuum / Individualisierung Das Individuum als das prinzipiell Unteilbare ist eine unverwechselbare Persönlichkeit. Im lebenslangen Prozeß der Sozialisation entwickelt das Individuum eine spezifische Kombination von physischen, psychischen und sozialen Merkmalen und Eigenschaften. Individualität ist Bestandteil der persönlichen Identität, zu der das Bewußtsein von der eigenen Biographie und ihrer Kontinuität gehört: Das Individuum hat eine Vergangenheit und eine Zukunft, bleibt aber trotz aller Veränderungen immer „Ich“. Als Individualisierung wird eine gesellschaftliche Entwicklung bezeichnet, die dazu führt, daß soziale Klassen und Schichten an Bedeutung verlieren, immer mehr Menschen alleine leben, soziale Bindungen zurückgehen und der Autonomie des Individuums eine hohe normative Bedeutung zugeschrieben wird. - Ob und wie weit moderne Gesellschaften mit dem Begriff der Individualisierung angemessen charakterisiert werden können, ist in der Sozialwissenschaft umstritten. H. Mogge-Grotjahn 121 Infektionskrankheiten haben in der Geschichte der Menschheit eine prägende Rolle gespielt: Noch vor einigen Jahrhunderten wurden ganze Bevölkerungen durch Pest, Pocken, Typhus und Cholera dezimiert. Große Fortschritte der Sozialmedizin haben die Situation dramatisch gebessert: Kinder sind z.B. nicht mehr extrem durch Diphtherie, Kinderlähmung oder Keuchhusten gefährdet. Doch der zunächst erfolgreiche Kampf gegen Malaria, Typhus, Tuberkulose und andere Infektionskrankheiten hat in den Entwicklungsländern noch nicht zu ihrer erhofften Überwindung geführt. Trotz des Wandels des Krankheitsspektrums von den Infektionskrankheiten hin zu den chronisch-degenerativen Erkrankungen bilden sie immer noch die weltweit führende Ursache der vermeidbaren Mortalität (Sterblichkeit). Nach Angaben der Weltgesundheitsorganisation (WHO) starben 1995 weltweit etwa 17,3 Millionen Menschen an Infektionskrankheiten. Die Morbidität (Krankheitsanfälligkeit) wird bei den Durchfall-erkrankungen von 1,8 Milliarden Fällen pro Jahr bestimmt. Die Infektionsgefährdung wird in den Entwicklungsländern durch hohe Bevölkerungsdichte, Armut und Fluchtbewegungen bei erschwertem Zugang zu Versorgungseinrichtungen gefördert. In den Industrieländern spielen Infektionskrankheiten seit dem Zweiten Weltkrieg eine nur untergeordnete Rolle, was zu Schwierigkeiten führte, die zu ihrer Bekämpfung notwendigen Maßnahmen weiterhin zu finanzieren. Die Situation hat sich mit der wachsenden Bedeutung der Erreger von Hepatitis C, D und E sowie insbesondere von AIDS jedoch geändert. Geschlechtskrankheiten wie Gonorrhoe und Chlamydien-lnfektionen sind in den Großstädten verbreitet. Die Pneumonie bleibt eine Gefahr für geschwächte und ältere Menschen. Auch die Identifizierung der Helio-bacter-lnfektion als Ursache von Magengeschwüren und die Bedeutung der Besiedelung der Arterien mit dem Erreger Chlamydia pneumoniae für die koronare Herzkrankheit haben die Aufmerksamkeit emeut auf die Infektionskrankheiten gelenkt. Diese Entdeckungen waren bereits Ergebnis der verstärkten infektologischen Forschung. 122 Der Fortschritt in der Behandlung von Infektionen hat jedoch selber Probleme geschaffen: Bei oft in Krankenhäusern nachgewiesenen Erregern wie Staphylokokken und Pseudomonas wurden Resistenzentwicklungen gegen die bisher verfügbaren Antibiotika häufig, was zu einer wachsenden Zahl von schwer beherrschbaren Krankheitsverläufen führte. Dem Problem wurde durch den unsachgemäßen Einsatz von Antibiotika Vorschub geleistet, wie z.B. falsche Behandlungsformen oder der Einsatz von Antibiotika bei der Nahrungsmittelproduktion. Die bei Transplantationen und einigen Krebserkrankungen erforderliche immunsuppressive Behandlung hat beispielsweise neue Infektionsrisiken mit Bakterien und Pilzen geschaffen. Folgende medizinische Maßnahmen können zur Kontrolle von Infektionskrankheiten ergriffen werden: - Impfung, - Chemoprophylaxe, - Immunprophylaxe, - Chemotherapie, - Therapie von Kontaktpersonen. Der Impfung kommt hier die größte Bedeutung zu: Ein fachgerecht durchgeführtes Impfprogramm kann in seiner positiven Wirkung auf die Erkrankungshäufigkeit und Sterblichkeit in einer Population von kurativen Maßnahmen nicht annähemd erreicht werden. Es wurde geschätzt, daß in den ersten 20 Jahren nach ihrer Einführung die Masernimpfung in den Vereinigten Staaten 52 Millionen Erkrankungen, rund 5200 Todesfälle und mehr als 17 000 Fälle von geistiger Behinderung verhütet hat. Die für die Sozialmedizin und Sozialarbeit relevanten Interventionsformen sind: - Isolierung und Quarantäne, - Nahrungsmittel- und Trinkwasserhygiene, - Infektionsquellenkontrolle, - Aufklärung, 123 - Verhaltensänderung, - Gesetzgebung. Die infektologische Forschung widmet sich derzeit vor allem dem Einsatz von Chemotherapeutika/Antibiotika, der Sicherheit der Nahrungskette bei industriell produzierten Lebensmitteln sowie der Identifikation „neuer“ Infektionskrankheiten, die weltweit durch die dichten Verkehrsverbindungen rasche Verbreitung finden. M. Klein-Lange Information Die Vermittlung spezifischer Informationen ist ein Schwerpunkt in der Sozialarbeit/ Sozialpädagogik. Manchen Klienten fehlt oftmals (nur) konkretes Wissen, um eine defizitäre Situation zum Besseren zu wenden. Sie haben meist keinen Zugang zu Informationsquellen, sei es aus Unwissenheit oder aus finanziellen/materiellen Mangellagen. Sozialarbeiter/Sozialpädagogen haben die Aufgabe, fachlich, sachlich und in verständlicher Sprache und Form Hilfesuchende über das breite Spektrum sozialer Hilfsmöglichkeiten und Leistungen der Gesellschaft zu unterrichten und sie über geeignete Formen der Durchsetzung zu informieren. Informationen über die Rechte wie über die Pflichten sind gleichermaßen zu gewähren. L. Haag 124 Integration Der aus dem Lateinischen stammende Begriff Integration wird wörtlich übersetzt mit Wiederherstellung, Erneuerung. In der sozialen Arbeit, in Gesellschaftswissenschaften und Politik wird unter Integration Eingliederung, Zusammenführung oder auch Einfügen in ein Ganzes verstanden. Der Begriff ist also mehrdeutig und weist in zwei Richtungen: Zum einen wird unter Integration die Anpassung von gesellschaftlichen Minderheiten oder Individuen (z.B. von Ausländern oder Behinderten) an die vorherrschenden gesellschaftlichen Strukturen und Denkweisen verstanden, was auf ihre Assimilation hinausläuft. Zum anderen kann Integration auch ein koexistentes Zusam-menleben von verschiedenen Personen oder gesellschaftlichen Gruppen, von Mehr- und Minderheiten bedeuten (z.B. von religiösen Minderheiten mit Mehrheiten, von Menschen mit verschiedenen sexuellen Orientierungen). Für die soziale Arbeit ist der Begriff der Integration von zentraler Bedeutung, da er das Problem vieler Klienten betrifft und mit dem allgemeinen Handlungsziel der sozialen Arbeit immer auch die Frage nach der Interpretation des IntegrationsBegriffs gestellt ist. Vor allem in der Arbeit mit ethnischen Minderheiten und Behinderten haben die Erfahrungen ergeben, daß Integration auch als Phasenabfolge verlaufen kann. Der Integrationsprozeß kann von einem anfänglichen Nebeneinander oder auch Isolation mit scharfer Abgrenzung zu einer gleichberechtigten Teilnahme an den wichtigsten gesellschaftlichen Bereichen − unter punktueller Bewahrung eigener kultureller, sozialer oder religiöser Eigenheiten − verlaufen. Integration ist nicht nur im Blick auf die Verhältnisse von Mehrheiten- und Minderheitengruppen einer Gesellschaft relevant, sondern auch in bezug auf die sozialen Unterschiede einer Gesellschaft insgesamt. Ob und inwieweit Kinder aus Arbeiterfamilien, Mädchen und Frauen, Menschen vom Lande oder nicht mehr erwerbstätige ältere Menschen die Gelegenheit und Förderung der Teilnahme am gesellschaftlichen Leben haben, ist eine Frage nach der gesellschaftlichen Integration eines Landes, nach der Klassen- und Schichtendurchlässigkeit und der Offenheit einer Gesellschaft. 125 M. Bellermann Integrative Bildung Durch den Prozess der Integration werden Behinderte und andere Personen mit gesundheitlichen und geistigen Störungen sozial nicht ausgegrenzt oder isoliert sondern in die Lage versetzt, an allen Formen des sozialen Lebens gemeinsam mit Nichtbehinderten und in der gleichen Weise wie sie teilzunehmen. Im Bildungssystem bedeutet die Integration für Kinder, Jugendliche und Heranwachsende mit Entwicklungsproblemen die Möglichkeit, mit nur minimalen Einschränkungen in einer Sonderbildungseinrichtung oder zu den gleichen Bedingungen wie nichtbehinderte Kinder und Jugendliche in einer allgemein bildenden Einrichtung am Bildungssystem teilzuhaben. Den unbestreitbaren Vorzügen der integrativen Bildung stehen die eingeschränkten Möglichkeiten der allgemein bildenden Schulen gegenüber, die in aller Regel nicht über die notwendigen Fachkräfte verfügen. Für die psychologische und pädagogische Betreuung von Kindern mit sensorischen Störungen und Bewegungsstörungen in allgemein bildenden Schulen werden in zunehmendem Maße Erfahrungen aus anderen Ländern mit einem weiter entwickelten System genutzt. Als Aufgabenfelder der integrativen Bildung benennt die moderne Sonderpädagogik: vollständige Integration von Kindern mit eingeschränkten Möglichkeiten in allgemein bildenden Schulen; Sonderformen für Kinder mit eingeschränkten Möglichkeiten in allgemein bildenden Schulen, etwa in Sonderklassen, in gemeinsamen Klassen mit nichtbehinderten Kindern, im Rehabilitationszentrum und so weiter; Festlegung der Inhalte der Sonderpädagogik; Übergangsbestimmungen für einen Wechsel zwischen verschiedenen Formen der Sonderpädagogik; Festlegung des geeigneten Beginns von sonderpädagogischen Maßnahmen (etwa im Vorschulalter, in der Elementarschule oder in der Mittel- und Oberstufe); Forderungen an die erweiterte Ausbildung von Lehrkräften der allgemein bildenden Schulen. J. Reprinzewa 126 Intervention Der Begriff „Intervention“ wird häufig ganz allgemein für das helfende Handeln in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik verwandt. Enger gefaßt bezeichnet er eine bestimmte Art des Handelns in bezug auf eine spezifische soziale Problemkonstellation. Diese ist dadurch gekennzeichnet, daß zum einen Menschen sich selbst gefährden oder durch andere Personen, in deren Abhängigkeit sie stehen, gefährdet werden. Bei der Selbst- und Fremdgefährdung sind die gefährdeten Menschen außerstande, ihre aktuelle Lebenssituation selbst zu verändern. Der Sozialarbeiter greift durch eine Intervention zum Schutz der gefährdeten Menschen in den Problemzusammenhang ein. Einer Intervention vorausgehen muß die genaue Abklärung der Ursache des Problems, die Bewertung des problematischen Sachverhaltes und die Entscheidung für eine angemessene Hilfeleistung. U. Zinda Jugend, aktuelle Situation in Russland Langsam zeichnet sich in Russland eine Tendenz zur sozialen und wirtschaftlichen Stabilisierung ab. Die Situation der Jugendlichen spiegelt dieses Bild aber nicht wider. Rund 31 Millionen Jugendliche leben in Russland; das sind 21 Prozent der Gesamtbevölkerung. Dieser Prozentsatz nimmt, bedingt durch den sinkenden Lebensstandard und den Rückgang der Geburtenziffern, aber kontinuierlich ab. Es werden weniger Ehen geschlossen; die Scheidungsrate nimmt hingegen zu. Die Mehrzahl der jungen Ehen bleibt freiwillig kinderlos. Grund ist die meist unbefriedigende soziale Lage. Diese Lage ist auch verantwortlich für eine Ausbreitung von armutstypischen Krankheiten unter Jugendlichen wie vor allem Tuberkulose. Die Sterberate bei Jugendlichen ist auch auf solche früher für diese Altersstufe untypischen Krankheiten zurückzuführen. Nach wie vor hoch ist die Arbeitslosigkeit bei Jugendlichen, die rund ein Drittel der registrierten Arbeitslosen stellen. Weit verbreitet ist die latente, durch Be127 triebsstilllegungen, Zwangsurlaube und verkürzte Arbeitszeit verursachte Arbeitslosigkeit, von der rund ein Viertel der werktätigen Jugendlichen betroffen ist. Fast die Hälfte der Jugendlichen übt nicht den erlernten Beruf aus oder hat keine Berufsausbildung. Diese insgesamt unbefriedigende Lage führt zu zunehmenden sozialen Spannungen bei den Jugendlichen, zu wachsender Unruhe und Aufbegehren oder auch zu Resignation. Misserfolge bei der Anpassung an die neuen sozialwirtschaftlichen Bedingungen haben Erscheinungen wie ein Zunehmen von Jugendkriminalität, Drogen- und Alkoholsucht, Obdachlosigkeit und Jugendprostitution zur Folge. Eine weitere Folge ist auch das veränderte Erscheinungsbild der öffentlichen Aktivitäten und Selbstorganisation der Jugendlichen. Traditionelle seit Jahrzehnten bestehende Jugendverbände haben an Attraktivität verloren oder sind mit dem Zusammenbruch der UdSSR von der politischen Bildfläche verschwunden. An ihre 128 Stelle sind zahlreiche neue politische und nicht politische Jugendverbände getreten. Mehr als 100 Kinder- und Jugendverbände von landesweiter und mehr als 500 von regionaler Bedeutung sind derzeit registriert. Ihre Zusammenarbeit mit staatlichen Behörden wird durch das föderale Gesetz „Staatliche Unterstützung der öffentlichen Jugend- und Kinderverbände“ von 1995 geregelt. Für die Befriedigung elementarer sozialer Bedürfnisse der Jugendlichen etwa bei Bildung, Erwerbstätigkeit, Gesundheitsschutz, Freizeitgestaltung oder der Unterstützung in schwierigen Lebenssituationen sind zahlreiche Dienste zuständig. Dazu zählen vor allem die psychologisch-pädagogische Beratung, psychologische Nothilfe per Telefon, soziale Rehabilitationszentren, kulturelle Dienste, Berufsberatung sowie Beratung und Hilfe in Rechtsfragen. N. F. Bassow Jugend (Jugendalter / Jugendliche) (¤ Lebensalter) Der Begriff „Jugend“ wird in einem doppelten Sinn gebraucht: erstens zur Bezeichnung einer bestimmten Lebensphase, zweitens zur Bezeichnung einer gesellschaftlichen Gruppe. 1. Unter Jugend im Sinne eines bestimmten Lebensabschnittes wird die Altersspanne zwischen dem Ende der Kindheit und dem Beginn des Erwachsenenalters verstanden. Sie beginnt mit dem Einsetzen der als „Pubertät“ bezeichneten physischen und psychischen Veränderungen (Geschlechtsreife) etwa mit dem 13. Lebensjahr: Die im historischen Vergleich immer früher einsetzende Entwicklung zum Jugendlichen wird auch als →“Akzeleration“ bezeichnet. und endet, wenn der heranwachsende Jugendliche eine selbständige Persönlichkeit geworden ist. Zu den wesentlichen Entwicklungsaufgaben des Jugendalters gehören die psychische Ablösung von den Eltern bzw. der Herkunftsfamilie, die Übernahme der eigenen Geschlechtsrolle und das allmähliche Hineinwachsen in die Aufgaben und 129 Rollen des erwachsenen Gesellschaftsmitgliedes. Hierzu gehören der Abschluß von Ausbildungen und die ökonomische Selbständigkeit, die Gründung eines eigenen Haushaltes und/oder einer eigenen Familie und die Übernahme aller Rechte und Pflichten des mündigen Gesellschaftsmitgliedes. Während der Beginn der Jugendphase deutlich erkennbar ist, kann sich ihr Ende durch verlängerte Ausbildungszeiten, späte Familiengründung oder ökonomische Abhängigkeit bis in das dritte Lebensjahrzehnt verschieben. Diese „künstliche“ Verlängerung der Jugendphase wird auch als „Post-Adoleszenz“ bezeichnet. 2. Als „Jugend“ im Sinne einer gesellschaftlichen Gruppe wird die Gesamtheit der etwa 13- bis maximal 25jährigen Mitglieder der Gesellschaft bezeichnet. Sie wird durch Gemeinsamkeiten des Verhaltens (Abgrenzung von der Erwachsenenwelt), der sozialen Lage (ökonomische Unselbständigkeit, Absolvieren von Schule oder Ausbildung) und der Wertorientierungen (Jugendkulturen) gekennzeichnet. Je nach Gesellschaftstypus übernehmen neben Schule, Elternhaus und Freundesgruppen auch staatliche Jugendorganisationen wesentliche Sozialisationsfunktionen. Innerhalb der Gesamtgruppe „Jugend“ können sich entsprechend der sozioökonomischen Merkmale und/oder entsprechend der Geschlechtszugehörigkeit unterschiedliche Teilgruppen herausbilden. Diese werden als „Jugens-Szenen“, „Jugend-Subkulturen“ oder auch „Jugend-Style“ bezeichnet. Sie unterscheiden sich durch Mode, Musik, Sprache, politische und moralische Einstellungen voneinander und können sich zu subkulturellen Milieus verdichten. Die spezifischen psychischen und sozialen Unsicherheiten des Jugendalters tragen zur Entstehung sozialer Probleme (z.B. ¤ Devianz und Delinquenz im Jugendalter, Gefährdung durch Drogen) bei. S. Michailowa / H. Mogge-Grotjahn Jugendkriminalität Der Begriff der Jugendkriminalität wird durch das Alter der Straftäter einge130 grenzt, das in Russland für den Beginn der Rechts- und Straffähigkeit bei 16 Jahren und für definierte besonders gefährliche Straftaten bei 14 Jahren liegt. Zu den Charakteristika der Jugendkriminalität zählen unter anderem der deutlich ausgeprägte Gruppencharakter (circa zwei Drittel der Straftaten werden aus Gruppen heraus begangen) und der hohe Anteil männlicher Straftäter (mehr als 90 Prozent). Besorgniserregend ist der kontinuierliche Anstieg der Jugendkriminalität in Relation zur allgemeinen Kriminalität in Russland. Dabei ist in den letzten Jahren der Anteil der Straftaten, die als schwere Verbrechen gelten, im Vergleich zu früheren Jahrzehnten erheblich gestiegen - was im übrigen der zunehmenden Anzahl schwerer Verbrechen in der allgemeinen Kriminalitätsstatistik Russlands entspricht. Das Spektrum der von Heranwachsenden begangenen Straftaten ist naturgemäß ziemlich eingeschränkt, da sie für eine große Anzahl von Straftaten etwa im wirtschaftlichen Bereich nicht in Frage kommen. Am häufigsten sind Diebstahl, Raub, Sachbeschädigung, Vergewaltigung und Autodiebstahl für Spritztouren. O. A. Sigmunt Jugendpolitik (¤ Jugend) Als Jugendpolitik werden öffentliche Maßnahmen und Bestrebungen zum Schutz und zur Förderung von Jugendlichen (häufig auch der Kinder) im außerschulischen und außerfamilialen Bereich bezeichnet. Als Jugendliche gelten junge Menschen − meist − vom 14. Lebensjahr an bis zur Volljährigkeit. 131 Jugendpolitische Maßnahmen betreffen den Arbeitsschutz (besondere Arbeitszeiten, Arbeitsverbote bei Nacht oder bei starker Gesundheitsgefährdung), Fürsorgemaßnahmen in Fällen von Mißhandlung oder Vernachlässigung durch Eltern oder andere Erziehungspersonen, Anregung und Förderung im Freizeitbereich (Jugendfreizeitheime oder -reisen) und Beratung in Problem- und Konfliktfällen (Konflikte mit Eltern, der Justiz, Bildungsberatung). Jugendpolitik umfaßt auch die Umsetzung eines besonderen Jugendstrafrechts mit stärkeren Verwarnungsund Erziehungselementen und schwächeren Strafanteilen sowie spezielle Maßnahmen zur gesellschaftlichen (Re-)Integration der Täter (z.B. Hilfen zum Eintritt oder zur Rückkehr ins Erwerbsleben). Schließlich kann zur Jugendpolitik die Unterstützung von privaten Jugendverbänden gehören. Weil Jugendpolitik im heutigen Rußland noch nicht genügend Beachtung durch die Gesellschaft erfährt und die Schutzmechanismen für Jugendliche ungenügend ausgeprägt sind, besteht die Gefahr, daß sich die Jugend zu einer destabilisierenden gesellschaftlichen Kraft entwickelt. Einzelne Maßnahmen des Staates und anderer gesellschaftlicher Institutionen sind nicht hinreichend, um Probleme in diesem Bereich zu lösen. Notwendig sind eine den Erfordernissen entsprechende Unterstützung der heranwachsenden Generation und eine Koordinierung der Bemühungen der öffentlichen und verbandlichen Hilfestrukturen mit dem Ziel einer komplexen Jugendpolitik. M. Bellermann Jugendpolitik in Russland Staatliche Jugendpolitik schafft die rechtlichen, wirtschaftlichen und organisatorischen Voraussetzungen, um jungen Menschen eine selbstbestimmte Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen und Jugendorganisationen, -bewegungen und initiativen zu fördern. Zuständig sind die durch den Erlass des Präsidenten der Russischen Föderation „Vorrangige Maßnahmen auf dem Gebiet der staatlichen Jugendpolitik “ vom 16. September 1992 gegründeten föderalen und regionalen Jugendämter. Sozialdienste für Jugendliche (Klubs, Freizeit- und Informations132 zentren u.a.) arbeiten seit Inkrafttreten der „Richtlinien der staatlichen Jugendpolitik der Russischen Föderation“ (1993). Ende 1994 wurde das föderale Programm „Die Jugendlichen Russlands“ verabschiedet, das 1996 zum Präsidentenprogramm mit Laufzeit bis zum Jahr 2000 erklärt wurde. Zu den Schwerpunkten des Programms gehörten die Schaffung von Informationssystemen für Jugendliche, Programme zur Bewältigung sozialökonomischer Probleme (Hilfen für junge Familien, jugendarbeitspolitische Maßnahmen, Unterstützung von Kinder- und Jugendverbänden u.a.). Zunehmende Bedeutung in der staatlichen Jugendpolitik wächst den Maßnahmen des Sozialschutzes zu. Diese beinhalten u.a. die rechtlichen Grundlagen der Jugendpolitik, die Entwicklung der Sozialdienste der Jugendhilfe, Informations- und Beratungszentren und die Arbeitsvermittlung für Jugendliche. Trotz richtiger Ansätze und Konzepte der staatlichen Jugendpolitik sind positive Ergebnisse aber nur schwer messbar; Hauptgrund sind die nur sehr langsam erfolgenden Veränderungen der wirtschaftlichen und sozialen Situation in Russland allgemein. N. F. Bassow Kinderbewegung in Rußland Die Kinderbewegung in Rußland wird in der russischen Forschung als sozialpädagogisches Element im gesellschaftlichen und staatlichen System angesehen. Der Begriff unterliegt mehrfacher Deutung; man versteht darunter - die Gesamtheit aller Kinderverbände und -organisationen der kommunalen, regionalen und landesweiten Gebietskörperschaften; - die Tätigkeit und gegebenenfalls Auflösung eines konkreten Kinderverbandes oder Kinder- und Erwachsenenverbandes, der sich durch gemeinsame Interessen oder Aktivitäten definiert; - die Tätigkeit einer definierten Gruppe von Jugendlichen, die sich unter einer gemeinsamen Leitidee zusammengefunden haben, beispielsweise mit gesell133 schaftspolitischen Intentionen (z.B. die nach dem gleichnamigen Schriftsteller benannten „Timur-Gruppen“). In einigen Fällen entsprechen Gruppen der Kinderbewegung nahezu anerkannten gesellschaftlichen Organisation, die offiziell in den staatlichen Organen registriert werden können (z.B. die Kinder- und Jugendbewegung „Junge für die Wiedergeburt Petersburgs“). Innerhalb der Kinderbewegung werden, je nach inhaltlicher Ausrichtung und Tätigkeitsprofil, manchmal auch nach Altersgruppen, verschiedene Bereiche unterschieden; so gibt es die Ökologische oder Umwelt-Bewegung, die Patriotische Bewegung, die Pionierbewegung, die Scout-Bewegung u.a. m. Als Merkmal hoher innerer Organisation gelten die inneren Strukturen (Räte, Komitees, Büros) und Verbindungen mit anderen Verbänden. Signifikante Tendenzen der modernen Entwicklung der Kinderbewegung sind: - Abbau der Komsomol- und Pionierorganisation, Entwicklung neuer Organisationen, - Rückgang der Mitgliederzahlen bei allen Organisationen, - Diversifizierung von Programmen und Zielsetzungen, - Teilnahme von Erwachsenen in der Kinderbewegung, - Wachsender Erfahrungsaustausch, Zusammenarbeit mit staatlichen Strukturen. I. Sudakowa 134 Kindergarten Der Kindergarten ist eine Institution im Rahmen der gesetzlich begründeten Jugendhilfe. Seine Aufgaben sind: familienergänzende Betreuung, Bildung und Erziehung von Kindern ab dem 3. Lebensjahr bis zum Schuleintritt. Im 18./19. Jahrhundert haben zunächst Pestalozzi und dann Fröbel eine moderne Frühpädagogik entwickelt, die in Deutschland mit der Gründung des Kindergartens 1840 in Rudolstadt/Thüringen Gestalt annahm. „Kindergarten“ wurde als Fremdwort in vielen Industrienationen eingeführt. Etwas früher haben Owen in England und Fourrier in Frankreich den Wert der Gruppenerziehung für Kleinkinder erkannt und hervorgehoben und „Kinder-Schulen“ als Modell für die Kleinkindpädagogik entwickelt. In Rußland wurden gegen Ende der 60er Jahre des 19. Jahrhunderts die ersten Kindergärten gegründet. Je nach Träger werden staatliche, private und Gemeindekindergärten unterschieden. Neben allgemeinen Kindergärten gibt es auch solche für behinderte und schwache Kinder. Die Betreuung erfolgt sowohl in Tages- als auch in Tag- und Nacht-Kindergärten. Aufgabe der Kindergärten ist vornehmlich die Erhaltung und Festigung der physischen und geistigen Gesundheit der Kinder sowie die Stärkung ihrer intellektuellen und persönlichen Entwicklung. Lange Zeit arbeiteten die Kindergärten nach einem Konzept, das bestimmte zu erwerbende Kenntnisse und Fertigkeiten für jede Altersgruppe der Kinder festlegte. Seit in 1991 eine neue Vorschrift für die Institutionen der KleinkinderErziehung erlassen wurde, erhielten die Kindergärten bestimmte Freiheiten in der Wahl von Programm und innerer Organisation; die Ziele bleiben jedoch dieselben. Die Aufgaben der Pädagogen und der Erzieher sowie der Leitung von Kindergärten werden vom Staat geregelt. S. Michailowa 135 Kinderheime, Familienkinderheime Aufnahme in russischen Kinderheimen finden Waisen - Kinder und Jugendliche bis zum 18. Lebensjahr ohne Eltern - und Kinder, deren Eltern aus unterschiedlichen Gründen keine oder begrenzte Fürsorgeberechtigung haben, etwa weil sie ihnen per Gerichtsbeschluss entzogen wurde, weil sie Gefängnisstrafen absitzen, weil ihnen die Handlungsfähigkeit aberkannt wurde oder weil sie sich langfristig in einer Kur befinden. Auch Kinder von alleinstehenden Müttern oder Vätern, Arbeitslosen, Flüchtlingen, Zwangsumsiedlern und aus von Naturkatastrophen betroffenen Familien ohne festen Wohnsitz können - bis zur Dauer von einem Jahr in Kinderheimen untergebracht werden. Die Altersgrenze liegt in der Regel bei 18 Jahren; in einigen Fällen können die Jugendlichen bis zum Abschluss ihrer Berufsausbildung bleiben. Einige Kinderheime sind auch als Internate (KinderheimSchulen) eingerichtet. Eine Besonderheit sind Familienkinderheime, die in letzter Zeit zunehmende Verbreitung finden. Die Struktur gleicht der einer großen Familie: Ein Elternpaar nimmt mindestens fünf, höchstens zehn Kinder auf; Voraussetzung ist die Zustimmung aller Familienangehörigen, auch der eigenen oder adoptierten Kinder ab deren zehnten Lebensjahr. Die Gesamtzahl der Kinder darf zwölf nicht übersteigen. Das Modell dient der Schaffung geeigneter Voraussetzungen für die Erziehung und Bildung der Kinder sowie der Vorbereitung auf ein selbstständiges Leben. Die Beschlüsse der zuständigen Stellen für die Einrichtung von Familienkinderheimen werden bevorzugt zu Gunsten solcher Elternpaare gefasst, die bereits Erfahrungen in Erziehungseinrichtungen, in Bildungs- und Gesundheitseinrichtungen oder als Adoptiveltern oder gesetzlicher Vormund haben. Blutsverwandtschaft mit den aufzunehmenden Kindern ist auszuschließen; auch bestimmte Erkrankungen, der Entzug oder die Einschränkung von Elternrechten, die Erkennung 136 von (auch begrenzter) Handlungsunfähigkeit oder die Aufhebung von Vormundschaften stehen der Einrichtung eines Familienkinderheims entgegen. Die Kontrolle der Lebens- und Erziehungsbedingungen, des Schutzes der Rechte und Interessen der Kinder und die Förderung der Ausbildung von Ehepaaren, die Kinder aufnehmen wollen, obliegt den örtlichen Vormundschaftsbehörden. Die Kinder selbst müssen zu der Maßnahme gehört werden; ab dem zehnten Lebensjahr ist ihre Zustimmung erforderlich, ebenso wie die Zustimmung der Einrichtungen, in denen sich das Kind zurzeit befindet. Das Recht auf Unterhaltszahlungen, Renten sowie andere Rechte und Garantien gemäß den Gesetzen der Russischen Föderation für Waisenkinder und Kinder ohne Elternfürsorge bleiben unberührt. Die Finanzierung erfolgt durch unterschiedliche Träger, Spenden sowie andere Mittel entsprechend der Gesetzgebung der Russischen Föderation. A. Kuschew Kindesmißhandlung Kindesmißhandlung ist eine nicht zufällige gewaltsame physische und/oder psychische Beeinträchtigung oder Vernachlässigung eines Kindes durch die Eltern oder Erziehungspersonen, die das Kind körperlich oder seelisch schädigt, verletzt, in seiner Entwicklung hemmt und gegebenenfalls zu Tode bringt. Im wesentlichen sind folgende Formen von Kindesmißhandlung zu berücksichtigen: (a) ¤ Körperliche Kindesmißhandlung, (b) ¤ Vernachlässigung, (c) ¤ Sexuelle Kindesmißhandlung. J. Kuehn-Velten / E. Motzkau 137 Kindheit (¤ Lebensalter; ¤ Kinderbewegung) Als Kindheit wird der Lebensabschnitt von der Geburt bis zum Übergang in das Jugendalter bezeichnet. Sie umfaßt verschiedene Phasen, die sich auf das jeweilige Alter (Säuglings-, Kleinkind-, Schulkindalter) und auf die mit dem Alter verbundenen Entwicklungsstufen beziehen. In der Kindheit werden die Grundlagen der Persönlichkeit geformt und die Kinder auf das Leben der Erwachsenen vorbereitet. Die Bedeutung und Gestaltung von Kindheit ist starken historischen Wandlungen unterworfen: Das Verhältnis von privater (familiärer) und öffentlicher Erziehung, die gesellschaftlich vorherrschenden Leitbilder von Kindsein und Erziehung sowie die sozioökonomischen Lebensbedingungen von Kindern variieren je nach Gesellschaftstypus und Epoche. Kindheit in Deutschland ist gekennzeichnet von heterogenen ¤ Lebenslagen und einer Vielzahl von Erziehungs- und Sozialisations-Instanzen neben der Familie. Kindheit in Rußland ist derzeit von gravierenden gesellschaftlichen Veränderungen geprägt (sinkender Lebensstandard und hohe Arbeitslosigkeit der Eltern, sinkende Geburtenraten, steigende Zahl von Scheidungen, unehelichen Geburten etc.). Dies führt zu vermehrten Verhaltensauffälligkeiten bei Kindern und zu einer steigenden Zahl von Kindern, die ohne elterliche Fürsorge aufwachsen. Die staatliche Sozialpolitik versucht auf diese Entwicklungen zu reagieren, indem sie ¤ Gesetze zur Gewährleistung der Rechte und Interessen der Kinder im Einklang mit der UN-Kinderrechts-Konvention verabschiedet, ¤ spezielle Ausschüsse und soziale Dienstleistungen im Bereich der Hilfe für Kinder etabliert und ihre Tätigkeiten koordiniert, ¤ an der konzeptionellen Weiterentwicklung von Hilfeprogrammen für Kinder arbeitet. 138 Das Hauptprogramm für den sozialen Schutz von Kindern heißt „Kinder Rußlands“ und hat den Status eines Präsidentenprogramms erhalten. Es schließt folgende föderale Programme ein: „Behinderte Kinder“, „Waisenkinder“, „Kinder aus den Regionen des Hohen Nordens“, „Kinder von Tschernobyl“, „Vorbeugung der Vernachlässigung und der Kriminalität von Kindern“, „Entwicklung der Kindernahrungsindustrie“, „Sommererholung für Kinder“, „Gefahrlose Mutterschaft“ und auch „Begabte Kinder“. Weitere Programme sind im kirchlichen und privaten Bereich entwickelt worden, so z.B. das Programm „DOM − Kinderorden der Barmherzigkeit“ oder auch die Programme „Business Teenager“ und „Managerausbildung von Waisen“. Darüber hinaus wurden Organisationsformen entwickelt, die vor allem auf die Wahrung der Rechte von Kindern abzielen, wie etwa das „Kinderparlament“. S. Michailowa / H. Mogge-Grotjahn Klient In der sozialen Arbeit wird der Begriff „Klient“ synonym für die Begriffe Hilfebedürftiger, Hilfesuchender, Betroffener, Adressat, Benützer, Akteur, Bewohner verwendet. Der Klient der sozialen Arbeit ist definiert durch seine soziale Situation und seine Relation zum Sozialarbeiter. Es gibt zwei Arten sozialarbeiterischer Klientschaft: (a) freiwillige Klientschaft, (b) Pflichtklientschaft. Die freiwillige Klientschaft basiert auf dem freien Willen der Person, die durch ein soziales Problem belastet ist und die die Problemlösung dem Sozialarbeiter zutraut. Allerdings bezieht sich Freiwilligkeit nur auf frei im rechtlichen Sinne. In anderer Hinsicht mag der Klient unter realem Zwang stehen, die Klientschaft einzugehen, z.B. bei einer drohenden Zwangsräumung der Wohnung. Die Pflichtklientschaft ist behördlich oder gerichtlich durch einen formellen Rechtsakt ange139 ordnet. Das Verhältnis zwischen Sozialarbeiter und Klient ist ein Rechtsverhältnis. Der Sozialarbeiter, der z.B. als Vormund, Betreuer, Bewährungshelfer oder Pflegekinderaufsicht ernannt ist, hat damit ein Amt inne. Den Klienten und den Sozialarbeiter bindet ein rechtlich verpflichtender Auftrag. Der Sozialarbeiter ist der Aufsichtsinstanz formell Rechenschaft schuldig. Er kann sich seiner amtlichen Aufgabe nicht selbst entbinden. U. Zinda Klient- bzw. personenkonzentrierte Gesprächsführung Das klient- bzw. personenzentrierte Beratungsgespräch führt zur Verminderung oder Beseitigung von Beeinträchtigungen und Problemen persönlicher und zwischenmenschlicher Art aufgrund verbaler Kommunikation und sozialer Interaktion. Es ist hierfür eine vertrauensvolle Atmosphäre zu schaffen, die im Klienten eine positive Gefühlslage und angstfreies Erleben auslösen soll. Dies geschieht in erster Linie durch die Haltung des Beraters (Sozialarbeiters/Sozialpädagogen), die emotionale Wärme, positive Wertschätzung und Echtheit zum Ausdruck bringen soll. Beim Klienten entsteht dadurch das Gefühl, daß er angenommen und verstanden wird. Im Zusammenfassen und Widerspiegeln der von ihm geäußerten emotionalen Erlebnisinhalte wird der Klient zur weiteren spontanen Präsentation seiner (Problem-)Situation befähigt. Der Berater vertraut darauf, daß der Klient durch genügend Eigenkräfte in der Lage ist, seine Probleme zu erkennen und (s)eine Lösung zu finden. Carl Rogers (1902-1987) ist der Begründer dieses Konzeptes, das er als klientbzw. personenzentrierte Gesprächspsychotherapie auf der Grundlage seiner praktischen Erfahrungen als klinischer Psychologe entwickelt hat. Die humanistische Psychologie bot ihm die theoretische Basis. 140 Wichtige Prämissen seines Konzeptes sind, „daß niemand mehr als das Individuum selbst dazu berufen ist, seine Probleme zu erkennen“, und daß es sich bewußt werden muß, wie es sein Dasein verwirklichen will. Ferner, daß jeder Mensch über ein Potential von Fähigkeiten und Kräften verfügt, die es ihm gestatten, sich (weiter-) zu entwickeln, d. h. auch seine Problemsituation (selbständig) zu bewältigen, wenn seine Energie von ihm erkannt und (mit Hilfe des Beraters) in Richtung Problemlösung strukturiert werden kann. Aus diesem Grunde steht bei Rogers die Person (der Klient) im Mittelpunkt, nicht das Problem. Fremdbestimmung muß (weitgehend) ausscheiden; der Selbstklärung des Klienten gilt die Aufmerksamkeit. Aus diesen Gründen wird im Rahmen der klient- bzw. personenzentrierten Beratung von Therapeutenvariablen ausgegangen. Die wichtigsten sind: ¤ positive Wertschätzung und emotionale Wärme, die der Berater dem Klienten entgegenbringt (sie sollen angstmindemd und ermutigend auf den Klienten wirken); ¤ Echtheit und Selbstkongruenz des Beraters (sie sollen modellhaft wirken, den Klienten befähigen, Vertrauen zu fassen und offen Erfahrungen und Gefühle auszusprechen). ¤ Verbalisierung emotionaler Erlebnisinhalte (das soll die Selbstexploration des Klienten fördern, um die Problemsituation zu klären). Einschränkend sei angemerkt, daß dieses Beratungskonzept nicht anwendbar ist, wenn Klienten ausschließlich materielle Probleme oder Informationsdefizite haben. Im Rahmen sozialarbeiterischer/sozialpädagogischer Kontrollaufgaben oder 141 Auftragsangelegenheiten der Institution müssen andere (eventuell direktive) Interventionsformen ergänzend angewendet werden. Doch beispielsweise Ungewißheiten in Entscheidungsfragen, Bearbeitung persönlich belastender, traumatischer Situationen etc. können mit klient- bzw. personenzentrierter Gesprächsführung professionell angegangen werden. L. Haag Konflikt Der Begriff des Konfliktes wird in unterschiedlichen wissenschaftlichen Disziplinen verwendet. So versteht die Soziologie unter Konflikt eine Kollision von Interessen, Zielen und Meinungen bzw. Ideologien unterschiedlicher sozialer Gruppen oder Klassen. Der Behaviorismus definiert den Konflikt als ein Ergebnis von widersprüchlichen Reizen. In der Psychoanalyse bezeichnet Konflikt den Gegensatz zwischen verschiedenen Instanzen der Persönlichkeit (Es, Ich und Über-Ich). Neben persönlichen Konflikten (z.B. Rollenkonflikten) gibt es auch Konflikte zwischen Personen und/oder sozialen Gruppen bis hin zu ethnischen und staatlichen Konflikten. Konflikte unterscheiden sich hinsichtlich ihrer Ursachen und ihres Ausmaßes. Soziale Konflikte, d.h. Konflikte innerhalb oder zwischen Gruppen, verlaufen in bestimmten Phasen: von latenten Konflikten über konkrete Anlässe und Zwischenfälle. Zu diesen Phasen gehören auch verschiedene Stufen der Konfliktlösungsversuche (Appelle) und der Eskalation sowie schließlich der Konfliktlösung oder Verfestigung des Konfliktes. 142 Zur Konfliktlösung gibt es unterschiedliche Methoden, z.B. die Beratung einer oder aller involvierten Personen oder Gruppen, die schiedsrichterliche Lösung, oder die Lösung durch Verhandlungen. Jede Vermittlungs- und Konfliktlösungsform beruht auf methodisch aufeinander folgenden Schritten. J. Sagrebelnaja Kontrakt In der beratenden Sozialarbeit/Sozialpädagogik sowie in der Supervision ist der Kontrakt für alle Beteiligten ein struktursetzendes, verbindliches Regelsystem. Mit ihm werden Rahmenbedingungen für die gemeinsame Arbeit festgelegt. Bestandteile des Kontraktes sind Vereinbarungen über Ort, Dauer, Häufigkeit der Sitzungen, Zielsetzung, Material, Ansätze und Methoden der Arbeit, Rollen- und Funktionsabklärung sowie Verantwortung und Verpflichtungen der Prozeßbeteiligten, Umgang mit Verschwiegenheit beziehungsweise Grad der Öffnung gegenüber Außenstehenden, Kostenträger u.a. m. Der Kontrakt wird in ein oder zwei Sitzungen vor Beginn der Zusammenarbeit von Ratsuchendem und Sozialarbeiter/Sozialpädagogen erarbeitet. Im Verlauf des Prozesses der Zusammenarbeit kommt dem Kontrakt ein methodisch-didaktischer Stellenwert zu. Durch ihn werden die Richtung des Prozesses und die Beziehung der Prozeßbeteiligten kontrolliert. Durch Metakommunikation geschieht die Überprüfung und evtl. Veränderung des Kontraktes. U. Zinda 143 Konvention der Kinderrechte (UN-KRK) Die Konvention der Kinderrechte wurde von den Vereinten Nationen am 20. 11. 1989 verabschiedet und seitdem von fast allen Staaten der Welt unterzeichnet. In dieser Konvention wurden erstmals persönliche, politische, soziale, wirtschaftliche und kulturelle Rechte für Minderjährige definiert. Ziele der Konvention sind der Schutz des Kindes („protection“), seine Förderung („provision“) und seine Beteiligung („participation“). In insgesamt 54 Artikeln konkretisiert die Konvention, wie diese Ziele erreicht werden sollen; u.a. wird festgelegt, daß - kein Kind wegen seines Geschlechtes, seiner Staatsbürgerschaft, seiner Abstammung oder aufgrund von Behinderungen benachteiligt werden darf; - die Interessen der Kinder bei allen politischen und gesellschaftlichen Entscheidungen vorrangig berücksichtigt werden sollen; - allen Kindern eine Grundversorgung mit sozialen Diensten und damit das Recht auf Überleben und persönliche Entwicklung garantiert werden soll; - Kinder ihre Meinung frei äußern dürfen, bei den Erwachsenen Gehör finden und ihrem Alter entsprechend an Entscheidungen beteiligt werden sollen. Alle Staaten, die die UN-Kinderrechts-Konvention unterzeichnet haben, sind zu regelmäßigen Berichten über die Situation der Kinder im eigenen Land verpflichtet. Allerdings ist damit noch nichts über die Verbindlichkeit der Anwendung und Umsetzung der Kinderrechte ausgesagt. Für die soziale und pädagogische Arbeit bedeutet die Kinderrechts-Konvention eine zweifache Herausforderung: erstens ist die professionelle Arbeit mit Kindern an dieser Konvention zu messen, zweitens sollten SozialarbeiterInnen und PädagogInnen dazu beitragen, daß die Konvention in Politik und Gesellschaft umgesetzt wird. H. Mogge-Grotjahn 144 Körperliche Kindesmißhandlung liegt vor, wenn durch körperliche Gewaltanwendung Kindern ernsthafte, vorübergehende oder bleibende Verletzungen oder der Tod zugefügt werden. Von Kindesmißhandlung spricht man, wenn gewalttätiges Verhalten der Eltern oder anderer erziehender Personen wesentlicher Bestandteil der Erziehung ist. Formen gewalttätigen Handelns sind in der Regel für verschiedene Altersgruppen der Kinder unterschiedlich und typisch: - Mißhandlungen bei Säuglingen und Kleinkindern: vorwiegend als Schütteltrauma (Gehirnblutungen), Werfen und Mit-dem-Kopf-Aufschlagen (Brüche, Hämatome, lebensbedrohliche Verletzungen), Verbrennen mit Zigaretten, Verbrühen, Erstickungsversuche, Vergiftungen (Medikamente); - Mißhandlungen bei Kindergarten- und Schulkindern: vorwiegend als Schlagen mit Gegenständen, Strangulieren, Schnittverletzungen, Verbrennungen z.B. mit Zigaretten, Beißen, Treten (typische Hämatomausprägung und Verletzungszeichen, Augenblutungen); - Mißhandlungen bei Jugendlichen: vorwiegend als Schläge, Tritte, Verletzungen mit Gegenständen, oft auch eskaliert durch die gelegentliche Gegenwehr der Jugendlichen. Je jünger die Kinder sind, umso weniger ist die Gewalt ein Ausdruck von Kommunikation (z.B. Schlagen als Strafe für Ungehorsam), sondern umso mehr Ausdruck von Hilflosigkeit und Wut (etwa Schlagen, um den schreienden Säugling zum Schweigen zu bringen), so daß oft schwerere Verletzungen die Folge sind. Für den Schutz der Kinder ist die Unterscheidung zwischen „instrumenteller“ Gewalt und „expressiver“ Gewalt wichtig. Instrumentelle Gewalt ist Ausdruck von Macht und wird ziel- und zweckgerichtet eingesetzt. Expressive Gewalt tritt als typische „Entladung“ in sich wiederholenden, von Frustration und Ärger aufgeladenen und eskalierenden kommunikativen Schleifen auf. 145 Ursachen von körperlicher Gewalt können liegen in: persönlichkeitsbedingten Merkmalen (nicht gelingende Konzepte von Streßbewältigung, Machtorientierung, auch kompensatorisch für Selbstunwertgefühle, Weitergabe eigener Mißhandlungserfahrungen, Defizite kommunikativer Fähigkeiten, Abhängigkeit), strukturell-familialen Merkmalen („Sündenbock“-Rolle, fehlende Generationengrenzen, familiale Abhängigkeit, soziale Risikofaktoren), strukturell- gesellschaftlichen Merkmalen (Rolle der männlichen Dominanz, Wertigkeit von Kindern und schwächeren Mitgliedern der Gesellschaft, Möglichkeit zur Kontrolle von Macht und ¤ Aggression). Folgen von körperlicher Mißhandlung können sein: Verletzungen, dauerhafte Schädigungen und Behinderungen sowie Tod. Die seelischen Folgen sind grundsätzlich abhängig vom Alter des Kindes zum Zeitpunkt der Traumatisierung, von der Dauer und von der Schwere der Mißhandlung: emotionale Verunsicherung und (existentielle) Ängstlichkeit, Scham- und Schuldgefühle, Gefühle von Ohnmacht und Erniedrigung, gestörtes Realitätserleben, Impulsivität und Neigung zu eruptiver Aggression, sozialer Rückzug und depressive Entwicklung, Störung in der Entwicklung eines stabilen Selbstkonzeptes und Selbstwertgefühls. In der Regel sprechen Kinder nicht über ihr Mißhandlungserleben, obwohl jeder innerhalb der Familie darüber weiß, und folgen damit dem Tabuisierungsgebot der Familie. In diesem Zusammenhang neigen Helfer dazu, Mißhandlungsfolgen zu übersehen. Bei der Hilfeplanung steht der Schutz des Kindes an oberster Stelle. Zu unterscheiden ist dann zwischen eher familienorientierten Hilfemaßnahmen bei expressiver Gewalt und schützenden, trennenden und gegebenenfalls einzeltherapeutischen Maßnahmen bei instrumenteller Gewalt. Die Hilfen müssen multiprofessionell und in institutioneller Vernetzung erfolgen. Das Einbinden der rechtlichen Institutionen hat unter dem vordringlichen Aspekt des Kindeswohls zu geschehen. J. Kuehn-Velten / E. Motzkau 146 Korrektionspädagogik (Sonderpädagogik) Die Korrektionspädagogik oder Sonderpädagogik (¤ Heilpädagogik) beschäftigt sich mit Theorie und Praxis der Bildung von Personen, deren körperliche und/oder psychische Entwicklung gestört ist und bei denen allgemeine pädagogische Methoden und Maßnahmen nicht greifen. Mit der allgemeinen Pädagogik teilt sie das Ziel, die Entwicklung der Persönlichkeit und die Fähigkeit zur Selbstverwirklichung zu fördern, um Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten zu größtmöglicher Selbständigkeit und unabhängiger Lebensgestaltung zu befähigen. Eine Behebung der Störungen, ihre Kompensation mit pädagogischen Mitteln, Förderung der Fähigkeiten (vor allem bei Säuglingen und Kleinkindern) sowie soziale und persönliche Rehabilitation, die das Selbstwertgefühl stärken und das Erlernen bestimmter Verhaltensnormen fördern soll, gehören zu den Zielen der Korrektionspädagogik, die ein breites Aufgabenfeld zu bewältigen hat. Dazu zählen unter anderem: - die Erforschung pädagogischer Grundmuster der Persönlichkeitsentwicklung bei Personen mit eingeschränkten Möglichkeiten und der Aufbau eines Klassifikationssystems; - die Erarbeitung eines sonderpädagogischen Maßnahmenkatalogs in Bezug auf je eigene konkrete Beeinträchtigungen; - die Evaluation der allgemeinen sonderpädagogischen Systeme; - die Entwicklung neuer pädagogischer Systeme mit der Erarbeitung wissenschaftlicher Grundlagen für die Bildungsinhalte, Ziele, Methoden und administrativen Rahmenbedingungen der Sonderpädagogik; - die Erarbeitung von geeigneten Maßnahmen zur Rehabilitation und Integration in verschiedenen Lebensphasen; - die Erarbeitung von Programmen der Berufsorientierung, -beratung und ausbildung sowie der beruflichen Wiedereingliederung; - die Erarbeitung von Methoden zur Prävention von Entwicklungsstörungen; 147 - die psychologische und pädagogische Beratung von Eltern von Kindern mit unterschiedlichen Graden von körperlichen und/oder geistigen Behinderungen. J. Kanischtschewa Krankenversicherung in Deutschland In Deutschland gibt es einen weitgehenden Schutz gegen das Risiko Krankheit. Die Gesetzliche Krankenversicherung (GKV) ist der älteste Zweig der Sozialversicherung (¤ Sozialversicherung), sie wurde per Gesetz bereits 1883 eingeführt. Alle Arbeiter und Angestellten unterliegen der Versicherungspflicht, es sei denn, sie überschreiten mit ihrem Bruttoeinkommen eine festgelegte Versicherungspflichtgrenze. Aber auch dann können sie freiwillig in der GKV versichert bleiben. Daneben sind Rentner, Studierende, Arbeitslose, die Arbeitslosenunterstützung erhalten, Behinderte in geschützten Einrichtungen u.a.m. pflichtversichert. Unterhaltsberechtigte Familienangehörige sind entsprechend dem in der GKV besonders ausgeprägten Solidarprinzip mitversichert. So sind zusammengenommen knapp 90 Prozent der Wohnbevölkerung in der Bundesrepublik Deutschland von der GKV erfasst. Neben der GKV gibt es zahlreiche Private Krankenversicherungen (PKV). Diese unterliegen im Rahmen der allgemeinen staatlichen Aufsicht über das private Versicherungswesen der staatlichen Kontrolle. Derzeit sind ca. 7 Mill. Personen in der PKV (mithin ca. 9,1 Prozent der Wohnbevölkerung) vollversichert. Weitere 7 Mio. Personen, die in der GKV versichert sind, haben eine private Zusatzversicherung, meistens für den stationären Aufenthalt. In der GKV und der PKV ist somit fast die gesamte Wohnbevölkerung erfasst. Lediglich ca. 2,3 Prozent der Bevölkerung sind anderweitig abgesichert (z.B. Angehörige der Bundeswehr, Zivildienstleistende, Sozialhilfeempfänger). 148 Die Gesetzliche Krankenversicherung bildet vom Volumen her den größten Sektor im Bereich der Krankenversicherung. Vorrangig gilt hier das Sachleistungsund das Solidarprinzip: Der Versicherte erhält die Leistungen im Gesundheitswesen unmittelbar als Dienst- oder Sachleistung zur Verfügung gestellt, unabhängig von der absoluten Höhe des geleisteten Versicherungsbeitrages. Abgesehen vom Krankengeld, das als Lohnersatzleistung nur an Beitragszahler ausgezahlt werden kann, erhalten auch alle Familienversicherten die gleichen Leistungen wie die Versicherten selbst. Im einzelnen meint dieses: ärztliche Dienste, Medikamente, Heil- und Hilfsmittel, Zahnersatz, stationäre Aufenthalte im Krankenhaus aber auch vorbeugende Gesundheitsangebote (Vorsorgeuntersuchungen). Des weiteren gehören die ärztliche Beratung zur Empfängnisverhütung, bei Sterilisation und ärztliche Hilfen beim Schwangerschaftsabbruch zum Leistungskatalog der GKV. Und schließlich können unter bestimmten Bedingungen häusliche Krankenpflege und eine Haushaltshilfe gewährt werden. Dabei ist der Arzt die zentrale Steuerungsinstanz. Er stellt nicht nur die Diagnose und legt die Therapie fest, sondern bestimmt maßgeblich die Kosten im Gesundheitswesen. Dem den Ärzten auferlegten „Wirtschaftlichkeitsgebot“, wonach bei vorhandenen Alternativen die günstigere, gleichwohl zweckmäßige und ausreichende Leistung verordnet werden soll, ist aus einer Vielzahl von Gründen im Regelfall nicht gefolgt worden. Die GKV steht daher periodisch immer wieder vor explosionsartigen Kostensteigerungen, die den vorhandenen Finanzspielraum sprengen. Träger der GKV sind ca. 430 eigenständige Krankenversicherungen, die teils betrieblich, teils lokal, teils regional, teils bundesweit und teils auf bestimmte Personenkreise ausgerichtet sind. Diese Krankenkassen sind für den Einzug und die Verwaltung der Versichertenbeiträge zuständig, die sich als Prozentsatz vom Lohn des Versicherten bestimmen und in der Regel vom Arbeitgeber und Arbeitnehmer 149 jeweils zu 50 Prozent aufgebracht werden. Die Krankenkassen sind für die Leistungserbringer im Gesundheitswesen (Krankenhäuser, Ärzte, Apotheken, medizinische Dienste, etc.) die zentrale Abrechnungsstelle, was zur Folge hat, der Versicherte /Patient zwar bekommt, was vom Arzt verordnet wird, aber nichts über die tatsächlichen Kosten seiner Behandlung erfährt. Die Zusammensetzung der Mitglieder (Alter, Beruf, Vorerkrankungen, Lebensumstände, etc.) bestimmt die Risikostruktur der einzelnen Kassen und damit deren Ausgaben für Gesundheitsleistungen. Die Allgemeinen Ortskrankenkassen weisen in der Regel die ungünstigste Mitgliederstruktur auf, weil sie verpflichtet sind, alle Beitrittswilligen aufzunehmen; während die sog. Ersatzkassen ihren Mitgliederbestand stärker nach „guten“ und „schlechten“ Risiken sortieren können. Infolgedessen variieren die Beitragssätze der Krankenkassen zum Teil beachtlich. Deshalb erfolgt nunmehr analog zur Gesetzlichen Rentenversicherung ein bundesweiter kassenartenübergreifender Risikostrukturausgleich, durch den zwischen den KK ein Finanzausgleich zwischen stattfindet. In der PKV geht der Versicherte/Patient ein privatrechtliches Verhältnis mit jedem Leistungsanbieter ein. Er muss dessen Rechnung zunächst selbst bezahlen, reicht die Rechnung bei der privaten Krankenversicherung ein und bekommt, je nach Versicherungstarif, alles oder Teile dieses Rechnungsbetrages von der Versicherung zurück. Für den Fall eines nicht ausreichenden Versicherungsschutzes verbleiben die Restkosten beim Patienten, umgekehrt werden ihm die Leistungsanbieter keine Leistungen verwehren, die der Patient wünscht. Der Versicherte/Patient kann bei der PKV Wahlleistungen vereinbaren, was bei der GKV nicht möglich ist. Die PKV fragt im übrigen nicht danach, wie der Versicherte seinen Beitrag aufbringt, ob er dabei Teile etwa vom Arbeitgeber erstattet bekommt und wie hoch er sich versichert. In Deutschland ist es zu einer kontroversen Diskussion über die Fortentwicklung der GKV gekommen. Insbesondere wirtschaftsliberal ausgerichtete Kreise wollen noch mehr marktwirtschaftliche Prinzipien im Gesundheitswesen verwirklichen. Sie zielen auf eine Differenzierung zwischen einer medizinischen Grundversorgung, die im Rahmen einer Sozialversicherung geleistet werden solle, und darüber hinaus gehenden Leistungsstandards, für die der einzelne selber Versorge tragen 150 müsse, etwa durch private Zusatzversicherungen. Dadurch solle die Eigenverantwortung des einzelnen für seine Gesundheit gestärkt werden. Zwischen den einzelnen Leistungsanbietern solle es überdies zu mehr Preiswettbewerb kommen. Es wird also versucht, Elemente der PKV noch stärker als bislang mit der GKV zu verbinden. Daraus erwächst zunehmend die Gefahr einer Zwei-KlassenVersorgung im Gesundheitswesen, nämlich einer für die einkommensmäßig Bessergestellten, die sich eine private Zusatzversorgung leisten können, und jenen, die nur eine Grundversorgung haben werden. J. Boeckh, E.-U. Huster Kulturelle Bildungsarbeit (Sozialkulturelle Arbeit) ist ein wichtiger Handlungsansatz der sozialen Arbeit. Sie ist stark ausgeprägt in sozialpädagogischen Arbeitsfeldern. Kulturelle Bildungs-arbeit bedient sich vorrangig der Mittel ästhetischer Wahrnehmung und Ausdrucks in vielen Formen als Theater-, Bewegungs-, Musik-, Sprache- und Bilderaktionen. So kann der Inhalt der Arbeit mit Behinderten die Gründung einer Musikband, der Arbeit mit Strafgefangenen einer Tanz- oder Bewegungsgruppe, mit Gewaltopfern einer FilmArbeitsgemeinschaft sein u.a. m. Angebote der Kulturellen Bildungsarbeit als soziale Arbeit gelten als hoch veränderungswirksam, weil sie mehrere Funktionen erfüllen kann: Sie bietet im besonderen Maße Benachteiligten, nicht besonders sprechgewohnten oder -fähigen Menschen, wenig entwickelten oder retardierten Personen adäquate Möglichkeiten zu bewußter Darstellung und Auseinandersetzung mit ihrer Lebenslage (z.B. als Theatergruppe von Arbeitslosen, Erstellen einer Fotoserie durch Alkoholiker u.a.). Sie ermöglicht es, Alternativen zur bestehenden Lebenslage zu erarbeiten (etwa in 151 Form einer Bildcollage) und an die Öffentlichkeit zu treten (beispielsweise innerhalb eines Wohnquartiers oder einer Anstalt). Durch die projektförmige Arbeit, die ein gemeinsames Planen, Realisieren und Auswerten beinhaltet, können die Beteiligten die Erfahrung machen, in ihrer Lage nicht allein zu sein, gebraucht zu werden und kein Versager oder für immer Ausgegrenzter zu sein. Kulturelle Bildungsarbeit hat vor allem in den Bereichen Jugendarbeit, Arbeit mit Behinderten, alten Menschen und mit Frauen und Mädchen einen hoch entwikkelten Standard und gehört dort zum Grundbestand entwickelter sozialer Arbeit. M. Bellermann Kunsttherapie ¤ Arttherapie Lebensalter und Lebensphasen Das menschliche Leben kann in verschiedene Abschnitte eingeteilt werden, die an das jeweilige Lebensalter geknüpft sind. Zur Einteilung gibt es verschiedene Modelle. Ein einfaches Modell kennt nur drei Lebensalter: ¤ „Kindheit“, ¤ „Jugend“, „Erwachsensein“. Komplexere Modelle unterteilen folgende Lebensalter: „Kindheit“ (von der Geburt bis zur Vorpubertät = circa 12 Jahre); „Jugend“ (von der Pubertät bis zur Volljährigkeit = circa 13 bis 18 Jahre); „Heranwachsende“ (18 bis 21 Jahre, evtl. auch bis zur Erreichung ökonomischer Unabhängigkeit und/oder der Gründung einer eigenen Familie); „Erwachsene“ (vom Ende des Status der Heranwachsenden bis zum Rentenalter und/oder dem Auszug der Kinder); „junge Alte“ (vom Beginn des Rentenalters bis circa 70 Jahre); „Alte“ (von circa 70 bis circa 80 Jahre); „Hochbetagte“ (von circa 80 Jahren bis zum Tod) (¤ Alter). 152 Der Begriff der Lebensphase bezieht sich auf biographisch bedeutsame Abschnitte im Lebenslauf. Lebensphasen können mit Lebensaltern identisch sein, müssen dies aber nicht. Beispielsweise kann es innerhalb des Erwachsenenalters Phasen geben, in denen die Familienform sich ändert (Scheidung, Stieffamilie etc.) oder in denen der ¤ Status sich verändert (z.B. durch Arbeitslosigkeit). H. Mogge-Grotjahn Lebenslage Der Begriff der Lebenslage will den tatsächlichen Grad der Versorgung mit materiellen und immateriellen Gütern, des Zugangs zu den in einer Gesellschaft vorhandenen Chancen und Möglichkeiten bestimmen. Dabei geht es zum einen um die tatsächliche Lebenslage eines konkreten Menschen, einer konkreten Gruppe, aber auch um die Sozialstrukturanalyse der Gesamtgesellschaft. Der Begriff der Lebenslage umfaßt alle Lebensbereiche, die in einer Gesellschaft wichtig sind, ökonomische, nichtökonomische und immaterielle Dimensionen (z.B. das Niveau des Einkommens, die Qualität der Wohnung, die Möglichkeiten der Beteiligung am Bildungs- und Ausbildungswesen, Art und Umfang der Beteiligung am Erwerbsarbeitsleben, die Chancen eines Erhalts der Gesundheit bzw. der Zugang zu gesundheitsrelevanten Leistungen, das persönliche Wohlbefinden u.a. m.). Der Begriff der Lebenslage ist folglich multidimensional. Dem Haushaltseinkommen kommt dabei ein besonderes Gewicht zu. Die Unterversorgung in diesen Bereichen der Lebenslage kennzeichnet dann ab einem bestimmten Grad eine Armutslage. Der Begriff der Lebenslage geht sowohl über den Klassenbegriff, der die soziale Stellung des einzelnen lediglich aus dem Besitz bzw. dem Nichtbesitz von Produktionsmitteln erklärt, als auch über soziologische Schichtenmodelle hinaus, die mehr oder weniger privilegierte Lebensverhältnisse vertikal auf der Grundlage einer nur begrenzten Zahl von Bestimmungsfaktoren abstufen. 153 Beim Lebenslagebegriff geht es letztlich um die Bestimmung von Handlungsspielräumen des einzelnen, einer Gruppe und in der Gesellschaft. Wie groß ist der Versorgungs- und Einkommensspielraum, der Kontakt- und Kooperationsspielraum, der Lern- und Erfahrungsspielraum, der Muße- und Regenerationsspielraum sowie der Dispositions- und Partizipationsspielraum? Die Stoßrichtung dieses Konzepts weist in Richtung eines gesellschaftlichen Reformprozesses, der Benachteiligungen überwinden und soziale Beeinträchtigen beseitigen will. Insofern fordert das Konzept der Lebenslage sozialstaatliche Steuerungen zur Überwindung defizitärer Lebenslagen. E.-U. Huster Lebenswelt ¤ Alltag Lernen Im Alltag spricht man nur dann von Lernen, wenn eine Person absichtlich und zudem mit mehr oder weniger großer Anstrengung darum bemüht ist, bestimmte Fertigkeiten, Kenntnisse oder Fähigkeiten zu erwerben oder zu verbessern. Lernen im vorwissenschaftlichen Sinne impliziert daher stets eine Leistungssteigerung. In der Lernpsychologie geht man davon aus, daß der eigentliche Lernvorgang nicht sichtbar ist. Man kann den Lernvorgang daher nur indirekt und zwar an den Reaktionen oder Leistungen einer Person erkennen. Dies ist für die Theoretiker unbefriedigend, denn diese wollen herausfinden, wie sich Lernen im Inneren einer Person abspielt. Auf der theoretischen Ebene werden daher die nicht sichtbaren, aufgrund von wissenschaftlichen Studien erschlossenen Lernprozesse erörtert. Auch werden auf dieser Basis Lernbedingungen diskutiert, die von der jeweiligen Lerntheorie als grundlegend für das Lernen angesehen werden. Weil eine Vielzahl von Einflußfaktoren auf den Lernprozeß einwirken können und, wie bereits er154 wähnt, der eigentliche Lernvorgang nicht beobachtbar ist, sind von den Fachleuten zahlreiche unterschiedliche Ansichten entwickelt worden, die in verschiedenartigsten Lerntheorien zum Ausdruck kamen. Die wichtigsten Lerntheorien, denen je unterschiedliche theoretische Definitionen des Lernens zugrunde liegen, sind die folgenden: (a) Das Klassische Konditionieren nach Pawlow, (b) Das Instrumentelle Konditionieren nach Skinner, (c) Das Lernen am Modell nach Bandura, (d) Die kognitiven Lernmodelle nach Tolman oder Bandura. Weniger Schwierigkeiten bestehen, wenn man sich bei der Begriffsbestimmung von Lernen auf die faktische Ebene, d. h. auf objektiv beobachtbare Begebenheiten bezieht. So unterscheidet bereits Kimble (1961) zwei verschiedene Dimensionen des Lernens: die faktische und die theoretische Definitionsebene. Eine faktische Definition, die stellvertretend für viele andere stehen kann, lautet in Anlehnung an Kimble: „Unter Lernen versteht man jede relativ überdauernde Veränderung des Verhaltens bzw. des Verhaltenspotentials, die durch Übung oder Beobachtung zustande kommt. Die Veränderung darf jedoch nicht durch angeborene Reaktionstendenzen, Reifung oder temporäre organische Zustände hervorgerufen sein.“ Im Unterschied zur umgangssprachlichen sieht die faktisch-psychologische Definition kurzfristige Veränderungen nicht als Ausdruck eines Lernerfolges an; auch sind Anstrengung und Leistungssteigerung keine hinreichenden Kriterien, die auf Lernen schließen lassen. Es kann auch gelernt worden sein, wenn momentan keine sichtbare Verhaltensänderung festzustellen ist. H.-P. Steden 155 Logopädie (aus dem Griechischen logos = Wort, Rede, Vernunft und paideia = Erziehung, Bildungsideal) beschäftigt sich mit Sprachstörungen und Methoden zur Prävention, Früherkennung und Therapie mit Hilfe sonderpädagogischer Maßnahmen. Zunächst als Forschungsobjekt rein medizinischer Wissenschaftsbereiche, wurde die „Lehre von der Sprachpathologie/Logopathologie“ in der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts (nach dem Erscheinen des Buches „Sprachstörungen“ von A. Kussmaul 1877) zu einer selbstständigen Wissenschaft. In Russland befassten sich H. Lagusin (1838), W. Tarkowskij (1867), A. Koshewnikow und I. Sikorskij (1889) als erste mit der Sprachpathologie. Um die Wende vom 19. zum 20. Jahrhundert entwickelte sich dann die Logopädie als interdisziplinäre Wissenschaft im Grenzbereich von Medizin, Psychologie und Pädagogik. Die moderne Logopädie als Sonderpädagogik befasst sich mit dem ganzen Altersspektrum von der Vorschule über die Schule bis zu Jugendlichen und Erwachsenen. Grundlage der Logopädie als Wissenschaft sind die Sprache als gemeinsames, alle Angehörigen einer Sprachgemeinschaft verbindendes Medium und die herausragende Rolle der Sprachfähigkeit bei Persönlichkeitsentwicklung und Lebensgestaltung. Sprach- und Sprechstörungen, also Abweichungen von der allgemeinen Sprachnorm der Umgebung, verursachen in unterschiedlichem Grad eine Desintegration der gesamten Psyche; sie schränken nicht nur die Verständigungsmöglichkeiten ein, sondern beeinflussen auch die Erkenntnisprozesse und wirken sich negativ auf Emotionalität und Willensbildung aus. Je nach Ursache, Ausprägung und Auswirkungen der Störung auf andere Bereiche umfassen Sprachstörungen ein breites Spektrum. In Russland werden zwei Hauptklassifikationen unterschieden: klinisch-pädagogische sowie psychologisch-pädagogische. Bei klinisch-pädagogischen Sprachstörungen - wie etwa der Disphonie (Aphonie), Bradylalie, dem Stottern, der Rhinolalie, Dysarthrie, Alalia, Aphasie - gibt es einen breiten therapeutischen Ansatz aufgrund klinischer und psychologischlinguistischer Kriterien, der stetig weiterentwickelt wird. Die psychologischpädagogische Klassifikation betrifft die Ausbildung und Erziehung sprachbehin156 derter Kinder. Die Sprachstörungen werden nach psychologischen und linguistischen Kriterien in zwei Gruppen eingeteilt: Phonetisch-phonematische Entwicklungshemmungen und allgemeine fehlende Sprachentwicklung; sowie Stottern, also schwere Störungen der kommunikativen Sprachfunktion bei grundsätzlicher Fähigkeit zur sprachlichen Äußerung. S. Ignatjewa, L. Garanina, J. Rossijskaja Logotherapie Nach den verschiedenen Bedeutungen des Begriffs logos (aus dem Griechischen = Wort, Bedeutung, Sinn und therapeia = Fürsorge, Pflege, Behandlung) wird die Logotherapie von W. Kowalew als ein breites Spektrum therapeutischer Methoden mit Hilfe der Sprache bezeichnet (= „Wort“). Ziel der von Viktor E. Frankl begründeten psychotherapeutischen Methode ist eine Harmonisierung der Wertesysteme der Persönlichkeit (= „Sinn“). Zudem bezeichnet der Begriff die Gesamtheit psychotherapeutischer Methoden, die zur Therapierung von Sprachstörungen neurotischer Art angewandt werden. Dabei ist - je nach der besonderen Situation auf eine differenzierte Verwendung des Begriffs zu achten. S. Ignatjewa, L. Garanina, J. Rossijskaja Medienpädagogik Medienpädagogik (MP) als Überbegriff für pädagogisch relevante Überlegungen über Massenmedien und andere Medien wird auch als Sammelbegriff für Mediendidaktik, Medienerziehung, Medienkunde und aktive Medienarbeit verwendet, hat die Vermittlung von Medienkompetenz zum Ziel. Der mit dem Terminus Pädagogik kombinierte Begriff ist mehrdeutig, in der Fachliteratur haben sich Termini 157 etabliert, die strukturieren. Audiovisuelle (AV-)Medien sind Kommunikationsmittel zur Verbreitung von Informationen und Unterhaltung, die über Hörfunk und Fernsehen ausgestrahlt oder als Medienprodukte (Videocassetten, Bildplatten, CD usf.) einzelnen, Gruppen oder Massen angeboten werden. Mediendidaktik ist der Weg, pädagogische Ziele mit Hilfe von Medien (Lernmittel) wie Overhead, Film usf. zu erreichen, Schülern den Lernprozess zu erleichtern. Medienkunde zeigt das Funktionieren der (Massen-)Medien auf, das technische Know-how, die Institutionen, Strukturen und rechtliche Verfasstheit. Medienerziehung beschäftigt sich mit der Auswahl, Einschätzung und Nutzung gesellschaftlich relevanter Medien in der schulischen und außerschulischen Bildung, beschränkt sich nicht auf die Vermittlung von Fakten über Medien oder Analysen einzelner Medienprodukte. Die Kommunikationswissenschaft untersucht Presse, Film, Hörfunk und Fernsehen, Medienorganisationen und -systeme, Wirkungen von Medien und die Kommunikation von Individuen. Die Anpassung des Fernsehens an westliche „Vorbilder“ durch Übernahme oder Nachahmung primitiver, gewaltorientierter Filme und von soap-operas mit häufigen Unterbrechungen durch Werbung und das Senden von Shows auf niedrigem Niveau beeinflussen auch in Russland tradierte Verhaltensweisen von Kindern und Jugendlichen, stellen pädagogische Bemühungen in Frage. Stundenlanges Fernsehen (Vielseher: über 3,5 Stunden pro Tag), Computerspiele usf. können bei Kindern und Jugendlichen zu Haltungsschäden, Konzentrationsstörungen und Nervosität führen, bes. bei mangelnder Betreuung (Problemfamilien, Alkoholiker); soziale Probleme und Schädigungen durch den ‘Erzieher‘ Bildschirm schaukeln sich hoch. Warnungen vor zuviel Fernsehen (bewahrende MP) haben nur Erfolg, wenn sich jemand mit den Kindern beschäftigt; bloße Verbote treiben sie zu Freunden, wo sie unkontrolliert schauen. In der Kinder- und Jugendarbeit hat sich die aktive Medienarbeit bewährt, die auf handelndem Lernen in sozialer Realität beruht, ein schöpferischer Prozess ist. Im Umgang mit Medien erlernen Kinder und Jugendliche Know-how, Funktionsweise der Medien und positive Nutzungsmöglichkeiten, setzen sich als aktive, mitverantwortliche Produzenten mit Mediengestaltung und -wirkung auseinander, nicht als passive Konsumenten vorgefertigter Angebote. Richtungen: a) Orientie158 rung an journalistischen Kriterien und Standards, stark inhaltsbezogen, die Produktionen sind für eine breitere Öffentlichkeit bestimmt (Jugendradio-Initiativen); b) Orientierung an Lebenserfahrungen und am Ausdrucksvermögen Jugendlicher, der Prozess der Medienproduktion steht im Mittelpunkt; c) Orientierung an der den Jugendlichen medial vermittelten Welt, die produzierten Beiträge oder Videoclips knüpfen an ihre Fernsehgewohnheiten an. Alle Richtungen haben Medienkompetenz zum Ziel, die weit mehr ist als die Fertigkeit, Computer oder andere Medien zu bedienen: Erweiterung der Handlungsfähigkeit durch reflexive Beschäftigung mit Medienprodukten und Eigenproduktionen; Erlernen bewusster Kommunikationsfähigkeit durch verbale oder aktive Methoden der Auseinandersetzung; Fähigkeit, eigene Interessen zu erkennen und kreativ umzusetzen; Erwerb von Verhaltenssicherheit in unterschiedlichen sozialen Situationen; Umsetzung eigenen Erlebens und eigener Probleme in Wort und Bild. Pädagogen drehen mit Kindern und Jugendlichen in entsprechend ausgestatteten Schulen, Jugendzentren oder mit Hilfe des Stadtfernsehens kleine Videofilme. Allerdings werden die erforderlichen Kompetenzen nur an wenigen Hochschulen vermittelt: Vertrautheit mit den Funktionen der Geräte; Übersicht (roter Faden) und Einteilung der Arbeit in übersichtliche Schritte; Festlegung, wer was wann machen soll; das Machbare aufzeigen; sich zurückziehen, sobald Jugendliche allein zurecht kommen. Zum Einstieg gegenseitige Aufnahmen mit Interviews, Jugendliche sehen und hören sich zum ersten Mal am Monitor, sind bereit, sich damit auseinanderzusetzen; Nebeneffekte stellen sich ein, z.B. nimmt ein Jugendlicher die verstaubte Gitarre von der Wand, spielt für den Kurzkrimi ein paar Takte unheimlicher Musik; Medienarbeit macht Spaß, Kinder und Jugendliche übernehmen Rollen, verkleiden sich, stellen die Problematik von Außenseitern (Ausländer, Behinderte) dar, lernen spielerisch Toleranz; die Vorführung des Films am Ende ist der Lohn (produktorientierte Motivation). Die aktive Medienarbeit vermittelt jungen Menschen Wahrnehmungskompetenz (Strukturen, Gestaltungs- und Wirkungsmöglichkeiten durchschauen), Nutzungskompetenz (Medien und ihre Angebote zielgerichtet nutzen) und Handlungskompetenz (Medien als Ausdruck ihrer Persönlichkeit, Interessen und Anliegen aktiv gestalten). MP als Mittel der Öffentlichkeitsarbeit: Filme über soziale Einrichtungen oder Problemfälle werden geladenen Gästen gezeigt, z.B. Sponsoren die Arbeit in ei159 nem Kindergarten; sie erkennen die verbesserte pädagogische Arbeit durch ihre Spende; kommen im Film ihre Kinder vor, öffnen sich ihre Herzen, vielleicht auch ihr Geldbeutel für notwendige Investitionen. Tage der offenen Tür eignen sich für die Vorführung eines kurzen Films über die Einrichtung und ihre Klienten Pluspunkte bei Stadtverwaltung oder anderen Entscheidungsträgern. Die erforderliche Ausrüstung ist durch die Verbindung von Video und Computer erschwinglicher geworden. Effektive Medienarbeit erfordert vom Anleiter handwerkliches Können, gezielte pädagogische Arbeit, Kreativität sowie die Fähigkeit, eine Idee (realistische Erwartungen!) filmisch umzusetzen. Bedeutung für die Mediendidaktik: Häufige Besuchergruppen stören die Arbeit in Gefängnissen, Hospizen, psychiatrischen Einrichtungen, Behindertenwerkstätten usf., sind wegen des Klientenschutzes unerwünscht; die Herstellung von Lehrfilmen über Einrichtungen (wo Studenten ihre Praxis ableisten) ist eine Alternative. Medienarbeit erzieht Studenten zur Teamarbeit, einer ist auf den anderen angewiesen; Verlässlichkeit, Pünktlichkeit u.a. traditionelle Tugenden werden ebenso trainiert wie Kreativität und Flexibilität; spätestens am Schneidetisch spielen sich interessante gruppendynamische Prozesse bei der Auseinandersetzung ab, was weggeschnitten wird. F. Schmidt Mediation ist ein außergerichtliches Verfahren zur Erarbeitung einvernehmlicher Konfliktlösung von interpersonellen Konflikten, bei dem unparteiische Dritte als Vermittler Hilfestellung leisten. Es wurde in den USA entwickelt und wird dort in unterschiedlichen Bereichen gesellschaftlichen Lebens eingesetzt. Seit Ende der 80er Jahre wird Mediation in Deutschland diskutiert und hier insbesondere bei der Regelung von Folgen aus Ehescheidungen und Trennungen angewandt. Das Verfahren der Mediation geht von der Annahme aus, daß es Konflikte immer geben wird. Sie sind ein Signal dafür, daß etwas nicht mehr stimmt und verändert werden muß. Sie sind eine Chance zur Entwicklung und zur Verbesserung gegensei160 tiger Beziehungen. Positiv erlebte Konfliktbearbeitung verbessert die Kooperations- und Kommunikationsfähigkeit der Beteiligten und befähigt sie, Konflikte eigenständig in konstruktiver Weise zu lösen. Der Mediator führt die Konfliktparteien durch einen Klärungsprozeß, der die Kontrahenten befähigt, ihre eigenen Interessen und Gefühle zu erkennen und diejenigen der anderen zu verstehen. Es wird in der Mediation sowohl die sachliche als auch die emotionale Dimension eines Streites angesprochen. Der Mediator ist für das Verfahren der Konfliktlösung verantwortlich und nicht für deren Inhalt. Er muß von allen Konfliktbeteiligten akzeptiert und respektiert werden. Er muß das Vertrauen aller Streitparteien besitzen oder es sich erwerben. Seine Kompetenz darf nicht bestritten werden. Der Mediator soll kein eigenes Interesse an einer bestimmten Konfliktlösung haben. Er soll in diesem Sinne neutral und unparteilich sein. Er setzt sich für die Interessen und Belange aller Konfliktpartner ein und ist in diesem Sinne allparteilich. Mit den Gesprächsinhalten geht er vertraulich um. Er kann das Gespräch von sich aus abbrechen, wenn keine vernünftige und/oder ethisch verantwortbare Lösung gefunden wird. Mediation ist eine Kurzzeitintervention, die nicht über fünf Sitzungen von maximal eineinhalb Stunden Dauer hinausgehen soll. Mediation wird zumeist von Absolventen sozial-wissenschaftlicher Fachhochschulen und Hochschulen nach einer zusätzlichen Qualifikation in (systemischer) Beratung durchgeführt. U. Zinda 161 Menschenrechte Als Teil des Emanzipationsprozesses des Bürgertums gegenüber dem Feudaladel und dem absolutistischen Staat kam in Europa und Nordamerika die Vorstellung auf, dem Menschen seien von Natur aus gewisse Rechte eigen, die dem Untertan nicht etwa vom Staat bzw. dem Fürsten gewährt werden, sondern die der Staat bei seinen Bürgern zu respektieren habe. Klassisch formulierte die französische Nationalversammlung in ihrer Verfassung von 1791 17 derartige Menschenrechte. Zu ihnen zählen Freiheit, Eigentum, Unverletzlichkeit der Person, Gleichheit vor dem Gesetz, Religionsfreiheit, Meinungsfreiheit und auch das Recht auf Widerstand gegen Unterdrückung. Diese liberalen Freiheitsrechte sind inzwischen erweitert (Postgeheimnis, Versammlungsfreiheit, Pressefreiheit, das Koalitionsrecht, das Streikrecht etc.) und durch soziale Rechte ergänzt worden. Insbesondere über die Arbeiterbewegung wurde mit Beginn der 2. Hälfte des 19. Jahrhunderts Rechte eingefordert, die das Gemeinwesen zu bestimmten Leistungen gegenüber dem Einzelnen verpflichten, so das Recht auf Arbeit, auf einen gerechten Lohn und auf soziale Sicherheit im Krankheitsfalle bzw. im Alter. Die Verfassungen der Sowjetunion wie anderer Länder in Osteuropa nach 1945 haben verfassungsrechtlich Neuland betreten und weitgehende soziale Grundrechte und Grundpflichten festgelegt. In der Verfassung von 1936 der Sowjetunion beispielsweise ist dieses in der Formulierung „Jeder nach seinen Fähigkeiten, jedem nach seiner Leistung.“ als ethische Maxime verankert worden. Schließlich haben die UNO mit ihrer Erklärung der Menschenrechte von 1948 und zahlreiche weitere Organisationen bzw. Staaten die Allgemeingültigkeit von Freiheits- und von sozialen Rechten festgeschrieben, allerdings stimmt die Wirklichkeit in vielen Staaten nicht mit diesen Deklarationen überein. So geißelt insbesondere die weltweit agierende Menschenrechtsorganisation „amnesty international“ Menschenrechtsverletzungen auch in vielen Staaten Europas. Die Würde des Menschen Inbegriff 162 menschlicher Unantastbarkeit - sozial zu wahren, ist denn auch die Maxime von Mindestsicherungssystemen in den entwickelten Wirtschaftsnationen, doch sind Armut und soziale Ausgrenzung auch in den wohlhabenderen Staaten durchaus an der Tagesordnung. Erst recht in den osteuropäischen Transformationsländern fehlt es häufig an einem wirksamen sozialen Schutz menschlicher Würde durch ein funktionierendes Mindestsicherungssystem. E.-U. Huster Methoden der Sozialarbeit / Sozialpädagogik Der Begriff „Methode“ kommt aus dem Griechischen; er kann übersetzt werden mit „Weg“ oder mit „Handlungsweise“, „Art und Weise“. Methode ist das planmäßige Verfahren zur Erreichung eines bestimmten Zieles, gleichgültig ob es sich um ein Ziel im Rahmen der Wissenschaft oder der Praxis handelt. Eine eindeutige, allgemeingültige Definition und begriffliche Präzision von „Methoden der Sozialarbeit/Sozialpädagogik“ gibt es (noch) nicht, weder in Rußland noch in Deutschland. Der Methodenbegriff wird zudem für unterschiedliche Sachverhalte verwendet: - Methode ist das systematisches Vorgehen zur Lösung von Problemen mit allgemein anerkannten Verfahrensschritten: Situationsanalyse, Zielklärung, Veränderungsmaßnahmen und Auswertung. - Handlungskonzepte bzw. Handlungstheorien werden - unkorrekt - als Methoden der sozialen Arbeit bezeichnet bzw. als „Methodenlehre“ vermittelt. - Ebenso werden einzelne Techniken und Verfahren fälschlich als „Methoden“ bezeichnet. - Soziale ¤ Einzel(fall)hilfe (¤ Casework), ¤ Gruppenarbeit (Groupwork) und ¤ Gemeinwesenarbeit (Community Organization) werden immer noch als die „klassischen Methoden“ der Sozialarbeit/Sozialpädogoogik bezeichnet. Es sind aber Systemebenen der Hilfeleistungen (soziale Hilfe für das Individuum in seiner persönlichen und psychosozialen Umwelt, für die Gruppe im Kontext 163 psychosozialer, pädagogischer und bildungsorientierter Bezüge, für das Gemeinwesen, im Hinblick auf demokratische und wohlfahrtsstaatliche Prozesse der Veränderung). Methoden der Sozialarbeit/Sozialpädagogik müssen einen systematisierten Komplex von Vorgehensweisen beinhalten, die personen- und gegenstandsadäquat angewendet und eingesetzt werden können. Methoden müssen Prozesse steuern und Aussagen machen über die Struktur des Beratungsverlaufs. Sie müssen darüber hinaus der Komplexität des Falles und der Situation gerecht werden und zielgerichtet sein. Methoden der Sozialarbeit/Sozialpädagogik beruhen einerseits auf reflektierten Praxis- und Handlungserfahrungen (z.B. das Casework). Auf der anderen Seite leiten sich die Methoden aus den wissenschaftlichen Grundlagen der Bezugsdisziplinen ab (z.B. der biographische Ansatz aus der Soziologie) oder sie vereinen beide Richtungen (z.B. die ¤ klient- bzw. personenzentrierte Gesprächsführung). Der Einsatz professioneller Methoden in der Praxis der Sozialarbeit/Sozialpädagogik soll der Verbesserung der Situation und der Problemlösung dienen. Methoden werden aber auch getragen von zwischenmenschlichen Beziehungen, bei denen berufskulturelles Wissen und Erfahrungswissen von Bedeutung ist. Aus dieser Perspektive werden handlungsleitende Methoden in den Arbeitsfeldern modifiziert und eklektisch angewendet. So braucht die Sozialar- beit/Sozialpädagogik eine „Pluralität von Handlungstheorien, Handlungskonzepten und Methoden“. Sie kommen aber (noch) vorwiegend aus dem psychologischen, soziologischen und pädagogischen Kontext, denn eine ¤ Sozialarbeitswissenschaft, aus der heraus sich Konzepte/Metho-den/Verfahren ableiten ließen, ist noch nicht voll ausgebildet. 164 Die Anwendung der Methoden in der Praxis setzt voraus, daß Sozialarbeiter/Sozialpädagogen folgendes beachten: - Mit welchem Ziel wird diese Methode angewendet? - Was sind die Vor- und Nachteile dieser Methode? - Welche Techniken können bei der Anwendung der Methode helfen? - Was wird gebraucht bzw. welches Können ist Voraussetzung, eine bestimmte Methode anzuwenden? - Was kann als Ergebnis bei der Anwendung der jeweiligen Methode erreicht werden? Von den Methoden, die zur Situationsveränderung und Problemlösung in der Praxis der Sozialarbeit/Sozialpädagogik eingesetzt werden, sind die empirischwissenschaftlichen Methoden zur Erforschung der Sozialarbeit/Sozialpädagogik und zur Weiterentwicklung der ¤ Sozialarbeitswissenschaft zu unterscheiden. L. Maschirowa / L. Haag 165 Tabelle: Formen, Ansätze/Konzepte und Methoden der Sozialarbeit / Sozialpädagogik Anmerkungen zu den nachfolgenden drei tabellarischen Übersichten: (a) Die Tabelle soll eine erste allgemeine Orientierung und Verstehenshilfe bezogen auf Formen, Ansätze/Konzepte und Methoden der Sozialarbeit / Sozialpädagogik bieten. (b) Sie ist ergänzungswürdig. Gleichwiohl haben wir uns entschlossen, sie im Lexxikon zu veröffentlichen, weil wir der Meinung sind, daß sie den oft uneinheitlichen Aussagen zu den genannten Komplexen ordnnende Funktion verleiht. (c) Wir haben es vermieden, den jeweiligen Formen, Ansätzen/Konzepten und Methoden Arbeitsfelder bzw. Arbeitsbereiche zuzuordnen. Dies geschah aus folgenden Überlegungen: Formen, Ansätze/Konzepte und Methoden können höchst selten abgrenzbar bestimmten Arbeitsfeldern bzw. Arbeitsbereichen zugeordnet werden. Es müßten praktisch jeder Spalte eine Vielzahl Arbeitsfelder, und zwar sich wiederholend, zugeordnet werden. Der Anwendungsbezug liegt eher in dem, was die Situation und die Problemlage erfordert. Dies gilt vornehmlich für die klientbezogene Ebene. (d) Die historische Entwicklung der einzelnen Konzepte und Methoden wurde in der Regel nicht berücksichtigt. Wir haben uns auf die aktuellen Formen, Ansätze und Konzepte beschränkt. Lediglich dort, wo es um des Verständnisses willen unumgänglich war (s. z.B. Casework) haben wir die geschichtliche Entwicklung thematisiert. L. Haag / U. Zinda 166 Klientenbezogene / personenbezogene Ebene I. Formen II. Ansätze / Konzepte III. Methoden I. Einzelfallhilfe a. Casework Anamnese, Diagnose und Hilfeplan erstellen. Behandlung durchführen i.S. intensiver, gezielter Gespräche b. Klient – bzw. personenzentrierte Gesprächsführung Empathie, Kongruenz, Akzeptanz und Wertschätzung dem Klienten entgegenbringen; Verbalisierung seiner emotionalen Erlebnisinhalte c. biographischer Ansatz Narratives Interview führen, kontrolliertes Fremdverstehen beherrschen, Erzählungen interpretieren, analysieren und stellvertretend für den Kienten deuten a. Soziale / sozialpäd. Gruppenarbeit Phase handhaben: Phase der Orientierung, Phase des Machtkampfes und der Kontrolle, Phase der Vertrautheit und Intimität, Phase der Differenzierung, Phase der Ablösung und Trennung. b. Themenzentrierte Interaktion (TZI) Formulierung des Arbeitsthemas, Steuerung der Arbeitsstruktur, Faktoren „Ich“, „Wir“, „Es“ im dynamischen Gleichgewicht halten innerhalb des Kontextes II. Gruppenarbeit c. Therapeutische Gruppe Gruppengeschehen und Gespräche reflektieren, analysieren, Handlungsalternativen erarbeiten (s.a.: soziale/sozialpäd. Gruppenarbeit) III. Familienarbeit a. Familienberatung Fachlich qualifizierte, zielgerichtete Gespräche und Aspekte aus Methode der Familientherapie (siehe dort) b. Familientherapie Herausforderung und Beeinflußung der Kommunikationsstrukturen. Skulptur, zirkuläres Fragen, Genogramm c. Familienbildung Schulung (s.a.: Gruppenarbeit) d. Familienerziehung Information, Beratuung, Anweisung, Videohome-Training e. Mediation Moderation IV. Lokale / regio- a. Gemeinwesenarbeit nale Arbeit Stadtteilanalyse, Versammlungsleitung, Moderation, Öffentlichkeitsarbeit b. Streetwork Verzahnung, Methoden aus Einzelfallhilfe und Gruppenarbeit (siehe dort) c. Stadtteilarbeit Stadtteilanalyse, Aktivierung der Bürger 167 Ebene der Vermittlung und beruflichen Entwicklung I. Formen II. Ansätze / Konzepte III. Methoden I. Lehre a. Studium - Grund/Hauptstudium - Theorie / Praxis - fachübergreifend / integrativer Ansatz Seminare, Übungen, Vorlesungen. Praxisanleitung, -begleitung, Projektarbeit, Hospitation, Exkursion. Entwicklung von Modulen. b. Supervision - Einzel- / Gruppensupervision Kontrakt, Reflexion, Feed-back, Analyse, Auswertung im Rahmen der berufspraktischen Ausbildung c. Fort- / Weiterbildung Referieren, Belehrung, Unterweisung, Information geben, Selbsterfahrung a. Handlungs- / Aktionsforschung Anwednungsbezogene Analyse sozialer Bedingungen, Kooperation mit der Praxis, Entwicklung von Konzepten (für die Praxis), Veränderungen einleiten, qualitative Interviews, Gruppendiskussionsverfahren b. Feldforschung Teilnehmende Beobachtung, Befragung, Interpretation der Daten II. Forschung III. Wissenschaft 168 Wissen im Kontext sozialer Arbeit systematisieren, weiterentwickeln, wissenschaftstheoretische Reflexion, metatheoretische Perspektive einnehmen Ebene der Leistungserbringung und Leistungssicherung I. Formen II. Ansätze / Konzepte III. Methoden I. Planung a. Case-Management Vernetzung, Kontratierung b. Sozialplanung auf: Befragung, Statistik, Bericht - Kommunaler Ebene - Regionaler Ebene - Länderebene - Zielgruppen orientierter Ebene II. Leitung / Steuerung a. Sozialmanagement III. Personalführung IV. Öffentlichkeitsarbeit Entwicklung von sozialen Angeboten und Hilfen, Koordination, Zuweisung der Ressourcen, Evaluation, Kontrolle b. Qualitätsmanagement Konzeptionsentwicklung, Prozeß-, Ergebnis-, und Produktionsstrukturen entwickeln, durchsetzen c. Personalentwicklung Personalbeurteilung, Dienst- und Fachaufsicht d. Organisationsentwicklung Konzeptentwicklung, Stellenplanentwicklung, Stellenplansicherung, Arbeitsplatzbeschreibung, Ressourcenverwaltung, Marktbeobachtung a. Konsultation Situationsgebundene Anregung, Befähigung, Unterstützung, Beratung b. Fort- und Weiterbildung Informieren, Referieren, Belehrung, Unterweisung, Handlungstraining, Sebsterfahrung c. Kollegiale Beratung Analyse, Feed-back, Reflexion im verbindlichen Setting d. Supervision Einzel-/Gruppen-/ Teamsupervision auf der Grundlage verschiedener theoretischer Ansätze und Konzepte Fachspezifische Gesprächsführung im berufsbegleitenden längerfristigen Setting (s.a. Supervision) a. Medienarbeit Information, Nutzung von Print- und audiovisuellen Medien und Rundfunk b. (politische) Gremienarbeit Information, ständige Kontakte zu einflußreichen Organen der Öffentlichkeit c. Aktionsprogramme Information, Ausstellungen, Tage der Offenen Tür, Präsentation 169 Migranten (¤ Mobilität) sind Menschen, die aus einem Territorium in ein anderes ziehen, also ihren Wohnsitz wechseln. Eine solche Wanderungsbewegung kann innerhalb eines Landes (Binnenmigration) oder aus einem Land in ein anderes (Außenmigration) erfolgen. Ursachen für die Migrationsprozesse können wirtschaftlicher, politischer, sozialer, nationaler, religiöser und anderer Art sein: Hunger und Verelendung, politische Repression, Verletzung von Menschenrechten, Kriege und andere zwischennationale Konflikte, Naturkatastrophen, die Suche nach einem besseren Leben usw. Die Migration kann freiwillig oder erzwungen sein; sie kann wiederkehrend und nicht wiederkehrend sein. Anfang der 1990er Jahre begann unter den Zerfallserscheinungen in der ehemaligen Sowjetunion ein starker Zustrom der russischsprachigen Bevölkerung in die Russische Föderation aus den Nachbarländern. Heute zählt man in Russland mehr als 800.000 Migranten aus den ehemaligen GUS-Staaten. Stark zugenommen hat in den letzten Jahren vor allem die erzwungene Außenmigration. Bei den Migrationsströmen sind folgende Kategorien von Migranten festzustellen: - Emigranten, darunter russische Bürger, die ihr Land aus politischen, wirtschaftlichen, ethnischen sowie aus anderen persönlichen Gründen (Familienzusammenführung, Eheschließung) verlassen sowie Personen, die früher in die Russische Föderation gekommen waren, den Status eines Flüchtlings oder Notmigranten hatten und jetzt Russland wieder verlassen; - Immigranten: Ausländer und Personen ohne Staatsbürgerschaft, die als Asylsuchende nach Russland kommen, zum Teil mit der Absicht, den Status eines politischen Flüchtlings zu beantragen. 170 Innerhalb des Landes migrieren Bürger der Russischen Föderation und Personen, die sich gesetzeskonform auf dem Territorium Russlands aufhalten, sowie Angehörige ethnischer Gruppen, die innerhalb der Russischen Föderation nicht über eigene nationale Gebilde verfügen. Migration als soziale Erscheinung verursacht zahlreiche Probleme. In manchen Regionen führen große Migrationsströme zu Übervölkerung, was schwere soziale Probleme zur Folge haben kann (steigende Arbeitslosigkeit, steigende Kriminalität, wachsende Konflikttendenz u.a.m.). Auch wird durch die erzwungene Migration die soziale Integration erschwert: Der Wechsel aus der gewohnten sozialen Umwelt in eine andere führt zum Abbruch vieler gewachsener Beziehungen; neue Beziehungen sind oft nur schwer aufzubauen. Zudem erschweren Wohnungsnot, Probleme mit der Arbeitsstelle und sinkendes Lebenshaltungsniveau den Prozess der Anpassung der Migranten an die neue Umgebung und die neuen Lebensbedingungen. Die rechtlichen Standards für Migrationsfragen sind die Föderalen Gesetze „Flüchtlinge“ (1997), „Notausgewanderte“ (1995), „Bürgerschaft der Russischen Föderation“, „Übersiedlung der Bürger aus Regionen des Hohen Nordens und gleichartiger Regionen“. Sie beschreiben im Einklang mit der Verfassung der Russischen Föderation, den allgemein gültigen Prinzipien und Normen des internationalen Rechtes und den internationalen Verträgen der Russischen Föderation die wirtschaftlichen, sozialen und rechtlichen Garantien der Flüchtlinge, Notgewanderten und anderen Migranten auf dem Territorium Russlands. Zuständig für Migrantenprobleme ist das Territoriale Organ des Ministeriums für föderale Angelegenheiten, nationale und Migrationspolitik, das gemäß dem Präsidentenerlass „Umgestaltung föderaler Gremien“ vom 17. Mai 2000 gegründet wurde. Im Gesetz „Notausgewanderte“ (Art. 10) sind als Hauptaufgaben dieses Organs die Aufnahme von Notausgewanderten, Gewährung des Notausgewandertenstatus, Statistik, Hilfen bei der Unterbringung und allgemeine Unterstützung festgelegt. Hilfen für Notausgewanderte werden in staatlichen Erlassen geregelt: 171 „Gewährung zinsfreier langfristiger Darlehen an Notausgewanderte zum Wohnungsbau (-kauf)“ (1997), „Zahlung von Wohnungs- und/oder Vermögensverlustkompensationen für Bürger, die von der Krise in der Tschetschenischen Republik betroffen sind und sie für immer verlassen haben“ (1997). Zur Erstversorgung von Migranten wurden spezielle Einrichtungen geschaffen: Erstaufnahmestellen für Notausgewanderte, Zentren zur zeitweiligen Unterbringung der Notausgewanderten, provisorische Unterbringungszentren für Migranten. Die Aufgabe der in diesen Einrichtungen arbeitenden Fachleute ist es, den Migranten erste psychologische Hilfe zu leisten und die Orientierung unter den neuen Lebensumständen zu erleichtern. Nach Verleihung des Flüchtlings- oder Notausgewandertenstatus können die Migranten Hilfe sozialer Dienste des Bevölkerungsschutzes beantragen. Sozialarbeiter unterstützen die Notausgewanderten und Flüchtlinge bei der Integration am neuen Wohnort, etwa durch Einrichtungshilfen bei der neuen Wohnung, bei der Arbeitsuche oder bei der Suche nach einem Schul- oder Kindergartenplatz für die Kinder. T. Tscherpuchina Milieu Als Milieu wird die Gesamtheit der natürlichen/ökologischen und der sozialen Umweltbedingungen von Einzelpersonen oder Gruppen bezeichnet. In bezug auf Gruppen, die sich von den in einer Gesellschaft vorherrschenden normativen Orientierungen und Verhaltensmustern deutlich abgrenzen, wird von „subkulturellen Milieus“ gesprochen. − Die Milieutheorie spielt eine wichtige Rolle bei der Erklärung ¤ abweichenden und/oder kriminellen Verhaltens. Im Gegensatz zu der Annahme, solches Verhalten sei vererbbar, versteht die Milieutheorie es als Folge ungünstiger sozialer Bedingungen. H. Mogge-Grotjahn 172 Minimale Cerebrale Dysfunktion (MCD) Als frühkindliche Hirnschädigung, die prä- oder postnatal oder während des Geburtsvorganges eintreten kann, betrifft die Minimale Cerebrale Dysfunktion vorwiegend Bereiche des Hirns, die die Motorik kontrollieren; außerdem verzögert sich die Entwicklung der Hirnfunktionen generell. Bei Kindern mit MCD wird vor allem die Ausbildung der Bewegungsfunktionen verzögert und gestört; das betrifft etwa eine kontrollierte Haltung des Kopfes und die Bewegungsabläufe beim Sitzen, Stehen oder Gehen sowie die Greif- und Tastfunktionen. Ohne entsprechende Therapie kann MCD den gesamten Prozess der Ausbildung motorischer Fertigkeiten und geistiger Funktionen erheblich beeinflussen. So können etwa die Beeinträchtigungen so schwerwiegend sein, dass trotz genereller Fähigkeit zur Bewegung überhaupt keine Koordination der Motorik möglich ist. Oder es tritt bei akuter Störung der Muskelspannung die Unfähigkeit, zeitlich und räumlich angepasste Bewegungen auszuführen, auf. Charakteristisch für MCD ist auch eine allgemeine Wahrnehmungsschwäche; das heißt, der kindliche Patient kann keine richtigen Vorstellungen über Bewegungsabläufe entwickeln und nur mühsam ein zeitliches und räumliches Orientierungsvermögen ausbilden. Folgen sind auch Störungen des Tastgefühls, des Erkennens von Dingen durch Befühlen (Stereognosie), was neben den physischen Symptomen auch zu einer schweren Beeinträchtigung der psychischen Entwicklung führen kann. Unterschieden werden mehrere Formen von MCD. Hierzu gehören u.a.: - spastische Diplegie: Bewegungsstörungen der Arme und Beine, wobei die Beine stärker betroffen sind; - atonisch-ataxische Form: betrifft das Kleinhirn und seine Verbindungen mit anderen Hirnregionen. Folgen: Muskelerschlaffung, Bewegungsunsicherheit, fehlende Synchronisation und Rhythmus der Bewegungsabläufe; 173 - hyperkinetische Form: Großhirnschäden. Symptome sind wechselnde Muskelspannung (Distonie), willkürlich nicht beeinflussbare aggressive Bewegungen und Ausdruckslosigkeit der Gesichtszüge bei Bewegungen und beim Sprechen. D. Iwanow Mobilität Als Mobilität werden unterschiedlichste Arten der Bewegung in der Gesellschaft bezeichnet: - Wanderungsbewegungen von Personen und Bevölkerungsgruppen, etwa von Region zu Region oder vom Land in die Städte. Solche Wanderungsbewegungen können durch die Suche nach Arbeit, durch Katastrophen oder Armut verursacht sein. Auch religiöse und/oder politische Verfolgung lös(t)en in der Geschichte wie auch heute noch immer wieder größere Wanderungsbewegungen aus. - Soziale Mobilität im Sinne von gesellschaftlichen Auf- oder Abstiegsprozessen und/oder Veränderungen von Lebensformen. Je „offener“ eine Gesellschaft ist, desto häufiger können Individuen ihre Position innerhalb der Gesellschaft verändern, indem sie beispielsweise bestimmte Bildungsabschlüsse und Qualifikationen erwerben, ihren Beruf und/oder ihren Wohnort wechseln oder auch durch Erwerbslosigkeit, Armut als Folge von Scheidung oder ähnliche Ereignisse in der sozialen Hierarchie „absteigen“. - Mobilität von Gütern und Informationen durch den Ausbau von Handelswegen und die Verbesserung von Verkehrs- und Informationstechnologien, sowie die räumliche Mobilität von Personen durch moderne Verkehrsmittel. 174 Vor allem die soziale und regionale Mobilität der Individuen und die Mobilität von Gütern und Informationen gewinnen mit der Modernisierung von Gesellschaften einen stetigen Bedeutungszuwachs. H. Mogge-Grotjahn Moderation Der Begriff „Moderation“ bedeutet im ursprünglichen Sinne Mäßigung. Die Moderationsmethode wurde Ende der 60er Jahre des 20. Jahrhunderts in der Wirtschaft entwickelt, um durch die Motivation und Zufriedenheit der Mitarbeiter ein gutes Geschäftsergebnis zu erzielen. Planmäßig durchgeführte Moderation ist in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik eine Methode, um zielgerichtet und ergebnisorientiert den Gruppenprozeß zu steuern. Das Besondere an der Moderation ist, daß - alle Teilnehmer zur Mitarbeit aktiviert werden, - sie in einer hierarchiefreien Atmosphäre zusammenarbeiten, - die Kompetenzen aller genutzt werden, um ein fachgerechtes Arbeitsergebnis zu erbringen, - Arbeitsergebnisse mit einer hohen Akzeptanz erzielt werden. Der Moderator ist für die Erarbeitung und für die Qualität der Ergebnisse zuständig. Zu dem Inhalt haben die Teilnehmer beizutragen. Der Erfolg einer guten Moderation ist abhängig von den angewandten Visualisierungstechniken der Arbeitsergebnisse (z.B. Kartenabfrage, Skalierung, Maßnahmenplan usw.) und der fachlichen Haltung des Moderators. Sie zeichnet sich aus durch: 175 - Neutralität, bezogen auf die Inhalte, - konsequent fragende Haltung, - kommunikative Kompetenz. Der Moderationsprozeß vollzieht sich in sechs Arbeitsschritten: 1. Sitzungseröffnung (Motivierung, Kennenlernen, Arbeitsabsprachen, Arbeitsregeln), 2. Themen- und Problemsammlung, 3. Themenauswahl, 4. Themenbearbeitung, 5. Maßnahmenplanung/Aufgabenverteilung, 6. Abschluß (Reflexion der Arbeitsergebnisse und des Diskussionsprozesses). U. Zinda Mündigkeit ist als juristische Kategorie das durch das Gesetz festgelegte Alter, bei dessen Erreichung der Bürger juristisch handlungsfähig wird und gewisse Rechte und Pflichten entstehen. In der Russischen Föderation ist die Mündigkeit im allgemeinen mit 18 Jahren erreicht. Ab diesem Alter haben die Bürger Wahlrecht; sie unterliegen Pflichten im Bereich der bürgerlichen, Arbeits- und ehelichen Beziehungen. In manchen Fällen können auf gesetzlicher Grundlage unmündige Bürger mit den mündigen gleichgestellt werden. Rechtsfähigkeit und Handlungsfähigkeit natürlicher Personen fallen in der Regel nicht zusammen. 176 Im Staatsrecht wird die Rechtsmündigkeit im vollen Umfang im Alter von 18 Jahren erreicht. Im Arbeitsrecht ist das bereits mit 16 Jahren der Fall, ebenso im Strafrecht; bei manchen Straftaten ist die Rechtsmündigkeit mit 14 Jahren erreicht. Bürgerliche Rechte beginnen mit der Geburt, die Handlungsfähigkeit setzt mit 18 Jahren ein. Artikel 21 des Bürgerlichen Gesetzbuches betont, daß die Fähigkeit des Bürgers, durch seine Handlungen Bürgerrechte zu gewinnen und zu realisieren, für sich Bürgerrechte zu schaffen und sie zu erfüllen (bürgerliche Handlungsfähigkeit), im vollen Umfang mit der Mündigkeit/Volljährigkeit entsteht, d. h. mit der Erreichung des 18. Lebensjahres. Im Bereich der strafrechtlichen Verantwortung von Minderjährigen bestehen einige Besonderheiten. Zwar ist für die meisten Straftaten die Strafmündigkeit mit 16 Jahren festgelegt, doch können für besonders schwere oder besonders häufig von Jugendlichen begangene Straftaten (Mord, absichtliche Schadenzufügung, Vergewaltigung, Diebstahl u.a.) auch 14jährige schon zur strafrechtlichen Verantwortung gezogen werden. Berücksichtigt werden muß aber, ob der Jugendliche den tatsächlichen Charakter und die gesellschaftliche Gefahr seiner Handlungen erkennen konnte und ob er evtl. durch eine psychische Störung seine Handlungen nicht regulieren konnte; unter diesen Umständen gilt er (noch) nicht als strafmündig. Für verurteilte Minderjährige gilt nach § 88 des Strafgesetzbuches ein begrenzter Kreis von Strafarten: erzieherische Zwangsmaßregeln wie die Übergabe unter Aufsicht der Eltern, Heimunterbringung; Geldbuße; Entzug des Rechtes, eine bestimmte Tätigkeit auszuüben; Verpflichtung zu bestimmten Arbeiten („Besserungsarbeit“); Freiheitsentzug. Jugendliche Straftäter verbüßen ihre Strafen nicht gemeinsam mit erwachsenen Straftätern. Ihre Strafen können leichter zur Bewährung ausgesetzt werden und rascher verjähren. In Ausnahmefällen kann das Gericht diese Grundsätze auch auf Personen anwenden, die im Alter von 18 bis 20 Jahren eine Straftat begangen haben. T. Tschulkowa 177 Netzwerkarbeit baut auf den Begriff des „sozialen Netzwerkes“ auf. Er ist in der Sozialanthropologie als analytisches Werkzeug zur Beschreibung von Relationen zwischen Menschen von John Barnes (1954) geprägt worden. Barnes ging in seiner Definition von dem Bild eines Fischnetzes aus. Die Knoten im Netz sind Personen, während die Fäden die Beziehungen zu anderen Menschen darstellen. Die Person, von der die Analyse ausgeht, ist die „Verankerungsperson“. Soziale Netzwerke entwikkeln sich aus informellen Beziehungen zwischen Personen mit sozialer Nähe, z.B. Familienangehörige, Nachbarn, Arbeitskollegen. Diese informellen Netzwerke werden auch natürliche oder primäre soziale Netzwerke genannt. Sie lassen sich unterscheiden nach formellen, künstlichen oder sekundären Netzwerken. Letztere sind gekennzeichnet durch institutionalisierte, rechtlich verankerte, regelgebundene Beziehungen, z.B. Kind - Kindergarten, Klient - Sozialarbeiter; oder sie werden aufgebaut auf der Grundlage verbindender Betroffenheit von bestimmten Problemen. Diese formellen sozialen Relationen können als Ersatz für verschwundene informelle Relationen fungieren und sind deshalb zu hinterfragen. Der Begriff wird neuerdings auch verwendet für funktionale Verknüpfung von Organisationen und den medialen Kommunikationstechniken. In der Praxis der Sozialen Arbeit bedeutet Netzwerkarbeit einen Perspektivenwechsel von der individualistischen Fallbezogenheit zur sozialökologischen Feldorientierung (¤ Stadtteilarbeit, ¤ Gemeinwesenarbeit). Soziale Netzwerke werden beschrieben nach ihrer Form, das sind die strukturellen Wesenszüge (Dichte, Umfang, Zusammensetzung), und nach ihren Inhalten, das sind interaktionelle Aspekte und charakteristische Merkmale, die die Beziehung kennzeichnen. U. Zinda Neurose Der Begriff „Neurose“ stammt von dem schottischen Arzt W. Cullen (1776). Er 178 bezeichnete damit eine Nervenkrankheit, ohne anatomisch-pathologischen Befund. Diese ausschließende Definition gilt auch noch heute. Neurose umfaßt eine Gruppe von besonders weit verbreiteten psychischen Störungen, die infolge von unlösbaren oder auch destruktiv gelösten Konflikten entstehen und die meistens in der Kindheit oder in den Beziehungen zu den Eltern wurzeln. Als Ursachen von Neurosen können Überbelastungen, traumatische Erlebnisse, Unzufriedenheit, Unerreichbarkeit der Lebensziele, Verlust des Lebenssinns und andere psychische Faktoren angesehen werden. Je nach theoretischer Ausrichtung wird die Neurose in ihrer Entstehungsgeschichte unterschiedlich gesehen. Aus psychoanalytischer Sicht ist Neurose ein unbewußter Widerstand, und die neurotischen Symptome sind Äußerungen psychodynamischer Konflikte. Entsprechend ist das Konfliktmodell entwickelt worden, das die unterschiedliche Psychodynamik der verschiedenen Neurosen erklärt. Sigmund Freud hat die Neurose als das Resultat einer unvollständigen Verdrängung von Impulsen aus dem Es durch das Ich gesehen. Der verdrängte Impuls droht trotz der Verdrängung in das Bewußtsein und das Verhalten durchzubrechen. Zur erneuten Abwehr dieses Impulses wird ein neurotisches Symptom entwickelt, das einerseits eine Ersatzbefriedigung dieses Impulses, andererseits aber einen Versuch seiner endgütigen Beseitigung darstellt. Je nach Dauer und Stärke des auslösenden Konfliktes wie auch nach Art seiner Verarbeitung unterschied Freud folgende Formen der Neurose: - Aktualneurosen: Es zeigen sich primär vegetative Symptome aufgrund starker Affekte, die im Zusammenhang mit einem aktuellen Konflikt stehen und auf das vegetative System einwirken. Hierzu zählen: Schreckneurosen, Angstneurosen und neurasthenische Syndrome. - Traumatische Neurosen: Sie weisen dieselben Symptome auf wie die Aktualneurosen und die Psychoneurosen. Ausgelöst werden sie allerdings durch ein Trauma (beispielsweise einen Unfall) und weisen eine Sicherungstendenz als spezifisches Motiv auf (z.B. primäre Unfallneurosen und sekundäre Renten-, Versicherungs- bzw. Zweckneurosen). 179 - Psychoneurosen: Sie werden auch Abwehrpsychoneurosen genannt. Sie weisen sowohl psychische als auch somatische Symptome als Folge der unvollständigen Verdrängung von nicht integrierbaren Triebimpulsen auf. Hintergrund ist ein chronischer Triebkonflikt. Hierzu zählen: 1. die hysterischen Syndrome (einschließlich Organneurosen), 2. die phobischen Syndrome, 3. die anankastischen Syndrome und 4. die Charakterneurosen. Verhaltenstherapeutisch orientierte Wissenschaftler verstehen die Symptome als gelerntes Fehlverhalten. Der entscheidende Unterschied zwischen der tiefenpsychologischen und der verhaltenstherapeutischen Theorie ist, daß die Psychoanalyse ein dynamisch wirkendes Unbewußtes annimmt, die Verhaltenstherapie hingegen eine solche Annahme ablehnt. Beiden Richtungen gemeinsam ist die Auffassung, daß in der Neurose die Nichtbewältigung fundamentaler Lebensaufgaben zum Ausdruck kommt. Nach dem von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) herausgegebenen Katalog der International Classification of Diseases (ICD, Sektion V) werden im Rahmen des Oberbegriffs „psychische Störung“ die folgenden neurotischen Zustände zusammengefaßt: - Angstneurose und andere durch Angst bestimmte neurotische Störungen, - Hysterie mit Konversionsneurose und dissoziativer Reaktion, - phobische Zustände, - zwangsneurotische Störung, - neurotische Depression, - Neurasthenie, - Depersonalisation, 180 - Hypochondrie, ferner andere und unspezifische Zustände. Karen Homey meint, daß Neurosen nicht nur durch eigene Erlebnisse, sondern auch durch die Kultursituation, in der ein Mensch lebt, bestimmt sein können. Neurosen sind als heilbare Störungen zu betrachten. Besondere Aufmerksamkeit bei deren Heilung fordert die Wahl der Methoden und Mittel. S. Michailowa / V. Riegels / H.-P. Steden Obdachlosigkeit In der russischen Fachliteratur wird Obdachlosigkeit als ein soziales Phänomen beschrieben, das seit Beginn der 80er Jahre des 19. Jahrhunderts auftritt. Staatliche Statistiken, die Kategorien wie „Bettler“ oder „Landstreicher“ erfassten, wurden erst ab 1929 geführt. Im Jahr 1999 wurden mehr als zwei Millionen Personen ohne festen Wohnsitz statistisch erfasst. Ursachen für den starken Anstieg der Obdachlosenzahlen sind die sozialwirtschaftlichen Erschütterungen der letzten Jahre, die hohe Arbeitslosigkeit (besonders die verdeckte), die Zerrüttung der moralischen und ethischen Prinzipien in der Gesellschaft und der Zusammenbruch der Sowjetunion. Vor allem familiäre, gesundheitliche, wirtschaftliche und psychische Probleme treiben Menschen in die Obdachlosigkeit. Besonders problematisch ist das sozial unangepasste Verhalten der Nichtsesshaften. Der Staat sieht sich bei der Lösung des Problems der Obdachlosigkeit vor schwierige Aufgaben gestellt. Er muss - ein Gesetzeswerk zur Lage der Obdachlosen, die Nichtsesshaftigkeit und Bettelei zur Lebensweise gemacht haben und diese nicht aufgeben wollen, ausarbeiten; - die Weiterentwicklung der in den Regionen etablierten und funktionierenden 181 sozialen Infrastruktur für Obdachlose, die ihre Lage ändern wollen, betreiben. Gesetzliche Regelungen zur Unterstützung von Personen ohne festen Wohnsitz und Beschäftigung sind die Verordnung des Ministerrates der Russischen Föderation „Übernachtungshäuser“ (1993) und der Präsidentenerlass „Vorbeugungsmaßnahmen bei Nichtsesshaftigkeit und Bettelei“ (1993); dadurch wurden die den inneren Verwaltungsbehörden zugeordneten Aufnahme- und Verteilungsstellen für festgenommene nichtsesshafte und bettelnde Personen in Zentren für soziale Rehabilitation umstrukturiert, um ihnen soziale, medizinische und andere Hilfen anzubieten. Eine weitere Verordnung „Entwicklung eines Netzwerks von Sonderheimen für Alte und Behinderte“ (1995) regelt die Versorgung von Nichtsesshaften, die zu einer eigenständigen Lebensführung nicht oder nur teilweise in der Lage sind und/oder ständiger Pflege bedürfen - darunter Strafentlassene, gefährliche Wiederholungstäter, Personen unter Aufsicht der Behörden, Alte und Behinderte, die Ordnungswidrigkeiten begangen haben und verurteilt wurden oder Bettelei betreiben. Die Verordnung „Maßnahmen zur Entwicklung eines Netzwerks von Sozialhilfeeinrichtungen für Personen in schwierigsten Lebenslagen ohne festen Wohnsitz und ohne Beschäftigung“ (1995; bestätigt 1996) ist Grundlage für zusätzliche Schutzmaßnahmen für Obdachlose. Hierin werden Maßnahmen der Sozialhilfeeinrichtungen geregelt (Übernachtungsstätten, Heime u.a.). L. Maschirowa 182 Orthodoxe Wohltätigkeit und Barmherzigkeit in Rußland Orthodoxe Wohltätigkeit und Barmherzigkeit haben in Rußland eine lange Tradition. Grundlage ist das christliche Gebot der Nächstenliebe. Kirchen und Klöster wurden mit der Christianisierung Rußlands im 11. bis 13. Jahrhundert zu den wichtigsten Zentren wohltätiger Aktivitäten; sie waren Wohnstätte für Bettler, Krüppel, Waisen und alleinstehende alte Menschen. Die Finanzierung erfolgte unter anderem durch Almosen der Kirchenbesucher, die als Pflichtgabe angesehen wurden. In diesem Sinne beeinflußten auch die orthodoxen Priester in ihrer Funktion als Beichtväter ihre adelige und reiche Klientel. Die Geistlichen hatten eine sehr starke gesellschaftliche Position; so nahmen sie etwa an Verhandlungen zwischen den Fürsten teil, an Vermittlungs- und Versöhnungsaktionen. Die Fürsten und Bojaren gaben mit ihrer Wohltätigkeit auch ein persönliches Vorbild an tätiger Nächstenliebe. Nach historischen Quellen fungierten beispielsweise große Essen mit vielen Gästen, die berühmten fürstlichen Tafeln, als wichtige wohltätige Aktionen. Einen starken Einfluß übte auch das System des Kirchenrechts aus, das seit dem 11. Jahrhundert die Fragen von Familienbeziehungen, von Sittlichkeit und Ethik normativ regelte. Strafen wie Buße, strenges Fasten und Gebet, vorübergehendes Verbot des Kirchenbesuchs u.a., in vorchristlichen Rechtsbräuchen unbekannt, sollten den Gläubigen nicht nur von seinen Sünden befreien, sondern auch seine Reputation wiederherstellen. Im 14. bis 16. Jahrhundert spielten die Klöster die wichtigste Rolle bei der kirchlichen Wohltätigkeit und Barmherzigkeit. Ihre Zahl war von 140 im 14. Jahrhundert auf 800 im 16. Jahrhundert angewachsen. In dieser Phase waren es vor allem koinobitische Klöster nach dem Vorbild des Dreifaltigkeits-Sergius-Klosters, das von Sergius von Radonesh 1337 gegründet worden war. In den Klöstern wurde gelehrt, gemeinsames Gebet mit gemeinsamer Arbeit, asketischer Lebensweise und strenger Disziplin zu verbinden. Dadurch konnten als Klostereigentum große materielle Güter erwirtschaftet werden, die es ermöglichten, die sozialen Dienste auf ein hohes Niveau zu bringen. So schufen die Klöster viele Arbeitsplätze mit unterschiedlichen handwerklichen Spezialisierungen; sie bevorrateten Getreide − 183 was eine wichtige Schutzmaßnahme gegen mögliche Hungersnöte war - und leisteten medizinische Hilfe, was besonders bei Seuchen von großer Bedeutung war. Die Klöster waren beispielhaft in der rationellen und effektiven Führung diversifizierter Haushalte; sie sammelten Erfahrungen und Wissen in landwirtschaftlichen Techniken, in Viehzucht, Gartenbau, Gemüseanbau, Bienenzucht u.a. m. So realisierten sich in den Erfahrungen der Klöster zwei Schwerpunkte des sozialen Dienstes: die Diakonie-Vorbeugung und die Diakonie-Hilfe. Auch die Heiligenverehrung, die in der Russisch-Orthodoxen Kirche einen hohen Stellenwert hatte, war von Bedeutung für die orthodoxe Wohltätigkeit und Barmherzigkeit. Das Lebensbeispiel vieler Heiliger war für das gesellschaftliche und kirchliche Bewußtsein prägend. Den Menschen wurden Wege zur eigenen Errettung gezeigt; dazu gehörte das Vorbild bestimmter von den Heiligen vorgelebter Eigenschaften wie Uneigennützigkeit, Rechtgläubigkeit, Reue, Buße, Nächstenliebe u.a. Diese Diakonie-Orientierung prägte das geistig-sittliche Empfinden der russischen Gesellschaft. Die Rolle der Kirchengemeinden bei der orthodoxen Wohltätigkeit und Barmherzigkeit gewann seit dem 16. Jahrhundert an Bedeutung. Der Boom des Kirchenbaus war vorbei; in allen Regionen Rußlands waren Tausende von Kirchen entstanden. Die Einheit von Gebet und Liturgie mit unterschiedlichen Formen der gegenseitigen Hilfe und Konsolidierung war ein Hauptmerkmal des Lebens in den Gemeinden. So gab es besondere Häuser für Bettler und Krüppel, die „im Namen Christi“ ernährt wurden. Nicht selten wurde das Vermögen der Gemeinde, bei dessen Verwaltung der Gemeindeälteste eine wichtige Rolle spielte, als eine Art Darlehenskasse für Bedürftige verwendet. Kirchliche Grundstücke konnten an die Gemeindeglieder unter Vorzugsbedingungen verpachtet werden. Bis zum Ende des 18. Jahrhunderts erfüllten die Geistlichen gleichzeitig die Funktion eines Notars, indem sie durch ihre Unterschrift Bittgesuche, Untersuchungen, Verhandlungen u. ä. beglaubigten. Der niedere Klerus unterrichtete Kinder für ein geringes Entgelt im Lesen und Schreiben. Eine große aufklärerische Rolle spielte die Gemeindebibliothek, deren Bestand nicht nur durch den Ankauf von Büchern, sondern auch durch Bücherspenden der Gemeindeglieder ergänzt wurde. Die Bücher konnten für eine gewisse Zeit ausgeliehen werden, was vor allem auch von den Bauern sehr genutzt wurde. Menschen, die sich der Wohltätigkeit verweigerten, 184 unterlagen einer gesellschaftlichen Ächtung: „Wer keine Gnade schafft, wird ohne Gnade gerichtet“. Bettler erhielten Unterkunft, Geld, Kleidung und Nahrung, sie wurden zu Festen und Totenfeiern eingeladen. An Festtagen wurden gelegentlich auf der Straße Tische für sie gedeckt. Ab dem 19. Jahrhundert war in der Russisch-Orthodoxen Kirche wie auch in der gesamten Gesellschaft ein neues Phänomen zu verzeichnen: Organisierte Wohltätigkeit. Überall wurden wohltätige Gesellschaften organisiert, Armenhäuser, Obdachlosenheime, Zufluchtstätten, Stiftungen für Arme, Taubstumme, Waisen und Erziehungsheime sowie Räume für kostenlose Speisung eingerichtet. Anfang des 20. Jahrhunderts gab es in Rußland circa 5000 wohltätige Einrichtungen, von denen etwa 700 von kirchlichen Stellen getragen wurden. Nach der Oktoberrevolution von 1917 mußte die Kirche alle offiziellen Formen der wohltätigen Arbeit einstellen; sie durfte lediglich noch Trost spenden und den christlichen Geboten entsprechend die Leidenden und Bedürftigen beraten. Die Liturgie und die Sakramente erhielten so neben ihrer sakralen Bedeutung auch den Charakter eines besonderen sozialen Dienstes. Die heutige Wiedererstehung des kirchlichen Lebens in Rußland bedeutet für die Russisch-Orthodoxe Kirche auch, die Tradition der orthodoxen Wohltätigkeit und Barmherzigkeit wiederzubeleben. Für die Gesamtkirche wurde eine Abteilung für Wohltätigkeit und soziale Dienste eingerichtet, analoge Strukturen werden in allen Eparchien und auch in vielen Kirchengemeinden geschaffen. Kirche wird in Rußland zu einem wichtigen Element und handelnden Subjekt der Sozialpolitik. Zu diesem Zweck schloß die Eparchie Moskau Verträge mit Ministerien und Behörden, so 1996 die Vereinbarung mit dem Ministerium für Gesundheitswesen über die geistliche Betreuung von Patienten in Kliniken und über gemeinsame Projekte bei medizinischen Einrichtungen. Es wurde auch die Gesellschaft der orthodoxen 185 Ärzte ins Leben gerufen; seit 1995 einer der Träger des Internationalen Zentrums vom Hl. Serafim von Sarow. Das Zentrum widmet sich u.a. der Berufsausbildung und der geistig-moralischen Erziehung von Kindern in Kinderheimen, und gemeinsam mit dem Forschungsinstitut für Kinderkrankheiten und Kinderchirurgie leistet es medizinische und Rehabilitationshilfe für sozial schwache Kinder. Die Abteilung für Wohltätigkeit und soziale Dienste hat ein Programm zur Erhaltung von Arbeitsplätzen ausgearbeitet; für Migranten gibt es Beratungshilfe. Das Patriarchat und die Eparchien sind an der Verteilung von Hilfsgüterlieferungen der Humanitären Hilfe aus dem Ausland beteiligt. Die Eparchien gründen und betreuen Kinderheime und Kinderkrippen und unterstützen kinderreiche Familien und Behinderte. Kirchengemeinden und Eparchien sind Mitträger wohltätiger Stiftungen und Organisationen. Die Wiederbelebung der verschiedenen Formen von kirchlicher sozialer Arbeit, von wohltätiger und barmherziger Tradition wird durch die Zusammenarbeit mit einer Reihe ausländischer und internationaler sozialer und karitativer Dienste gefördert. Das heutige, moderne Konzept der Wohltätigkeit der Russisch-Orthodoxen Kirche unterscheidet sich inhaltlich nicht von früheren Auffassungen. Nach wie vor sind zwei Aspekte von herausragender Bedeutung: die Seelsorge für die Gemeindeglieder und der soziale Dienst für die besonders benachteiligten Bevölkerungsschichten; also Seelsorge und Diakonie. Der Unterschied zwischen diesen beiden Aspekten der kirchlichen Tätigkeit wird von der Orthodoxie als relativ angesehen; sie unterstreicht deren Einheit und Untrennbarkeit. Im Jahr 2000 verabschiedete das Heilige Konzil der Erzbischöfe der RussischOrthodoxen Kirche die „Grundlagen der sozialen Konzeption der RussischOrthodoxen Kirche“, in denen die Beziehungen zwischen Staat und Kirche einerseits und Gesellschaft und Kirche andererseits erörtert werden. Das Dokument beschreibt die grundlegenden Aufgaben der Kirche als einer der Gesellschaft die- 186 nenden Institution und basiert auf dem orthodoxen Verständnis der Position der Kirche in einer pluralistischen säkularen Gesellschaft. Ein Schwerpunkt wird in diesem Konzept auf die Entwicklung gemeinsamer sozialer Programme durch Kirche und Gesellschaft gelegt. A. W. Kamkin Patronat und Betreuung Die ursprüngliche Bedeutung von Patronat ist „Schutz des Schwächeren“. Im Alten Rom wurde als Patron ein vornehmer Bürger bezeichnet, der die von ihm abhängigen Menschen unter seinen Schutz stellte. In Westeuropa entstand das Patronat Ende des 18. Jahrhunderts als Strafentlassenenhilfe. In Russland bezeichnete das Patronat zu Beginn des 20. Jahrhunderts die Gesamtheit der Maßnahmen der geistigen und materiellen Hilfen für Strafentlassene und Prostituierte mit dem Ziel, ihnen den Übergang zu einem ehrlichen Arbeitsleben zu erleichtern. In der Sowjetunion wurde das Patronat als Erziehung von Waisenkindern in den Werktätigenfamilien auf Grundlage des Vertrages und unter Kontrolle der Staatsorgane zur Bekämpfung der Verwahrlosung und Aufsichtslosigkeit bezeichnet. Die Betreuung wurde als Form der häuslichen medizinischen Hilfe für Kleinkinder, Schwangere und psychisch Kranke verstanden. Heute wird unter Patronat das gesamte System von Hilfemaßnahmen für Bedürftige verstanden. Es schließt medizinisch-soziale, sozialpädagogische, sozialpsychologische und sozialrechtliche Betreuung ein; klassifiziert wird unter anderem nach der Dauer der Betreuung. In der sozialen Arbeit in Deutschland wird die Betreuung als eine spezifische Art sozialarbeiterischen Handelns betrachtet. Grundintention ist die Sorge für eine Person, so dass Betreuung auch mit dem Begriff Fürsorge gefasst werden kann. Es ist ein stetiges und intensives Bemühen um die alltägliche Lebensbewältigung des Klienten. Freiwillige Betreuungsklienten können Menschen sein, die ihr Alltagsleben nicht allein bewältigen können aus Gründen eigener Kompetenzdefizite, 187 z.B. mentale Altersschwäche, psychische Gestörtheit, geistige Behinderung, Sprachunfähigkeit u.a. m., und die von sozialen Problemen betroffen sind. Betreuung im Bereich der Pflichtklientschaft ergibt sich für den Sozialarbeiter, wenn er vom Gericht mit dem Amt eines Vormundes oder Betreuers betraut wurde. In Russland nahm die Sozialarbeit ihren Anfang als Hilfeleistung für alleinstehende alte Menschen. Daher hat das Patronat nach wie vor zentrale Bedeutung in der Fürsorge für alte Menschen und Behinderte, die in einem eigenen Haushalt leben, aber alleinstehend sind, an Bewegungsstörungen leiden und nicht in der Lage sind, ihr Alltagsleben selbstständig zu organisieren. Das Patronat ist eine Alternative zur stationären Unterbringung Alter oder Behinderter in einer sozialen oder medizinischen Einrichtung. Den zu Betreuenden werden verschiedene Hilfeleistungen angeboten, etwa Hilfen bei der Versorgung mit Medikamenten, beim Einkauf, beim Kochen, Aufräumen und der Körperpflege, ferner bei Mietzahlungen und Regelungen anderer Angelegenheiten außerhalb der Wohnung. Auch einfache medizinische Hilfe können die ausgebildeten Sozialarbeiter/innen leisten, etwa Messung des Blutdrucks, Massagen, Beaufsichtigung bei der Einnahme von Medikamenten u.a. Abhängig vom Einkommen werden die Klienten entgeltlich oder unentgeltlich betreut. Mit der Ausweitung des sozialen Dienstes auf andere Bevölkerungsgruppen bezieht das Patronat in seine Arbeit auch Familien mit ein, die zu sozialen Risikogruppen gehören und der professionellen sozialarbeiterischen Hilfe bedürfen. Zu dieser Kategorie gehören kinderreiche Familien und Familien mit einem Elternteil, Vormundschaftsfamilien, Familien, in denen ein Kind oder ein Elternteil behindert ist u.a. 188 Die Familienbetreuung unterscheidet sich wesentlich von der Betreuung alter Menschen; hier steht nicht die Unterbringung in Heimen oder anderen Einrichtungen als Alternative im Mittelpunkt, und es geht auch weniger um Sachleistungen wie Hilfe beim Einkaufen oder im Haushalt. Vielmehr sollen die Familien zur ei-genständigen Mitwirkung an den sozialpsychologischen, pädagogischen, medizinischen und wirtschaftlichen Hilfsmaßnahmen befähigt werden - so wie auch generell die soziale Betreuung auf die Entwicklung der Selbstständigkeit des Klienten, auf die Förderung seiner Fertigkeiten und seiner Fähigkeit, sein Leben selbst zu gestalten, abzielt. L. Maschirowa / U. Zinda Pädagogik (¤ Bildung und Erziehung) Der Begriff „Pädagogik“ bezieht sich zum einen auf Pädagogik als Wissenschaft, zum anderen auf die Pädagogik als eine praktische Tätigkeit und Kunst. In der Pädagogik als Wissenschaft geht es darum, die Gesetzmäßigkeiten in der Persönlichkeitsentwicklung zu erkennen und zu erforschen und diese Erkenntnisse systematisch auf den pädagogischen Prozeß, auf die Erziehungslehre und die Ausbildung von Erziehern anzuwenden. Der Begriff „pädagogischer Prozeß“ wurde erstmals 1905 von dem russischen Pädagogen P. Kapterew erwähnt. Zu ihm gehören die Erziehung und das Lehren. Erziehung ist ein ein zielbewußter, koordinierter Prozeß, der zur aktiven Ausprägung der Persönlichkeit im Rahmen der Aneignung gesellschaftlicher Erfahrung beiträgt. Durch Erziehung wird die „gespeicherte Erfahrung“ der Gesellschaft an die Kinder weitergegeben. Als eine gesellschaftliche Erscheinung wird sie als 189 Übergabe der gespeicherten Erfahrung verstanden. Erziehung findet in allen gesellschaftlichen Institutionen und Organisationen, in Kirche, Massenmedien, Familie und Schule statt. Dabei geht es stes um das soziale Zusammenwirken zweier Subjekte, des Pädagogen und des zu Erziehenden. Der pädagogische Prozeß im Sinne des (Schul-)Unterrichts ist eine Zusammenarbeit von Lehrern und Schülern zum Erreichen der Ausbildungsziele. Sein Inhalt besteht darin, die Lerntätigkeit der Schüler zu steuern, ihre Fähigkeiten und Fertigkeiten zu entwickeln. Auch der Lehrprozeß ist stets zweiseitig: Er schließt neben der Tätigkeit des Lehrers auch das Lernen, die Tätigkeit der Schüler ein. Die Inhalte der Ausbildung umfassen wissenschaftliche Kenntnisse sowie Normen, Regeln, Werte und Ideale. Die Ausbildung wirkt auf den Intellekt, die Erziehung auf die Bedürfnis- und Motivationssphäre der Persönlichkeit. Beide Prozesse beeinflussen Bewußtsein, Verhalten, Emotionen der Persönlichkeit und sehen ihre Entwicklung vor. Der pädagagische Prozeß ist auf die Steuerung der natürlichen Entwicklung gerichtet, auf die Erziehung des Kindes zum Mitglied der Gesellschaft. Unter den Hauptfaktoren dieser Entwicklung sind Vererbung, Umgebung und Erziehung sowie die Selbstentwicklung der Persönlichkeit zu nennen. Die pädagogische Tätigkeit, die die optimalen Bedingungen für Erziehung und Entwicklung der Persönlichkeit zu schaffen hat, zeigt folgende Besonderheiten: - das Ziel wird von der Gesellschaft bestimmt; - das Ergebnis ist langfristig zu erreichen; - das Subjekt ist der Pädagoge; - das Objekt ist der Zögling, der gleichzeitig als Subjekt auftritt; - die pädagogische Tätigkeit ist von subjektiv-objektivem Charakter; - die Tätigkeit ist auf die Steuerung anderer Tätigkeiten gerichtet. I. Sudakowa 190 Persönlichkeit In sozialen Berufen hat man es häufig mit Menschen unterschiedlicher Charaktere zu tun. Sie zwingen einen gewissermaßen dazu, mit ihnen in differenzierter Weise umzugehen. Es stellt sich daher die Frage, wie sich Menschen in ihrem Verhalten und Erleben unterscheiden und wie ihre differenten Ausdrucks- und Verhaltensweisen zustandekommen. In der Persönlichkeitspsychologie sprach man früher von sogenannten Charaktereigenschaften, die für die Unterschiede zwischen Menschen verantwortlich gemacht wurden und die den jeweiligen Charakter begründeten. Meist wurden darunter ererbte Eigenschaften verstanden. Die heutige Persönlichkeitsforschung sieht die typischen Eigenarten von Menschen vor allem in ihren jeweiligen Lernerfahrungen, manchmal auch vorrangig durch situative Einflüsse geformt. Die Bezeichnung Persönlichkeit wird daher dem Charakterbegriff vorgezogen, da er neutraler ist und keine impliziten Aussagen darüber macht, ob der Anlage oder der Umwelt mehr Einfluß zugeschrieben wird. Unter Persönlichkeit verstehen wir mit Angleitner (1980) demzufolge „die je besonderen Eigenarten des Verhaltens und Erlebens eines Menschen. Diese Eigenarten sind relativ konstant und bestimmen die typische Art und Weise seiner Lebensführung.“ Wollen wir Menschen trotz ihrer Einmaligkeit miteinander vergleichen, dann scheint es sinnvoll, Beschreibungskategorien zu finden und festzulegen, anhand derer sich menschliche Eigenschaften unterscheiden lassen. 191 Nachfolgend werden unter Bezugnahme auf Angleitner die wichtigsten theoretischen Konzeptionen im Überblick benannt: 1. Eigenschaftsansatz (Trait-Ansatz) (G. W. Allport, 1960). Unterschiedliche Eigen-schaften bestimmen vornehmlich die Unterschiede im Erleben und Verhalten. Der Einfluß situativer Bedingungen wird nicht geleugnet und mit berücksichtigt. 2. Psychodynamische Ansätze (S. Freud, 1940). Im Mittelpunkt stehen die Struktur und das Wechselspiel verschiedener innerpsychischer Kräfte, die als bestimmend für das Verhalten von Menschen in unterschiedlichsten Lebenssituationen angesehen werden. 3. Phänomenologische Ansätze (P. Lersch, 1962). Selbst- und Fremdwahrnehmung werden als bedeutend für die Persönlichkeit und deren Entwicklung gesehen. 4. Interaktionistische Ansätze (K. Lewin, 1969). Spezifische Erwartungen der sozialen Umwelt sowie typische Interaktionen formen die Persönlichkeit. Diese Persönlichkeitsmodelle können in der Alltagspraxis dazu beitragen, Personen, mit denen wir es zu tun haben, genauer zu beschreiben und eine Persönlichkeitsstruktur von ihnen zu entwerfen. Um jedoch auch angemessen auf die jeweilige Person und ihre Anliegen eingehen zu können, müssen wir je individuell herausfinden, wie es zur Ausbildung gerade dieser Eigenschaften gekommen ist. Die dargestellten Persönlichkeitskonzepte können uns dabei richtungweisend eine Hilfe sein. H.-P. Steden 192 Pflege ist eine personenbezogene Dienstleistung für den pflegebedürftigen Menschen in seinen verschiedenen Lebenssituationen. Sie wird erbracht mit dem Ziel, die Selbständigkeit des Pflegebedürftigen zu erhalten, so bald als möglich wieder herzustellen oder diesen zu befähigen, mit Einschränkungen in der eigenen Lebensgestaltung umzugehen bzw. trotz der Einschränkungen neue Lebensqualitäten für sich zu entdecken. Die Entscheidungsfähigkeit und Handlungsautonomie des Pflegebedürftigen gilt es zu sichern, seine emotionale Betroffenheit zu verstehen. Damit leistet Pflege ihren gesellschaftlichen Beitrag zur Gesundheitsvorsorge und Krankheitsverhütung, zur Wiederherstellung von Gesundheit, zur Unterstützung und Hilfeleistung bei chronischen Erkrankungen sowie Gebrechlichkeit und im Sterbeprozeß. Die Ziele der Pflege erschließen sich aus der Auseinandersetzung zwischen gesellschaftlichen Anforderungen und dem Bedarf an kompetenter Hilfe in den Lebenssituationen, in denen die eigene Kompetenz, die eigenen Kräfte nicht ausreichen, um Gesundheitsprobleme sowie körperliche und psychische Einschränkungen zu bewältigen. Ziele und Interventionen der Pflege sind jeweils ausgerichtet auf die individuelle Situation eines Menschen und auf die jeweils spezifische Problemlage des einzelnen. Durch die Begleitung in der Auseinandersetzung, Bearbeitung und möglichen Bewältigung von Krankheitsprozessen schaffen die Pflegenden Entlastung für das Individuum, lassen durch die professionelle Anteilnahme Krankheit nicht in der Anonymität des Einzelschicksals verschwinden, sondem ermöglichen eine Verbindung von Individuum und Gesellschaft. Pflegerische Konzepte werden entwickelt mit und nicht gegen den Willen und die Bedürfnisse des Individuums. Dadurch wird die compliance (Einverständnis) zwischen Betroffenen und Pflegenden erhöht und gestärkt. 193 Pflegerische Arbeit wird sichtbar im unmittelbaren Handeln an der Person und in der handwerklichen Unterstützung des Pflegebedürftigen bei der alltäglichen Lebensbewältigung. Dieser sichtbare Anteil pflegerischer Arbeit leitet sich ab aus dem Aufbau, der Entwicklung und Gestaltung einer professionellen Beziehung als Kern pflegerischer Arbeit. Hilfe und Unterstützung werden dann notwendig, wenn die Selbstpflegekompetenz eingeschränkt ist durch körperliche Beeinträchtigung, durch Schmerz, Funktions-einschränkungen, durch psychische Veränderungen und/oder Prozesse des Alterns oder durch besondere Lebensereignisse wie die Geburt eines Kindes. Um überhaupt angemessene Hilfen anbieten zu können, brauchen die Pflegenden Informationen über die Fähigkeiten des Pflegebedürftigen, seine Problemsicht, über seine eigenen Ziele auf dem Weg zur Gesundheit, über seine Vorstellungen von Lebensqualität und auch über seine Wahrnehmung des Bedarfs von Pflege. Dieser Position des Pflegebedürftigen stehen das Wissen über Gesundheit und Krankheit, über Gesundungsbedingungen und Gesundungsprozesse sowie das Können und die Fertigkeiten, den Pflegebedürftigen zu pflegen und dessen Belastungen zu mindern, gegenüber. Das Spannungsverhältnis von Bedürfnisäußerung und professionell bewertetem Bedarf bestimmt dieses dialogische Verhältnis. Auf der Basis dieser professionellen Beziehung begleiten und unterstützen die Pflegenden Menschen in der individuellen Auseinandersetzung mit Krankheit, Behinderung und Leiden bis hin zum Sterben und intervenieren im Notfall, ohne sich des Einverständnisses vergewissem zu können, zum Wohle des Betroffenen. Um die Zusammenarbeit mit den Pflegebedürftigen systematisch, begründet und reflexiv zu gestalten, arbeiten die Pflegenden mit der Prozeßmethode. Ausgehend von einer Erhebung des jeweils spezifischen Pflegebedarfs wird pflegerisches Handeln zielorientiert geplant, durchgeführt, dokumentiert und evaluiert. Damit ist der pflegerische Arbeitsprozeß für alle an der Behandlung und Betreuung Beteiligten nachzuvollziehen. 194 Diese Fähigkeit, konstruktiv und partnerschaftlich Angebote auszuhandeln sowie das Recht auf selbstbestimmte Entscheidungen zu akzeptieren, bezieht sich gleichwertig auf die Zusammenarbeit mit Angehörigen bzw. entsprechende Bezugspersonen der Pflegebedürftigen. Die Form des Zusammenwirkens von Pflegendem und Gepflegtem bringt u. U. erhebliche psychosoziale Belastungen für die Pflegenden mit sich und beinhaltet auch die Gefahr, neue psychische Abhängigkeiten zu schaffen. Um sich selbst vor Gefährdungen und psychosozialen Verletzungen zu schützen, muß die Pflegekraft befähigt werden, diese berufliche Beziehung zu reflektieren und aufzuarbeiten. Damit wird sie auch in die Lage versetzt, mögliches abhängiges Verhalten frühzeitig zu erkennen und entsprechend zu handeln. Ein nicht zu unterschätzender Anteil pflegerischer Arbeit bezieht sich gerade in den klinischen Bereichen auf die Hilfe und Unterstützung der Patienten bei diagnostischen und therapeutischen Eingriffen. Dazu gehören auch die technische Vor- und Nachbereitung und die teilweise selbständige Durchführung medizinischer Maßnahmen. Durch die ständige Präsenz der Pflegenden im stationären Bereich fällt ihnen als primäre Ansprechpartner/-innen der Pflegebedürftigen eine zentrale Verantwortung zu. Sie koordinieren die Behandlungsprozesse und erkennen die Notwendigkeit, andere Professionen zu beteiligen. Darüber hinaus müssen sie als Vermittler/-innen zwischen dem Patienten und einer Vielzahl von funktionsspezifisch tätig werdenden Spezialisten die Bedeutung pflegespezifischer Erfordernisse angemessen vertreten und notwendige Prioritäten in der Versorgung aushandeln können. Dies ist ein schwieriger Teil pflegerischer Arbeit, kommen doch in einem solchen Team verschiedene Interessen, Präferenzen, gewachsene Strukturen, Statusdenken, unterschiedliche Theorie- und Denkstrukturen zusammen. Aufgrund des steigenden Anteils betagter und hochbetagter Personen, die mit zunehmendem Alter zu potentiellen Klienten von Pflege werden, aber auch aufgrund einer Zunahme an chronischen Krankheiten wächst der Bedarf an Pflege. Diese betroffene Personengruppe wird zunehmend nicht im Krankenhaus, sondem im ambulanten Bereich pflegerisch betreut. Mit dieser Verlagerung des Arbeitsfeldes stellen sich veränderte Anforderungen. Beratung und Begleitung und die Erhal195 tung und Aktivierung einer eigenständigen Lebensführung stehen im Zentrum der pflegerischen Beziehung, wobei die heutigen und zukünftigen pflegerelevanten Entscheidungen vor dem Hintergrund des gelebten Lebens bewertet werden. Pflege leistet diesen Beitrag aus eigener fachlicher Bestimmtheit in Kooperation mit anderen therapeutischen sowie sozialen Diensten. Pflege zieht eigene pflegewissenschaftliche Erklärungsansätze heran, um die pflegerische Praxis zu bearbeiten und weiterzuentwickeln. Sie ist bestrebt, bisher gewonnene Erfahrungen vor einem theoriegelenkten Verständnis von Pflege neu zu bewerten. Sie zieht Erkenntnisse und Verfahren anderer Wissenschaftsdisziplinen heran, um sie für die Pflege nutzbar zu machen. Damit löst sich die Pflege methodisch und fachwissenschaftlich von der historisch gewachsenen Zugehörigkeit zur und Abhängigkeit von der Medizin, ihren Denkstrukturen und ihrem methodischen Vorgehen, den Problemlagen der Menschen zu begegnen und diese zu bewältigen. Statt dessen bringt Pflege ihre eigenständige Kompetenz mehr und mehr in den Dialog mit den benachbarten Disziplinen bzw. mit den anderen Berufsgruppen im Gesundheitswesen ein. M. Sieger Pflegefamilie (¤ Kinderheime, ¤ Familienkinderheime) Die Einrichtung der Pflegefamilie ist aus der Idee der Familienkinderheime entwickelt worden. Mit Verabschiedung des Familiengesetzbuches der Russischen Föderation 1996 wurden die gesetzlichen Grundlagen festgelegt. In einer Pflegefamilie werden Waisenkinder und Kinder ohne elterliche Fürsorge aufgenommen. Administrative Grundlage ist ein Vertrag zwischen Vormundschaftsbehörde und 196 Pflegeeltern (Ehepaare oder auch Einzelpersonen). Pflegeeltern müssen die gleichen Voraussetzungen erfüllen wie Leiter von Familienkinderheimen. Im Vertrag werden Dauer des Aufenthalts der Kinder, Erziehungs-, Bildungs- und Unterhaltsordnung und die Zuständigkeitsbereiche (Familie - Vormundschaftsbehörde) geregelt. Die im Vergleich zu Kinderheimen oder Familienkinderheimen geringere Anzahl von Kindern in der Pflegefamilie ermöglicht quasi-familiäre Bedingungen, vor allem den engen persönlichen Kontakt von Kind oder Kindern und Pflegeltern. Einschließlich der leiblichen oder adoptierten Kinder darf die Zahl der Kinder in einer Pflegefamilie acht nicht überschreiten; es ist aber auch die Aufnahme von nur einem Pflegekind möglich. A. Kuschew Pflegeversicherung in Deutschland Die Pflegeversicherung ist in der Bundesrepublik Deutschland 1995 als fünfter und eigenständiger Zweig der Sozialversicherung eingerichtet, auch wenn sie organisatorisch von der Krankenversicherung verwaltet wird. Die gesetzliche Absicherung des Risikos Pflegebedürftigkeit in Deutschland ist eine Reaktion auf die steigende Zahl der Hochbetagten und/oder chronisch Kranken in unserer Gesellschaft. Derzeit gibt es in Deutschland rund 1,7 Mill. Pflegebedürftige, etwa 500.000 davon leben in Heimen. Es wird mit einer weiteren Zunahme der Pflegebedürftigen gerechnet. Gleichzeitig aber verringert sich die Zahl derer, die - sei es im familiären Verbund, sei es als Nachbarn - in der Lage oder bereit sind, die Pflegeleistung zu erbringen. Alle Personen, die in der Gesetzlichen ¤ Krankenversicherung versichert sind, unterliegen der Versicherungspflicht. Auch Sozialhilfeempfänger sind pflichtversichert. Daneben sind alle Personen, die in einer privaten Krankenversicherung versichert sind, verpflichtet, sich dort gegen das Risiko Pflege zu versichern. Familienangehörige ohne Einkommen sind jeweils beitragsfrei mitversichert. Die 197 Pflegeversicherung deckt also fast die gesamte Bevölkerung ab. Die Beiträge zur Pflegeversicherung betragen zur Zeit 1,7 Prozent des Bruttoeinkommens (je zur Hälfte von Arbeitnehmern und Arbeitgebern) bis zu einer bestimmten Obergrenze (Beitragsbemessungsgrenze). Die Gesetzliche Pflegeversicherung gewährt den Versicherten und ihren nicht selbst versicherten Ehepartnern und Kindern Leistungen bei ambulanter und stationärer Pflege. Die Leistungen sind nach dem Grad der Pflegebedürftigkeit gestaffelt. Pflegestufe I meint eine "erhebliche" Pflegebedürftigkeit, bei der mindestens einmal täglich ein Bedarf an Hilfe besteht. Die Pflegestufe II meint "Schwerpflegebedürftigkeit" und geht von einem Hilfebedarf von dreimal täglich aus. Pflegestufe III bedeutet "Schwerstpflegebedürftigkeit" und einen Bedarf an Hilfe rund um die Uhr. Dabei hat die häusliche Pflege Vorrang vor der stationären Unterbringung, Prävention hat den Vorrang vor Pflege. Damit werden erstmalig in den privaten Haushalten von Privatpersonen erbrachte Pflegeleistungen finanziell honoriert (Pflegegeld). Zugleich sind diese Pflegenden in der Gesetzlichen Unfallversicherung versichert. Das Pflegegeld ist entsprechend den Pflegestufen gestaffelt. Bei ambulanter Pflege durch professionelle Kräfte gibt es - ebenfalls nach Pflegestufe gestaffelt - Pflegesachleistungen, die ggf. mit dem Pflegegeld kombiniert werden können (also Selbsthilfe der Familie in Verbindung mit Hilfen von außerhalb). Bei stationärer Pflege werden nach Pflegegrad gestaffelte Zuschüsse gewährt. Hier wie auch bei den anderen Leistungen wird deutlich, die Pflegeversicherung versteht ihre Leistungen als Zuschuss, nicht aber als Vollversorgung. So müssen je nach Pflegegrad ggf. Zuzahlungen erfolgen - aus der Rente, vorhandenem Vermögen, Zuzahlungen der Angehörigen, aber auch ggf. aus der Sozialhilfe. Derzeit wird immer wieder betont, dass der gefundene Finanzrahmen vermutlich auf Dauer zu gering ist und ggf. weitere Finanzierungsquellen erschlossen werden müssen. E.-U. Huster 198 Politische Kultur Strukturkrisen in Transformationsgesellschaften wie demographische Verschiebungen, Migrationsbewegungen, soziale Umbrüche, ökologische Reformen usf. erfordern Einstellungs- und Verhaltensänderungen. In der Sozialisation erworbene Werthaltungen und Einstellungen, die das Handeln des Individuums beeinflussen, sind stabile Wahrnehmungsorientierungen und Handlungsdispositionen, die sich nur unter bestimmten Bedingungen und in der Regel nur langsam ändern. Der Begriff ‚Politische Kultur‘ wird durch affektive und kognitive Einstellungen gegenüber einem politischen System, seinen Institutionen, bestimmten Bevölkerungsgruppen sowie typischen Verhaltensmustern in der Politik beschrieben („subjektive Dimension der Politik“). Die nicht oder nur teilweise fixierten Einstellungen und Verhaltensweisen charakterisieren dennoch ein politisches System. Einstellungen setzen sich aus affektiven, kognitiven und konativen Komponenten zusammen, sind nicht direkt beobachtbar, sondern aus dem Verhalten zu erschließen. Die affektive Komponente (Gefühlsebene) wird früh geprägt und ist tief verwurzelt, ist bei stark negativer oder positiver Ausprägung Veränderungen gegenüber ziemlich resistent, da Vernunft und Fakten nur in langwierigen Erziehungsprozessen greifen, z.B. die Überwindung von Vorurteilen gegen Juden, Behinderten usf. Bilder, Musik, Geräusche können affektive Komponenten verstärken; so scheint ein hassverzerrtes Gesicht in Großaufnahme in einer Demonstration die Empfindungen Tausender wiederzugeben. - Die kognitive Komponente setzt ein gewisses Maß an Verarbeitung der affektiven Komponente voraus, äußerst sich in Ansichten, Urteilen und Vorstellungen über ein soziales Objekt, kommt inhaltlich einer Meinung nahe und ist durch Aufklärung am ehesten veränderbar, auf Dauer allerdings nur, wenn auch die affektive verändert wird. - Die konative Komponente bezeichnet die Bereitschaft, sich in einer bestimmten Weise zu verhalten, muss sich aber nicht mit dem tatsächlichen Verhalten decken (Wahlbefragungen). 199 Da Einstellungen die Komplexität der Umwelt reduzieren, Personen und Ereignisse einordnen helfen, also Orientierung ermöglichen, Sicherheit und Stabilität geben, somit das Handeln in unbekannten Situationen erleichtern, sind sie oft durch lange Zeit stabil. - Vorurteile sind erworbene Einstellungen und vorgefasste Meinungen, die eine positive oder negative Orientierung gegenüber sozialen Objekten vorgeben, gegen Erfahrung und Lernprozesse relativ unempfindlich sind, als Ressentiments (gefühlsbedingte Vorurteile wie Fremdenhass, Antisemitismus usf.) in sozialen und politischen Konflikten verschiebbar, leicht zu manipulieren und zu mobilisieren sind, zur Diskriminierung und aktiven Verfolgung von Minderheiten missbraucht werden. Einstellungen halten sich über lange Zeiträume und ändern sich auch bei rapidem gesellschaftlichen Wandel nur langsam. Jahrhunderte haben tradierte Einstellungen wie Obrigkeitshörigkeit (Etatismus), unpolitische Einstellung, Konfliktscheu, Formalismus und Reduktionismus, die auch in Russland nicht unbekannt sind, das politische Verhalten in Deutschland bestimmt; der Zusammenbruch von Wirtschaft und Demokratie in der Weimarer Republik, das Nazi-Regime mit seinen Verbrechen incl. Krieg waren historische Grundlagen, deren abschreckende Wirkung die neue Demokratie der Bundesrepublik stabilisierten. Für den Wandel der tradierten Einstellungen waren Nachkriegssozialistion, Modernisierung der Gesellschaft und Wohlstand mit sozialer Absicherung maßgeblich; das alte Staatsverständnis machte einem demokratischen Bewusstsein Platz. Ob sich die politische Kultur ohne Wirtschaftswunder es prägte die ‚Erinnerung‘ der Bevölkerung an das neue System nachhaltig - so positiv entwickelt hätte, ist fraglich. Die Ostdeutschen dagegen wechselten nach dem II. Weltkrieg von einem totalitären System ins andere, sie fanden in der Wende nach 1989 keine Zeit, sich vom autoritär geprägten Bewusstsein zu lösen, eine politische Bürgerkultur zu entwickeln; die Geschichte ihres Staates war negativ besetzt. F. Schmidt 200 Prostitution (lat. Schändung, Entehrung) wird als bezahlte sexuelle Beziehung definiert. Es wird zwischen der Prostitution Erwachsener (Frauen und Männer) und Kinderprostitution unterschieden. Das „älteste Gewerbe der Welt“ hat seine Ursprünge bereits im 4. Jahrhundert vor Christus, als die ersten Bordelle entstanden. Gründe, sich zu prostituieren, waren immer schon soziale Ungleichheit und schwierige materielle Lagen. Moderne Untersuchungen belegen, wie auch schon russische Untersuchungen aus dem 19. Jahrhundert, daß den ganz überwiegenden Teil der Prostituierten ökonomische Gründe zur Aufnahme dieser Beschäftigung zwingen: steigende Arbeitslosigkeit, niedrige Löhne, Inflation, Angst vor dem Verlust der Arbeitstelle. Weitere Gründe sind ein allgemeiner Verfall und eine Entwertung der sittlichen und moralischen Werte im Bereich der sexuellen Beziehungen, das Bestreben, um jeden Preis Geld zu verdienen, die Weigerung, zu lernen und zu arbeiten und eine allgemeine Sinnkrise. Viele professionelle Prostituierte haben selbst als Kinder und/oder Jugendliche in der eigenen Familie sexuellen Mißbrauch erfahren, wurden zum Konkubinat mit älteren Männern und zu bezahlten sexuellen Diensten gezwungen oder erlebten physische Gewalt. Das Angebot sexueller Dienstleistungen hat im letzten Jahrzehnt zugenommen. Vor allem in den größeren Städten wie Moskau und Sankt Petersburg wird die Prostitution zum sozialen Problem. Häufiger werden die Fälle männlicher Prostitution, und vor allem auch die Kinderprostitution nimmt immer mehr zu. Kinder werden bereits im Alter von 9 bis 11 Jahren - häufig von ihren Eltem - gezwungen, sich zu verkaufen. Ein signifikanter Anteil der erwachsenen Prostituierten arbeitet im Dienstleistungssektor: in Hotels, Saunas, in der Gastronomie, in Geschäften und Friseursalons. 201 Nach Ansicht der meisten Experten ist die Prostitution eine Folge der sozialen, ökonomischen und sittlichen Deformationen in der Gesellschaft. Sie hat ein großes Gefährdungspotential: als Ursache von Geschlechtskrankheiten und AIDS, als Ausgangspunkt für kriminelles Verhalten, der Kuppelei und der Verführung Minderjährigern. In Rußland ist die Prostitution gesetzlich verboten. Doch erweisen sich die Gesetze als ineffektiv, weil die Durchsetzung und der Vollzug große Kosten verursacht. Die verhängten Ordnungsstrafen sind minimal. Sozialarbeit mit Prostituierten in Rußland kann noch auf keine bedeutsamen Erfahrungswerte verweisen. Die Tätigkeit der Sozialarbeiter richtet sich vor allem auf folgende Ziele: - medizinische Hilfe, vor allem im Hinblick auf die weitverbreiteten Geschlechtskrankheiten; - Vorbeugung der Kinder- und Jugendprostitution; - individuelle und Gruppenarbeit mit Kindern und Eltern, die einer Risikogruppe zuzurechnen sind; - Ausarbeitung eines Konzeptes, das die Maßnahmen aller Institutionen bündelt, die an der Lösung des Problems, der Prostitution als einer sozialen Erscheinung vorzubeugen, zusammenarbeiten. S. Michailowa 202 Psychiatrie in Deutschland Die sich im 19. Jahrhundert entwickelnde Psychiatrie war von zwei Grundsätzen geprägt: 1. Psychisch gestörte Personen wurden aus Gründen der Fürsorge, zur Beruhigung der Öffentlichkeit und zwecks Entlastung der Familien in großen Anstalten abseits der Städte asyliert. 2. Die Leitung der Einrichtungen und die psychiatrische Wissenschaft galten im wesentlichen als eine ärztliche Aufgabe. Unter den programmatischen Schlagworten „Gemeindepsychiatrie“ und „Multiprofessionalität“ der Psychiatrie setzt sich in den letzten Jahrzehnten ein Paradigmenwechsel durch. Die großen Anstalten werden aufgelöst oder radikal auf den örtlichen Bedarf hin verkleinert. Statt dessen errichtet man in den Städten Krankenhäuser mit Abteilungen für psychisch Kranke, wobei die Behandlung dort nur von kurzer Dauer (von einigen Tagen bis zu wenigen Monaten) ist und teilweise in Tageskliniken durchgeführt wird. Das Gewicht verlagert sich aber immer stärker auf ambulante gemeindepsychiatrische Hilfen (Sozialpsychiatrische Dienste, Tagesstätten, psychotherapeutische Praxen, Werkstätten für Behinderte usw.). Sie sollen ein Leben in eigener Wohnung oder in betreuten Wohngemeinschaften ermöglichen. Soweit nicht im Einzelfall eine neurologische oder internistische Erkrankung besteht, geht die Dominanz des Arztberufs und der klassischmedizinischen Behandlungskonzepte kontinuierlich zurück. Insbesondere Sozialarbeiter, psychiatrische Pflegefachkräfte, psychologische Psychotherapeuten und Ergotherapeuten arbeiten im Rahmen der Gemeindepsychiatrie mit eigenen Handlungskonzepten und Problemtheorien (¤ Sozialarbeitswissenschaft, Pflegewissenschaft) im multiprofessionellen Team oder auch selbständig. Wesentliche 203 Hindernisse für die raschere Entwicklung gemeindepsychiatrischer Dienste ergeben sich einerseits aus dem Krankenkassenrecht (Sozialgesetzbuch V), das für die ambulante Gesundheitsversorgung die freiberufliche Tätigkeit von Ärzten privilegiert, andererseits aus den Zuständigkeitsstreitigkeiten zwischen den zahlreichen Sozialleistungsträgern des deutschen Sozialrechts. W. Crefeld Psychische Deprivation (Deprivation = Verlust, Wegnahme) ist ein psychischer Zustand des Menschen, der als Resultat einer dauernder Begrenzung seiner Möglichkeiten bei der Befriedigung von psychischen Grundbedürfnissen entsteht und durch signifikante Abweichungen in der emotionalen und geistigen Entwicklung, durch Störung der sozialen Kontakte gekennzeichnet ist. Bei Kindern entsteht Deprivation durch einen Mangel an sozialen und sensorischen Impulsen, wenn das Kind ursprünglich in einer Situation sozialer Isolation lebt oder im Falle der Auflösung der schon vorhandenen Beziehung des Kindes zu seinem sozialen Umfeld. Dieser Zustand kann mit den Begriffen „psychischer Mangel“, „psychischer Hunger“ beschrieben werden. Zustände der Deprivation sind mannigfaltig. Zu Beginn der Erforschung wurde die Deprivation mit mangelnder medizinischer und hygienischer Pflege der Kinder in Kindereinrichtungen in Zusammenhang gesetzt, mit dem Entzug von mütterlicher Fürsorge, Zärtlichkeiten, Zuwendung und normaler Kommunikation (M. v. Pfaundler bezeichnete Institutionen für Säuglinge als „widernatürliche Massenpflege“). Spätere Untersuchungen bestätigten die zerstörende Wirkung der Deprivation auf die Persönlichkeit des Kindes; mögliche Ausdrucksformen sind emotionale Abgestumpftheit, Psychopatien, Neigung zu kriminellen Taten. 204 Nach Ansicht moderner Psychologen kann Deprivation bei Kindern entstehen, die in Familien aufwachsen, bei denen die Eltern nicht in der Lage sind, die grundlegenden Bedingungen für die Befriedigung elementarer physischer und psychischer Bedürfnisse des Kindes zu schaffen. Es wird zwischen den folgenden Deprivationsarten unterschieden: - Sensorische Deprivation; sie entsteht aufgrund eines Mangels an sensorischen Eindrücken, was zu andauernden Störungen von Denkprozessen führen kann. - Kognitive Deprivation; sie ist Folge der Unfähigkeit, äußere Reize wahrzunehmen und zu begreifen und äußert sich in inadäquaten Reaktionen. - Emotionale Deprivation; sie wird hervorgerufen durch einen Mangel oder das vollständige Fehlen positiver emotionaler Kontakte, vor allem zu den Eltern. Sie kann sich in asthenischen Emotionen, Hemmungen, Apathie und Depressionen im Wechsel mit Gereiztheit und Euphorie äußern. - Soziale Deprivation; sie ist Resultat einer eingeschränkten Befähigung, soziale Rollen wahrzunehmen, die für die Adaption sozialer Normen und Werte von Bedeutung sind. Sie drückt sich in sozialer Desadaptation aus. S. Michailowa Psychodiagnostik Der Begriff „Psychodiagnostik“ wurde 1921 von dem Schweizer Psychiater Hermann Rorschach eingeführt; er bezeichnet die Wissenschaft von und die Praxis der psychologischen Diagnose. Insofern kann der Begriff bezogen werden - auf das Teilgebiet der Psychologie, das Methoden zur Feststellung und Messung individuell-psychologischer Besonderheiten des Menschen erarbeitet, und 205 - auf die konkrete psychologische Diagnose, die es ermöglicht, die Psyche eines Menschen einzuschätzen und zu verstehen. In Rußland entwickelte sich die Psychodiagnostik in den zwanziger und dreißiger Jahren hauptsächlich im Sinne einer ausgefeilten Test-Methode. Psychologen wie L. Vygotskij und S. Rubinstein kritisierten diese Ausrichtung. Von 1936 bis zum Ende der 60er Jahre wurden die psychodiagnostischen Forschungen eingestellt. Danach setzte ein Umdenken hinsichtlich der Schlüsselbegriffe und des Grundverständnisses der Psychodiagnostik ein; Testmethoden, Standards für Gutachten und die Verfahren zur Einschätzung von Testergebnissen wurden verbessert und weiter entwickelt. Die heutige Psychodiagnostik will zur umfassenden Persönlichkeitsentwicklung von Kindern beitragen. Dazu gehört es, günstige entwicklungspsychologische Bedingungen zu schaffen und mögliche Fehlentwicklungen zu korrigieren. Die psychodiagnostische Arbeit wird von einem praktischen Psychologen geleistet, der für jeden individuellen Fall die adäquaten Methoden zur Diagnostizierung wählt und Empfehlungen für die Durchführung psychotherapeutischer Maßnahmen gibt. Für die Sozialarbeit ist die Kenntnis angewandter Aspekte der Psychodiagnostik von Nutzen, da sie dem Sozialarbeiter beim psychologischen Verständis des Klienten hilft, sodaß er seine Hilfemaßnahmen adäquat gestalten kann. S. Michailowa Psychologie Im Gegensatz zu vielen anderen Wissenschaften stößt eine einheitliche Definition von allen Vertretern des Faches „Psychologie“ auf große Schwierigkeiten. Dies mag zum einem daher rühren, daß die Psychologie noch eine relativ junge Fachdisziplin ist, die sich in allen europäischen Ländern erst seit Ende des 19. Jahrhunderts als eine eigenständige Wissenschaft etabliert hat. In Deutschland war es Wilhelm Wundt, der 1879 an der Universität Leipzig das erste psychologische Institut gründete und damit die Eigenständigkeit der wissenschaftlichen Psychologie 206 hervorhob. Zum anderen können definitorische Schwierigkeiten darin begründet sein, daß in der Psychologie - wie in kaum einer anderen Wissenschaft - zahlreiche Ideenströme und unterschiedliche Sichtweisen aus verschiedenartigsten Nachbardisziplinen wie Philosophie, Theologie, Zoologie, Verhaltensforschung wie auch aus unterschiedlichen medizinischen Teildisziplinen Eingang gefunden und an Einfluß gewonnen haben. Aus diesen genannten Nachbardisziplinen entlehnte die Psychologie den Gegenstand ihres Faches (z.B. das Verhalten, das Erleben und die Entwicklung von Menschen und Tieren) oder ihre Forschungsmethoden (z.B. Beobachtungs- und Befragungstechniken sowie spezielle statistische Auswertungsverfahren). Psychologie wurde in früheren, „vorwissenschaftlichen“ Zeiten als „Lehre von der Seele“ oder „den seelischen Erscheinungen“ definiert. Diese Definition provoziert jedoch die Frage, was die Seele eigentlich ist. Jahrhundertelang haben Philosophen und Theologen vergeblich versucht, darauf eine zufriedenstellende Antwort zu finden. Das liegt daran, daß „Seele“ ein hypothetischer Begriff und einer unmittelbaren Beobachtung und Messung nicht zugänglich ist. Die Existenz einer Seele ist mit erfahrungswissenschaftlichen Methoden weder beweis- noch widerlegbar. Aus diesem Grunde wird der Begriff „Seele“ in der modernen Psychologie weitgehend gemieden und durch die Begriffe „Verhalten und Erleben“ ersetzt, die der menschlichen Erfahrung zugänglich sind. Je nach wissenschaftlichem Standpunkt wird die Psychologie in den Definitionen einmal mehr von der Erlebnisseite, das andere Mal mehr vom Verhaltensaspekt oder − wie mittlerweile üblich geworden − von beiden Sichtweisen her bestimmt: So kann Psychologie verstanden werden als die Wissenschaft vom Verhalten und Erleben (den inneren Prozessen, wie beispielsweise das Denken, das Fühlen usw.) sowie deren Ursachen, Bedingungen und Folgen. 207 Was man unter Wissenschaft verstehen will, wird maßgeblich durch die Methoden bestimmt, die von ihr gewählt werden. Die heutige Psychologie bedient sich vornehmlich empirischer Methoden und basiert damit auf den so gewonnenen sinnhaften Erfahrungen. Sofern man Psychologie nicht als philosophische, sondern als empirische Wissenschaft auffaßt, sind sich die Fachleute hinsichtlich der wesentlichen Zielsetzungen und Aufgabenstellungen einig. Die wissenschaftliche Psychologie hat nach ihrer Auffassung die mannigfaltigen Erscheinungsweisen menschlichen Verhaltens und Erlebens 1. zu beschreiben, 2. systematisch zu ordnen, 3. möglichst allgemeine Erklärungen für die beobachteten Phänomene zu finden und 4. gegebenenfalls mittels gezielter Interventionen zu verändern. Auch wenn Teilgebiete der Psychologie sich nicht immer deutlich voneinander trennen lassen, so besteht weitgehende Einigkeit darin, zwischen Grundlagen- und Anwendungsgebieten zu unterscheiden: Zu den Grundlagen werden gemeinhin gezählt: 1. Die Allgemeine Psychologie. Sie beschäftigt sich mit Gesetzmäßigkeiten im Bereich der Wahrnehmung, des Lernens, des Denkens, der Emotionen und Kognitionen, die für alle Menschen zutreffen. 2. Die Entwicklungspsychologie. Sie beschreibt und erklärt, wie einzelne Funktionen und Merkmale von Menschen sich im Verlaufe ihres Lebensverändern. 3. Die Persönlichkeitspsychologie. Sie behandelt die Eigenschaften und Fähigkeiten von Personen und beschreibt und erklärt die Gemeinsamkeiten und Unterschiede zwischen Personen. 208 4. Die Sozialpyschologie. Sie untersucht das Verhalten und Erleben von Menschen im sozialen Kontext und fragt auch danach, wie Menschen sich untereinander beeinflussen. In den Anwendungsbereichen werden unterschieden: 1. Die Pädagogische Psychologie. Sie umfaßt die Felder der Erziehung und des Unterrichts in Familie und Institutionen. 2. Die Klinische Psychologie. Sie befaßt sich mit jenen Verhaltens- und Erlebnisweisen, die deutlich von der im Alltag zu beobachtenden Norm abweichen. Sie untersucht die Ursachen und Wirkungen dieser Störungen und entwickelt entsprechende Behandlungs- und Präventionsmaßnahmen. 3. Die Arbeits- und Organisationspsychologie. Sie beschäftigt sich mit den Einflüssen der Arbeitswelt, der Strukturen und Organisationsformen auf die Werktätigen sowie mit der Verbesserung der Arbeitsbedingungen. Die heutige, empirische Psychologie befaßt sich sowohl damit, was Menschen tun, wie sie aus sich heraus handeln oder auf äußere Umstände reagieren, als auch damit, was sie erleben, d.h. welche Bedürfnisse und Gedanken sie haben und wie sie sich fühlen. S. Michailowa / H.-P. Steden Psychose Psychose ist die allgemeinste psychiatrische Bezeichnung für eine oftmals schwer abgrenzbare Gruppe verschiedener psychiatrischer Krankheiten, bei der entweder somatische Erkrankungen nachgewiesen oder genetische Anlagen vermutet werden können. Die erstgenannten Erkrankungen nennt man exogene Psychosen, zur zweiten Gruppe werden endogene Psychosen (z.B. affektive oder schizophrene Psychosen) gezählt. 209 In einer Psychose kommt eine schwere und tiefgreifende Störung des Realitätsbzw. des Eigenbezuges zum Ausdruck. Charakteristisch für diese schwere psychische Erkrankung ist also ein verändertes Erleben der Umwelt und/oder der eigenen Person. So kommt es bei den Erkrankten oftmals zu deutlich veränderten, manchmal völlig bizarren, unterschiedlichen Verhaltensweisen und Ausdrucksformen, die sich in der Zerfahrenheit des Denkens, in Halluzinationen oder in wahnhaften Vorstellungen und Überzeugungen zeigen. Der Begriff „Psychose“ geht auf den deutschen Psychiater Feuchtersleben (1845) zurück und fand im 19. Jahrhundert, ausgehend von der deutschen Psychiatrie, zunehmend internationale Verbreitung. Einig in der Begriffsbestimmung, vertreten die Fachleute hinsichtlich der Krankheitsursachen und -genese dagegen recht unterschiedliche Ansichten. Die eher biologisch orientierten Vertreter vermuten als Entstehungsfaktoren einer Psychose genetische Anlagen oder Veränderungen des Hirnstoffwechsels, wohingegen die sozialpsychiatrisch Orientierten verursachende oder zumindest mitbedingende Faktoren in frühkindlichen, schweren Traumen, innerfamiliären Konflikten und langanhaltenden Spannungen sowie Störungen in der Informationsverarbeitung sehen. In der skandinavischen Psychiatrie wird sogar von einer eigenen Untergruppe psychischer Erkrankungen, der psychogenen Psychose gesprochen, die vornehmlich aufgrund belastend empfundener Erlebnisse zustande kommen. Übereinstimmung herrscht jedoch hinsichtlich der Auffassung, daß psychotische Erkrankungen eine wesentlich schwerere Störung darstellen als neurotische und daß ihre Behandlung in jedem Fall durch einen Psychiater erfolgen muß. H.-P. Steden 210 Psychosoziale Arbeit Die psychosoziale Arbeit spielt sich im Grenzbereich von Sozialarbeit und praktischer Psychologie ab. Ziel ist die psychologische Hilfeleistung für Menschen in schwierigen Lebenssituationen. Allgemein sind psychische Probleme für sozial auffälliges oder problematisches Verhalten verantwortlich; das heißt, Störungen der Psyche bedingen auch Störungen bei der alltäglichen Lebensgestaltung und vice versa. Gemäß dem Grundsatz, dass eine gesunde Psyche die bestmöglichen Voraussetzungen für Lebensqualität schafft, richtet sich die psychosoziale Arbeit auf die Therapierung und Erziehung von Klienten mit psychischen Problemen. Das methodische Instrumentarium beinhaltet unterschiedliche integrative Methoden und therapeutische Instrumentarien. Sie basieren auf verschiedenen psychologischen Schulen und Richtungen, die dem gemeinsamen Ziel untergeordnet werden, eine größere Ganzheitlichkeit (Integrität) der Psyche zu erzielen. Zu den organisatorischen und methodischen Prinzipien der psychosozialen Arbeit gehören Freiwilligkeit, Unparteilichkeit, religiöse Toleranz, Zweckmäßigkeit und Effektivität, Einhaltung der Reihenfolge bei der Anwendung von Methoden, Standardisierung, Verbindung von individueller und Gruppenarbeit, soziale Orientierung, Berücksichtigung von ökologischen und kulturellen Dimensionen, Klientenorientierung, Festlegung der Trainingsstruktur und Überprüfbarkeit der Ergebnisse. Als Kriterien für einen Erfolg der psychosozialen Arbeit gelten eine allgemeine Verbesserung des psychischen, physischen und sozialen Zustandes sowie eine gesteigerte Selbstständigkeit sowohl der psychologischen Befindlichkeit als auch der Fähigkeiten zur praktischen Lebensbewältigung. Parameter hierfür sind konkrete Veränderungen bei der Lebensgestaltung des Klienten, bei seiner subjektiven Befindlichkeit und die Untersuchungsergebnisse der psychologischen Studien. I. Schemet 211 Public Health / Gesundheitsförderung Die Thematisierung von Gesundheit als eigenständiger Perspektive hat als interdisziplinäres Fachgebiet Gesundheitswissenschaften (Public Health) in den letzten Jahren im deutschen Sprachraum zunehmend an Bedeutung gewonnen. Diese Entwicklung gründet sich auf einen Paradigmenwechsel, der an die Stelle herkömmlicher Krankheitsfixierung oder der Erklärung bzw. Prognose der Krankheitsgenese anhand von Risikofaktoren die „salutogenetische“ Frage setzt: Warum sind Gesunde gesund? Wie und wo entsteht Gesundheit? Welche Schutzfaktoren sind für Gesundheit bedeutsam? Die gleichfalls von der Weltgesundheitsorganisation (WHO) in der Ottawa Charta 1986 propagierte Gesundheitsförderung (health promotion) gilt als weitere Grundlage von public health und rückt vor allem die Bedeutung struktureller, personenübergreifender Faktoren zur Erklärung von Gesundheit und Krankheit in den Mittelpunkt. In den letzten Jahren hat die Entwicklung im Bereich Gesundheitsförderung und Prävention sich immer stärker von einer fremdbestimmten Verhaltensprävention hin zum selbstbestimmten Arbeiten in gesundheitsförderlichen Netzwerken verschoben. Die neue Orientierung auf a) Stärkung von Gesundheitsfaktoren, b) Selbstermächtigung (empowerment) und c) Mitwirkung im Zusammenspiel mit gesundheitsfördernden Arbeits- und Lebensbedingungen wird als Bewegung hin zum „Vermitteln und vernetzen“ (WHO) begriffen und gilt als ein strategischer Ansatz zur Förderung von Gesundheit. Ein zentrales Ziel von public health richtet sich auf die Verringerung der Unterschiede im Gesundheitszustand zwischen den Ländern sowie zwischen verschiedenen Gruppen innerhalb der Länder. Diese beziehen sich vor allem auf Unterschiede nach den sozio-ökonomischen Merkmalen Ausbildung, beruflicher Status 212 und/oder Einkommen. In der Soziologie gelten diese Merkmale als Ausdruck der sozialen Ungleichheit. Die mit diesen sozio-ökonomischen Merkmalen zusammenhängenden Unterschiede im Gesundheitszustand werden daher auch als gesundheitliche Ungleichheit bezeichnet. Im Zuge der Ottawa-Charta von 1986 hat sich die Idee des Settings auch im Spektrum von public health als Programm der Organisationsentwicklung durchgesetzt. Es wird dabei von der Prämisse ausgegangen, dass sich Gesundheit nicht über die Schaffung verbindlicher Lebensregeln oder über aufklärende Maßnahmen und Appelle einstellt, sondern im Lebensalltag, bei der Arbeit, in der freien Zeit, im Stadtteil oder in der Schule entfaltet. Dafür sind Bedingungen herzustellen, die der Schaffung und Förderung gesunder Sozialräume gerecht werden. Zumeist vollzieht sich dieser Prozess über die Erprobung neuer Kommunikationsstrukturen in und zwischen Institutionen ähnlicher Art. Dem Settingansatz geht es um die Einführung von Gesundheit als Organisationsprinzip. Obwohl viele der in den ursprünglichen Konzepten des public health angestrebten Ziele im Laufe der Zeit wieder zurückgeschraubt wurden, stellt public health als neuer Blick auf das Verhältnis von Gesundheit und Krankheit auch in der Forschung und Aus- und Fortbildung inzwischen ein fest verankertes Themengebiet dar. Dabei richtet sich auch im Bereich von public health der Blick verstärkt auf Versicherte und Patienten, da ohne deren aktivere Mitwirkung und Mitgestaltung ein Mehr an Wirksamkeit und Effizienz im Gesundheitswesen kaum zu haben sein wird. N. Wohlfahrt 213 Qualitätsmanagement Der Begriff „Qualitätsmanagement“ kommt aus der industriellen Produktion und hat über den Dienstleistungsbereich Eingang in die Soziale Arbeit gefunden. Hier ist er mit erheblichen Vorbehalten aufgenommen worden. Argumente waren unter anderem: - Soziale Arbeit läßt sich nicht messen, insofern auch das nicht, was Qualität ist. - Qualitätssicherung bezieht sich auf Formales und nicht auf die Inhalte. Die Einwände sind ernst zu nehmen. Soziale Arbeit entzieht sich durch die prozeßorientierten Verfahrensweisen partiell Standardisierungen von Arbeitsabläufen. Die Leistungen werden meist gleichzeitig erbracht und konsumiert (Unoactu-Prinzip), Erfolgsmessungen und -zuordnungen werden dadurch schwierig. Zudem muß der Abnehmer der Leistungen als Ko-Produzent stets mitwirken, da gegen seinen Willen die Leistung nicht erfolgreich erbracht werden kann. Auch ist in der Sozialen Arbeit nicht der monetäre Gewinn ausschlaggebend, vielmehr gibt es qualitative Ziele (z.B. höhere Ich-Kompetenz). Zur Ermittlung, ob derartige Ziele erreicht sind, müssen Indikatoren gefunden werden, die ihrerseits Auskunft über die sozialen Sachverhalte geben, die sie abbilden sollen (z.B. weniger aggressive Handlungen im Zeitverlauf). Bestrebungen aus der Industrie, Qualitätssicherung zu normieren, haben im sozialen Bereich zu Abwehrhaltungen geführt (Normenreihe der International Standardization Organisation mit den ISO-Normen 9000-9004). Im Zentrum stehen hier Verfahren und weniger Wirkungen bzw. Ergebnisse. Im sozialen Bereich bedient man sich daher verstärkt Qualitätssicherungsmethoden, die in der Pflegewissenschaft erfolgreich waren. Der Amerikaner Donabedian unterteilte hier Qualität in Struktur-, Prozeß- und Ergebnisqualität: - Strukturqualität bezieht sich auf die Rahmenbedingungen der Leistungserbringung (Personal, Ausbildung, Räume, Aufbau- und Ablauforganisation); 214 - Prozeßqualität befaßt sich mit den Aktivitäten zwischen Leistungserbringer und -empfänger auf der Grundlage professionell anerkannter Standards; - Ergebnisqualität beschreibt die Veränderungen des Klienten (durch das Interventionshandeln); hier tauchen, wie erwähnt, hohe Meß- und Zuordnungsprobleme auf. Auf dem Hintergrund dieser Unterscheidung von Qualitätsarten kann ein internes Qualitätsmanagementsystem aufgebaut werden. Hierzu bedient man sich zunächst einer Organisationsüberprüfung, die folgende Bereiche umfaßt: - wirtschaftliche Situation (Haushaltsplanung, Kostenarten, Kostenträger usw.); - Personal (Entwicklung, Fortbildung, Fluktuation usw.); - Konzeption (Leistungen, Angebote, Aufbau- und Ablaufstrukturen usw.); - Entscheidungs- und Kommunikationsstrukturen (Kompetenzverteilung, Informationsflüsse usw.); - räumlich-sachliche Infrastruktur (Sekretariat, EDV, telefonische Erreichbarkeit usw.); - Zielgruppen- bzw. Nutzerstruktur (sozialstrukturelle Daten, Problemlagen usw.). Die Organisationsüberprüfung kann durch Befragungen der Mitarbeiter, Auswertung von Dokumenten sowie eine Schnittstellenanalyse ergänzt werden. Letztere umfaßt die internen Schnittstellen sowie auch die Schnittstellen mit den Abnehmern der Leistungen. Auf dem Hintergrund dieser Informationen werden Veränderungen konzipiert und Qualitätskriterien (Standards) entwickelt. Diese müssen dokumentiert werden. Schließlich muß durch entsprechende Verfahren sichergestellt werden, daß nach den Standards gehandelt wird. R. Kulbach 215 Rehabilitation wird allgemein als Begriff für die Eingliederung oder Wiedereingliederung behinderter oder von Behinderung bedrohter Personen in die Gesellschaft, insbesondere in Arbeit und Beruf, verwendet. Unter Rehabilitation wird dabei das anzustrebende Ziel, zugleich aber auch die Gesamtheit der Leistungen und Maßnahmen, die diesem Ziel dienen, einschließlich des Verfahrens, verstanden. Unerheblich ist, ob die Behinderung von Geburt an besteht oder erst später - etwa durch einen Unfall oder Krankheit - eingetreten ist. Auch behinderte Personen, die noch nie in die Gesellschaft eingegliedert waren, haben ein Anrecht auf Rehabilitation. Bei der Rehabilitation werden vier Phasen unterschieden: die medizinische, die pädagogisch-schulische, die berufliche und die soziale Rehabilitation. Teilweise wird die pädagogisch-schulische Rehabilitation als Teil der sozialen angesehen. Wesentlich ist, daß nicht alle Phasen der Rehabilitation durchlaufen werden müssen und auch der Ablauf nicht in dieser Reihenfolge erfolgen muß. Entscheidend für die Rehabilitation ist, daß sie möglichst frühzeitig bzw. rechtzeitig einsetzt. Das gilt insbesondere bei behinderten oder von Behinderung bedrohten Kindern (Frühförderung; ¤ Entwicklungsförderung). Die Maßnahmen der Rehabilitation müssen nathlos ineinandergreifen und Unterstützung durch die betroffene Person selbst und durch ihre Familie erfahren. Die Rehabilitation ist angesichts ihrer humanitären, gesellschaftspolitischen und auch volkswirtschaftlichen Bedeutung ein wesentliches Element im System der sozialen Sicherung, das nicht nur Folgen von Schädigungen ausgleicht (Kausalprinzip), sondern auch das Ziel verfolgt, behinderten Personen - unabhängig von der Ursache der Behinderung - die Eingliederung in die Gesellschaft zu ermöglichen (Finalprinzip). M. Hellmann 216 Rehabilitationseinrichtungen für Minderjährige Die Fürsorge für Minderjährige in schwierigen Lebenssituationen wird in Russland von unterschiedlichen Rehabilitationseinrichtungen geleistet. Dabei müssen je Einrichtung bis zu zehntausend Kinder und Jugendliche betreut werden. Das Aufgabenspektrum dieser Zentren umfasst neben vorbeugender Arbeit, um eine Verwahrlosung der Kinder und Jugendlichen zu vermeiden, Hilfeleistungen in schwierigen Familiensituationen und eine zeitweilige Unterbringung in schwierigen Lagen - in Absprache mit den Vormundschaftsbehörden. Auch eine gegebenenfalls notwendige medizinische Erstversorgung gehört zu den Aufgaben der Zentren. Abteilungen für Diagnostik versuchen die besondere Lebenssituation und deren Ursachen zu analysieren und arbeiten spezielle Rehabilitationsprogramme aus. Ebenso wird Rechtsberatung geleistet. In besonderen Notfällen werden die Minderjährigen mit Nahrung, Kleidung, Schuhen und Medikamenten versorgt. Die Einrichtungen legen je nach Bedürftigkeit und Interessenlage der Minderjährigen die Dauer der Unterkunft und die Art der Rehabilitationsarbeit fest. J. Worobjewa Rolle Mit dem Begriff „Rolle“ werden gesellschaftlich etablierte Verhaltenserwartungen gegenüber Personen, die in ihrem Verhalten als gleichartig angesehen werden, bezeichnet. Der Rollenbegriff hat insofern zwei Bestandteile: 1. eine Kategorisierung (Typisierung) von Personen und 2. zugehörige gesellschaftlich etablierte (institutionalisierte) Verhaltenser-wartungen. 217 Rolle ist ein zentraler Begriff der Soziologie, der häufig in der Sozialarbeit und Sozialpädagogik verwendet wird. Mit dem Begriff Rolle wird ein Zusammenhang von individuellem Verhalten und gesellschaftlichen normativen Vorgaben beschrieben. Das Übernehmen einer Rolle (wie Mutter, Lehrer, Sozialarbeiter, Autofahrer) bedeutet - Verhaltenserwartungen, die an Kategorien von Personen gebunden sind, zu kennen und - mit Bezug auf diese zu handeln, d. h. mehr oder weniger sich ihnen gemäß zu verhalten. Das soziale Verhalten nach der Rollenperspektive wird also gesehen als ein Wechselprozeß zwischen den gesellschaftlich etablierten Vorgaben und der Interpretation und konkreten Ausgestaltung des Verhaltens des einzelnen (bis hin zur Ablehnung einer Rolle oder einzelner Verpflichtungen einer Rollenerwartung). Der soziale Verkehr (insbesondere in anonymen Großgesellschaften) wird durch Rollenhandeln erleichtert, weil auf Routinen situationsgemäß zurückgegriffen werden kann und Interaktionen von weitergehenden Verpflichtungen (wie sie z.B. in kleinen Gemeinschaften typisch sind) entlastet werden. Rollenerwartungen können unterschiedliche Maße an Verbindlichkeit haben. Manche sind grundsätzlich entscheidend für die Rollenübernahme (Muß-Normen: beispielsweise die Verpflichtung einer Mutter, materiell für ihre Kinder zu sorgen; die Verpflichtung eines Sozialarbeiters, entlang gesetzlicher Regelungen sein Handeln auszurichten). Andere werden generell erwartet (Soll-Normen: z.B. die Erwartung, daß eine Mutter sich mit ihren Kindern über die Ernährung hinaus beschäftigt; Orientierung des Sozialarbeiters auf „Hilfe zur Selbsthilfe“), und andere gehören in den Bereich von Kann-Normen (etwa daß eine Mutter einem Kind den Spaß am Lernen vermittelt; Freundlichkeit des Sozialarbeiters zu seinen Klienten). Das einzelne Individuum übernimmt üblicherweise verschiedene Rollen (Kind, Geschwister, Schüler oder Vater, Beschäftigter, Vorgesetzter, Untergebener). Zwischen den verschiedenen Rollen und zwischen den einzelnen Erwartungen innerhalb einer Rolle kann es widersprüchliche Erwartungen geben (Interrollen218 konflikt und Intrarollenkonflikt). Entsprechend muß das Individuum über Fähigkeiten verfügen, diese Konflikte auszuhalten (Ambiguitätstoleranz) und temporär oder dauerhaft zu lösen (Rollenkompetenz). Diese Fähigkeit wird durch Rollendistanz ermöglicht, indem das Individuum die verschiedenen Rollenerwartungen und die Notwendigkeit, in Rollen zu handeln, aus einem Abstand heraus beurteilt. Rollenhandeln wird erleichtert durch Übernahme der Perspektive des anderen, insbesondere in bezug auf dessen Rollenerwartungen. Die Kenntnis der Rollen wird im Sozialisationsprozeß erworben, ebenso wie die Bereitschaft, sich ihnen entsprechend zu verhalten oder sie zu modifizieren. Die Strukturierung der Gesellschaft entlang von Rollen kann Ausdruck der gesellschaftlichen Arbeitsteilung sein (Arbeiter, Pädagoge, Therapeut), aber sich auch durch andere soziale Verfestigungen (z.B. der sozialen Ordnung des Geschlechterverhältnisses oder der Familie) gebildet haben. Neben gesellschaftlich vorgegebenen Verhaltenserwartungen kann es auch Verhaltenserwartungen geben, die individuell zwischen einzelnen Personen oder Gruppen ausgehandelt sind und nicht Bestandteil einer etablierten Rolle sind (z.B. routinemäßige Erwartungen an einen bestimmten Ehepartner oder innerhalb einer Peer-Group). Aus solchen individuellen Aushandlungen können sich langfristig etablierte Verhaltenserwartungen, also neue Rollen oder Rollenerwartungen, entwickeln. B. Klingmüller 219 Sanktion Der Begriff Sanktion wird in mehreren unterschiedlichen Bedeutungen verwendet. Allgemein können als Sanktion alle positiven oder negativen Maßnahmen verstanden werden, die für die Durchsetzung und Beachtung allgemein als gültig anerkannter Normen im persönlichen Verhalten eingesetzt werden. Die Chance, sanktionierend zu handeln, ist in der Regel an Macht und/oder Autorität geknüpft, sei es im persönlichen, im administrativen oder im rechtlichen Bereich. Im engeren Sinne sind unter Sanktionen spezielle Rechtshandlungen oder auch die Genehmigung für Ausübung rechtlicher Schritte zu verstehen. A. I. Dodatko Schule in Rußland Schule ist eine allgemein ausbildende Institution, die die Aufgabe der Ausbildung und Erziehung der jüngeren Generationen erfüllt. Nach dem Niveau der vermittelten Kenntnisse und Abschlüsse unterscheidet man Grundschulen, Mittel- und Sekundarschulen, wobei es eine Vielzahl von Schultypen gibt: Lyzeum, Gymnasium, Schulen mit besonderen Schwerpunktsfächern sowie Sonderschulen; Direkt- und Fernschulen, Tages- und Abendschulen; reine Mädchen-, reine Jungenund gemischte Schulen. Die Einschulung erfolgt allgemein im 6. bzw. 7. Lebensjahr. In der Mittelschule werden 9 Klassen durchlaufen; die vollständige Schulausbildung umfaßt 11 Klassen. Die Ausbildung (Umfang und Grundinhalte der schulischen Ausbildung sowie Vorgaben zu den Anforderungen der Abschlüsse) ist auf staatlicher Ebene einheitlich geregelt, doch spielen auch regionale Komponente eine Rolle. Die Sonderschulen verfügen über eigene Regelungen. Es gibt ein Recht auf Ausbildung in der Muttersprache 220 Höhere Schulen wie Lyzeen und Gymnasien galten in Rußland um die Jahrhundertwende als Institute, die ausschließlich der Ausbildung von Kindern der reichen Gesellschaftsschichten vorbehalten waren; sie wurden nach der Revolution geschlossen. Seit 1990 wird dieses System wiederbelebt. Ziel ist es, eine intensive Beschäftigung mit einzelnen Fächern zu ermöglichen. Dazu werden mit Einzelund Gruppenarbeit u.a. m. unterschiedliche Arbeitsmethoden angewendet S. Michailowa Schulsozialarbeit Die Sozialarbeit an der Schule trägt zur Integration der jungen Generation in die Gesellschaft bei, indem sie sich die Einübung sozialer Verhaltensnormen und die Entwicklung sozial bedeutsamer Kenntnisse, Fertigkeiten und Fähigkeiten zur Aufgabe macht. Dazu zählen u.a. Hilfsbereitschaft wie auch die Fähigkeit, selber Hilfe anzunehmen sowie Beziehungsfähigkeit. Im einzelnen werden diese Ziele dadurch zu erreichen versucht, daß - die einzelnen Schüler in ihrem Sozialverhalten und ihrer Entwicklung beobachtet werden, wobei auch ihre Lebensbedingungen und ihre Familiensituation berücksichtigt werden; - Risiken für die Entwicklung der Schüler, wie sie sich vor allem in bestimmten Altersstufen ergeben, berücksichtigt und in lokalen Programmen erzieherischer Hilfen aufgefangen werden; - einzelnen Schülern in kritischen Situationen Hilfe und Unterstützung angeboten wird; - die Lebensverhältnisse von benachteiligten oder beeinträchtigten Schülern verbessert werden; 221 - die Entwicklung kreativer Fähigkeiten der Einzelnen wie auch in der Gruppe unterstützt werden. Zur Erfüllung dieser diagnostischen und prognostischen, pädagogischen und therapeutischen, sozialarbeiterischen und kulturellen Aufgaben bedarf es der Kooperation mit anderen Einrichtungen und Behörden, Lehrern und Eltern sowie eines breiten methodischen Spektrums. Orientierung bietet dabei die UN- Kinderrechtskonvention. W. Bassowa / N. F. Bassow Schutz Das Schutz- und Geborgenheitsbedürfnis ist aus Sicht der Humanpsychologie (A. Maslow, C. Rogers) ein Wesensmerkmal aller lebendigen Organismen, das überlebens- und entwicklungsnotwendig ist. Neben der Lebenserhaltung im weitesten Sinn; kann „Schutz“ auch einzelnen Dimensionen des Lebens zugeordnet und auf bestimmte Tätigkeitsbereiche bezogen werden, z.B.: - Entwicklung spezifischer Schutzmöglichkeiten wie z.B. Pflanzen- oder Tierschutz; - Inschutznahme als Schutz vor Eingriffen und feindlichen Handlungen (psychische, physische und seelische Verteidigung); - Verteidigung von Interessen, Rechten und Freiheiten (Schutz im Gericht, gewerkschaftlicher Schutz der Rechte des Arbeiternehmers, gesetzlicher Schutz der bürgerlichen Rechte und Freiheiten); - Schutz und Verteidigung von Überzeugungen, Ansichten und Forschung (Schutz der Meinungsfreiheit); - psychologische Schutzmechanismen, die bewußt oder unbewußt ausgeprägt werden, wenn die Persönlichkeitsentwicklung gestört oder gefährdet ist; 222 pädagogischer Schutz, durch den die „Schützlinge“ im pädagogisch- psychologischen Prozeß unterstützt und ihre Interessen und Rechte verteidigt werden. Durch pädagogischen Schutz sollen auch geeignete materielle und moralische Bedingungen zur freien Entfaltung der geistigen und körperlichen Fähigkeiten geschaffen werden. Die Aufgaben des sozialpädagogischen Schutzes stehen im Kontext mit dem Gesamtauftrag sozialer und pädagogischer Arbeit und allen Aspekten des Hilfesystems. T. Lodkina Schweigepflicht In der Sozialarbeit regelt die Schweigepflicht als ein wichtiges Arbeitsprinzip die ethischen Aspekte der Beziehungen zwischen dem Sozialarbeiter und dem Klienten; das heißt, die Vertraulichkeit bei den Beziehungen mit dem Klienten ist unbedingt zu beachten. Kenntnisse aus den Gesprächen des Sozialarbeiters mit dem Klienten dürfen nicht weitergegeben werden. Die Vertraulichkeit dient dem Schutz des Klienten. Dieser Kodex ist durch die russische Verfassung abgedeckt, die in Artikel 23 das Recht jedes Bürgers auf Unantastbarkeit des Privatlebens und des guten Rufes festlegt; Artikel 24 erklärt die Unzulässigkeit der Sammlung, Bewahrung, Nutzung und Verbreitung von Informationen über das Privatleben einer Person ohne deren Zustimmung. Die Schweigepflicht wird auch in Artikel 5 des Föderationsgesetzes von 1995 betont. Allerdings sind dazu noch keine Durchführungsbestimmungen ausgearbeitet; die entsprechende Gesetzgebung legt nur allgemein gültige Normen fest. 223 Sozialarbeiter genießen nach der russischen Strafgesetzgebung keine Immunität als Zeugen. Bei Verletzung der Schweigepflicht durch einen Sozialarbeiter haben die Betroffenen nach dem zivilen Gesetzbuch, Artikel 1069 und 1099 bis 1101, das Recht, vor Gericht auf Schmerzensgeld zu klagen. Strafbar sind nach Artikel 137 Strafgesetzbuch Verstöße gegen die Unantastbarkeit des Privatlebens und Verletzungen des Adoptionsgeheimnisses (Artikel 155). Das Weitergeben vertraulicher Informationen über den Klienten kann auch mit Disziplinarmaßnahmen geahndet werden, etwa mit einem Vermerk, einer Mahnung oder einem Tadel, aber auch mit einer Herabstufung des Dienstgrades oder der Entlassung. A. N. Gontscharowa Sekten und Beratung in Sektenfragen Im Westen, auch im Osten Europas, gibt es zahlreiche verschiedene Sekten, Sondergruppen und Weltanschauungsgemeinschaften. Im konfessionskundlichen Sinne versteht man unter einer Sekte die Abspaltung von einer religiösen Großgruppe, die Teile der jeweiligen Glaubensauffassungen oder -praxis absolut setzt, ablehnt oder Neues hinzufügt, sich nach außen abgrenzt und oft Anhänger um einen charismatischen Führer sammelt. Inzwischen findet der Begriff umgangssprachlich auch Anwendung auf Gruppen, die ein ideologisches, politisches, psychologisches oder sogar finanzielles, rigoros ausbeuterisches Programm vertreten, gesellschaftlichen Konsens verweigern, Bereitschaft zeigen, Menschenrechte außer Kraft zu setzen und für sich selbst die Wahrheit über Mensch und Welt in Besitz nehmen. Zu bedenken ist jedoch, dass nicht alle Kennzeichen in gleicher Weise bei allen Sekten zu beobachten sind. Die große Gefahr aller Sekten besteht in der Tendenz zur extremen Abkapselung, die zur gesellschaftlichen Isolation führen kann. Hysterie und wahnhafte Ideen können schlimmstenfalls zu kriminellen Kurzschlußhandlungen führen (Japan 1995, USA 1997, Uganda 2000). Doch nicht alles, was auf dem Markt der Sinnanbieter neben den Kirchen vorfindlich ist, gehört in den Bereich der Sekten, denen man in Deutschland etwa 600 verschiedene Gruppie224 rungen mit um die 1 Million Anhängern zurechnet. Deshalb ist im einzelnen die „Unterscheidung der Geister“ nötig. Sektenähnlich können auch Psychogruppen sein, die Lebenshilfe und Weltrettung „aus einer Hand“ mit psychologisch- und pseudopsychologischen Methoden versprechen. Fachliche Psychologie wird mit religiösen, esoterischen und okkulten Praktiken überfrachtet wie Astrologie, Neuheidentum, Hypnose, Meditationsübungen u.s.w. Um die Führergestalt entsteht oft ein Personenkult, der zu Bindungen und Abhängigkeiten führen kann. Am bekanntesten sind klassische Sekten (Zeugen Jehovas, Neuapostolische Kirche, Mormonen, Christliche Wissenschaft, die anthroposopisch geprägte Christengemeinschaft u.a.). Gemeinsam sind diesen Gruppierungen oft der steinbruchartige Gebrauch der Bibel, die Sinnverfälschung der Texte, die Verwerfung der altkirchlichen Bekenntnisse und die Vermischung des Glaubens mit nichtchristlichen Vorstellungen. Da mitunter rigide Moralvorstellungen vorherrschen, kommt es je nach Ausrichtung zu Konflikten. Eine Ausnahme bildet in diesem Zusammenhang die Gemeinschaft der Siebenten-Tags-Adventisten im deutschsprachigen Raum. Trotz Sonderlehren wird eine Öffnung zur Arbeitsgemeinschaft Christlicher Kirchen versucht. Daran wird deutlich, dass auch Sekten Veränderungsprozessen unterliegen und sowohl „Versektung“ als auch „Entsektung“ zu beobachten sind. Seit den 70er Jahren treten sogenannte Jugendreligionen bzw. Jugendsekten in Erscheinung, die anfangs insbesondere eher jüngere Menschen ansprachen. Mission betreiben bis Heute sowohl hinduistisch geprägte Guru-Bewegungen (Transzendentale Meditation, Krishna/Iskcon, Ananda Marga, Brahma Kumaris, Bhagwan/Osho, Satya Sai Baba, Sri Chinmoy, Thakar Singh u.a.) sowie buddhistisch ausgerichtete Gruppierungen (Kayüdpa, Mahakiri, Soka Gakkai u.a.). Diese Bewegungen haben verschiedene Ausrichtungen, konfrontieren jedoch die oft jungen Leute mit einem Menschenbild und vielfältigen Glaubensvorstellungen und übungen, die aus dem Hinduismus, Buddhismus, Jainismus und Sikhismus gewonnen werden. Gemeinsam ist diesen Gruppen meist, daß im Mittelpunkt ein „Guru“ steht, der als persönlicher Seelenführer, Meister und Lehrer agiert. Dies führt oft zu Konflikten. Es gibt in diesem Bereich jedoch auch christlich geprägte Gemeinschaften, wie die Kinder Gottes/Familie der Liebe oder synkretistisch geformte neue Religionen wie die Vereinigungskirche um den als „wiedergekehrten 225 Christus“ verehrten San Myung Moon. Als Psychosekte mit wenigen religiösen Elementen läßt sich die umstrittene Scientology Church bezeichnen. Interessierten werden teure Programme (Auditing- und Kommunikationskurse u.a.) verkauft, die den Menschen in den Zustand eines „geklärten (clear) Wesens“ versetzen sollen und ihn über viele weitere Stufen zu einem „operierenden Thetan“ (Operating Thetan) machen wollen. In den letzten Jahren haben Neuoffenbarungsgruppen (Universelles Leben, Fiat Lux u.a.) an Bedeutung gewonnen. Im Mittelpunkt dieser Gemeinschaften steht meist ein sogenanntes „Medium“, das sich dem spiritistisch/esoterischen Menschen-, Welt- und Gottesbild verbunden fühlt und Kundgaben aus einer „jenseitigen Welt“ für die Anhänger und übrige Menschheit übermittelt. Der Begriff Jugendreligionen/ Jugendsekten erscheint heute nicht mehr angemessen. Es hat innerhalb dieser Gruppen ein Etablierungs- und Anpassungsprozeß stattgefunden. Zu beobachten ist, dass man nicht nur Anhänger wirbt, sondern sich darum bemüht, in Wissenschaft, Politik und Kultur Fuß zu fassen, um Einfluß auf die Gesellschaft zu nehmen. Am deutlichsten ist die Ausrichtung an den Aktivitäten von Scientology abzulesen. Auch im christlichen Umfeld sind sektiererische Entwicklungen möglich. Gegenwärtig läßt sich dies an Gruppierungen erkennen, die neben Kirchen und Freikirchen meist aufgrund von fundamentalistischen oder pfingstlerischen Einflüssen aus Amerika entstehen, z.B. Internationale Gemeinde Christi und University Bible Fellowship. Wie in den westlichen Ländern haben sich Sekten auch in Rußland etabliert. Inzwischen sind neben den „klassischen Sekten“ fast alle im Westen bekannten konfliktträchtigen Sekten vertreten, darunter die Scientology Church, die Moon-Sekte, die Zeugen Jehovas, Transzendentale Meditation, Krishna/Iskcon u.a., wie auch okkultistische Gruppen einschließlich satanistischer Zusammenschlüsse, die eine besondere Gefahr darstellen. Auch in Russland entstehen sektiererische Gruppen („Mutter-Gottes-Zentrum“, „DieGroße Weiße Bruderschaft), deren Glaubenspraxis und Umgang mit Menschen vieleKonflikte auslösen. Im Krasnojarsker Gebiet besteht seit 1994 um Vissarion (Sergej Torop) die „Kirche des letzten Testaments“. Von Anhängern wurde die Ökosiedlung „Tiberkul“ gegründet, in der ca. 3000 Menschen in einfachen Verhältnissen und ohne Geldverkehr leben sollen. Vissarion versteht sich als „neuer Christus“, der den „Einigen226 den Glauben“ bringt und in der beginnenden Endzeit mit dem „schrecklichen Gericht“ die rettende Arche darstellt. Er lehrt das „Letzte Testament“, das sich aus einem Gemenge verschiedenster Glaubensvorstellungen zusammensetzt (Neuoffenbarungen, Theosophie, Neohinduismus, Okkultismus, New-Age) und eine teilweise fragwürdige Ethik propagiert. Auch in Westeuropa wirbt Vissarion und hat einige Anhänger gefunden. Aus Sekten beziehungsweise geschlossenen okkulten Gruppen „auszusteigen“, ist erfahrungsgemäß schwierig: Mit zunehmender Zugehörigkeit zu einer solchen Gruppe nimmt die Fähigkeit zur kritischen Wahrnehmung der eigenen Situation ab, während gleichzeitig die geistig-moralische Abhängigkeit von der Sekte zunimmt. Meist erfahren Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter von Sozialwerken über Eltern, Freunde, Partner/-innen von Kontakten der Betroffenen zu einer sektiererischen Gruppe. In der ersten Phase geht es darum, wenn möglich, den Kontakt zu den direkt Betroffenen herzustellen. Es gilt abzuklären, ob es nur eine lockere Verbindung zur Sekte gibt, lediglich Informationen gesucht werden oder eine Entscheidung bereits gefallen ist. Die zweite Phase besteht darin, Informationen zur Sekte bei Beauftragten für Sekten- und Weltanschauungsfragen zu sammeln und diese für den Betroffenen verständlich aufzubereiten. Es hilft wenig, diese lediglich weiterzugeben. Dem Betroffenen soll es ermöglicht werden, aus der Distanz noch einmal alles zu überdenken, Einsicht in die Folgen einer Entscheidung zu gewinnen und Alternativen kennenzulernen. Manchmal gelingt es auch, die Ursachen herauszufinden, die zu einer Kontaktaufnahme/Einbindung geführt haben. Die dritte Phase zielt auf die Bewältigung des Problems. Das kann bedeuten, dass die Ursache für den Sekteneinstieg ins Gespräch kommt, der Blick hinter die Kulissen 227 der Sekte ernüchternd wirkt, das Gruppenleben, die Versprechungen und Erlebnisse allmählich ihre Faszination verlieren, wird und neue Glaubens- und Lebensmöglichkeiten in einer seriösen entdeckt werden. Beratung und Seelsorge in diesem Arbeitsfeld sollte nach Möglichkeit in Absprache mit erfahrenen Seelsorgern und Fachpsychologen geschehen. Mitunter ist auch die Heranziehung von Ärzten und Rechtsanwälten nötig. J. Keden Sexualität Unter Sexualität wird die Gesamtheit aller Bedürfnisse, Triebe und Verhaltensweisen verstanden, die sich auf die Befriedigung des Sexualtriebs und/oder den Geschlechtsakt beziehen. Die menschliche Sexualität unterliegt keiner Periodizität und ist nicht ausschließlich an den Fortpflanzungszweck gebunden. Die durch genetische und hormonelle Voraussetzungen gegebene biologische Basis sexueller Empfindungen und Aktivitäten bedarf der Gestaltung durch den Einzelnen in seinen sozialen Beziehungen. Sexualität und Liebe gehören häufig, aber nicht notwendig zusammen. Der Mensch ist von Geburt an ein sexuell empfindendes Wesen. Im Prozeß der -> Sozialisation entwickelt das Individuum eine persönliche Identität, zu der auch die Wahrnehmung des Körpers, der Umgang mit Lust und Leidenschaft, die Liebesund Beziehungsfähigkeit, das moralische Empfinden und das Verständnis von "Weiblichkeit" und "Männlichkeit" gehören. Störungen des sexuellen Verhaltens können durch organische Gegebenheiten oder hormonelle Störungen verursacht werden; häufig sind sie aber auch auf psychische Probleme und Persönlichkeitsund/oder Beziehungsstörungen zurückzuführen. Auch wenn Sexualität eine höchst private und intime Erfahrung ist, sind die Möglichkeiten ihrer Gestaltung eingebettet in die kulturellen und religiösen Traditionen der jeweiligen Gesellschaft, die jeweils vorherrschenden moralischen und politischen Normen. Sie finden Ausdruck in „Anstand und Sitte“, in auf Gleichbe228 rechtigung oder Über- und Unterordnung beruhenden Beziehungen der Geschlechter zueinander, aber auch in zivil- und strafrechtlichen Regelungen (z.B.: Ehe- und Familienrecht; Verbot, Tolerierung oder Gleichstellung von gleichgeschlechtlichen Lebensgemeinschaften; Strafbarkeit oder Straffreiheit von Schwangerschaftsunterbrechungen; u.a.m.). Die Entwicklung eines umfassenden Verständnisses von Sexualität wird zum einen erschwert durch eine auf organisch-medizinische Aspekte reduzierte Sicht sexueller Prozesse. Zum anderen macht die Kommerzialisierung aller Lebensbereiche auch vor der Sexualität nicht Halt, was sich etwa im Handel mit Kinderpornografie oder in Sextourismus und Frauenhandel zeigt. An diesen Beispielen wird außerdem deutlich, wie stark Sexualität mit Macht, Herrschaft und Gewalt zu tun haben kann, wenn sie von liebevollen, die Würde des jeweils anderen respektierenden Beziehungen abgekoppelt wird. Deshalb muß Sexualerziehung Bestandteil eines umfassenden pädagogisch-psychologischen Konzeptes der Entwicklung von Beziehungsfähigkeit und Selbstverantwortlichkeit sein. H. Mogge-Grotjahn Sexuelle Kindesmißhandlung (¤ Körperliche Kindesmißhandlung; ¤ Vernachlässigung) ist die Ausnutzung der körperlichen, emotionalen und entwicklungsbedingten Abhängigkeit eines Kindes zur sexuellen Befriedigung eines Erwachsenen oder Jugendlichen (Altersdifferenz: mindestens 5 Jahre). Dies kann innerfamilial (Inzest) oder durch einen Fremden geschehen. Die gegebenen Abhängigkeiten machen eine überlegte Zustimmung des Kindes unmöglich. Die Verantwortung trägt in jedem Fall der Täter. 229 Die sexuelle Kindesmißhandlung schließt nicht nur Geschlechtsverkehr, sondern jede Handlung ein, die mit der Absicht verbunden ist, das Kind sexuell zu stimulieren oder ein Kind für sexuelle Erregung des Täters oder einer anderen Person zu benutzen. Zu unterscheiden sind: Sexuelle Mißhandlungsformen ohne Körperkontakt, mit Körperkontakt, jedoch ohne Penetration, mit penetrativem Kontakt (genitale, orale, anale Penetration mit Penis, Finger oder Gegenständen). Eingeschlossen sind auch sexuelle Perversionen der Täter. Es gibt eine hohe Dunkelziffer. In Deutschland wird davon ausgegangen, daß etwa 10 Prozent der Kinder betroffen sind, Jungen fast so häufig wie Mädchen. Mehr als die Hälfte der Kinder ist im Vorschulalter oder jünger. Nach derzeitigem Wissensstand sind mehr als 90 Prozent der Täter männlich, mehr als 60 Prozent gehören dem engeren familialen Umfeld des Kindes an. Die Erfahrung zeigt, daß die Häufigkeit sexueller Mißhandlungen an Kindern nicht abhängig ist von dem Grad an Sexualisierung bzw. der Freizügigkeit oder Rigidität von Moral in einer Gesellschaft. Der Focus beim Inzest liegt auf den Themen: Sehnsucht nach Zuwendung, Anerkennung und Nähe. Diese Wünsche haben das Kind und der Täter gleichermaßen. Während jedoch die Wünsche beim Kind altersgerecht und entwicklungsangemessen sind, weisen sie beim Täter auf eine infantile, unreife Persönlichkeitsstruktur hin. Als familiale Risikofaktoren gelten: fehlende Generationengrenzen, psychische Abhängigkeit der Eltern, meist von den Herkunftsfamilien, gering ausgeprägte partnerschaftliche Beziehungsebene zwischen den Eltern, infantile Familienstruktur mit wenig empathischer Versorgungshaltung und wenig reifer emotionaler Verantwortlichkeit, wenig reflexive Kommunikation. Die pädophile Kindesmißhandlung entspringt dem Bedürfnis des Täters nach sexuellem Erleben in einer Situation eindeutiger Macht und Überlegenheit, wie es mit erwachsenen Partnern nicht gegeben wäre. Die Tendenz zu Bedrohung und Verletzung ist hier wesentlich höher. In beiden Fällen ist der Versuch der Tatwiederholung sehr wahrscheinlich. 230 Die Folgen von sexueller Kindesmißhandlung sind beim Inzest wesentlich mitbestimmt vom Geheimhaltungsdruck und der damit verbundenen Ausbildung einer innerfamilialen Spaltung. Das Kind verliert sein Vertrauen dem Täter gegenüber durch die Tat, dem anderen Elternteil gegenüber durch die Unmöglichkeit sich mitzuteilen. Diese Konstellation beinhaltet eine erhebliche Beziehungsstörung für das Kind, die die Verarbeitung des Traumas erschwert. Im übrigen sind die Folgen mit denen fremdgeschädigter Kinder vergleichbar: Scham- und Schuldgefühle, Ekel, Angst, sozialer Rückzug oder Distanzlosigkeit, Sexualisierung, psychosomatische Reaktionen (auch in spezifisch- symbolbildender Weise), Eßstörungen, depressive Entwicklung, Identitätsstörungen, selbstschädigendes Verhalten, Gefährdung für Dissozialität, Prostitution und stoffliche Abhängigkeit, psychiatrische Symptomatik, insbesondere dissoziative Phänomene. Bei Verdacht ist eine fachspezifische Diagnostik unumgänglich. Sie ist multiprofessionell und ganzheitlich anzulegen. Krisenintervention und längerfristige Hilfemaßnahmen müssen in einem institutionellen Netz mit gemeinsam getragenem Konzept erfolgen. Familien- und einzeltherapeutische Maßnahmen sind den jeweiligen Bedürfnissen anzupassen. Immer sind der Schutz und das Wohl des Kindes am wichtigsten. Dies gilt vor allem für die Frage der Anzeigestellung und strafrechtlichen Verfolgung, die oft eine sekundäre Victimisierung bedeuten. J. Kuehn-Velten / E. Motzkau Solidarität ist ein zentraler Begriff aus der Arbeiterbewegung und der Sozialpolitik: Er bezeichnet Bewußtsein oder Handeln als Zusammengehörige, um einer gemeinsamen Sache willen, gegenseitiges Einstehen für einander; gegenseitige Hilfe und Unterstützung, die oft auch die gemeinsame Verantwortung voraussetzt. 231 Idee und Organisation der Gewerkschaften sind eng mit dem Begriff der Solidarität verbunden, was sich zum Beispiel im Namen der polnischen Solidarnosc zeigt. In der → Sozialpolitik werden die Sozialversicherungen (in Frankreich, Deutschland oder Italien) als Solidargemeinschaften bezeichnet, da der kollektive Ausgleich von Risiken (z.B. von Gesunden und Kranken in einer gesetzlichen Krankenkasse) eine individuelle Entlastung von Kosten und auch eine gewisse Umverteilung schafft (die Gesunden zahlen ein, die Kranken zahlen nicht ein, sondern nehmen die von allen finanzierten Leistungen in Anspruch). Zu unterscheiden sind zwei Varianten von Solidarität: die Solidarität von Gleichen untereinander oder auch Gruppen-Solidarität (z.B. Arbeiterunterstützungsvereine, Hilfsorganisation von Veteranen) und die Solidarität von Ungleichen oder auch universalistische Solidarität (z.B. die Solidarität der reichen Länder der Welt mit den armen, Verbände von behinderten und nichtbehinderten Menschen). Steht bei der Gruppen-Solidarität das Handeln unter dem Motto „Gemeinsam sind wir stark“, so prägt bei der universalistischen Solidarität das Bewußtsein das Handeln, sich einem gemeinsamen Ganzen angehörig und verpflichtet zu fühlen („Solidarismus“). M. Bellermann Sonderpädagogik ¤ Korrektionspädagogik; ¤ Heilpädagogik Sonderpädagogische Einrichtungen Für Kinder und Jugendliche mit schweren gesundheitlichen Beeinträchtigungen gibt es in Russland acht unterschiedliche Arten von sonderpädagogischen Einrichtungen, überwiegend in Form von Schulen und Heimen. Über eine Aufnahme der Kinder entscheidet ein Ausschuss durch ein Gutachten nach psychologischen, pädagogischen und medizinischen Kriterien; die Zustimmung der Eltern oder der 232 Erziehungsberechtigten ist obligatorisch. Die Kategorisierung erfolgt nach der Art der Beeinträchtigung; für administrative Zwecke werden die Einrichtungen mit Kennziffern versehen: 1. Gehörlose Kinder. 2. Schwerhörige Kinder mit unterschiedlichem Grad von Schwerhörigkeit und retardierter sprachlicher Entwicklung sowie Kinder, die im Vorschul- oder Schulalter ertaubt sind, ihre Sprechfähigkeit aber noch erhalten haben. 3. Blinde Kinder und Kinder mit geringem Sehvermögen sowie Kinder mit einem besseren Sehvermögen, aber durch Augenkrankheiten bedingten Sehfunktionsstörungen, die zur Erblindung führen. 4. Sehbehinderte Kinder und Kinder mit einer höheren Sehschärfe bei sich entwickelnden oder sich oft wiederholenden Erkrankungen und bei asthenischen Symptomen, die durch Lesen oder Schreiben auf sehr kurze Distanz entstehen. 5. Kinder mit schweren Sprachbehinderungen. 6. Kinder mit Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungsapparates. 7. Kinder mit verlangsamter geistiger Entwicklung. 8. Geistig behinderte Kinder, die durch sonderpädagogische Maßnahmen zumindest teilweise in die Gesellschaft integriert werden sollen. N. Jalpajewa Sonderpsychologie Die Sonderpsychologie untersucht klinische, physiologische und psychologische Entwicklungsmerkmale bei Kindern mit eingeschränkten Möglichkeiten. Teilgebiete sind unter anderem die Pathopsychologie, die Arbeit mit oligophrenen sowie mit sehbehinderten und hörbehinderten Menschen. Neuere Entwicklungen nehmen Kinder mit retardierter geistiger Entwicklung, mit Funktionsstörungen des Stütz- und Bewegungsapparates sowie mit komplexen (mehrfachen) Behinderun233 gen in den Blick. Forschungsgegenstände der Sonderpsychologie sind die Veränderungen von mit psychischen oder somatischen Erkrankungen verbundenen pathologischen Zuständen des Gehirns. Hierzu gehören die Besonderheiten der Entwicklung von geistigen Prozessen, Tätigkeiten, Charakterzügen, der Entwicklung des Gefühls- und Willensbereichs sowie generell der Persönlichkeit bei geistig behinderten Kindern. Und die Erforschung der geistigen Entwicklung von gehörlosen und schwerhörigen sowie von blinden und sehbehinderten Kindern. Zu den Aufgabenbereichen der Sonderpsychologie gehören die Entwicklung von Rehabilitations- und Integrationsprogrammen für Kinder und Jugendliche mit entsprechenden Behinderungen; die Evaluierung der bestehenden Bildungssysteme für Menschen mit eingeschränkten Möglichkeiten; die Erarbeitung psychologischer Grundlagen für sonderpädagogische Curricula und Methoden; die Erarbeitung eines Systems vorbeugender Maßnahmen; sowie die Bewertung der Arbeit der Psychologen in Bezug auf Prophylaxe, Beratung, Diagnostik und Rehabilitation. N. Jalpajewa Sozialarbeit Der Begriff „Sozialarbeit“ findet sich zwar schon in den 20er Jahren des 20. Jahrhunderts in der deutschen sozialpolitischen Diskussion, wird aber erst später als Übersetzung des angelsächsischen Begriffes „social work“ in Deutschland eingeführt. Sozialarbeit hat einen engen Bezug zur → Sozialpädagogik. Beide Bezeichnungen werden sowohl zusammen als auch nebeneinander zur Kennzeichnung spezieller Arbeitsweisen im Bereich der sozialen Arbeit benutzt. Sozialarbeit ist eine spezifische, professionelle Tätigkeit, die von Hochschulabsolventen (Dipl.-Sozialarbeiter) ausgeübt wird. Ihre orginäre Aufgabe ist, Lösungswege für → soziale Probleme zu entwickeln und zu gestalten. Um die Komplexität der sozialen Problemlagen zu erfassen und die dazugehörigen Handlungsarten wissenschaftlich zu begründen, muß die Entwicklung von 234 Theorien der Sozialarbeit weiter verfolgt werden. Seit den 80er Jahren des 20. Jahrhunderts werden systemtheoretische Modelle bevorzugt herausgestellt: z.B. „Life Modell“ (Germain und Gittermann), „Theorie Sozialer Probleme“ (StaubBernasconie). Sozialarbeit ist Arbeit mit Menschen, deren Lebenslagen gekennzeichnet sind durch Armut, Krankheit, stigmatisierte Verhaltensweisen sowie geringe soziale Teilhabe und geringe gesellschaftliche Einflußnahme. Sie ist eine staatlich vorgehaltene Leistung für Problemkonstellationen, in denen die ökonomischen, physischen, psychischen, sozial-ökologischen und kulturellen Ressourcen dem einzelnen zur Bedürfnisbefriedigung fehlen und nicht von ihm durch soziale Beziehungen oder Mitgliedschaften eigenständig erschlossen werden können. Sozialarbeit richtet sich an Menschen, die ohne fremde Hilfe ihre Lebenssprobleme nicht bewältigen können. Sie betrachtet die Probleme in dem sozialen Kontext ihrer Existenz, versteht sie aus der sozialen Genese heraus und versucht sie unter Berücksichtigung der sozial-ökonomischen Zusammenhänge zu verändern. Sozialarbeit beschränkt sich bei der Problemlösung nicht nur auf direkte Hilfen für das Individuum, sondern vollzieht sich auf unterschiedlichen sozialen Niveaus: Familie, Nachbarschaft, Betriebe, Stadtteil, Region usw. Die Funktionen der Sozialarbeit bezogen auf die Hilfeleistungen für den einzelnen sind: die Erschließung von Ressourcen zur Befriedigung der Grundbedürfnisse, die zur Erhaltung und Entfaltung des Menschen erfüllt sein müssen, unabhängig von einem kulturellen oder politischen Konsens (kompensatorische Funktion), der Schutz der Menschen vor sie verletzenden Aktionen (protektive Funktion) und die Förderung von Lernprozessen im Hinblick auf individuelle und kulturelle Orientierungs- und Handlungsmuster, die Menschen zu problemlösendem Verhalten bewegen (motivatorische Funktion). Ihre Funktionen in Zusammenhang mit sozialen Systemen, denen die Hilfesuchenden angehören, sind die Erarbeitung einer Balance zwischen Rechten und Pflichten, das Ermöglichen der gerechten Austragung von Konflikten und das Aushandeln von Machtstrukturen (mediatorische Funktion). 235 Sozialarbeit hat zudem eine gesellschaftsbezogene, staatlich begründete Funktion und ist durch abstrakte Setzungen, d. h. durch Gesetze, Erlasse, Verordnungen bestimmt. In diesem Kontext hat sie in Deutschland die Funktion der Integration, Resozialisierung, wirtschaftlichen Ausgestaltung von Versorgungsangeboten für benachteiligte Personengruppen, der Bearbeitung strukturell bedingter → sozialer Probleme auf der individuellen Ebene. Aus dem Selbstverständnis der Sozialarbeit ergibt sich die Funktion der Prävention. Sozialarbeit nimmt Einfluß auf Entscheidungsgremien in Politik und Verwaltung, um soziale Dienstleistungen zu verbessern. Sie informiert Instanzen der Gemeinde-, Sozial- und Gesellschaftspolitik über Faktoren, die störend die Lebensbedingung für bestimmte Individuen und Gruppen beeinträchtigen und macht individuelle Nöte gegebenenfalls zu öffentlichen Themen. Sozialarbeit ist damit auch ein intermediäres System, das die Verbindung zwischen Gesellschaft und Klient vermittelnd gestaltet. Sie arbeitet an der Verknüpfung von Privat- und Öffenlichkeits- bzw. Rechtsbereich, von Obhut, Schutz und Freiheit, von individueller Sicherheit und struktureller Gerechtigkeit, von individuellen und gesellschaftlich anerkannten sozialen Werten. Mit der Akzentuierung, die sich aus den jeweiligen Arbeitsfeldern ergeben, hat Sozialarbeit es mit Menschen aus allen Alters- und Bevölkerungsgruppen zu tun. Auftragsinstanzen sind die Adressaten und ihre problem- oder ressourcenrelevanten Bezugspersonen sowie Organisationen des Sozial- und Gesundheitswesens, der Erziehung, Bildung, Politik und Wirtschaft. Sozialarbeit vollzieht sich durch spezielle Handlungsformen (→ Einzelhilfe, → Gruppenarbeit, → Familienberatung, → lokale/regionale Arbeit), die sich differenzie-ren in unterschiedliche Handlungsansätze und -konzepte. Sie bedient sich bestimmter Methoden, die das Spektrum und die Abfolge der Arbeit bestimmen. Sie verfügt über zielgerichtete Handlungsarten, (-> Beratung, → Verhandlung, → Intervention, → Vertretung, → Betreuung), umfaßt ressourcenerschließende, erziehende, bildende, fördernde, vernetzende, alltagsbegleitende, verwaltende, planende, organisierende und auswertende Aktivitäten und ist gleichzeitig aufgefordert, kreativ Verfahren zu entwickeln, die bezogen auf die jeweilig ausgehandelte Problemkonfiguration, der erklärten Zielabsicht und der Berücksichtigung der vorhandenen Ressourcen der Problembeteiligten wirksam sind. Auf der Handlungsebene besteht die Anforderung, Prozesse des Mitempfindens und der Für236 sorglichkeit mit Prozessen der distanzierten Analyse, der Wertsetzung und der Machtausübung zusammenzubringen. Der Erfolg des Handelns hängt davon ab, wie die helfende Beziehung zu Klienten aufgebaut, strukturiert und gestaltet wird, wie kooperative Beziehungen mit anderen Fachkräften, ehrenamtlich Tätigen und Mitgliedern von Selbsthilfegruppen eingegangen werden, wie Einfluß auf die Ausgestaltung sozio-ökonomischer und -ökologischer Lebensbedingungen genommen wird und ob die gewählten Lösungswege system-, situations- und problemangemessen sind. Die soziale Problemlösung wird durch überlieferte religiöse, philosophischethische, politische Werte, die sich im sozio-kulturellen Prozeß entwickelt haben, und durch die persönlichen Moralvorstellungen der Fachkraft beeinflußt. Im Laufe der Entwicklung der Sozialarbeit haben sich Konzeptions- und Handlungsprinzipien auf der Grundlage einer professionellen Werteübereinkunft entwickelt wie: Beachtung der Einzigartigkeit des jeweiligen Klientensystems, Berücksichtigung der komplexen Vielschichtigkeit des sozialen Problems, empathisches Verstehen des Klienten, nichtrichtende Haltung des Sozialarbeiters, Selbstbestimmung des Klienten bezogen auf die Zielsetzung und Vorgehensweise der gemeinsamen Arbeit, Setzung konkreter Grenzen im Hinblick auf Mitmenschen und Realität. Die systematische Evaluation von Arbeitsprozessen ist zur Qualitätssicherung unabdingbar. Als Ansätze der Reflexion werden praktiziert: Selbstreflexion, kollegiale Beratung, → Supervision u.a. m. Sozialarbeit wird von unterschiedlichen Trägern angeboten. U. Zinda 237 Sozialarbeit in Rußland (¤ Geschichte der sozialen Arbeit in Rußland) Die Sozialarbeit als selbständige berufliche Tätigkeit wurde in Rußland 1991 anerkannt, d. h. in das Dienststellenregister aufgenommen und juristisch ausgestaltet. In die moderne berufliche Sozialarbeit gehen die Traditionen der Vormundschaft und Wohltätigkeit sowie die verschiedenen Formen der sozialen Hilfe für Menschen in schwierigen Lebenslagen ein. Unter Sozialarbeit im heutigen Sinne versteht man die von Fachleuten durchgeführte professionelle Hilfeleistung für Menschen, die ohne fremde Hilfe ihre Probleme - seien sie persönlicher, familiärer, ökonomischer oder beruflicher Natur nicht lösen können. Ziele der Sozialarbeit sind die Gewährleistung eines materiellen, sozialen und kulturellen Mindeststandards, die Stärkung der Selbsthilfefähigkeiten der Klienten sowie die gesellschaftliche Integration. Unter Wahrung der Menschenwürde und Persönlichkeitsrechte der Klienten arbeitet die soziale Arbeit zielgerichtet; ihre Aufgaben umfassen auch die Prävention und die Rehabilitation. T. Tscherpuchina Sozialarbeitswissenschaft muß im Kontext der sozialen Wirklichkeit und der Handlungsprobleme „angewandte (Sozial-)Wissenschaft“ sein, die sich aus interdisziplinären Quellen speist. Sie kann nie „reine Wissenschaft“ sein, jenseits praktischer Bezogenheit. Sie muß eine methodisch-systematische Reflexionsbasis anbieten, als eine Grundlage umfassender Praxisbezogenheit, die die Lebenswelt, die komplexen Lebensverhältnisse und die Probleme des Alltags (der Klienten) in den Mittelpunkt rückt, und die daraus entstehenden Spannungsverhältnisse aufnehmen und analysieren. Sozialarbeitswissenschaft sollte zwischen beruflicher Praxiskultur und (alten und 238 neuen) Theorien, Theorieentwicklungen und Handlungstheorien versöhnen. Sie hätte eine integrierende Funktion im Rahmen der Fächer- bzw. Disziplinvielfalt in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik zu übernehmen. „Wissenschaft“ einerseits und „Praxis“ andererseits müssen also in einen Dialog treten, der Veränderung bzw. Modifikationen eines tradierten Wissenschaftsverständnisses und eines engen Praxisverständnisses hervorbringt. Die bisherigen sozialwissenschaftlichen Untersuchungen und die Verwertung der Ergebnisse für die und in der sozialen Arbeit reichen (noch) nicht aus, um von einer Sozialarbeitswissenschaft zu sprechen, die bis heute allenfalls in Fragmenten existiert. Im Bemühen um Fundierung und gesellschaftliche Anerkennung des Berufs zeichnete sich die Sozialarbeit von Anbeginn auch als Theoriegeschichte aus. Das Social Casework z.B. galt lange als Modell für Theoriebildung und -entwicklung, und hervorgehoben seien die Werke von A. Salomon, Klumper und Scherpner. Hier wie auch bei anderen Autoren zeigt sich, daß theoretische Modelle und Konzepte der sozialen Arbeit immer an die Entwicklung der jeweiligen Sozialpolitik gebunden war (und bleiben wird). Darüber hinaus erhofften sich Sozialarbeit/Sozialpädagogik in wechselnden Dekaden aus Pädagogik, Psychologie, Soziologie, Politikwissenschaft u.a. leitwissenschaftliche Orientierungslinien. Die immer wieder enttäuschte Hoffnung zwang förmlich zum Nachdenken über eine Sozialarbeitswissenschaft. Die Schwierigkeit, sie durchzusetzen, beruht u.a. auf (wissenschafts-)politischen Kontroversen, die dem Wissenschaftsanspruch und der diesbezüglichen Emanzipation der Sozialarbeit/Sozialpädagogik im Wege stehen (vgl. Mühlum und Engelke), die aber im Hinblick auf überzeugende und innovative Antworten überwunden werden müssen. 239 Gegenstand der Sozialarbeitswissenschaft sind die komplexe Wirklichkeit des Handlungs- und Forschungsfeldes Sozialarbeit/Sozialpädagogik, die sozialen Probleme und Problemlösungsstrategien, das Sozialverhalten und die Sozialverhältnisse, die Strukturen und Bedingungen, die zur gesellschaftlichen Unterprivilegierung und Randständigkeit führen, sowie soziale Mißstände und beeinträchtigende Faktoren - letztlich also die Lebensumstände und das soziale Umfeld betroffener Personen (vgl. Mühlum, Engelke, Staub-Bernasconi, Wendt). Das bereits vorhandene (systematisierte) Wissen und die theoretische Durchdringung sozialer Arbeit unter berufsspezifischen Paradigmen zu betrachten, wird zunehmend erkenntnis- und forschungsleitend. Die Aufgabe der Sozialarbeitswissenschaft ist dementsprechend, das Alltags-, Berufs- und wissenschaftliche Wissen (aus der Vergangenheit und der Gegenwart) zu sammeln, zu systematisieren, zu analysieren und weiterzuentwickeln sowie neue Erkenntnisse (für die Zukunft) der Sozialarbeit/Sozialpädagogik als Praxis und Wissenschaft überzeugend zu festigen. Dabei müssen (vorgegebene) Normen und Werte einfließen, weil diese integraler Bestandteil des Forschungsgegenstandes sind und ethische Begründungen Leitlinien des beruflichen sozialen Handelns sein müssen. Die Sozialarbeitswissenschaft - als angewandte (Sozial-)Wissenschaft - hat demnach „systematisches Wissen für Praxis und über Praxis“ bereitzustellen, „Reflexionswissen“ also, das Konsequenzen für professionelles Handeln und für die Neustrukturierung von Praxis, aber auch Konsequenzen für die Gesellschaft und ihre Institutionen hat“ (Mühlum, 1998). L. Haag 240 Übersicht: Sozialarbeit / Sozialpädagogik ARBEITSFELDER und ADRESSATEN Kinder und Jugendliche Erwachsene Alte Menschen Familien Gesundheit Behinderte Menschen Erziehungsbeistandsschaft Erwachsenenbildung / Frauenbildungsarbeit Arbeit in Altentagesstätten, Altenheimen, Sozialstationen Arbeit in Familienbildungsstätten Gesundheitsberatung bei Gesundheitsämtern, Krankenkassen und Betrieben Arbeit in Behindertenheimen, Behindertenwerkstätten und ambulanten rehabilitationseinrichtungen Vormundschaftsangelegenheiten Arbeit in Frauenhäusern Eingliederungshilfen in das ErSchwangerwerbsleben, Beschaftskonfliktberufsberatung ratung Arbeit in Jugendfreizeitstätten Arbeit in Schulen Pädagogische Spielplätze Kindertagesstätten, incl. Schulund Betriebskindergärten Jugendhilfeplanung Sozialpädagogische Tagesgruppen Adoptions- und Pflegekindervermittlung Jugendgerichtshilfe Straffälligenhilfe Berufsförderung und Integration in des Erwerbsleben Beratungsstellen für Ausländer/innen, insb. Asylbewerber/-innen; Spätaussiedler/innen Gerichtshilfe Straffälligenhilfe Arbeit im Strafvollzug Sozialpädagogische Familienhilfe Arbeit in Seniorentreffs Tagespflege Tagespflege Erziehungsbeistandsschaft Altenbildungsund Freizeitarbeit Altenhilfeplanung Soziale Arbeit mit Pflegefamilien Allgemeiner Sozialen Dienst (ASD) Sozialdienst im Krankenhaus Familien- und Krankenpflege / Sozialstationen Beratungsdienste Betreutes Wohnen Verbandsarbeit Arbeit in Drogenberatungsstellen Arbeit in der Psychatrie, stationär und ambulant Arbeit in der AIDS-Hilfe Arbeit im Hospiz TBC-Hilfe Arbeit mit Selbsthilfegruppen Bewährungshilfe Schuldnerberatung Hilfe für Personen mit besonderen sozialen Schwierigkeiten (z.B. Nichtseßhafte) Bewährungshilfe Jugend- und Kinderschutz Jugendverbandsarbeit Arbeit in Wohngruppen und Heimerziehung 241 ORTE und INSTITUTIONEN Staatliche administra- Institutionen staatli- Verbände, Vereine und Kirchen bzw. kirchlitive kommunale Insti- cher oder privater Trä- sonstige private Träger che Institutionen tutionen gerschaft Jugendämter Sozialämter Jugend- und Kinderschutzorganisationen Kliniken 1) Krankenkassen Gesundheitsämter Wohnbaugesellschaften Wohnungsämter Schulen Arbeitsämter Volkshochschulen Justiz Kindergärten Frauenverbände Seniorenverbände Kirchengemeinden Andere kirchliche Institutionen (z.B. zentrale Beratungs- oder Bildungsstätten) Behindertenverbände Gewerkschaften Verbandliche und andere private Träger in allen Arbeitsfeldern, auch Selbsthilfeorganisationen Unternehmen 1) Institutionen nach öffentl. Recht TÄTIGKEITEN Erziehung und Bildung Beratung, Behandlung und Sozialtherapie Resozialisation Gesundheitshilfen, -förderung und Rehabilitation Verwaltung, Planung, Organisation, Management und Öffentlichkeitsarbeit Kulturelle Bildungsarbeit (Sozialkulturelle Arbeit), freizeitpädagogische Arbeit) M. Bellermann, L. Haag, H. Mogge-Grotjahn, U. Zinda 242 Sozialberichterstattung ist ein sozialpolitisches Steuerungsinstrument, das auf staatlicher bzw. regionaler Ebene dazu dient, umfassend Informationen über die Entwicklung der sozialen Situation und der Verteilung der gesellschaftlichen → Lebenslagen bereitzustellen. Dies wird durch eine regelmäßige und systematische Bestandsaufnahme sowie sozialwissenschaftliche Interpretation ausgewählter und differenzierter Sozialindikatoren erreicht. Auf diese Weise lässt die S. Rückschlüsse auf die Leistungsangebote und die Leistungsqualität regionaler und staatlicher Sozialpolitik zu und kann als Wirkungsanalyse sozialpolitischer Interventionen verstanden werden. Je differenzierter die Berichte dabei nach regionalen Gesichtspunkten aufgeschlüsselt werden, um so zielgenauer lassen sich Gebiete mit hohem bzw. niedrigem sozialpolitischem Interventionsbedarf lokalisieren. Auf kommunaler Ebene wird die S. so kleinräumlich wie möglich (idealerweise stadtteil- oder quartiersbezogen) konzipiert. Indikatoren, die soziale Risiken in der Entwicklung eines Stadtgebietes signalisieren, orientieren sich in der Regel an den Bereichen: Demographie (Bevölkerungsentwicklung, Altersstruktur, Ausländeranteil), Einkommen (Struktur und Entwicklung der Einkommen und der sozialen Transferzahlungen), Bildung (Bildungsstatus, Schulabschlüsse, berufliche Qualifikationen), Wohnen (Wohnungsversorgung, -ausstattung, Wohnflächenbilanz), Gesundheit (Krankheitsraten, Inanspruchnahme von Vorsorgeangeboten), soziale Auffälligkeiten (Kriminalitätsrate, Jugenddelinquenz, Häufung von Jugendhilfemaßnahmen) (soziale) Infrastruktur (städtebauliche Entwicklung, Versorgung mit Dienstleistungen, formelle und informelle Stadtteilkultur, Vereine) sowie Partizipation (politische Teilhabe, Wahlverhalten). Entlang eines solchen Untersuchungsrasters eignet sich die S. als Instrument zur frühzeitigen Wahrnehmung von Problemanhäufungen in bestimmten Stadtgebieten. Wenn möglich, sollten die Betroffenen in die Berichterstattung einbezogen werden. 243 S. erfüllt eine Analysefunktion (wo, wann, wie und für wen besteht sozialpolitischer Handlungsbedarf) und bei regelmäßiger Durchführung auch eine Kontrollfunktion über die Effizienz der getroffenen Maßnahmen. S. steht damit auf kommunaler Ebene in einem engen Wechselverhältnis zur → Sozialplanung. J. Boeckh Soziale Gerontologie Die soziale Gerontologie befasst sich mit dem Alter als der abschließenden Lebensphase des Menschen - also dem Lebensabschnitt, der durch die Abkehr von der aktiven Berufs- und Erwerbstätigkeit und der Aufgabe der Erziehungstätigkeit und Vormundschaft gegenüber den Kindern gekennzeichnet ist. Alte Menschen, insbesondere Alleinstehende, sind häufig wegen langwieriger und/oder chronischer Erkrankungen nicht mehr in der Lage, die für das alltägliche selbstständige Leben erforderlichen Funktionen zu erfüllen. Im fortgeschrittenen Alter verschärfen sich zudem viele soziale Probleme: die ökonomischen Bedingungen verschlechtern sich, der Bedarf an medizinischer Versorgung nimmt zu, schwierige Anpassungen an eine neue Lebensweise werden erforderlich, gesellschaftliche Beziehungen und Bindungen zu Verwandten und Freunden lockern sich oder enden durch Tod. Eine Positionsbestimmung der alten Menschen in der Gesellschaft, die Beschreibung angemessener Lebensbedingungen, unterschiedliche Formen der Sozialhilfe, die der Erhaltung einer relativen Unabhängigkeit und Selbstständigkeit der alten Menschen dienen, nimmt die soziale Gerontologie vor. Sie untersucht die spezifischen Lebensbedingungen, Lebensweise, Methoden der Anpassung an neue Bedingungen im Zusammenhang mit dem Eintritt in den Ruhestand, Statusänderung, 244 die materielle Lage, den Familienstatus der alten Menschen und gehört somit wesentlich zum Ausbildungskanon von Sozialarbeitern. Das Fach ist in den staatlichen Standards der Berufsausbildung im Fachbereich „Sozialarbeit“ enthalten; es ist interdisziplinär angelegt und umfasst Wissensbereiche aus Soziologie, Wirtschaft, Demographie, Psychologie, Biologie, Medizin und Rechtswesen. N. F. Bassow Soziale Hilfen in Russland Die Sozialen Hilfen gehören neben der → Sozialversicherung zum System der sozialen Versorgung in Russland. Dies sind verfassungsmäßig garantierte Geldleistungen für Personen in bestimmten Situationen und Notlagen, die gesetzlich genau definiert sind. Hilfen bei zeitweiliger Erwerbsunfähigkeit werden geleistet im Krankheitsfall, bei Betriebs-, Haushalts- oder sonstigen Unfällen, bei erforderlicher Pflege eines Familienmitgliedes im Krankheitsfall, bei erforderlicher Quarantäne und bei Zahnersatz. Bei Betriebsunfall und Berufskrankheit entspricht die Höhe der Hilfe dem vollen Lohn; in den anderen Fällen werden je nach Beschäftigungsdauer, Zahl der minderjährigen Kinder und der Unterhaltsberechtigten und einigen anderen Faktoren zwischen 60 Prozent und 100 Prozent des Lohnes gezahlt. Als Minimum sind 90 Prozent des Minimallohnes festgesetzt. Für Familien mit Kindern gelten folgende Hilfen: Schwangerschafts- und Wochengeld; einmaliges Schwangerschaftsgeld für Frauen, die ihre Schwangerschaft innerhalb bestimmter Fristen registrieren lassen; einmalige Beihilfen bei der Geburt eines Kindes; monatliche Beihilfe für Kinder bis zum Alter von anderthalb Jahren; monatliches Kindergeld. Die monatliche Kinderbeihilfe wird an bedürftige Familien gezahlt, deren Durchschnittseinkommen das durchschnittliche Existenzminimum in der Region nicht übersteigt. Kinderbeihilfen werden auch gezahlt für Kinder alleinstehender Mütter, für Kinder, deren Eltern bzw. Elternteile ihrer Unterhaltspflicht nicht nachkommen oder die im Fall der Verbüßung einer 245 Haftstrafe von Lohnfortfall betroffen sind; sowie für Kinder von befristet dienenden Militärangehörigen. Die monatliche Kinderbeihilfe wird für jedes Kind bis zur Vollendung des 16. Lebensjahres gezahlt; beziehungsweise bis zum Abschluss der Schul- oder Berufsausbildung, längstens aber bis zur Vollendung des 18. Lebensjahres. Die Finanzierung der Sozialen Hilfen erfolgt aus staatlichen Mitteln, darunter auch aus Mitteln der staatlichen Sozialversicherung. J. Worobjewa Soziale Probleme Als soziales Problem gilt ein als negativ beurteilter gesellschaftlicher Zustand und/oder das negativ beurteilte Verhalten von Personengruppen. Der Begriff des sozialen Problems ist also abhängig von gesellschaftlichen Standards und insofern relativ. Zu unterscheiden sind soziale Probleme, die aus „Fehlausstattung“ mit materiellen oder anderen Ressourcen herrühren - zum Beispiel Armut oder Obdachlosigkeit - von solchen sozialen Problemen, die aus der „Fehlanpassung“ des Individuums an die gesellschaftlichen Standards herrühren - zum Beispiel auffälliges oder kriminelles Verhalten. Ein dritter Typus sozialer Probleme kann als Folge gestörter sozialer Bezüge verstanden werden - zum Beispiel die Ausgrenzung von ethnischen Minderheiten oder anderen „Randgruppen“. Häufig verstärken sich die Ursachen gegenseitig, so daß sich die sozialen Probleme bei bestimmten Personengruppen häufen. H. Mogge-Grotjahn 246 Soziale Schicht / Soziale Schichtung Der Begriff der „sozialen Schichtung“ bezieht sich auf die fortgeschrittene Industriegesellschaft, in der die Mehrheit der Menschen ihren Lebensunterhalt durch Erwerbsarbeit verdient. Anders als im antagonistischen Gesellschaftsverständnis des Marxismus ist mit dem Begriff der sozialen „Schichtung“ die Vorstellung einer in zwar hierarchischen, aber durchaus sozial verträglichen Schichten aufgebauten Gesellschaft verbunden. Soziale Schichtung ist in erster Linie eine Folge der Hierarchie von Berufen, die im Laufe der Industrialisierung entstanden sind und sich nach Ausbildung, rechtlicher Stellung, Einkommen und Prestige deutlich voneinander unterscheiden. Die Schichtzugehörigkeit von Personen ergibt sich demnach im wesentlichen aus ihrem Bildungsgrad, der beruflichen Qualifikation, der tatsächlich ausgeübten Berufstätigkeit und dem Einkommen. Bildungsgrad und berufliche Position werden häufig als Folge der individuellen Leistungsfähigkeit und -bereitschaft betrachtet. Der Begriff der sozialen Schicht wird zunehmend kritisiert, weil - er eine Status-Konsistenz (→ Status) unterstellt, die in der modernen Gesellschaft häufig nicht mehr gegeben ist; - nicht wirklich von der Stellung des einzelnen in der Berufshierarchie, sondern von der Existenz der „Normalfamilie“ ausgeht und allen Familienmitgliedern einen einheitlichen Status unterstellt; 247 - die soziale Schichtzugehörigkeit als dauerhaft konzipiert und auch Auf- oder Abstiegsprozesse (→ Mobilität) als kontinuierliche Prozesse in einer Richtung versteht, obwohl in der gegenwärtigen Gesellschaft Wechsel des sozialen Status häufig an bestimmte Lebensphasen und Lebensereignisse geknüpft sind und durchaus die Richtung wechseln können. Viele Soziologinnen und Soziologen bevorzugen deshalb inzwischen den Begriff der „sozialen Lage“ (oder auch → Lebenslage). H. Mogge-Grotjahn Soziale Selbsthilfe Die Idee der Selbsthilfe ist bestimmend für die Organisation und Verwirklichung der sozialen Unterstützung der Bevölkerung in der modernen Gesellschaft. Zugleich ist das Ziel der sozialen Unterstützung der Bedürftigen ihre Integration in das normale gesellschaftliche Leben, in dem sie ohne professionelle Hilfe auskommen können. Unter sozialer Selbsthilfe (gegenseitiger Hilfe) werden alle Handlungen verstanden, mit denen Individuen oder soziale Gruppen ihre Lebensbedingungen verbessern, ihre gemeinsamen Interessen verfolgen und soziale Aktivität entwickeln. In Zeiten ökonomischer und politischer Veränderungen der Gesellschaft, die zu einer Verunsicherung und Desintegration der Gesellschaftsmitglieder führen, nimmt ihre Bedeutung zu. Eine Selbsthilfe-Gruppe ist eine freiwillige, spontan entstandene oder mit Hilfe einer Fachkraft organisierte Vereinigung von Menschen zum Zwecke der gegenseitigen Unterstützung bei der Bewältigung ähnlicher Probleme. Solche Hilfe stützt sich in der Regel auf die eigenen Erfahrungen der Gruppenmitglieder. 248 In Russland hat die Selbsthilfe als soziale Erscheinung eine differenzierte Entwicklung genommen. In früheren Zeiten war in den Dörfern das System der gegenseitigen Hilfe bis ins Kleinste ausgearbeitet. Elemente der gegenseitigen Hilfe haben sich, zumindest auf dem Lande, in vielen Regionen Russlands bis heute erhalten. In den Städten, wo diese Traditionen wie viele andere in Vergessenheit geraten waren, erfahren sie derzeit eine Wiederbelebung. Untersuchungen belegen die Neu-Entstehung von lokalen Selbsthilfegruppen von Verwandten, Kollegen und Freunden. Zu den bekanntesten Selbsthilfegruppen zählen die Anonymen Alkoholiker und Anonymen Drogensüchtigen, die Organisationen von Vietnamveteranen in den USA und der ehemaligen Afghanistankämpfer in Russland, Frauengruppen und Organisationen von HIV-Kranken. Weit verbreitet sind auch Eltern- und Familiengruppen: Alleinerziehende Mütter oder Väter, Eltern behinderter Kinder, Eltern und Freunde psychisch Kranker, Organisationen von Gewalt- und Katastrophenopfern, Gruppen alter Menschen. Durch die Gründung von Selbsthilfegruppen entwickeln sich ihre Mitglieder von passiven, auf Hilfe wartenden Objekten in aktive, selbstständig handelnde Subjekte. Die zunehmende Verbreitung von Selbsthilfegruppen kann als Beitrag zu einer Gesundung und Stabilisierung der Gesellschaft betrachtet werden, denn die Aktivierung der Ressourcen des Menschen trägt zur Verbesserung der Sozialhilfestrukturen insgesamt bei. In Russland entstehen Selbsthilfegruppen häufig auf Initiative von Fachleuten, z.B. von Sozialarbeitern, die die Gruppen auch beraten. Sozialarbeiter und andere Fachleute erkennen die Bedeutung der Selbsthilfegruppen und kombinieren ihre Möglichkeiten mit anderen Hilfeangeboten, mitunter auch als Alternative zur prophylaktischen und therapeutischen psychosozialen Arbeit. Dabei lernen die Teilnehmer, sich gegenseitig zuzuhören, emotional mitzuerleben, die Verantwortung für ihr Schicksal zu übernehmen, gemeinsame Probleme gemeinsam zu lösen, andere und sich selbst psychologisch zu unterstützen. So wird in der Gruppenarbeit das Prinzip der Hilfe zur Selbsthilfe verwirklicht. 249 Da es keine entwickelten einheitlichen Methoden zur Gründung von Selbsthilfegruppen gibt, hängen Effektivität und Effizienz einer solchen Gruppe in hohem Maße von der Persönlichkeit und dem Engagement der an der Gründung Beteiligten ab. Auch wenn Selbsthilfegruppen nur in begrenztem Umfang zur Lösung sozialer Probleme der Betroffenen beitragen können, sind sie, wie die Praxiserfahrung zeigt, eine wichtige Ergänzung staatlicher und gesellschaftlicher Unterstützungsmaßnahmen und können wirksam zur Verbesserung der Lebensumstände vieler Menschen beitragen. L. Maschirowa Soziale Ungleichheit Als soziale Ungleichheit werden Unterschiede in den Lebensbedingungen der Mitglieder einer Gesellschaft bezeichnet, durch die sie unterschiedlichen Zugang zu den begrenzten materiellen und sozialen Ressourcen der Gesellschaft haben. Sie kann auf natürlichen oder auf sozialen Merkmalen von Menschen beruhen. Die jeweiligen Merkmale werden als so bedeutsam betrachtet, daß Personen, denen sie gemeinsam sind, als eine von anderen Personen abgrenzbare Bevölkerungsgruppe erscheinen. Bei der Erforschung der Ursachen der sozialen Ungleichheit kann von zwei entgegengesetzten Grundpositionen ausgegangen werden: der neomarxistischen und der neoweberianischen. Aus neomarxistischer Sicht beruht soziale Ungleichheit auf der unterschiedlichen Stellung von Menschen im Kampf um Eigentum, Produktionsmittel und Macht; sie ist durch radikales Handeln zu überwinden. Aus neoweberianischer Sicht ist soziale Ungleichheit ein Mittel der Selbstregulierung und Organisation der Gesellschaft, deren Stabilität sie sichert; sie ist ein zyklischer Prozeß und deshalb nicht grundsätzlich zu überwinden. 250 Im einzelnen befaßt sich die Ungleichheitsforschung (→ Sozialindikatoren) mit - den Ursachen sozialer Ungleichheit: Warum bestehen in einer bestimmten Gesellschaft bestimmte Formen von sozialer Ungleichheit? - den Determinanten sozialer Ungleichheit: An welche Merkmale werden in einer gegebenen Gesellschaft die sozialen Ungleichheiten geknüpft? - den Dimensionen sozialer Ungleichheit: Bestehen sie in unterschiedlichen Zugangsmöglichkeiten zu ökonomischen Ressourcen, Macht, Ansehen oder anderen Gütern? - den Auswirkungen sozialer Ungleichheit: Weisen die Angehörigen einer bestimmten gesellschaftlichen Teil-Gruppe gemeinsame Denk- und Handlungsmuster auf? Akzeptieren die Gesellschaftsmitglieder die Ungleichheit, oder führt sie zu sozialem Unfrieden? M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn Sozialepidemiologie Die Epidemiologie ist eine der zentralen Methoden der Sozialmedizin. Sie dient der quantitativen Erforschung der Häufigkeiten und Ursachen von Krankheiten bzw. Gesundheitszuständen in der Bevölkerung. Die deskriptive Epidemiologie stellt Häufigkeiten fest (Leitfrage: was ist der Fall?). Dabei werden in Querschnittsstudien Häufigkeiten bestimmt und auch Expositions- und Krankheitshäufigkeiten in verschiedenen Bevölkerungsgruppen miteinander verglichen (Korrelationen). Die analytische Epidemiologie versucht Kausalzusammenhängen auf die Spur zu kommen (Leitfrage: was ist die Ursache?). In Fall-Kontroll-Studien wird retrospektiv das Maß der Exposition einer möglichen Krankheitsursache bei den Erkrankten mit dem bei einer gesunden Kontrollgruppe verglichen. In Kohortenstudien wird eine Gruppe exponierter Personen mit einer Gruppe nichtexponierter Personen über einen längeren Zeitraum beobachtet und wiederholt bezüglich der Exposition und des Auftretens einer möglicherweise durch die Exposition verursachten Krankheit untersucht. Trotz ihres quantitativen Ansatzes ist 251 Sozialepidemiologie nur in Ausnahmefällen mit experimenteller Forschung vergleichbar; wegen der Vielzahl von Einflüssen auf die Gesundheit können Ursache-Wirkungs-Beziehungen zwischen bestimmten Faktoren und einer Krankheit kaum zweifelsfrei belegt werden. Potentielle Fehlerquellen müssen bei der Auswertung epidemiologischer Studien in jedem Einzelfall berücksichtigt werden. Die Sozialepidemiologie ist inhaltlich auf den Zusammenhang von Gesundheit und sozialen Faktoren gerichtet. Am Anfang der Sozialepidemiologie des 19. Jahrhunderts stand die Beschreibung von gesundheitlichen Folgen von Armut und Bildungsmangel, womit sie die Grundlage für Sozialmedizin und Sozialhygiene bildete. Wichtige Ergebnisse der Sozialepidemiologie waren der Nachweis des Zusammenhanges von Lebenserwartung und sozialen Faktoren sowie von Arbeit bzw. Arbeitslosigkeit auf Krankheit. Äußerst informativ waren auch Studien zum Zusammenhang von Migration und Krankheit. Diese Ergebnisse stützten die These von der Kulturabhängigkeit von Krankheiten und stellten Annahmen zur genetischen Disposition in Frage. Auch Unterschiede im Gesundheitsstatus und Gesundheitsverhalten zwischen Frauen und Männern sowie der Einfluß von Familienmerkmalen auf das Gesundheitsschicksal wurden in sozialepidemiologischen Studien untersucht. Derzeit werden international weniger die physisch-materiellen Risiken untersucht als vielmehr psychosoziale Bedingungen von Gesundheit. So findet in den USA die „soziale Unterstützungsthese“ die größte Beachtung, und die soziale Isolation wurde als Risikofaktor identifiziert. Die moderne Sozialepidemiologie ist zu einem wirksamen Instrument für die kausale Modellierung gesellschaftlicher Einflüsse auf Gesundheit, Lebensqualität, Behinderung, Krankheit und Sterbegeschehen entwickelt worden. So kann im Rahmen einer entwickelten Gesundheitsberichterstattung eine verläßliche Bevölkerungsdiagnose erstellt werden, die wirksame Ansätze für Interventionsprogramme bietet. Die Erfassung von bevölkerungsbezogenen Gesundheitsproblemen und ihren Ursachen, die Feststellung zentraler Trends im Gesundheits- und Sterbegeschehen, die Definition von Gesundheitszielen, die Interventionsplanung und die Evaluation gesundheitspolitischer Maßnahmen erfolgen auf der Basis sozialepidemiologischer Daten. Das zentrale Ergebnis der Sozialepidemiologie war neben dem Nachweis des Zusammenhanges von Sozial- und Gesundheitsproblemen die Erforschung des Wandels im Krankheitsspektrum von den Infektions- zu 252 den chronisch-degenerativen Erkrankungen in den westlichen Industrieländern. Die koronare Herzkrankheit wird für die bedeutendste zum Tode führende Krankheit in der modernen Industriegesellschaft gehalten, danach kommen die bösartigen Neubildungen (Krebserkrankungen). Sie belegt damit auch den erheblichen Anpassungsbedarf der Gesundheitssysteme. Die international vergleichende Sozialepidemiologie steht noch am Anfang ihrer Entwicklung. M. Klein-Lange Sozialer Wandel / soziale Veränderungen Die Begriffe ‚sozialer Wandel’, ‚soziale Veränderung’, ‚soziale Prozesse’ und ‚soziale Entwicklung’ werden unterschiedlich verwandt. Im folgenden wird von sozialen Veränderungen als von solchen Änderungen gesprochen, die in ihrer Ausrichtung offen sind, während der Begriff der sozialen Entwicklung auf sozialen Fort- oder Rückschritt bezogen ist. Soziale Veränderungen können auf der Ebene der interpersonalen Beziehungen, der sozialen Gruppen, der sozialen Institutionen und Organisationen sowie auf der Ebene der gesamten Gesellschaft stattfinden. Zu unterscheiden sind ferner unterschiedliche Arten von sozialen Veränderungen: strukturelle Veränderungen (z.B. Veränderungen von Familien-, Organisations- oder anderen Strukturen); prozessuale Veränderungen (z.B. Veränderungen in den Solidaritäts-, Spannungs-, Subordinations- oder anderen Beziehungen); funktionale Veränderungen (z.B. Veränderungen der Funktion sozialer Systeme in der Gesellschaft); und motivationale Veränderungen (z.B. Veränderungen in den Bedürfnissen und Interessen von Individuen oder Gruppen). 253 Aus unterschiedlichen Gesellschafts- und Geschichtstheorien ergibt sich die Kontroverse darüber, ob soziale Veränderungen als ein evolutionärer oder zielgerichtet herbeigeführter oder als ein prinzipiell nicht planbarer Prozeß zu verstehen sind. Unterschieden werden kann zwischen exogenen und endogenen Ursachen sozialen Wandels. Mit exogenen Ursachen sind Einflüsse gemeint, die von außen auf eine bestehende Gesellschaft einwirken, wie beispielsweise Kolonialisierung, kriegerische Auseinandersetzungen oder auch Katastrophen. Als endogen werden dagegen innergesellschaftlich verursachte Veränderungsprozesse bezeichnet. Endogener Wandel kann sich aus der Komplexität von Gesellschaften, aus der Dynamik einzelner Subsysteme und aus den Interessenkonflikten gesellschaftlicher Teilgruppen, aber auch aus der bewußten und geplanten Transformation ihrer politischen, ökonomischen und sozialen Strukturen ergeben. Allerdings ergibt sich aus der Analyse bereits stattgefundener Prozesse sozialen Wandels die Einsicht, daß eine strenge Unterscheidung von exogenen und endogenen Ursachen sozialen Wandels an der tatsächlichen Verflochtenheit beider Dimensionen vorbeigeht. M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn Soziales Sicherungssystem In jeder Wirtschafts- und Gesellschaftsstruktur wirken vielmehr wechselseitig voneinander abhängige, komplexe ökonomische, soziale und individuelle Faktoren, die eine ungleiche Verteilung der Lebens- und Teilhabechancen in der Gesellschaft nach sich ziehen. Das soziale Sicherungssystem hat die Aufgabe, diesen Ungleichentwicklungen entgegen zu wirken. Die Ausgestaltung des sozialen Sicherungssystems und die dadurch erzeugte Umverteilungswirkung des gesellschaftlichen Wohlstandes, ist stark von nationalen Traditionen geprägt (→ Sozialpolitik). Die Zielsetzung besteht aber jeweils darin, die klassischen Lebens- und Arbeitsweltrisiken (Alter, Gesundheit, Invalidität, 254 Arbeitslosigkeit) in ihren Folgewirkungen zu begrenzen und erträglicher machen. Dabei zielen die sozialen Sicherungssysteme in erster Linie auf die (finanzielle) Kompensation bereits eingetretener Risiken; aber auch präventive Leistungen (z.B. Vorsorgeuntersuchungen) gehören zu ihren Leistungsspektren. Das s. S. kennt drei Gestaltungsprinzipien, wobei es sich in Deutschland aus allen drei Bestandteilen zusammensetzt: 1. (Sozial-)Versicherungsprinzip: hierbei handelt es sich um die Absicherung für bestimmte Personenkreise (zum Beispiel Arbeiter und Angestellte) durch kollektive Fonds. Es besteht in der Regel eine Versicherungspflicht, wobei eine Beitragszahlung - deren Höhe lohnabhängig ist - den Leistungsanspruch begründet. Die Höhe der Leistung ist abhängig von der Höhe und der Dauer der Beitragszahlung (Äquivalenzprinzip). Gleichzeitig können zum Beispiel Familienangehörige ohne eigene Beitragszahlungen über ein Versicherungsmitglied mitversichert sein (Solidarprinzip). Im Leistungsfall findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt. Die zentralen Säulen der sozialen Sicherung in Deutschland sind nach diesem Prinzip organisiert (→ Sozialversicherung in Deutschland). 2. Versorgungsprinzip: umfasst beitragsunabhängige Sozialleistungen, die aus Steuergeldern finanziert werden. Der Grund ist ein besonderes Dienst- oder Treueverhältnis bzw. eine sicherungswürdige Vorleistung gegenüber dem Staat (z.B. Kriegs- und Gewaltopferversorgung, Beamtenversorgung). Aber auch das Vorhandensein einer bestimmten → Lebenslage, die der Staat aus gesellschaftspolitischen Gründen finanziell unterstützen will (z.B. Wohngeld, Kindergeld, Ausbildungsförderung), kann die Versorgungsleistung begründen. Eine Bedürftigkeitsprüfung kann vorgesehen sein. 3. Fürsorgeprinzip: wie beim Versorgungsprinzip handelt es sich um steuerfinanzierte Leistungen, die unabhängig von zuvor erbrachten Beiträgen ausgezahlt werden. Fürsorgeleistungen (Sozial- und Jugendhilfe) gelten als letzte Hilfen im sozialen Auffangnetz und werden nur dann gewährt, wenn alle vorgelagerten Hilfesysteme ausgeschöpft wurden (→ Subsidiarität). Sie unterliegen einer regelmäßig durchgeführten Bedürftigkeitsprüfung, bei der der Lei255 stungsempfänger seine gesamte Einkommens- und Vermögenssituation offenlegen muss. Die Leistungen werden nur als → Einzelfallhilfe gewährt und sollen der Erziehung zur Selbsthilfe dienen, damit der Hilfeempfänger nicht dauerhaft in den Fürsorgeleistungsbezug gerät. J. Boeckh Soziales System Der Systembegriff läßt sich erstens auf soziale Systeme aller Art beziehen. Zweitens kann er im engeren Sinne zur Analyse der Strukturen einer bestimmten Gesellschaft verwendet werden (→ soziale Ungleichheit; → Sozialstruktur). Soziologische Systemtheorien verstehen Gesellschaften als in sich strukturierte Gesamtheiten, deren Teile in ständigen Austauschprozessen untereinander und mit der sie umgebenden Umwelt stehen. Jeder so abgrenzbare Teil der Gesellschaft kann wiederum als soziales System betrachtet werden, so daß sich verschiedene Ebenen der Betrachtung ergeben. Die erste Ebene ist die der sozialen → Gruppe, in der Menschen sich für eine bestimmte Zeit in einem unmittelbaren Kontakt zueinander befinden und in funktionalen Rollen für ein gemeinsames Ziel zusammenwirken (z.B. Familie, Produktionsbrigade, Sportmannschaft). Die zweite Ebene ist die der sozialen Organisationen, die in unterschiedlichen Bereichen des gesellschaftlichen Lebens spezifische Ziele verfolgen und dafür über funktionale Strukturen und Verwaltungen verfügen (z.B. Betriebe oder Vereinigungen von Betrieben). Auf einer dritten Ebene wird der Systembegriff für funktionale gesellschaftliche Teilbereiche (= Subsysteme) verwendet (z.B. das kulturelle Subsystem, das wissenschaftliche Subsystem, das politische Subsystem etc.). Die vierte Ebene sozialer Systeme ist die Gesellschaft selbst, und als fünfte und höchste Ebene des Sozialsystems kann die gesamte Weltgemeinschaft betrachtet werden. 256 Alle sozialen Systeme zielen auf Ganzheit und Integration. Die Tätigkeit des Menschen realisiert sich im Prozeß des Zusammenwirkens mit den ihn umgebenden Menschen; das soziale Umfeld und seine Elemente wirken in diesem Prozeß ständig auf den Menschen ein, der seinerseits auf die Umgebung und das soziale Umfeld zurückwirkt. Veränderungen in einem Teil eines sozialen Systems bewirken deshalb immer auch Veränderungen in allen anderen Teilen. Da Systeme der Logik der Selbst-Erhaltung folgen, tendieren sie dazu, immer wieder Gleichgewicht und Stabilität herzustellen. M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn Sozialethik Die Sozialethik sucht Normen sozialen Verhaltens wissenschaftlich zu bestimmen. Dabei geht es sowohl um die Beziehungen zwischen den Menschen als auch den sozialen sowie politischen Institutionen einer Gesellschaft. Der Begriff Sozialethik ist erstmals 1868 von dem deutschen Theologen A. v. Oettingen formuliert worden und hat im weiteren Verlauf insbesondere für die christlichen Soziallehren Bedeutung gewonnen. Außer in der christlichen Theologie und Soziallehre gibt es wissenschaftliche Überlegungen über normative Vorgaben und Zielvorstellungen sozialen Verhaltens auch in der Sozialphilosophie, der praktischen Philosophie, der Gesellschafts- und Staatstheorie sowie in der Wirtschaftstheorie. Es gibt daher zahlreiche Berührungspunkte zwischen der Sozialethik und diesen wissenschaftlichen Disziplinen. Sozialethik ist „Krisenreflexion“, weil sie immer vom Mangel sozialer Gültigkeit ethischer Normen ausgeht. Sie unterliegt sozialen und geschichtlichen Veränderungen. Sozialethik fragt nach dem Besten in und für eine Gesellschaft; doch besteht darüber, was das konkret bedeutet, in klassen- und schichtengeprägten Gesellschaften häufig keine Einigkeit. Sozialethik ist herrschaftsbestimmt, damit zugleich in der Gefahr, Teilinteressen in Staat und Gesellschaft den Schein eines allgemeinen Interesses zu geben (Ideologie). 257 In der gesamten Philosphiegeschichte finden sich sozialethische Reflexionen über das Leben des Menschen als Gattungswesen (griechisch: Der Mensch ist ein „zoon politicon“ − ein Gemeinschaft bildendes Lebewesen). So beschrieb beispielsweise der deutsche Philosoph Hegel die zentrifugalen Kräfte der bürgerlichen Gesellschaft und die soziale Polarisierung zwischen Reichtum und Armut, die er mittels eines sich gegenüber der Gesellschaft verselbständigenden Staates bändigen wollte. Marx und Engels begründeten aus dieser Ursache heraus als „kategorische(n) Imperativ“, „alle Verhältnisse umzuwerfen, in denen der Mensch ein erniedrigtes, ein geknechtetes Wesen ist (...)“ (MEW 1, 385). Die auf dem Marxismus-Leninimus fußende soziale und politische Revolution in Rußland suchte der Idee nach die Befreiung des Menschen, hat aber insbesondere im Stalinismus den Grundsatz der Klassiker des Sozialismus, daß Sozialismus ohne Demokratie nicht möglich sei, über Bord geworfen und auch terroristische Züge angenommen (Gulag). Die Überwindung dieser Strukturen durch „Glasnost“ und „Perestroika“ suchte zunächst das an sozialistischen Zielvorstellungen zu bewahren, was mit demokratischen Grundsätzen vereinbar war. Die inzwischen in Rußland eingeleiteten Wirtschaftsreformen in Richtung Marktwirtschaft sind noch in weiten Teilen ohne sozialpolitisches Korrelat geblieben und bedürfen der sozialethischen Fundierung, um die Gefahr abzuwenden, daß sich die russische Gesellschaft (im Hegel’schen Sinne) atomisiert und auflöst. Es bedarf deshalb einer Bestimmung der politischen, sozialen und demokratischen Grund- und Menschenrechte wie der Teilhabe jedes einzelnen an der politischen Willensbildung in seinem Staat und an den erwirtschafteten materiellen und immateriellen Gütern seiner Gesellschaft. Als Kriterien für Gerechtigkeit bieten sich an: die aus dem wirtschaftlichen Liberalismus herrührende Vorstellung von Leistungsgerechtigkeit, die aus der Arbeiterbewegung kommende solidarische Gerechtigkeit und die im wesentlichen in der christlichen Lehre entwickelte Vorstellung von einer vorlei- 258 stungsfreien Gerechtigkeit für diejenigen, die nicht zu einer entsprechenden Vorleistung in der Lage sind (→ Subsidiarität). Soziale Gerechtigkeit stellt sich erst bei einem bestimmten Mischungsverhältnis dieser drei Grundvorstellungen her, das jeweils geschichtlich bestimmt ist. E.-U. Huster Sozialindikatoren Sozialindikatoren werden als Messinstrumente für die Analyse sozialer Entwicklungen sowie für die Konzeption und die Durchführung sozialpolitischer Maßnahmen verwendet. Sie umfassen beispielsweise Daten über die Lebensumstände, demografische Angaben sowie Daten zur Gesundheit, zur Sozialstruktur, zum → Schutz der Bevölkerung und andere. Sozialindikatoren werden aus allgemeinen statistischen Daten und stichprobenartigen Untersuchungen erstellt. Eine (unvollständige) Liste von Kriterien und Unterscheidungsmerkmalen umfasst unter anderem: Objektive Indikatoren, die von Fachkräften nach einem festgelegten Verfahren aus statistischem Material zusammengestellt werden sowie subjektive Indikatoren, die die Selbsteinschätzung der wirtschaftlichen und sozialen Lage sowie der Befindlichkeiten der untersuchten Personen widerspiegeln. Einige Sozialindikatoren beziehen sich auf die zur Verfügung stehende Ausstattung und Ressourcen, wie z.B. die Betten- oder Ärztezahl pro Tausend Einwohner; andere auf die Erfassung von Daten, wie z.B. Erkrankungen und Sterbefälle. Ferner lassen sich Sozialindiaktoren unterscheiden nach ihrem Verallgemeinerungsgrad (z.B. einfache oder aggregierte Indices), nach der zugrundeliegenden Zeitperiode (z.B. monatliche oder jährliche Erhebung), nach dem Umfang der jeweils herangezogenen Daten oder auch nach den jeweils erfaßten Dimensionen 259 (z.B. Erfassung der Kostenanteile für die verschiedenen Bereiche des privaten Haushalts als Indikator für individuelle Präferenzen, oder Erfassung der Eheschließungs- und Scheidungsdaten als Indikator für die Stabilität des sozialen Lebens). Der Informationsgehalt der ermittelten Daten bestimmt die Verwendbarkeit der Sozialindikatoren für wissenschaftliche und praktische Zwecke. Anfang der 1960er Jahre wurde mit der von den Vereinten Nationen in Auftrag gegebenen grundlegenden Erhebung von Lebensdaten der Bevölkerung, die unter anderem die durchschnittliche Lebenserwartung, Alphabetisierungsgrad und das Bildungsniveau von Erwachsenen sowie wirtschaftliche Daten, wie etwa das Bruttoinlandsprodukt pro Kopf der Bevölkerung, umfasste, ein wichtiger Grundstein gelegt. In Russland ist es nach wie vor sehr schwierig, ein System von Sozialindikatoren und Konzepte zu ihrer Anwendung in einer sich schnell verändernden Gesellschaft zu entwickeln, da nicht genügend statistische Daten zur Verfügung stehen. Das betrifft vor allem die für die Umsetzung sozialarbeiterischer Konzepte zuständige örtliche Selbstverwaltung. Insbesondere muss die Sammlung sozialer Daten auf ein qualitativ höheres Niveau gebracht werden. Wichtig dabei ist die Vergleichbarkeit von Sozialindikatoren in den verschiedenen zuständigen Verwaltungsbehörden auf föderaler, regionaler und lokaler Ebene. K. Gulin Sozialisation Sozialisation ist der Prozeß, in dem sich der Mensch das Wissen und Können, die Verhaltensmuster, sozialen Normen und Werte aneignet, das er als Mitglied seiner Gesellschaft braucht. Dies geschieht durch Kommunikation und Belehrung, durch die Aneignung der jeweiligen Kultur und die Entfaltung und Realisierung der individuellen Fähigkeiten. So bedeutet Sozialisation einerseits die Entwicklung ei- 260 ner persönlichen Identität (‚Individuation’) und andererseits die Integration des Individuums in eine schon bestehende Gesellschaft (‚Enkulturation’ oder ‚Vergesellschaftung’). Sozialisationstheorien bauen auf Erkenntnissen der Anthropologie als der allgemeinen Lehre vom Menschen auf und sind beeinflußt von dem in einer bestimmten Gesellschaft zu einer bestimmten Zeit vorherrschenden Menschenbild. Sozialisationstheorien unterscheiden sich erstens darin, wie stark sie den aktiven Anteil des Individuums an seiner Sozialisation betonen; zweitens darin, für wie wichtig sie die Bedeutung der Arbeit für die Sozialisation des Individuums halten; drittens darin, wie sie die einzelnen Phasen des Sozialisationsprozesses verstehen. Übereinstimmung besteht in der Auffassung, daß Sozialisation ein lebenslanger Prozeß ist, in dem sowohl sozial bestimmte, von der Gesellschaft gerichtete und kontrollierte Faktoren (Erziehung, Ausbildung) als auch spontan entstehende Faktoren gehören. In der russischen Literatur werden in der Sozialisation gewöhnlich drei Perioden (vor der Arbeitstätigkeit - Arbeitstätigkeit - nach der Arbeitstätigkeit) und vier Stufen bestimmt: die frühe Stufe (von Geburt bis Schulbeginn), die Ausbildungsstufe (vom Schulanfang bis zum Ende des Studiums), die Stufe der sozialen Reife (Periode der aktiven Arbeits- und gesellschaftlichen Tätigkeit) und der Abschluß des Lebenszyklus (nach dem Ende der aktiven Arbeitstätigkeit). Auf jeder Etappe der Sozialisation gerät der Mensch in den Kontakt mit bestimmten sozialen Institutionen. Die Sozialisation vor dem Beginn der Arbeitstätigkeit (Kindheit, Ausbildung) ist die wichtigste im Leben des Menschen; sie bestimmt in vielem seine Persönlichkeit und die darauf folgende Teilnahme am sozialen Leben. Das eben zur Weit gekommene Kind hat alle biologischen Voraussetzungen dafür, ein vollrechtliches Mitglied der jeweiligen Gesellschaft zu werden, besitzt aber keine einzige angeborene soziale Eigenschaft. In den ersten drei Lebensjahren erlernt das Kind grundlegende Fähigkeiten (z.B. Laufen) und Kulturtechniken (z.B. die Sprache) sowie Kommunikationsfähigkeit und gewinnt eine vorläufige Identität. Primäre Sozialisationsinstanz ist zumeist die Familie bzw. die Mutter, manchmal auch andere erste Bezugspersonen (Großmutter, Heimerzieherin etc.), je nach Gesell261 schaftstypus auch bereits öffentliche Instanzen wie Kinderkrippen o. ä. Danach treten weitere Sozialisationsinstanzen, wie z.B. Kindergarten, Schule, Gruppen, andere Kinder etc. hinzu. Im Erwachsenenalter wirken als Sozialisationsinstanzen die Ausbildungseinrichtungen, Armee, Betrieb, Organisationen und Parteien, mitunter auch Kliniken, Heime oder andere gesellschaftliche Institutionen. Für einen erwachsenen Menschen ist der Prozeß der Resozialisation charakteristisch, wo in den Verhältnissen der Steigerung von sozialen und technologischen Dimensionen die früher akzeptablen Verhaltensnormen korrigiert und durch neue, den veränderten Verhältnissen entsprechende ersetzt werden müssen. Die Sozialisation spielt die wichtigste Rolle im Leben nicht nur der Persönlichkeit, sondern auch der Gesellschaft, weil sie die Selbstreproduktion des sozialen Lebens der Gesellschaft und ihre Ganzheit sichert. Von ihrem Verlauf hängt es ab, ob zukünftige Generationen das Wissen und die Erfahrungen von den älteren übernehmen und ihren Platz im System der sozialen Beziehungen besetzen können. M. Beznin / K. Gulin / H. Mogge-Grotjahn Sozialmedizin Die Sozialmedizin hat Gesundheit, Krankheit und Behinderung aus medizinischer und sozialwissenschaftlicher Sicht zum Gegenstand. Sie hat ihre Wurzeln im 19. Jahrhundert, als Gesundheit erstmals nicht nur als privater Wert im Rahmen einer individuellen Medizin verstanden wurde, sondern als öffentliche Aufgabe. Zu den Anfängen der Sozialmedizin (englisch: Public Health) gehört die brillante Analyse Rudolf Virchows über eine in Schlesien grassierende Typhusepidemie in Form einer medizin-soziologischen Analyse der durch Hunger, Armut und Ausbeutung gekennzeichneten Lebensbedingungen dort. Sozialmedizin steht nicht im Gegensatz zu der medizinischen Behandlung von Krankheiten, befaßt sich aber, anders als diese, mit kollektiven Gesundheitsproblemen, ihrer Analyse und den entsprechenden gesundheitspolitischen Maßnahmen und Strategien. In Deutschland gehört auch das praktische Handeln im Rahmen des solidarisch finanzierten gesund262 heitlichen Versicherungs- und Versorgungssystems unter den Oberbegriff Sozialmedizin, sofern es sich um Beratung und Begutachtung zur Gewährung von Leistungen handelt. Hier geht es um Krankheit im Sinne eines juristischen Zweckbegriffes. In einem sehr viel weiteren und moderneren Sinne umfaßt Sozialmedizin aber auch Planungen und Entscheidungen im Gesundheitssystem. Die wichtigsten Fragen am Ende des 20. Jahrhunderts, in dem Gesundheit nach der Erklärung der Allgemeinen Menschenrechte der Vereinten Nationen ein Grundrecht sind, lauten (Schwartz, 1998): - Wie lassen sich weitere Verbesserungen der Gesundheit erreichen bzw. wie läßt sich öffentliche Gesundheit vor dem Horizont neuer Gefahren (Infektionskankheiten, Umweltrisiken, soziale Destruktion u.a.) sichern? - Wie läßt sich eine bessere Effizienz im Gebrauch der gesundheitlichen Ressourcen und eine Begrenzung der ständig steigenden Ausgaben erreichen? In Deutschland hat die Sozialmedizin seit dem 19. Jahrhundert eine Tradition, die allerdings durch den rassistischen und totalitären Mißbrauch des öffentlichen Gesundheitswesens unter der Herrschaft des Nationalsozialismus einen Abbruch erfahren hat. Sie gehört daher - anders als Public Health in den angelsächsischen Ländern − zu den noch entwicklungsbedürftigen wissenschaftlichen Arbeitsgebieten und erfährt, wie in den anderen europäischen Ländern, seit den 90er Jahren einen Aufschwung. Die sozialmedizinische Forschung integriert eine Vielzahl wissenschaftlicher Disziplinen. Die Praxis mit dem Ziel der Gesunderhaltung und Krankheitsbewältigung ist durch eine Vielzahl von Handlungsformen gekennzeichnet, die die Tätigkeit aller Gesundheitsberufe und unter anderem die soziale Arbeit gleichermaßen und gleichberechtigt berücksichtigen sollte. Ein erstes wichtiges Praxisfeld ist die primäre, sekundäre und tertiäre Prävention. Dabei kommt aus sozialmedizinischer Sicht dem einseitig biologisch orientierten medizinischen Krankheitsmodell nicht die allein maßgebliche Rolle zu. Seine nur begrenzte Eignung zur Überwindung von Krankheit in der Bevölkerung wurde mehrfach nachgewiesen (McKeown, 1982; Illich, 1977). Es konnte anhand ausführlichen statistischen Materials nachgewiesen werden, daß die bedeutendsten Einflüsse zur Gesundheitsverbesserung primär umwelt-, ernährungs- und verhaltensbedingt waren. Das medizinische 263 Krankheitsverständnis als naturwissenschaftlich-somatischer Ansatz wurde deshalb in der Sozialmedizin um sozio-psycho-somatische Erklärungsmodelle und verhaltensbedingte Ansätze ergänzt (Badura, 1993). Neben Krankheitsmodellen gewinnen damit auch wissenschaftliche Konzepte von Gesundheit an Bedeutung. Auf der Basis der Streßforschung geht es hier um die individuellen und kollektiven Ressourcen zur Gesunderhaltung. Auch im Programm der Weltgesundheitsorganisation (WHO) „Gesundheit 2000“ wird auf personale Ressourcen für Gesundheit, auf gesundheitsförderliche Verhaltens- und Lebensweisen sowie Lebensbedingungen Bezug genommen. Auf dieser Grundlage wird im Gesundheitswesen soziale Arbeit mit dem Ziel geleistet, Krankheit präventiv zu vermeiden und vor allem auch im Rahmen der → Rehabilitation, die in Deutschland stark institutionalisiert ist, ihre individuelle Bewältigung zu unterstützen. Rehabilitation umfaßt den gleichzeitigen und koordinierten Einsatz von medizinischen, sozialen, schulischen und beruflichen Maßnahmen zur sozialen Wiedereingliederung des Behinderten und Kranken mit dem Ziel einer menschenwürdigen Existenz in der Gesellschaft. Rehabilitationsmaßnahmen sind vor allem Hilfe zur Selbsthilfe. M. Klein-Lange Sozialökologie Die Sozialökologie überträgt die ökologische Theorie auf die Analyse des menschlichen Zusammenlebens und erforscht die Wechselwirkungen zwischen Individuen und Gruppen und ihrer physisch-räumlichen Umwelt. Schwerpunkt ist die empirisch orientierte Stadt- und Regionalforschung: die Entstehung und Entwicklung von Städten, ihre interne Differenzierung, die Häufung sozialer Proble- 264 me wie Armut, Kriminalität etc. in bestimmten Stadtteilen, die Bedeutung verschiedener Wohnformen und die Wirkungen von Infrastrukturmaßnahmen. Die Ergebnisse der sozialökologischen Forschung sind Grundlagen für jegliche Art von präventiver, gemeinwesenorientierter und/oder lebensweltorientierter sozialer Arbeit. H. Mogge-Grotjahn Sozialpädagogik Begriff und Entwicklung: Fachdisziplin und Wissenschaft sowohl innerhalb der Erziehungswissenschaft wie auch innerhalb der sozialen Arbeit. Im Bereich der sozialen Arbeit ist die Sozialpädagogik einerseits eine eigenständige und voll entwickelte Grundausrichtung, andererseits ist sie sehr stark mit der → Sozialarbeit verflochten und verwandt, so daß in Westeuropa nicht selten Sozialpädagogik mit Sozialarbeit begrifflich gleichgesetzt wird. Sozialpädagogen/innen und Sozialarbeiter/innen arbeiten mit Angehörigen anderer sozialen Berufe zusammen. Der Begriff der sozialen Berufe umfaßt ein großes Spektrum von Berufen mit unterschiedlichen Ausbildungswegen, Professionalisierungsgraden und Tätigkeitsbereichen (erzieherische, altenpflegerische, therapeutische u.a. Berufe). Als Sozialarbeit, Sozialpädago-gik oder soziale Arbeit im engeren Sinne wird ausschließlich die Tätigkeit von Absolventen/innen der entsprechenden Studiengänge an Hochschulen bezeichnet. Trotz der Überschneidungen vor allem von Sozialarbeit und Sozialpädagogik hat es zahlreiche Versuche gegeben, die Sozialpädagogik wenigstens in ihren Kernbereichen - zu definieren. Sehr allgemein wird damit eine Vielzahl von Einrichtungen und Maßnahmen zusammengefaßt, die Menschen helfen sollen, sich in die Gesellschaft zu integrieren (C. W. Müller). Die Sozialpädagogik hat in Deutschland vor allem in der Zeit nach dem Ersten Weltkrieg (1919) und in den späten 60er Jahren enormen Einfluß auf die Richtungsorientierungen der sozialen Arbeit insgesamt genommen. Nach 1919 wurden Konzepte zur Gemeinschaftserziehung entwickelt, die sich als Antwort auf die sozialen Probleme - z.B. bei Kindern und Jugendlichen - verstanden, 265 die der Krieg hervorgerufen hatte. In der Kinder- und Jugendarbeit, aber auch in der Erwachsenenbildung gelang es in den 20er Jahren, die Elemente der Reformpädagogik mit ihrer Ausrichtung auf die Selbstbestimmung des Menschen in die soziale Arbeit zu integrieren. Die stark emanzipatorische Akzentuierung in den späten 60er und 70er Jahren zielte darauf ab, die Sozialpädagogik in den Zusammenhang politischer und sozialer Veränderungs- bzw. Reformbewegungen zu bringen. In den 80er Jahren wurden die Elemente alltags- und lebensweltorientierter immer stärker bestimmend. Mit diesen Entwicklungen und unter Einfluß lerntheoretischer Einsichten wurden grundsätzlich alle Altersgruppen vom Kind bis zum alten Menschen und alle Soziallagen zu potentiellen Adressaten sozialpädagogischer Arbeit, unabhängig davon, ob diese Menschen akute soziale Probleme wie Wohnungslosigkeit, Armut oder Drogenabhängigkeit haben oder nicht. In den südeuropäischen Ländern mit seinen Bezügen zum Solidarismus (→ Solidarität) sind die sozialpädagogischen Akzente der sozialen Arbeit stärker als in den nordeuropäischen und angelsächsischen Ländern vertreten. In Deutschland halten sich sozialarbeiterische und sozialpädagogische Orientierungen in etwa die Waage. In Rußland wird die Sozialpädagogik als Wissenschaft von den erzieherischen Wirkungen der sozialen Umgebung bezeichnet; ihr Ziel ist, ein System von Maßnahmen zu erarbeiten, die Jugendlichen eine leichtere Eingliederung in das gesamtgesellschaftliche Leben ermöglichen sollen (Botscharowa, Wulfov, Mudrik, Semjonov). Danach ist die Hauptaufgabe der Sozialpädagogik die Forschung zu Fragestellungen wie etwa der Vorbereitung auf das gesellschaftliche Leben und der Entwicklung der Sozialisationsfähigkeiten. Inhalt: Die Sozialpädagogik als soziale Arbeit versteht sich in erster Linie als Beglei-tung von Menschen in ihren Alltagssituationen. Dieses Begleiten kann verschiedene Formen haben: Betreuen von alten Menschen, von Kindern oder Hilflosen; Erziehen von jungen Menschen in Heimen; Fördern, Bilden und Anregen in außerschulischen Bildungs- und Freizeiteinrichtungen oder -aktionen; Beraten in Beratungsstellen; Prozeßbegleiten in Selbsthilfegruppen u.a. Es kommt dabei immer darauf an, daß die Sozialpädagogen/innen und ihre Klientel erkennen, wo Entwicklungspotentiale und -defizite liegen, wie sie strukturiert sind und wie sie 266 verändert werden können. Deshalb steht im Zentrum der sozialpädagogischen Arbeit das methodisch kontrollierte Fremd-verstehen, die Aktivierung der Klientel sowie die Planung und systematische Reflexion des beruflichen Handelns. Methoden: Die Sozialpädagogik wendet ebenso wie die Sozialarbeit das klassische Methodenrepertoire, Einzelfallhilfe (→ Case work), → Gruppen- und → Gemeinwesenarbeit an; sie arbeitet schwerpunktartig, aber gemäß den aufgezeigten Strategien und dem Begleit-Ansatz. Typisch und besonders ergiebig im Blick auf Erkennen und Entfaltung von Entwicklungspotentialen sind sozialpädagogische Arbeitsansätze im ästhetisch-kommuni-kativen Bereich. Hier können Ausdrucks- und Verwirklichungsformen angeboten oder auch gefunden werden, die von kognitiven bzw. verbalen Arbeitsformen (z.B. Beratungsgesprächen) oft nicht erreicht werden, weil die sprachlichen oder sonstige Voraussetzungen nicht vorhanden sind, z.B. in der Kinder- und Jugendarbeit, aber auch in der Arbeit mit Strafgefangenen oder Flüchtlingen (→ Kulturelle Bildungsarbeit). Die Tätigkeitsfelder der sozialen Arbeit lassen sich unterscheiden nach: - den Personengruppen, denen die Angebote gelten, - den Problemlagen, auf die sie sich beziehen, - nach der Art der angebotenen Hilfen und - den Organisationsvorgaben, unter denen die soziale Arbeit stattfindet. Die wichtigsten Bereich sozialer Arbeit sind die Sozialhilfe, die Kinder- und Jugendhilfe, die Altenhilfe, die Behinderten- und Gesundheitshilfe. Hinzu kommen soziale Arbeit im Betrieb und → Straffälligenhilfe. In all diesen Bereichen werden die Dienste an die Adressaten/innen sozialer Arbeit im Rahmen ambulanter, teilstationärer und stationärer Einrichtungen erbracht. Die Organisationsvorgaben ergeben sich aus der Organisation der sozialen Leistungen eines Landes, in Deutschland zum Beispiel aus dem föderalen Staatsaufbau und der Arbeitsteilung zwischen öffentlichen und privaten Trägern der Sozialpolitik. Über die genannten Aufgabenbereiche hinaus werden Sozialpädagogen/innen in vielen weiteren Bereichen tätig, z.B. im Bereich der Freizeit und Touristik, der Arbeit mit zugewanderten Ausländern, im Bereich der geschlechterorientierten sozialen Arbeit oder 267 der Begleitung von Kranken, Sterbenden und Trauernden. Die Arbeitsfelder und Institutionen, wo Sozialpädagogen/innen schwerpunktartig tätig sind, sind in der nachfolgenden Übersicht zusammengestellt. M. Bellermann Sozialplanung dient in Verbindung mit der → Sozialberichterstattung der Analyse personeller, räumlicher und struktureller sozialer Problemlagen; der Planung und Umsetzung sozialer Projekte; der Legitimierung kommunaler sozialwirksamer Aktivitäten und der Evaluierung sozialplanerischer Aktivitäten. Die Sozialplanungsansätze lassen sich nach ihrer Planungsebene (Zentralstaat, Länder, Gemeinden), ihrer gesellschaftlichen Reichweite (Anpassungs-, Entwicklungs-, Veränderungsplanung) und ihrer Zielgruppe (z.B. Altenhilfe-, Jugendhilfeplanung) unterscheiden. S. verläuft nicht nach einem allgemein anerkannten Schema; sie ist als (kommunale) Daueraufgabe jedoch prozessorientiert und unabhängig von der konkreten Organisationsform interdisziplinär und ämterübergreifend organisiert. S. will offene Partizipationsstrukturen, um über die Beteiligung der Betroffenen und relevanter gesellschaftlicher Gruppen eine möglichst breite Akzeptanz für die Umsetzung der geplanten Projekte zu schaffen. S. verknüpft idealerweise quantitative Bestandsaufnahmen mit qualitativen Bestandsbewertungen und reflektiert dabei auch städtebauliche Richtlinien und Sozialnormen an den Bedürfnissen der Zielgruppen. S. ermöglicht die Planung sozialer Projekte unter Berücksichtigung der (mittelfristigen) finanziellen Spielräume der Kommune. Eine auf gesellschaftlichen Konsens angelegte Sozialplanungspolitik sucht eine öffentliche Diskussion über die Ziele kommunaler Sozialpolitik und versucht deren Konkretisierung in Zielkatalogen, die dann als Handlungsleitfäden dienen können. Eine strategisch angelegte Sozialplanung will die Selbsthilfepotentiale der Zielgruppen stärken und für den Planungsprozess nutzen. Dazu gilt es den sozialen Wertewandel zu antizipieren und auf neue Lebensformen und Lebensstile einzugehen. Einschränkend muss festgehalten werden, dass 268 der hohe Anspruch an sozialplanerische Aktivitäten in der Realität auf zahlreiche Umsetzungsschwierigkeiten stößt. Diese liegen zum einen in den oft engen finanziellen Rahmenbedingungen der Kommunen. Zum anderen können Interessenskonflikte zwischen aber auch innerhalb der einzelnen Zielgruppen eine gemeinsame Zieldefinition verhindern und so zu erheblichen Planungsschwierigkeiten führen. Trotz der praktischen Umsetzungsschwierigkeiten trägt eine offene S. zur Aktivierung der Bürgerinnen und Bürger (→ Zivilgesellschaft) bei und verpflichtet die kommunalen Entscheidungsträger auf eine transparentere Planungs- und Verteilungspolitik der kommunalen Ressourcen. J. Boeckh Sozialpolitik Der Begriff Sozialpolitik wird seit etwa 120 Jahren verwendet, um die Bemühungen in Richtung auf Verbesserung von Lebenlagen benachteiligter Personen und gesellschaftlicher Gruppen zu charakterisieren (in Deutschland etwa seit 1873 mit Gründung des Vereins für Sozialpolitik). Er entstand im Zusammenhang mit den Versuchen des Staates, von Verbänden und Einzelpersönlichkeiten, die Folgen und Begleiterscheinungen der durch die kapitalistische Industrialisierung geschaffenen krassen Notlagen der Arbeiter/innen („soziale Frage“) abzumildern. Der Begriff Sozialpolitik ist populär und weitmaschig bis uneindeutig. Als Sozialpolitik werden sowohl - staatliche bzw. Leistungen öffentlicher Institutionen wie auch solche privater Organisationen (Wohlfahrtsverbände, Gewerkschaften) oder auch der Kirchen wie auch 269 - die Programme und Konzepte für diese Leistungen sowie die wissenschaftliche Erforschung sozialer Probleme (wissenschaftliche Sozialpolitik) verstanden. Der Begriff definiert nicht, was die Qualität des Sozialen und damit, was die Essenz der Sozialpolitik ist oder sein soll. Es gibt hierzu in den meisten europäischen Ländern sich gegenüberstehende Auffassungen: Die eine Auffassung definiert Sozialpolitik als Hilfe bei Notlagen und Problemen. Danach muß sie sich immer auf das Nötigste beschränken. Die andere Auffassung versteht Sozialpolitik als umfassende Absicherung gegen Risiken wie Krankheit oder Arbeitslosigkeit, als Politik der Umverteilung von Geld und Lebenschancen. Je nach politischen Grundanschauungen bei Parteien und Verbänden oder nach sozialpolitischen Traditionen eines Landes ist der Begriff der Sozialpolitik somit verschieden gefüllt. Beide Auffassungen nehmen für sich den Begriff „soziale Gerechtigkeit“ in Anspruch; die eine Auffassung versteht Gerechtigkeit als formale („Jedem das Seine“), die andere als ausgleichend-materiale Gerechtigkeit. Die konkrete Form der Sozialpolitik schlägt sich in den einzelnen Ländern in den unterschiedlichen Systemen der sozialen Sicherung bzw. wohlfahrtsstaatlichen Systemen nieder. Dennoch sind die zentralen Grundtatbestände und Gegenstände der Sozialpolitik im wesentlichen gleich. Es handelt sich um: - → Armut und soziale Deprivation, - → Gesundheit und → Krankheit sowie Behinderung, - → Arbeit und → Arbeitslosigkeit, - → Wohnen und Wohnungslosigkeit, - → Familie, - → Kindheit und → Jugend, - rechtlichen Schutz und Mitbestimmung für Lohnabhängige und andere Schwache oder Benachteiligte (z.B. → Behinderte). 270 Die wichtigsten Bezugsgruppen der Sozialpolitik sind demnach Arbeitnehmer/innen, sozial Ausgegrenzte, Frauen, Kinder und Jugendliche, ältere und kranke Menschen, Mieter/innen, Kriegs- und Gewaltopfer. Man unterscheidet ferner zwischen Sozialleistungen, die in Form einer - Geldzahlung (z.B. Renten) erbracht werden, von jenen, die als - Sach- (z.B. Medikamente oder eine Mietwohnung) und - Dienstleistung (z.B. Beratungsdienste oder ärztliche Behandlung im Rahmen der öffentlichen Gesundheitsdienste) vergeben werden. - Schutz- und Mitwirkungsrechte stellen eine weitere Gattung dar. International gesehen, sind die sozialpolitischen Systeme verschieden. Sie sind unterschiedlich organisiert, und ihre Qualität sowie Finanzierung weisen große Unterschiede auf. Diese Differenzen gehen auf die verschiedenen sozialpolitischen Kräftekonstellationen im jeweiligen politischen System zurück, die in bezug auf die beiden Grundverständnisse des Sozialen aufgrund von Parteibündnissen und Verbandsstärken (z.B. der Gewerkschaften oder der kirchlichen Wohlfahrtspflege) unterschiedliche Realtypen der Sozialpolitik hervorgebracht haben. Grob gesagt, kann man in den modernen Gesellschaften drei Typen der Sozialpolitik identifizieren, nämlich den - liberalen Typ mit wenig entwickelten sozialstaatlichen Leistungen, starkem Glauben an die Regelungskräfte des Marktes und die Problemlösungskompetenz der einzelnen Bürger/innen, aber auch einem gut entwickelten verbandlich-privaten Wohlfahrtswesen; - konservativen Typ mit ausgebauten Sozialleistungen, die überwiegend in Form von Sozialversicherungen durch Beiträge der Betroffenen selbst finanziert werden - ohne daß die Leistungen die Risiken wie etwa die Aufwendungen bei 271 Krankheit voll ausgleichen, und einem parallel hierzu arbeitenden verbandlich-privaten Wohlfahrtswesen („korporatistische“ Sozialpolitik) sowie einem hohen Grad der Verrechtlichung der Arbeitsbeziehungen (z.B. Arbeitsschutz, Mitbestimmung, Tarifrecht, Regelungen bei Arbeitskonflikten); - sozialdemokratischen Typ mit ausgebauten Sozialleistungen, die überwiegend über Steuern finanziert sind, die mithin einkommens- und beitragsunabhängige Grundsicherungen („Garantismus“) beinhalten, wo der staatliche Anteil an der sozialen Sicherung am größten ist und die Sozialleistungen materiell am weitesten gehend ausgebaut sind. Großbritannien, die USA oder Japan werden dem liberalen Typ, Deutschland, Italien, Frankreich oder die Niederlande dem konservativen und Schweden, Norwegen oder Dänemark dem sozialdemokratischen Wohlfahrtstyp zugerechnet (Esping-Anderson 1985, Schmidt 1988). Probleme und Tendenzen: Seit Mitte der 70er Jahre und verstärkt seit dem Ende des Ost-West-Konflikts Ende der 80er Jahre sowie mit dem seit Mitte der 90er Jahre einsetzenden neuen Schub der wirtschaftlichen Globalisierung ist die Sozialpolitik in allen Ländern umstrittener denn je. Es wird ihr vorgehalten, daß sie zentrale soziale Probleme wie Armut und Arbeitslosigkeit nicht wirksam bekämpfen könne, was zum Anlaß genommen wird, soziale Leistungen abzubauen (Legitimations- und Effizienzprobleme). Zum anderen hat sie sich gegen die Kritik zu behaupten, sie produziere selbst immer mehr Kosten (zum Beispiel im Gesundheitssektor oder den Renten), ohne daß sie effektiver würde. Steigende Sozialkosten erhöhten die steuerlichen Abgaben oder Beiträge zur Sozialversicherung, wodurch sich die allgemeine Güterproduktion verteuere. Damit käme die jeweilige nationale Volkswirtschaft auf den Weltmärkten ins Hintertreffen (Kostenproblem). Bei insgesamt steigender Nachfrage nach sozialpolitischen Gütern allein bedingt durch die fast überall herrschende Massenarbeitslosigkeit oder die Zunahme der Zahl der alten Menschen in den meisten modernen Gesellschaften ergibt sich somit die paradoxe Situation, daß die Sozialpolitik bei zunehmender Bedeutung für die Menschen politisch in eine defensive Rolle geraten ist. In vielen Ländern wird vor allem angesichts der Kostenfrage der Ruf nach Reformen oder - wie in Deutschland - nach einem „Umbau“ der Sozialpolitik laut. Da es 272 aber keinen einvernehmlichen Sozialpolitikbegriff gibt, wird mit den Umbau- und Reformplänen im wesentlichen nur die Verwirklichung des jeweilig bevorzugten interessenorientierten Sozialstaatsmodells verfolgt. In den meisten Ländern werden Sozialleistungen zum Teil drastisch abgebaut, gleichgültig, welcher Sozialpolitiktyp vorherrscht. Vor allem in den Ländern mit einem konservativen Sozialpolitiktyp sind in den beiden letzten Jahrzehnten neue sozialpolitische Initiativen von Betroffenen selbst entstanden: Als Selbsthilfegruppen, -organisationen oder -initiativen sehen sie sich selbst als Organisation zwischen Markt und Staat („intermediäre“ Organisationen) (→ Soziale Selbsthilfe). In den Ländern Westeuropas bewegen sich die sozialen Sicherungsysteme trotz des forcierten Ausbaus der Europäischen Union derzeit nicht aufeinander zu, so daß auch mittelfristig die länderspezifischen sozialpolitischen Unterschiede und damit auch Kosten bestehen bleiben werden. Rußland orientiert sich derzeit vorwiegend am sozialdemokratisch-garantistischen Typ. Art und die Ausdifferenzierung der Leistungen (z.B. bei Beratungsdiensten) sind aber noch vergleichsweise wenig entwickelt, das Verbandswesen bislang schwach. Relevanz für die soziale Arbeit: In vieler Hinsicht bilden sowohl der Bestand an sozialen Leistungen - als soziales Recht und soziales Geld - als auch die Diskurse über Entstehung und Verlauf sozialer Probleme den Handlungsrahmen für die soziale Arbeit. Die sozialen Fachkräfte sind gehalten, die sozialen Leistungen mit zu verteilen bzw. sie zu vermitteln. Sie werden selbst von sozialem Geld bezahlt und sie sind auch Akteure bei Diskussion und politischer Entscheidung von neuen sozialpolitischen Maßnahmen oder Reformen. M. Bellermann Sozialstation Hinter dem Begriff ‚Sozialstation’ können sich sehr unterschiedliche Modelle verbergen. Das gemeinsame Hauptmerkmal aller Modelle ist, dass es sich um ein 273 lokales bzw. regionales Zentrum handelt, von dem aus unterschiedliche soziale und personenbezogene Dienstleistungen (meist für bedürftige Personen) angeboten werden. Zu den Angeboten einer Sozialstation gehören pflegerische und hauswirtschaftliche Versorgung für ältere Menschen, Fahrdienste, soziale Beratung und Betreuung bei besonderen Lebensproblemen (Schuldnerberatung, psychologische Beratung, Erziehungsberatung, Drogenberatung u.a.), Arbeitslosenberatung, Familienunterstützungsdienste, Hilfen bei drohender Wohnungslosigkeit usw. Auch Dienste für besondere Zielgruppen (Jugendliche, AIDS-Kranke usw.) können in einer Sozialstation angesiedelt sein. Neben den Unterstützungsund Beratungsfunktionen können Sozialstationen auch Veranstaltungen der Weiterbildung und aktivierende Stadtteilarbeit (Gemeinwesenarbeit) anbieten. Die Grundidee der Sozialstation ist die gemeindenahe Bereitstellung wichtiger Sozialdienste für die Bevölkerung. Neben der leichten Erreichbarkeit für die Bewohner einer Stadt oder eines Stadtteils bietet eine Sozialstation den Vorteil, dass die einzelnen Dienste zusammenarbeiten und multiple Problemlagen kombiniert oder im Team bearbeiten können. Dadurch können Formen des gesundheits- und sozialarbeiterischen Case-Managements für die Bevölkerung des Einzugsgebietes entwickelt werden. Träger einer Sozialstation können entweder die Gebietskörperschaft selber (Stadt, Stadtbezirk) oder ein freier Träger (Wohlfahrtsverband, Kirchengemeinde) sein. Auch Kombinationen unterschiedlicher Träger für die einzelnen Dienste sind möglich; bei einer solchen Form kann die Zusammenarbeit der Dienste durch Kooperationsverträge begründet werden. Die Finanzierung erfolgt meist in einer Kombination durch Leistungserträge, öffentlichen Betriebsmittelzuschüsse und Beiträge des Trägers/Betreibers. 274 In Deutschland entstanden die ersten Sozialstationen 1970 im Bundesland Rheinland-Pfalz als sozialpolitische Antwort auf den Rückgang der kirchlichen Gemeindepflege. Als ambulante Versorgungszentren sollten sie neben häuslicher Kranken- und Altenpflege Familienpflege, hauswirtschaftliche Hilfen, weitere gesundheitliche Dienste, Seelsorge sowie Sozialberatung bis hin zur Therapie anbieten. Allerdings konzentrierte sich die Arbeit der Sozialstationen bedarfsgesteuert schnell auf die häusliche Pflege von kranken und alten Menschen, so dass heute die inzwischen in ganz Deutschland verbreiteten Sozialstationen nur den pflegerischen Teil des möglichen Angebotsspektrums abdecken. W. Kunstmann Sozialstruktur Als Sozialstruktur wird die Gesamtheit der Regelmäßigkeiten bezeichnet, auf denen der Fortbestand einer Gesellschaft beruht. Sozialstrukturanalysen befassen sich mit den Bevölkerungs- und Haushaltsstrukturen, dem ökonomischen und politischen System, den Rechts- und Verwaltungsstrukturen einer Gesellschaft. In einem engeren Sinne wird der Begriff der sozialen Strukturen vor allem auf die Formen sozialer Ungleichheit bezogen. H. Mogge-Grotjahn 275 Sozialversicherung in Deutschland I. Entstehung: Im Laufe des 19. Jahrhunderts vollzog sich in Deutschland ein tiefgreifender politischer, ökonomischer und sozialer Transformationsprozess: Das Bürgertum stellte im liberalen Staat die Machtposition des Adels zumindest teilweise in Frage, die Industrialisierung veränderte die bis dahin gültigen Produktions- und Fürsorgeverhältnisse grundlegend, was im Ergebnis zur Verelendung breiter Bevölkerungsschichten führte. In der Folge waren es zunächst private und kirchliche Initiativen, die sich in der kommunalen Armenpflege um lokal begrenzte Hilfsangebote bemühten (→ Geschichte der beruflichen Sozialarbeit in Deutschland). Als (gesamt-) staatliche Aufgabe wurde → Sozialpolitik allerdings erst in der Auseinandersetzung mit der Arbeiterbewegung verstanden. Die Bismarcksche Sozialversicherungspolitik (1880 - 1890) - in deren Zuge die (Arbeiter-) Krankenversicherung, die Unfallversicherung, die (Arbeiter-) Renten- sowie die Invaliditätsversicherung eingeführt wurden - war die soziale Flankierung politischer Verbote gegenüber der noch jungen Sozialdemokratie. Gleichwohl erkannte die Gesellschaft damit erstmals an, dass durch die kapitalistischen Produktionsmethoden soziale Risiken entstehen können, die durch staatliche Eingriffe begleitet und korrigiert werden müssen. In der Phase des Wiederaufbaus nach dem 2. Weltkrieg wurden in Deutschland mit der Umsetzung der »Sozialen Marktwirtschaft« die entscheidenden Weichenstellungen vorgenommen, die die Gestalt der Sozialordnung bis heute prägen. Die S. versteht sich damit als unverzichtbarer Bestandteil des Gesellschaftssystems, gleichzeitig darf sie die marktwirtschaftliche Ordnung nicht in Frage stellen. II. Ziele und Gestaltungsprinzipien: Die Sozialversicherung soll individuelle Risiken durch kollektive Fonds absichern. Der Leistungsanspruch begründet sich auf eine zuvor erbrachte Beitragszahlung. Die Beträge bemessen sich prozentual zum Bruttoerwerbseinkommen des Arbeitnehmers. Mit Ausnahme der Pflegeversicherung werden die Beiträge zu gleichen Teilen zwischen dem Arbeitgeber und dem 276 Arbeitnehmer aufgeteilt. Die Höhe der Leistung ist von der Höhe und der Dauer der Beitragszahlung abhängig (Äquivalenzprinzip). Im Leistungsfall findet keine Bedürftigkeitsprüfung statt. Die Sozialversicherung ist keine staatliche Einrichtung, sondern verwaltet sich selbst (Selbstverwaltung). Ihre Organe werden direkt oder indirekt von den Versicherten gewählt. Sie unterliegen der Rechtsaufsicht durch den Staat. In Deutschland besteht eine weitgehende Versicherungspflicht für Arbeiter und Angestellte. Weitere Personenkreise können erfasst oder durch freiwillige Mitgliedschaft einbezogen sein. Nicht in der Sozialversicherung erfasst, sind Beamte und in der Regel die Selbstständigen. Zentrales Leistungsprinzip für den Schadensausgleich ist in Deutschland das Kausalprinzip. Die zuständige Stelle für die Leistungserbringung ermittelt sich also nach der Ursache und den Umständen des eingetretenen Risikos. Es wird nicht danach gefragt, wie der eingetretene Schaden möglichst zweckmäßig reguliert werden kann (Finalprinzip). III. Gliederung und Leistungsspektrum: Die Sozialversicherung umfasst fünf Bereiche: 1. Gesetzliche Krankenversicherung (GKV): Die wichtigsten Leistungen sind die kostenlose ambulante und stationäre (zahn-) ärztliche Behandlung, Arznei- und Verbandsmittel (mit Zuzahlungen), Kuren, Krankengeld (max. 90 Prozent vom Nettolohn) sowie Früherkennungsuntersuchungen. Die GKV finanziert sich aus den Beiträgen der Versicherten. Eine Besonderheit ist die beitragsfreie Mitversicherung von nicht erwerbstätigen Familienangehörigen (Solidarprinzip). 2. Gesetzliche Rentenversicherung (GRV): Die wichtigste Leistung der GRV ist die Rentenzahlung. Die Höhe der Rente bemisst sich für jeden Rentner individuell an der Rentenformel, die im wesentlichen die Rentenart (Altersrente, Erwerbsunfähigkeits- / Berufsunfähigkeitsrente, Witwen-/ Waisenrente), die Dauer und die Höhe der Beiträge sowie die durchschnittliche Höhe der Renten berücksichtigt. Die Renten sind dynamisiert, d.h. sie werden regelmäßig der allgemeinen Nettolohnentwicklung angepasst. Daneben übernimmt die GRV noch Leistungen etwa zur beruflichen Wiedereingliederung. Die GRV finanziert sich aus den Beiträgen der Versicherten und einem Staatszuschuss. 3. Gesetzliche Unfallversicherung: Sie tritt bei allen berufs- und ausbildungsbezogenen Unfällen ein. Zu den Leistungen gehören unter anderem die Kostenübernahme von Heilbehandlungen, Rentenzahlungen und Pflegegeld. Die Unfallversicherung ist außerdem zuständig 277 für präventive Maßnahmen zur Unfallverhütung in den Betrieben. 4. Arbeitslosenversicherung: Zu den Leistungen gehören zum einen die Arbeitsvermittlung und zum anderen Geldleistungen. Hierbei ist wiederum zwischen der passiven und aktiven Arbeitsförderung zu unterscheiden. Ersteres meint die (zeitlich begrenzte) Zahlung von Arbeitslosengeld (zwischen 60 - 67 Prozent des in den letzten zwölf Monaten bezogenen Nettolohns) bei bereits bestehender Arbeitslosigkeit. Aktive Arbeitsförderung dient hingegen der Verhinderung von Arbeitslosigkeit durch die Förderung der beruflichen Aus- und Fortbildung sowie Umschulung. 5. Gesetzliche Pflegeversicherung: Sie ist der jüngste Zweig der Sozialversicherung (seit 1994) und entstanden als Reaktion auf eine gesellschaftliche Entwicklung, in der die Menschen einerseits immer älter und pflegebedürftiger werden und gleichzeitig die Familienstrukturen immer weniger auf diesen Bedarf ausgerichtet sind. Die Pflegeversicherung erbringt Geldleistungen für die ambulante und stationäre Pflege deren Höhe sich nach dem Grad der festgestellten Pflegebedürftigkeit (Pflegestufe I - III) richtet. IV. Probleme der Sozialversicherung: Das Sozialversicherungssystem in Deutschland ist nach dem II. Weltkrieg in einer Phase dauerhafter wirtschaftlicher Hochkonjunktur ausgebaut worden. Es ist in hohem Maß von der Vorstellung geprägt, dass die Menschen über ein Dauerbeschäftigungsverhältnis verfügen und über die Lohnpolitik an der Verteilung des wirtschaftlichen Wohlstandes beteiligt werden. Die Leistungen der S. sind vor allem durch das Äquivalenzprinzip gekennzeichnet und belohnen damit im Versicherungsfall zuvor am Arbeitsmarkt erbrachte Leistungen. Die S. wirkt so in hohem Masse statusstabilisierend und nicht in erster Linie zwischen den sozialen Schichten und Gruppen umverteilend. Gleichzeitig sind dadurch aber die Personenkreise benachteiligt, die gar nicht oder nur über eine diskontinuierliche Beschäftigung und/oder ein unterdurchschnittliches Einkommen verfügen. Dies betrifft insbesondere die Ansprüche von Frauen, die bei einer klassischen familiären Rollenverteilung als Hausfrau und Mutter keine oder nur sehr geringe eigene sozialversicherungsrechtlichen Ansprüche aufbauen können. 278 Die S. in Deutschland ist durch die Fixierung auf die Erwerbsarbeit stark von den Mitgliedsbeiträgen abhängig. Die sich in Deutschland seit Mitte der 1980er Jahre manifestierende Massenarbeitslosigkeit wird so zu einem ernsten sozialpolitischen Dilemma. Denn einerseits erhöhen sich dadurch auf der Leistungsseite die Ausgaben und andererseits gehen dem System wichtige Beitragszahler verloren. Aber auch die → demographische Entwicklung beeinflusst die S.. Dahinter steht insbesondere bei der GRV das Problem, dass immer mehr Rentner von immer weniger Beitragszahlern finanziert werden müssen. Gleichzeitig sorgt eine Überalterung der Gesellschaft für erhöhten Bedarf an medizinischen und pflegerischen Leistungen, was die Kasse der GKV belastet. Es wird deutlich: Die S. ist mit gesamtgesellschaftlichen Problemen konfrontiert, die sie in Teilbereichen an die Grenzen ihrer Leistungsfähigkeit bringen (kann). Zugleich ist die Finanzierung der S. fast ausschließlich an die Beschäftigungs- und Lohnentwicklung und nicht an die allgemeine Wohlstandsentwicklung gebunden. In der sozialpolitischen Diskussion muss deshalb verstärkt über Modelle nachgedacht werden, wie die Finanzierungsbasis der Sozialversicherung verbreitert werden kann, will man in Zukunft nicht lediglich durch Kürzungen auf die sozialpolitischen Entwicklungen reagieren. J. Boeckh Sozialversicherung in Russland Die Geschichte der Sozialversicherung in Russland reicht bis zur 6. (Prager) Allrussischen Konferenz der Russischen Sozial-Demokratischen Arbeiterpartei 1912 zurück, bei der die Grundprinzipien festgelegt wurden. Heute umfasst das staatlich garantierte Maßnahmensystem die materielle Versorgung - durch Renten und Beihilfen - der Erwerbstätigen (aller Bereiche, also im staatlichen, genossenschaftlichen und privaten Sektor) und ihrer Familienangehörigen im Rentenalter, im Krankheitsfall, bei Verlust der Arbeitsstelle, die Unterstützung von Müttern und Kindern und die gesundheitliche Versorgung der Bevölkerung. 279 Artikel 238 des Arbeitsgesetzbuches der Russischen Föderation legt unter anderem folgende Maßnahmen fest: Hilfen bei zeitweiliger Erwerbsunfähigkeit; Schwangerschafts- und Wochengeld; Kindergeld; Kinderbeihilfen für Kinder bis zum Alter von anderthalb Jahren; Alters- und Behindertenrenten, Hinterbliebenenrenten; Dienstaltersrenten; Sterbegeld. Besonderes Gewicht wird neben der materiellen Versorgung auch auf die Förderung der Gesundheit gelegt; dazu zählen die kostenfreie oder -reduzierte Einweisung in (Betriebs-)Sanatorien, Erholungsheime und Kinderferienlager, Kurbehandlung sowie die Kostenübernahme für spezielle Ernährung etwa für Diabetiker. Die Arbeitgeberbeiträge zur Sozialversicherung sind unterschiedlich gestaffelt; ihre Höhe richtet sich unter anderem nach der Gefährlichkeit und Schwere der Arbeit. Eigene Bestimmungen gelten für im privaten Sektor Beschäftigte. Etwa ein Fünftel der Beiträge wird für Hilfen bei zeitweiliger Erwerbsunfähigkeit, für Schwangerschafts- und Wochengelder und einige andere Hilfen verwendet; vier Fünftel bedienen die Rentenzahlungen. Eine Rentenreform in Russland ist in Vorbereitung. Danach sind drei Rentenarten vorgesehen: Die (staatliche) Grundrente wird die soziale Rente ersetzen. Kern des Systems ist die Erwerbsrente (Versicherungsrente), deren Höhe sich nach der Versicherungsdauer und der Höhe der Beiträge richtet. Dazu treten Zusatzrenten einzelner Organisationen und / oder Regionen sowie freiwillige Zusatzrenten der Versicherten. Zuständig für die Abwicklung der Sozialversicherung sind die entsprechenden Verwaltungsorgane. Nicht staatliche Fonds der Sozialversorgung und der Wohltätigkeit werden ebenfalls von staatlichen Stellen verwaltet, darunter vor allem dem Ministerium für den sozialen Schutz der Bevölkerung der Russischen Föderation, das die Richtlinien der Politik in Bezug auf die Unterstützung von Rentnern, Behinderten, Familien mit minderjährigen Kindern und anderer bedürftiger Bevölkerungsgruppen vorgibt. J. Worobjewa 280 Sozialversorgung in Russland Die Sozialversorgung umfasst das gesamte staatliche System der materiellen Versorgung und sozialen Betreuung von Alten und erwerbsunfähigen Personen sowie Familien. Gesetzliche Grundlage ist die Deklaration der Rechte und Freiheiten der Bürger, die noch vom Obersten Sowjet der UdSSR am 22. November 1991 verabschiedet wurde, die das Recht auf Sozialversorgung im Alter, bei Erwerbsunfähigkeit, für Hinterbliebene und in anderen Fällen festschreibt. Dazu gehört auch das Recht auf medizinische Hilfe durch das staatliche Gesundheitssystem. Der Staat sichert ferner den Schutz von Müttern und Kindern sowie von Behinderten. Renten und Sozialhilfen dürfen das gesetzlich festgelegte Existenzminimum nicht unterschreiten. Die Sozialversorgung umfasst im Einzelnen: Renten (Alters- und Behindertenrenten, Hinterbliebenenrenten, Dienstaltersrenten, soziale Renten); Hilfen (bei zeitweiliger Erwerbsunfähigkeit, Schwangerschaftsbeihilfen, Kinderbeihilfen für Kinder bis zum Alter von anderthalb Jahren, Arbeitslosenhilfe, Sterbegeld, Familienbeihilfen); Betreuung von Alten, Erwerbsunfähigen und Familien mit Kindern (vollständige oder teilweise Unterhaltskosten für Kinder in Heimen, Unterhaltskosten für Alte und Behinderte in Sozialversorgungseinrichtungen); kostenlose medizinische Betreuung und Abgabe von Medikamenten; kostenlose oder ermäßigte Kurbehandlung; Zahnersatz; ferner Berufsausbildung und Arbeitsvermittlung für Behinderte; Stellung von Transportmitteln (unter anderem behindertengerechte Kfz, Krankenfahrstühle); Gewährung von Vergünstigungen für Behinderte und für Teilnehmer des Großen Vaterländischen Krieges, für Hinterbliebene u.a. 281 Finanziert wird die Sozialversorgung unter anderem aus dem Rentenfonds der Russischen Föderation, den Fonds der Sozialversicherung (→ Sozialversicherung in Russland), aus staatlichen Haushaltszuweisungen, städtischen Mitteln und aus nicht staatlichen Fonds. Zuständig für Gewährung und Verteilung sind die Sozialschutz-, Gesundheits- und Bildungsbehörden. J. Worobjewa Spieltherapie Da das Spiel die Persönlichkeitsentwicklung stark beeinflusst, kommt der Spieltherapie sowohl bei Erwachsenen als auch bei Kindern eine große Bedeutung zu. In der gruppentherapeutischen Arbeit mit Erwachsenen können unter anderem durch spezielle Übungen, nonverbale Kommunikation und das Durchspielen bestimmter Situationen vertrauensvolle Beziehungen zwischen den Mitgliedern der Gruppe aufgebaut werden; Spannungen, Unruhe und Angst vor dem Umgang mit anderen können abgebaut, Selbstwertgefühl und Selbstsicherheit gesteigert werden. Bei der Spieltherapie mit Kindern, deren Anwendungsspektrum ständig erweitert wird, kann auf stets wachsende Erfahrungen unter anderem bei Kurz- und Langzeittherapie wie auch bei der Arbeit mit Kleingruppen in Erziehungs- und Lehranstalten zurückgegriffen werden. Wesentliche Voraussetzungen für einen Erfolg der Spieltherapie sind die gleichberechtigte Einbeziehung des Kindes und die Möglichkeit seiner freien Äußerung sowie die Akzeptanz der kindlichen Gefühlswelt durch den erwachsenen Therapeuten. Zu den Verhaltensstörungen oder -auffälligkeiten, bei denen die Spieltherapie angewendet wird, gehören unter anderem infantiles Verhalten von Erwachsener Selbstisolation, Angstzustände, Schwierigkeiten mit der Geschlechterrolle. Während bei Autismus oder Schizophrenie die Spieltherapie keinen Erfolg verspricht, kann sie bei Störungen oder Auffälligkeiten unterschiedlichster Art eine sehr effektive Behandlungsmethode sein, so etwa bei der Behandlung von selektivem 282 Mutismus, bei Verhaltensaggressivität, zum Abbau von Ängsten, zur Linderung von Stresssymptomen bei Kindern mit Hospitalismus. In besonderen Situationen wie etwa der Scheidung der Eltern, bei Misshandlung und Vernachlässigung oder bei Trauerfällen in der Familie ist die Spieltherapie eine geeignete Methode; ebenso kann sie bei Lernstörungen, Leseschwäche, Sprach- und Sprechstörungen wie Stottern und auch zur Behandlung von Folgen psychosomatischer Erkrankungen (z.B. Bronchialasthma, Neurodermitis) eingesetzt werden sowie die intellektuelle und emotionale Entwicklung geistig behinderter Kinder günstig beeinflussen. J. Reprinzewa Stadtteilarbeit ist ein Sammelbegriff für verschiedene kleinräumig angelegte Aktivitäten in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, die die „Lebenswelt“ der Bewohner in den Mittelpunkt ihrer Bemühungen stellen. Sie nimmt Ansätze der → Gemeinwesenarbeit auf und erweitert sie um die lebensweltliche Sichtweise. Sie geht von den sich gegenseitig bedingenden und beeinflussenden Verhältnissen von Individuum und Umfeld aus. Der Stadtteil prägt die Verhaltensweisen der Menschen, diese prägen, ob gewollt oder nicht, die Struktur des Stadtteils. Die Bewohner werden nicht ausschließlich als bedürftige und problembehaftete Klienten angesehen, sondern ihre Ressourcen, die durch eine einseitig festgelegte Problemdefinition häufig verstellt sind, finden Beachtung. Die zielgruppen- und problemorientierte Sichtweise in der Sozialarbeit/Sozialpädagogik wird aufgelöst zu Gunsten eines ganzheitlichen Verständnisses des Menschen zu deren Sorgen und Schwierigkeiten ihr Lebensraum untrennbar dazugehörig ist. Unter Stadtteile sind territoriale Gebiete zu sehen, die eine gewisse Überschaubarkeit bieten, z.B. durch das Gemeinschaftsgefühl der Bewohner, gewachsenen Grenzen oder strukturelle Ähnlichkeiten. Stadtteilarbeit bezieht sich auf 4 Ebenen: - auf das Individuum,- auf den Stadtteil, − auf die Zusammenarbeit der sozialen und pädagogischen Fachkräfte und - auf die Sozialadministration, den sonstigen Trägern Sozialer Arbeit und die 283 politischen Instanzen. Sie versucht sozialen Problemlagen über individualistische oder methodische Einengungen hinaus präventiv zu begegnen oder nach ihrer Entstehung zu bearbeiten. Ihre Ziele sind: − den dialektischen Zusammenahng zwischen persönlichem Verhalten und den sozialen Lebensbedingungn bewußt zu machen, − die Entfaltung der Lebenstätigkeit der Menschen zu stärken,- die Verbesserung der allgemeinen Lebensbedingungen und - die Mitgestaltung der Menschen an den sie betreffenden kommunalpolitischen Entscheidungen. Die Arbeits- und Organisationsstruktur der Stadtteilarbeit orientiert sich an den Strukturen der → Lebenswelt der Bewohner. Sie gibt den Professionellen daher methodisch relative Freiheit. Stadtteilarbeit richtet sich an folgenden Arbeitsprinzipien aus: - Förderung des Selbsthilfepotentials und der Eigeninitiative der im Stadtteil lebenden Menschen, − Orientierung und Ausrichtung der Arbeit an Betroffenheit und Bedürfnisse der Wohnbevölkerung,- Nutzung der Ressourcen der Menschen und des Stadtteils,- zielgruppenübergreifende und vernetzende Arbeit mit den Bewohnern und den Fachkräften der Institutionen,- Erschließung materieller Ressourcen,- Institutionalisierung des Standort der Sozialen Arbeit am Lebensort der Bürger, - Kooperation und Vernetzung von Aktivitäten verschiedener Träger der Sozialen Arbeit, um die Dienstleistungen näher und effektiver an die Bürger heranzubringen. U. Zinda Status Als „Status“ wird die soziale Wertschätzung bezeichnet, die Personen im Vergleich mit anderen Mitgliedern der Gesellschaft erfahren. Status ist eng verknüpft mit der jeweiligen Position im sozialen Gefüge (→ soziale Ungleichheit). Die meisten Status-Modelle gehen davon aus, daß eine Person in allen Dimensionen 284 sozialer Ungleichheit jeweils gleich hohe bzw. gleich niedrige Ausprägungen aufweise - wer also einen hohen Bildungsabschluß habe, übe einen angesehenen Beruf aus und verdiene gut. Diese Übereinstimmung wird als Status-Konsistenz bezeichnet und erlaubt eine eindeutige Zuordnung des Status-Inhabers zu einer sozialen Schicht. In der gegenwärtigen Gesellschaft nehmen Status- Inkonsistenzen zu, weil der Zusammenhang von Bildung, Erwerbsarbeit und Einkommen weniger eng geworden ist. Außerdem ist der Status häufiger als früher an bestimmte Lebensphasen und Lebensereignisse geknüpft. Wichtig für die soziale Wertschätzung, für das Selbstwertgefühl und für die weiteren biographischen Chancen eines Individuums ist deshalb nicht nur der zu einem bestimmten Zeitpunkt bestehende soziale Status, sondem auch seine Ursache. Beispielsweise macht es für die von Armut Betroffenen - und auch für die sozialberufliche Arbeit mit ihnen - einen entscheidenden Unterschied aus, ob es sich um vorübergehende Armut (etwa nach Abschluß eines Studiums oder auch nach einer Scheidung) handelt oder um dauerhafte Armut (zum Beispiel eines beruflich nicht qualifizierten LangzeitArbeitslosen). H. Mogge-Grotjahn Straffälligenhilfe in Deutschland Die Ursprünge der Arbeit mit Strafentlassenen bzw. -gefangenen lassen sich in Dtld. bis ins 19. Jhdt. zurückverfolgen. Geprägt vom christlichen Menschenbild, getragen von sozial engagierten Angehörigen des Bürgertums entstehen Einrichtungen wie die Rheinisch-westfälische Gefängnisgesellschaft (1826), die sich um die Wiedereingliederung straffälliger Menschen bemühen. Heute ist die S. ein Sammelbegriff für alle öffentlichen und privaten Hilfeformen, die auf die Resozialisierung von Straftätern gerichtet sind. Zielsetzung ist die Hilfe zur Vermeidung weiterer Straffälligkeit. Dies erfordert die (Re-) Integration der Betroffenen in das gesellschaftliche Normensystem. Da Straftaten i.d.R. Ausdruck persönlicher u./o. sozialer Problemlagen der Straftäter/-innen sind, sollten die Hilfsangebote neben der Sicherstellung der ökonomischen Lebensgrundlagen 285 auch die Betreuung und persönliche Hilfestellung bei individuellen und psychischen Problemen umfassen. Dies erfordert neben interdisziplinärem Handeln auch die Einschaltung von spezialisierten Fachdiensten (z.B. Drogenberatung, Schuldnerberatung, psycho-soziale Dienste). Als besondere Einrichtungen der S. haben sich in Dtld. die Bewährungs- und die Gerichtshilfe etabliert. Die Bewährungshilfe ist i.d.R. den Justizbehörden angegliedert und unterliegt den Anweisungen und der Aufsicht der Gerichte. Sie wird tätig, wenn durch das Gericht eine Freiheitsstrafe bzw. ein Strafrest für die Dauer der Bewährungszeit ausgesetzt werden soll. Die B. unterstützt v.a. im Rahmen der Einzelfallhilfe die Resozialisierung des straffällig gewordenen Menschen, um so den (weiteren) Vollzug der Freiheitsstrafe unnötig zu machen und gleichzeitig die soziale und berufliche Wiedereingliederung sicherzustellen. Die B. steht dabei einerseits im Spannungsfeld zwischen ihrer institutionellen Einbindung in das Sanktionssystem der Justiz und andererseits ihrer (ggf. gegengerichteten) sozialarbeiterischen Aufgabenstellung in der Zusammenarbeit mit dem Probanden. Die Gerichtshilfe wird vor einer Anklageerhebung durch die Staatsanwaltschaft, in einem lfd. Verfahren auf Anweisung des Gerichtes oder nach Antrag der Verteidigung tätig. Sie soll durch ihre Berichterstattung bei der Erarbeitung eines umfassenden Persönlichkeitsbildes der angeklagten Person mitwirken. Hierzu gehört insbesondere die Darstellung etwaiger Entwicklungsstörungen, der sozialen Kontakte, der Lebensituation zur Tatzeit aber auch der persönlichen, schulischen und beruflichen Entwicklung. Die G. ist ein Ermittlungsorgan, keine Fürsorgeeinrichtung. Ziel ihrer Tätigkeit ist die möglichst umfassende Erhebung aller persönlichen Umstände als gerichtliche Entscheidungshilfe bei der Strafzumessung. J. Boeckh Straffälligenhilfe in Russland Für entlassene Straftäter ist die Reintegration in das gesellschaftliche Leben mit 286 besonderen Schwierigkeiten verbunden. Durch die Straffälligenhilfe wird die wirtschaftliche und die Arbeitssituation dieses Personenkreises geregelt. Die Maßnahmen greifen früh; mindestens ein halbes Jahr vor der Haftentlassung werden die lokalen Behörden und die Arbeitsämter über den Zeitpunkt der Entlassung, Wohnverhältnisse und Arbeitsfähigkeit sowie berufliche Orientierung informiert. Falls die Strafentlassenen von den Behörden nicht in ein Arbeitsverhältnis vermittelt werden können, haben sie bei Registrierung als Arbeitslose Anspruch auf die Zahlung von Arbeitslosengeld für die Dauer eines Jahres; dessen Höhe richtet sich nach dem Arbeitslohn, der während des Strafvollzugs gezahlt wurde, beträgt aber mindestens den gesetzlich vorgeschriebenen Mindestlohn. Unabhängig von der Art der Straftat, der Haftdauer und der Entlassungsgründe kann der Strafentlassene an seinem früheren Wohnort registriert werden, falls er dort über eine Wohnung verfügt und dem sonst nichts entgegensteht. Bei Wohnungslosigkeit können die Strafentlassenen auch in Wohnheimen oder sonstigen Wohnunterkünften am Arbeitsort untergebracht werden oder sich ein Zimmer mieten. Strafentlassene Behinderte sowie aus der Haft entlassene Männer über 60 Jahre und Frauen über 55 Jahre, die nicht selbst für ihren Lebensunterhalt aufkommen können oder pflegebedürftig sind, haben Anrecht auf einen Platz in einem Behinderten- beziehungsweise Altenheim, in der Regel in dem Ort, an dem sie vor dem Strafvollzug gewohnt haben. Für die Straffälligenhilfe zuständig sind unter anderem Einrichtungen für Nichtsesshafte und Beschäftigungslose, darunter Nachtasyle, Heime und andere Unterkunftsmöglichkeiten sowie Zentren für soziale Integration, sowie sämtliche Einrichtungen des → Systems für sozialen Schutz der Bevölkerung. O. A. Sigmunt Straßenkinder gibt es heute in fast allen Regionen der Erde. Noch vor wenigen Jahren wurden sie allerdings - von Europa und Nordamerika aus betrachtet - fast ausschließlich 287 in den Entwicklungsländern Lateinamerikas, Afrikas und Asiens verortet. Heute ist die Existenz von Straßenkindern in den Vereinigten Staaten von Amerika, Kanada und in den europäischen Ländern sowie in den GUS-Staaten nicht mehr wegzudiskutieren. Der Begriff „Straßenkind" suggeriert dabei eine hohe Homogenität der Vergleichsmerkmale, die indessen von der Forschung nicht bestätigt werden kann. Dies gilt sowohl für Indikatoren, die die Lebenslagen, kulturellen Milieus und die ,,Karrieren" betrifft, die Kinder innerhalb ihrer Straßensozialisation durchlaufen, als auch für die jeweils anzugebenden Lebenslagen und Formen der Lebensbewältigung. Deutlich ist ebenso: Schon allein wenn es um Angaben der Zahl der Straßenkinder in unterschiedlichen Kontinenten geht und um das Ausmaß von Not und Elend in der alltäglichen Lebenswirklichkeit von Straßenkindern, ist Differenzierung dringend geboten und die Situation in den einzelnen Städten, Ländern und Kontinenten jeweils genauer in den Blick zu nehmen. Das Kinderhilfswerk der Vereinten Nationen schätzt weltweit die Zahl der Straßenkinder auf 80 Millionen bis 100 Millionen. Darunter werden junge Menschen im Alter bis zu 18 Jahren verstanden, für die die Straße im weitesten Wortsinn zum zentralen Lebensraum geworden ist und die keinen entsprechenden Schutz genießen. Der Begriff ,,Straße" schließt hierbei verlassene und heruntergekommene Gebäude bzw. Wohnungen mit ein. Von den weltweit geschätzten 80 Millionen Straßenkindern leben wiederum nach Angaben der UNICEF. Im Blick auf die GUS-Staaten und insbesondere auf die Situation in der Russischen Föderation liegen unter der Begrifflichkeit „Straßenkinder“ keine verlässlichen Daten vor, es wird jedoch von einer dramatisch steigenden Zahl von „Sozialwaisen“ berichtet. So sollen allein in St. Petersburg heute 20.000 bis 30.000 verwahrloste und unbeaufsichtigte Kinder leben. Wie in anderen Großstädten auch widmen die Eltern durchschnittlich acht bis zehn Minuten täglich der Erziehung ihrer Kinder, wodurch unter Sozialarbeitern der Begriff „Sozialwaisen“ entstanden ist. Wissenschaftler prognostizieren, dass die Zahl verwahrloster Kinder in Russland in den kommenden Jahren auf bis zu 9 Millionen anwachsen könnte - eine Situation wie nach dem Bürgerkrieg. 288 Eine Studiengruppe des Europarates definiert „Strassenkinder“ wie folgt: „Straßenkinder sind Kinder unter 18 Jahren, die für kürzere oder längere Zeit im Straßenmilieu leben. Diese Kinder leben in der Bewegung von Ort zu Ort und haben ihre Gruppe der Gleichaltrigen oder andere Kontakte auf der Straße. Offiziell ist die Adresse dieser Kinder entweder die ihrer Eltern oder die einer sozialen Einrichtung. Höchst signifikant ist dabei, daß sie zu all solchen Personen geringen oder keinen Kontakt haben, die ihnen gegenüber in Verantwortung stehen, wie Erwachsene, Eltern, Vertreter von Schulen, Jugendhilfeeinrichtungen und sozialen Diensten“ (Council of Europe 1994: 23). Allgemein ist zu sagen, daß Straßenkinder auf erlebte Ablehnung, auf Gleichgültigkeit und skrupellose Ausbeutung, auf Gewalt, Verführung und Ausgrenzung zu ihrem Überleben oft verzweifelte Auswege suchen in Drogenkonsum, Diebstahl, Prostitution, Gewalt und Drogenhandel. Viele Straßenkinder müssen unterbezahlte harte Arbeit verrichten. In Cliquen und Straßenbanden schaffen sie sich häufig einen Familienersatz, eine physische und emotionale Zufluchtsstätte, ein Überlebenssystem, das Sicherheit und Schutz gewährt. Etwas, das sie in ihrem bisherigen Leben häufig bitter vermißt haben. Sie leben also entweder allein oder in Cliquen und Gangs. Häufig sind sie unterernährt, in einem schlechten Gesundheitszustand oder hungern seit ihrer Geburt. Das wesentliche Definitionskriterium für die hier im engeren Sinne als ,,Straßenkinder" aufgefaßten Heranwachsenden bleibt, daß die schutzlose Straße zum bestimmenden, existentiellen Lebensraum wurde und die Familie oder familienersetzenden Alternativen in den Hintergrund treten oder nicht existent sind. 289 Gemessen an der in der Familie vorher erlebten Not und Gewalt, bedeutet das Straßenleben jedoch auch vielfache Erleichterung und nach einer gewissen Zeit auch so etwas wie ,,Normalität“. Dies darf man jedoch nicht so mißverstehen, daß die Straßenexistenz eine freudig aufgesuchte Alternative wäre, wie sie in gewissen romantisierenden Vorstellungen von der Straßenkindheit vorzufinden sind. Aber die Erlebnisqualität der Straße bietet einen gleichsam subkulturellen Raum eigener Art. Vom Leben auf der Straße als dem Ort, „wo was los ist“, wo Spannung, Erregung und ,,action“ erwartet und erlebt wird, kann sogar eine starke Faszination ausgehen. Viele, über mehrere Jahre hinweg stattgefundene internationale Fachdiskurse zeigen, daß Mobile Jugendarbeiter in solchen Fällen schon eine große Überzeugungskraft und echte attraktive Alternativen brauchen, um hier vom Jugendlichen die Chance eingeräumt zu bekommen, daß er sich auf das sozialpädagogische Angebot überhaupt einläßt. Dies gelingt aber an sehr vielen Orten der Erde, wenn eine parteiliche, also an den Interessen der Jugendlichen orientierte Sozialarbeit stattfindet und wenn diese auf Freiwilligkeit basiert. Bisherige Erfahrungen mit dem Konzept der Mobilen Jugendarbeit etwa in Russland zeigen, dass unter Berücksichtigung ortsspezifischer Lebenslagen positive Handlungschancen gegeben sind. Im Verbund von Street Work, Einzelhilfe, Clubarbeit, sozialpädagogische Arbeit in Fluchtburgen und Gemeinwesenarbeit - so berichten russische Kolleginnen und Kollegen - komme es durchaus zu verbesserten Hilfestellungen für Strassenkinder und Strassenjugendliche und damit auch zu einer Verbesserung ihrer Lebenslage. W. Specht 290 Streetwork ist die Bezeichnung für einen Ansatz der Sozialarbeit/Sozialpädagogik, der sich in den Großstädten der USA entwickelte und auch in Stadtgebieten in Europa angewandt wird. Es ist ein niederschwelliges Angebot für Kinder, Jugendliche und junge Erwachsene, die sich in subkulturellen Gruppen außerhalb der organisierten und angebotenen Jugendarbeit zusammengefunden haben. Die Subkulturzugehörigkeit ist u.a. erkennbar an Kleidung, Aktivitäten, Musik, Mode. Die Bindemittel, die die Gruppenkohäsion der Gruppen, mit denen die Streetworker arbeiten bewirkt, sind zumeist Drogen, Gewalt oder Ideologien. Streetwork will insgesamt begrenzend auf jugendgefährdende Auswüchse der jeweiligen Subkultur einwirken, ohne die Jugendlichen durch erheblichen Anpassungsdruck aus ihren subkulturellen Identitäten zu drängen. Streetwork ist ein offener, problemorientierter und mobiler Arbeitsansatz. Arbeitskonzepte werden situativ unter Berücksichtigung der jeweiligen Bedingungen entwickelt. Streetwork-Konzepte beinhalten Maßnahmen zur Prävention wie Beobachtung der Entstehung von jugendgefährdeten Subkulturen und Kontaktaufnahmen zu ihnen an ihren Treffpunkten. Streetwork ist im weiteren wesentlich strukturiert durch die Verzahnung von → Gruppenarbeit und → Einzelhilfe. Für beide Arbeitsformen gelten folgende Grundsätze: 1. Parteilichkeit: Streetwork arbeitet prinzipiell für die Bedürfnisse und Interessen der Jugendlichen − nicht gegen sie und nicht ohne sie. Sie nimmt die Lebenswelt der Jugendlichen ernst und akzeptiert sie. 291 2. Freiwilligkeit: Streetwork hat prinzipiell aufsuchenden Charakter. Die betroffenen Jugendlichen entscheiden über Dauer und Inhalt der Zusammenarbeit. 3. Anonymität: Alle Gespräche mit den Jugendlichen werden vertraulich geführt. Öffentlichkeit wird nur nach Absprache mit den Jugendlichen hergestellt. U. Zinda Subsidiarität ist ein sozialpolitischer Grundsatz, der die Zuständigkeit des sozialpolitischen Handelns zwischen verschiedenen Trägern regeln soll. Als Subsidiaritätsprinzip wurde er 1931 in der Römisch-katholischen Enzyklika Quadragesimo anno durch Papst Pius XI. formuliert: „Wie dasjenige, was der Einzelmensch aus eigener Initiative und mit seinen eigenen Kräften leisten kann, ihm nicht entzogen werden darf, so verstößt es gegen die Gerechtigkeit, das, was die kleineren und untergeordneten Gemeinwesen leisten und zum guten Erfolg führen können, für die weitere und übergeordnete Gemeinschaft in Anspruch zu nehmen... Jedwede Gesellschaftstätigkeit ist ja ihrem Wesen und Begriff nach subsidiär; sie soll die Glieder des Sozialkörpers unterstützen, darf sie aber niemals zerschlagen oder aufsaugen.“ In der → Sozialpolitik vor allem der Länder mit einer konservativen politischen Mehrheit spielt das Subsidiaritätsprinzip (subsidien; lat. Hilfsgelder, Rückhalt) eine große Rolle. So fand es in Deutschland als Bestandteil der katholischen Soziallehre in den 50er Jahren zunächst Eingang in die sozialpolitische Programmatik der Christlich Demokratischen Union (CDU) und dient dort seither als wichtige Richtschnur der sozialpolitischen Gesetzgebung. Man setzte das Subsidiaritätsprinzip als Prinzip des Vorrangs der kleinen Gemeinschaften um, zum Beispiel der Familien oder wohlfahrtsstaatlicher → Verbände gegenüber großen - vor allem staatlichen - Organisationen. So wurde Anfang der 60er Jahre die Jugendhilfe und die Armenfürsorge so geordnet, daß die privaten Wohlfahrtsverbände als Anbieter von Hilfeleistungen Vorrang vor öffentlichen haben müssen. Auch im Bereich anderer öffentlicher Aufgaben wird das Subsidiaritätsprinzip 292 angewendet, etwa beim Bau und Unterhalt von Kultureinrichtungen, wo z.B. ein Bundesland in Deutschland nur insoweit Gelder zur Verfügung stellt, wie etwa die betreffende Gemeinde oder der Kulturverein auch eigene Mittel einbringt. Selbst in der Organisation der Zuständigkeiten der Gremien auf der Ebene der europäischen Union wird die Subsidiarität inzwischen gefordert. Weniger häufig wird darauf verwiesen, daß das Subsidiaritätsprinzip auch das Gebot einschließt, die „kleinen Gemeinschaften“ in ihrer Selbsttätigkeit zu unterstützen („Vorleistungsgebot“). Obwohl das Subsidiaritätsprinzip gemäß der Enzyklika sich selbst als „unverrückbaren“ sozialphilosophischen Grundsatz versteht, gibt es seit je auch kritische Stimmen. Es legitimiere das Nichtstun oder das passive Zuwarten der öffentlichen Sozialpolitik, wodurch sich die sozialen Probleme nur vergrößerten. Es stärke die demokratisch schwer zu kontrollierende Macht der Verbände und unterminiere so die Verfassungsordnung. Durch seine ontologische Herleitung versuche es, die sozialpolitischen Strukturen ideologisch zu verewigen, die durch konservative Politiker geschaffen wurden. M. Bellermann Supervision ist ein zeitlich begrenzter, kontinuierlicher, berufsbegleitender Beratungs- und Lernprozeß, orientiert am Leitfaden des beruflichen Handelns, des Erlebens und den Erfahrungen des Supervisanden. Sie richtet sich an Studierende des Sozialund Gesundheitswesens sowie an alle Berufstätige im sozialen Bereich, unabhängig davon, ob sie hauptamtlich oder ehrenamtlich beschäftigt sind. Supervision fördert und erweitert mittels Reflexion die Wahrnehmungs-, Analyse- und Handlungskompetenz der Supervisanden mit dem Ziel, Effektivität und Effizienz weiter zu entwickeln und zu steigern bzw. zu verbessern oder zu verändern. In der Supervision kommen unterschiedliche Methoden zur Anwendung. Es wird gearbeitet auf der Grundlage systemischer -, sozialintegrativer -, psychodynamischer 293 und biographischer Konzepte und den daraus abgeleiteten Methoden, Verfahren und Techniken. Supervision (engl. (Ober-)Aufsicht, Überwachung, Kontrolle, Leitung) wurde insbesondere durch niederländische und amerikansche Einflüsse zunächst als Bestandteil des → Caseworks für die Sozialarbeit rezipiert. Erweitert und differenziert entwickelte sich neben der Einzelsupervision die Gruppen-, Team-, Leitungs- und kollegiale Supervision sowie im Rahmen der → Familientherapie, die Life-Supervision, nicht mehr nur für Sozialarbeiter/Sozialpädagogen sondern für alle Berufsgruppen, die mit ihrer sozialen Dienstleistung einen nachha ltigen Einfluß auf den → Alltag der Betroffenen ausüben. Eine neuere Entwicklung ist die Ausweitung der Supervision zur Organisationsentwicklung, zur Organisationsberatung und Begleitung von Organisationsprozessen in Verwaltungen, Wirtschaft und spezifischen Dienstleistungsbereichen. Hierbei sind dann die Fachkräfte aus den genannten Bereichen (z.B. der Krankenhäuser, Betriebe, Fabriken oder Banken etc.) die „Empfänger“ von Supervision. Die Supervision beinhaltet unterschiedliche Ebenen, die in der Regel miteinander verzahnt sind: - Die Ebene der Selbst- und Fremdwahrnehmung und ihre Wechselwirkung, - die Wahrnnehmungsebene berufsfixierter Rollen, der eigenen wie der von Kollegen, Mitarbeiter/Innen und Vorgesetzten, - die Ebene der Wahrnehmung des Hilfebedürftigen in seiner „Klientenrolle“, - die Ebene des Erkennens, Beurteilens und Beeinfliussens des organisierten Berufs- bzw. Ar beitsfeldes, - die Ebene des Erkennens, Beurteilens und Beeinflussens der berufspolitischen Gegebenheiten, - die Ebene der realistischen Einordnung der gesellschaftlichen Wertung des sozialen Berufes und der sozialen Fachkräfte. 294 Wesentliches Element der Supervision, als methodisch angelegter Beratung und Reflexion, ist der Kontrakt, in dem Sitzungsanzahl, Sitzungsdichte, Zeitrahmen, Ort der Supervision sowie Zielsetzung, Berichtsform, Auswertungsschritte und auch die Verschwiegenheit der Supervisionsinhalte festgelegt werden. Das Erteilen von Supervision setzt eine qualifizierte (meist berufsbegleitende) Ausbildung bzw. ein Studium voraus, nach dessen Abschluß Supervisioren in unterschiedlichen Funktionen (z.B. Stabs- oder Leitungsfunktion) für Organisationen oder freiberuflich tätig werden. 1989 hat sich in der BRD die „Deutsche Gesellschaft für Supervision“ (DGSv) gegründet, die Ausbildungsstandards festlegt und kontrolliert, berufspolitisch agiert, fachliches Diskussionsforum ist, den internationalen Erfahrungsaustausch pflegt und wissenschaftlich tätig ist etc., um der Professionalisierung der Supervision voran zu helfen. Seit 1999 gibt es in der staatlichen pädagogischen Universität Wologda eine berufsbegleitende Ausbildung zum Supervisor die europäischem Ausbildungsstandard entspricht. L. Haag Themenzentrierte Interaktion ist eine Form der Gruppenarbeit. Sie wurde in den 50er Jahren in den USA von Ruth Cohn, Psychoanalytikerin und Gruppentherapeutin, entwickelt. Sie ging dabei aus von der Erfahrung, daß in Gruppen, in denen eine positive achtungsvolle Einstellung zu den Gefühlen und dem persönlichen Befinden jedes einzelnen Gruppenmitgliedes herrscht, lebendiger und effektiver gelernt werden kann. Es soll ganzheitliches, lebendiges Lernen in Gruppen ermöglichen. Die theoretische Ableitung der Themenzentrierten Interaktion erfolgt aus der Psychoanalyse der humanistischen Psychologie und der gruppen- und erlebnistherapeutischen Erfahrung. 295 Den philosophischen Hintergrund der Themenzentrierten Interaktion bilden folgende Axiome: a) Der Mensch ist eine psycho-biologische Ganzheit, die eine Einheit von Wahrnehmen, Fühlen und Denken kennzeichnet. Er ist zugleich autonom und interdependent. b) Der Mensch verfügt über die Möglichkeit der freien Entscheidung innerhalb gewisser Kausalitätsgesetze. c) Der Mensch lebt in der Notwendigkeit zu werten, woraus ihm die Verpflichtung erwächst, Ehrfurcht allem Lebendigen und seinem Wachstum entgegenzubringen. Aus diesen Axiomen leiten sich zwei Postulate ab: a) Sei dein eigener „chairrnan“ (Leiter)! Es dient zur Ermutigung, sich auf die eigene Gefühlswelt zu besinnen, Bedürfnisse wahrzunehmen und verantwortlich damit umzugehen. b) Störungen haben Vorrang! Gefühle des Unwohlseins und äußere Beeinträchtigungen, die an der Mitarbeit vom Thema abhalten, müssen thematisiert werden. Jede Lernsituation in der Gruppe wird bestimmt durch das „Ich“ jedes einzelnen Gruppenmitgliedes, das „Wir“ der Gruppe und das „Es“ des Themas. Diese drei Faktoren sind in der Gruppenarbeit immer vorhanden. Sie sind Eckpunkte eines gleichschenkligen Dreiecks, das verdeutlicht, daß sie aufeinanderbezogen sind und sich gegenseitig bedingen. Das Dreieck ist eingebettet in eine Kugel („globe“), die die institutionellen Rahmenbedingungen und die Umweltbezüge der Gruppenteilnehmer darstellt und das Gruppengeschehen mitbestimmt. Es ist Aufgabe des Gruppenleiters, die drei Faktoren innerhalb der Kugel in einem dynamischen Gleichgewicht zu halten, damit die Aufgabe, die die Gruppe sich gestellt hat, erreicht wird und die Interaktion zwischen den Teilnehmern kongruent verläuft. Der Leiter bringt sich als Modell in das Gruppengeschehen ein; er ist partipizierender Leiter. Eine weitere Aufgabe des Leiters ist die Formulierung des Themas und die Vorgabe der Arbeitsstruktur, wobei jedoch die Eigenverantwort296 lichkeit und die Entscheidung des einzelnen berücksichtigt werden muß. Der Arbeitsansatz ist für alle Lern- und Arbeitsgruppen geeignet, in denen eine Synthese von Persönlichkeitsentwicklung und sachorientiertem Arbeiten erreicht werden soll. Sie will die Kommunikations- und Kooperationsfähigkeit der Menschen fördern. U. Zinda Theorie der Sozialarbeit (¤ Sozialarbeit) In einem weiten Sinne können als Theorie der Sozialarbeit Komplex alle Anschauungen und Ideen, die auf soziale Erscheinungen gerichtet sind, verstanden werden; in einem engeren Sinne versteht man darunter das wissenschaftliche Wissen von wesentlichen Zusammenhängen und Beziehungen, die unter dem Einfluß der sozialen Arbeit und der verschiedenen Dienste zum Schutze der Bevölkerung entstehen. Im ersten Viertel des 20. Jahrhunderts wurden Theorie und Praxis der sozialen Arbeit auf Gruppen- und auf Gemeinwesenebene erforscht. Besonders intensiv befaßte sich M. Richmond (USA) mit der Einzelfallhilfe. Auch die psychoanalytische Theorie von Sigmund Freud spielte eine wichtige Rolle für die weitere Entwicklung der Sozialarbeit, weil sie auf die Bedeutung der Kindheit des Klienten für seine Persönlichkeitsentwicklung aufmerksam machte. Die soziale Situation wurde demgegenüber als sekundär eingeschätzt. - In den 30er Jahren fand dagegen die soziale Umwelt für die Entstehung der Probleme von Klienten zunehmende Beachtung. - Insgesamt setzte sich die Einsicht durch, daß der Klient selber der „Fachmann“ für die Erkenntnis und Lösung seiner Probleme ist, dem Sozialarbeiter also die Aufgabe zukommt, ihn hierbei zu unterstützen. 297 Auch die Gruppe findet zunehmende Beachtung in der Theorie der Sozialarbeit. Einer der ersten, der intensive Kleingruppenforschung betrieb, war K. Levin. Er untersuchte auf experimentellem Wege das Geschehen in Kleingruppen (Gruppenstrukturen, emotionales Klima, Führungspersönlichkeiten, Konfliktlösungsmuster etc.). Andere Gruppenforscher befaßten sich mit verschiedenen Arten von Gruppen, der Bedeutung von Gruppen für die Persönlichkeit, den sog. „Trainingsgruppen“ in der Arbeitswelt u.a.m. Im Laufe der Theorieentwicklung kam es zu einer immer stärkeren Integration verschiedener Forschungsansätze. Seit den 70er Jahren fanden Systentheorien verstärkte Aufmerksamkeit, die auf das Verständnis der komplexen sozialen Netzwerke und ihre Bedeutung für das Individuum gerichtet sind. Unterschieden werden hier informalle bzw. natürliche Netzwerke (Familie, Nachbarschaft) und fornmelle Netzwerke (Gewerkschaften, Parteien, Ämter, Institutionen etc.). Aufgabe des Sozialarbeiters ist es, die Tätigkeit der verschiedenen Teile des Netzwerkes zu optimieren und zu koordinieren. In der modernen Theorieentwicklung wird hervorgehoben, daß Menschen eine „Doppelnatur“ besitzen, d.h. sowohl biologische als auch soziale Wesen sind. Sozialarbeiter müssen deshalb nicht nur über Kenntnisse der Methoden der Sozialarbeit, sondern auch über anthropologische, psychologische, ethische und sozialwissenschaftliche Kenntnisse verfügen, sich der Normen und Werte der Gesellschaft und der Klienten bewußt sein und auch ökologische Aspekte berücksichtigen. Aus dieser Vielfalt der Theorien und ihrer Integration entstehen komplexe Modelle sozialer Arbeit. T. Tscherpuchina 298 Übertragung und Gegenübertragung Die Psychoanalyse (PA) hat uns auf emotionale Vorgänge im mitmenschlichen Zusammensein aufmerksam gemacht, die auch in sozialpädagogischen Arbeitssituationen bedeutsam sein können und als Übertragung und Gegenübertragung bekannt wurden. Unter ‚Übertragung’ wird die Wiederholung von Gefühlsbeziehungen aus der frühen Kindheit in gegenwärtigen Beziehungen zu neuen Kommunikationspartnern verstanden, deren man sich zumeist nicht bewußt ist. So wird beispielsweise die Zuneigung zu einem jüngeren Geschwisterkind von einer Sozialarbeiterin unbewußt auf eine junge, ratsuchende Klientin übertragen. Darüber hinaus erinnern sich viele Menschen auch an frühere soziale Konflikte und beleben sie - wiederum zumeist unbewußt- in neuartigen Beziehungen. So schätzt man in aktuellen Beziehungen wichtige Personen oftmals so ein, wie man früher Vater, Mutter oder eine andere Bezugsperson eingeschätzt hat und begegnet ihnen mit analogen Gefühlen wie Liebe, Haß, Unterwürfigkeit oder Respekt. Beispielsweise gestaltet ein Sozialpädagoge seine Beziehung zu seinem Chef ganz nach dem Verhältnis, das er zu seinem Vater hatte. Die Bewunderung des Vaters mag dann als Verehrung des Chefs zum Ausdruck kommen, ohne daß ihm diese Übertragung bewußt wird. In der klassischen PA hält sich der Therapeut zurück, um dem Klienten möglichst viele Übertragungen zu ermöglichen. Um die Bedeutung dieser Übertragungen, die in Einstellungen und Verhaltensweisen zum Ausdruck kommt, zu verstehen, muß sich der Therapeut zurückhalten, dem Klienten stärkere eigene Emotionen entgegenzubringen. Hat er es doch getan, so hat ‚Gegenübertragung’ stattgefunden. Natürlich ist kein Therapeut ganz frei in seiner Einstellung dem Klienten gegenüber. Bleibt dieser Sachverhalt der ‚Gegenübertragung’ unerkannt und unkontrolliert, so kann er die Behandlung in erheblichem Maße stören. 299 Auch in pädagogischen Beratungssituationen ist es angebracht, sich im Sinne einer störungsarmen Kommunikation dieser zwischenmenschlichen Vorgänge der Übertragung und Gegenübertragung bewußt zu sein bzw. zu werden. So wäre es sinnvoll, einen Klienten an eine Kollegin weiter zu vermitteln, weil dieser den beratenden Sozialpädagogen in seinem Wesen an den eigenen Bruder erinnert, mit dem es seit Jahren nur Streit gibt. H.-P. Steden Verbände Neben Parteien zählen die Verbände zu den wichtigsten außerstaatlichen Trägern im politischen System demokratischer Staaten. Verbände können Vereinigungen von Privatpersonen oder auch von Körperschaften, Vereinen oder sonstigen Institutionen sein. In den westlichen Demokratien sind nahezu alle Bereiche des gesellschaftlichen Lebens verbandlich organisiert: Man unterscheidet zwischen Wirtschaftsverbänden (Gewerkschaften, Berufsverbände und Unternehmerverbände), Verbänden im Sozialbereich (Verbände der Wohlfahrtspflege, Verbände von Sozialleistungsempfängern, Selbsthilfeorganisationen u.a.), Verbände im Freizeitbereich (z.B. Automobilclubs), Verbände im Bereich Kultur, Wissenschaft, Politik, Umwelt, Verbände von Gebietskörperschaften (z.B. GemeindeVerbände). In Rußland wird unter einem Verband ein freiwilliges, sich selbst verwaltendes, nichtkommerzielles Gebilde verstanden, das auf Initiative von Bürgern gegründet wird, die sich auf Grund einer Interessengemeinschaft zur Realisierung von gemeinsamen Zielen vereinigt haben. Die Verbände-Landschaft ist in Rußland noch vergleichsweise unterentwickelt. Hier liegen große Entwicklungspotentiale der Zukunft. 300 Im Bereich der sozialen Arbeit sind die Verbände der Wohlfahrtspflege von großer Bedeutung. Organisationen wie das Rote Kreuz oder die kirchlichen Verbände Caritas (katholisch) oder Diakonisches Werk (evangelisch) widmen sich zum einen sozialen Spezialaufgaben wie der Hilfe bei Krisen (Flüchtlingshilfe). Zum anderen sind sie dort präsent, wo die wohlfahrtsstaatlichen Systeme defizitär sind, in den Bereichen Armut, Nichtseßhaftigkeit, Drogenproblemen, Gewaltfolgen u.a. Damit ergänzen sie die öffentliche → Sozialpolitik; sie wollen im Sinne ihrer eigenen Werte gleichzeitig stellvertretend für die gesamte Gesellschaft handeln. Die großen Wohlfahrtsverbände in Deutschland sind in den Bereichen Jugend, Armut, Gesundheit und Behinderung mit der Wahrnehmung öffentlicher Aufgaben betraut (→ Subsidiaritätsprinzip). Neben den großen Wohlfahrtsverbänden gibt es eine wachsende Zahl von sozialen Verbänden, die primär im Interesse ihrer Mitglieder oder Klientel handeln, die Verbände von beziehungsweise für Behinderte, die Organisationen zur AIDS-Hilfe oder von Arbeitslosen. Sie sind zugleich Hilfsorganisationen und Lobby in der politischen Willensbildung. Alle sozialen Verbände sind wichtige Anstellungsträger für Sozialarbeiter/-innen und Sozialpädagogen/-innen. M. Bellermann Verhaltensauffälligkeit Von Verhaltensauffälligkeit oder -störung spricht man − vornehmlich bei Kindern −, wenn eine bestimmte Verhaltensweise mit nicht ausreichender Häufigkeit, nicht angemessener Intensität, nicht adäquater Form oder unter Mißachtung kulturspezifischer Erwartungsnormen wiederholt auftritt. Eine solche Verhaltensauffälligkeit kann infolge von Sozialisationsmängeln und/oder organischen Beeinträchtigungen zustande kommen. Sie kann destruktiv oder auch weniger schädlich sein. Beispielsweise sind Kinder, die als schüchtern beschrieben werden, durch Vernachlässigung in der Erziehung oft nicht zu angemessenen Formen eines Sozialkontaktes in der Lage. Diese Kinder sind bei 301 Gleichaltrigen häufig sehr unbeliebt. Die Gruppe läßt sie daher ungern an Gruppenaktivitäten teilhaben. Aggressives oder eigenbrötlerisches Verhalten ist dann häufig zu beobachten. Es gibt aber ebenso verhaltensauffällige Jugendliche, die nicht aggressiv sind. Beispiele dafür sind Beeinträchtigungen in körperlichen oder sprachlichen Funktionen, wie bspw. Einnässen oder Stottern. In allen genannten Beispielen ist es erforderlich, diese unerwünschten Verhaltensweisen umzulernen oder systematisch angemessene Verhaltensalternativen aufzubauen. Als ein hilfreiches pädagogisches Interventionsverfahren hat sich neben spieltherapeutischen Fördermaßnahmen die kognitiv-verhaltensmodifikatorische Methode erwiesen. H.-P. Steden Vernachlässigung (¤ Körperliche Kindesmißhandlung; ¤ Sexuelle Kindesmißhandlung) Kindesvernachlässigung liegt vor, wenn Kindern die Befriedigung ihrer für eine positive Entwicklung notwendigen emotionalen, physischen, sozialen und materiellen Grundbedürfnisse versagt oder vorenthalten wird und dies auf ihre Entwicklung schädigende Auswirkungen hat. Für eine Entwicklung, die dem Gedanken des Kindeswohls entspricht, brauchen Kinder die Befriedigung ihrer physiologischen Bedürfnisse, Schutz vor äußeren Einwirkungen und Krankheiten, Schutz für eine kindgemäße Entwicklung und das Gefühl von Sicherheit, Verständnis und soziale Bindung, seelische und körperliche Wertschätzung, Anregung, freie und die Persönlichkeitsentwicklung entfaltende Spielmöglichkeiten, Leistungsförderung, Hilfe zum Aufbau eines eigenen Selbstkonzeptes und einer eigenen sowie familiären und kulturellen Identität. 302 Bei der Bewertung von kindlicher Symptomatik und der Beurteilung der Grenzen und des Ausmaßes von Vernachlässigung ist der kulturelle, soziale und familiale Kontext jeweils zu berücksichtigen. Dieser ‚subjektiven’ Sicht steht der ‚objektive’ Kontext des rechtlichen Rahmens gegenüber, der für die unterzeichnenden Staaten verbindlich in der UN-Kinderrechtskonvention niedergelegt wurde. Danach sollte jedes Kind in seinem jeweiligen Lebenszusammenhang auch durch die Gesetze des entsprechenden Landes vor Vernachlässigung und den Folgen geschützt sein. Ursachen von Vernachlässigung können in: Persönlichkeitsbedingten Merkmalen (zum Beispiel Überforderung, Hilflosigkeit, Abhängigkeit, Weitergabe eigener Vernachlässigungserfahrungen), strukturell-familialen Merkmalen (schlechte Wohnbedingungen, Armut, Arbeitslosigkeit, Verlust durch Trennung und Tod), strukturell-gesellschaftlichen Merkmalen (Bildungs- und Freizeitangebote wie Kindergärten, Schulen etc., kommunale Infrastruktur, Schwerpunkte in Gesundheits-, Familien- und Jugendpolitik) liegen. Das Phänomen von Vernachlässigung wird nicht durch die Summierung einzelner Vernachlässigungsfaktoren wirksam, sondern ist als ein wesentlicher Teil des familialen oder sozialen Beziehungsgeschehens zu begreifen. Folgen von Vernachlässigung können sein: (Psychosozialer) Minderwuchs, allgemeine Entwicklungsverzögerung (besonders häufig in der Sprachentwicklung), Störungen im sozialen und Bindungs-Verhalten, emotionale Deprivation, depressive Entwicklung vor allem mit Störung des Selbstwertgefühls, eingeschränkte Entfaltung des intellektuellen Potentioals, Störung der Impulssteuerung, Störung der sozialen Anpassungs-bereitschaft mit Neigung zu Dissozialität und Gefährdung für stoffliche Abhängigkeit (dynamisch zu verstehen als kompensatorischer ‚Selbstversorgungsversuch’). 303 Wirksame Hilfe muß im sozialen Kontext, bei der gesamten Familie und unterstützend und fördernd bei einzelnen Personen gleichzeitig ansetzen (multiprofessionelle Hilfe). J. Kuehn-Velten / E. Motzkau Vertretung Der sachliche Grund für die sozialarbeiterische/sozialpädagogische Vertretung ist eine soziale Schwäche des Klienten Es fehlt ihm die Fähigkeit, durch eigenes selbständiges Handeln, sich das zu beschaffen, was ihm rechtens zusteht. Die Vertretung durch den Sozialarbeiter/Sozialpädagogen gleicht das Kompetenzdefizit des Klienten aus. Vertretung in diesem Kontext geschieht stets unter dem Gesichtspunkt der sozialen Problemlösung. Der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge handelt anstelle des Klienten. Zur freiwilligen Vertretung erhält der Sozialarbeiter/Sozialpädagoge eine schriftliche Vollmacht des Klienten. Er wird nur dort die Vertretungsfunktion übernehmen, wo es rechtlich oder sachlich geboten ist und stets nach dem methodischen Prinzip der Selbständigkeitförderung handeln. Bei der Pflichtvertretung wird dem Sozialarbeiter/Sozialpädagogen die Vertretungsbefugnis durch eine Behörde verliehen z.B. Vormundschaft. Vertretungsaufgaben, die die berufichen Fähigkeiten übersteigen, kann der ernannte Vertreter in diesem Rahmen, an Spezialisten delegieren z.B. Erbschaftsangelegenheiten im Rahmen einer Vormundschaft, die dann für diesen Teilbereich die Vertretungsverantwortung übernehmen. U. Zinda 304 Verurteilung auf Bewährung Bei Straftätern, die zu Freiheitsentzug, besonderen Erziehungsmaßnahmen, Einschränkungen im Militärdienst, Beschränkung der Freizeit oder zur Strafverbüßung in einer besonderen Militäreinheit verurteilt sind, kann das Gericht die Strafe auf Bewährung aussetzen, wenn es davon ausgeht, dass der Verurteilte die Bewährungszeit zur Rehabilitation und sozialen Reintegration nutzt. Bei der Festsetzung der Bewährungsfrist berücksichtigt es die Art des begangenen Delikts und die dadurch hervorgerufene Gefährdung der Gesellschaft sowie die Person des Täters ent- und belastende Umstände. Außer einer Einziehung des Vermögens des Straftäters kann das Gericht für die Bewährungsfrist zusätzliche Strafmaßnahmen und auch bestimmte Pflichten festsetzen, wie etwa das Verbot, ohne Information der für den Straftäter zuständigen staatlichen Stelle die Arbeits- oder Lehrstelle oder den Studienplatz zu wechseln (→ Bewährungszeit), das Verbot, bestimmte Orte und Einrichtungen zu besuchen, die Pflicht zu einer Entziehungskur, zur Behandlung einer Geschlechtskrankheit oder zur finanziellen Unterstützung der Familie. Diese Verbote und Verpflichtungen können während der Bewährungsfrist auf Antrag der zuständigen Bewährungsaufsicht vom Gericht widerrufen oder verschärft werden. O. A. Sigmunt Verwahrlosung Ursachen der Verwahrlosung vornehmlich von Kindern und Jugendlichen sind im sozialen Zustand der Gesellschaft, in ungünstigen Familienverhältnissen bei fehlender Erziehung und schlechten ökonomischen Bedingungen, in zunehmender aggressiver Einstellung gegenüber Kindern, in unzureichender Umsetzung von 305 Familienhilfeprogrammen, unzulänglicher Arbeit rechtlicher Institutionen und anderer gesellschaftlicher Organisationen zu suchen. Vor allem in Gesellschaften, die starke soziale Erschütterungen durchmachen und die sozialökonomisch instabil sind, ist Verwahrlosung ein weit verbreitetes Phänomen. Genaue Statistiken über verwahrloste Kinder in Russland fehlen, da ihre Zahl und der Grad der Verwahrlosung nur schwer festzustellen sind und zudem die Definition der Begriffe „Verwahrlosung“ und „Verwahrloste“ unscharf ist. Besonders betroffen sind Waisen, Kinder ohne Vormundschaft der leiblichen Eltern sowie Kinder aus sozial besonders gefährdeten „Konfliktfamilien“, in denen zahlreiche Probleme existieren, die zu Verwahrlosung führen können. Eine Reihe sozialer Einrichtungen sind für die Arbeit mit verwahrlosten Kindern und Jugendlichen zuständig, unter anderem Heime, Nachtasyle, Rehabilitationszentren und Vertrauensdienste. Besondere Schwierigkeiten bereiten das Fehlen eindeutiger rechtlicher Bestimmungen und die offensichtliche Unzulänglichkeit vieler sozialer Maßnahmen. A. I. Timonin Vormundschaft ist eine Form des sozial-rechtlichen Schutzes von persönlichen und Vermögensinterressen der Bürger. Entsprechend den Gesetzen der Russischen Föderation wird sie errichtet: - über Kinder bis zum 15. Lebensjahr, wenn ihre Eltern gestorben sind oder ihren Erziehungspflichten wegen Krankheit, Erziehungsunfähigkeit, Inhaftierung oder aus anderen Gründen nicht nachkommen können - über Erwachsene, wenn sie wegen einer Geisteskrankheit gerichtlich als handlungsunfähig erklärt wurden. 306 Die Vormundschaft kann errichtet werden: - über das Vermögen des Bevormundeten; - über das Vermögen von Personen, die vom Gericht als abwesend erklärt sind; - über ein ererbtes Vermögen, bis die Berechtigten das Erbe antreten können. Vormundschaftsorgane sind, auf gesetzlicher Grundlage, die örtlichen und regionalen Verwaltungsbehörden. Der Vormund ist der gesetzliche Vertreter des Bevormundeten, dessen Interessen er vertritt. Als Vormund kann nur fungieren, wer mindestens 18 Jahre alt ist und gerichtlich nicht als als handlungsunfähig, nicht fürsorgeberechtigt oder ähnliches erklärt worden ist, sowie die Vormundschaft freiwillig übernimmt. Die Rechte und Pflichten dem Bevormundeten gegenüber werden durch Gesetze der Russischen Föderation in Übereinstimmung mit internationalen Normen geregelt. Dem Vormund können seine Rechte entzogen oder er kann strafrechtlich verfolgt werden, wenn er seine Pflichten nicht erfüllt oder die Vormundschaft zum persönlichen Vorteil mißbraucht. S. Michailowa Zivilgesellschaft Bereits in der Antike (Aristoteles) beeinflußt der Begriff der Zivilgesellschaft als Konzept für das gelingende Zusammenleben innerhalb einer Gesellschaft das politische Denken. Mit der Wahrnehmung von Gesellschaft und Staat als zwei getrennten Bereichen erweitert sich in der bürgerlichen Gesellschaftstheorie seit dem 17. Jhdt. der Blickwinkel auf die Bestimmung dieses neu entstandenen Verhältnisses (Hobbes; Locke, Hegel, Tocqueville). In Abgrenzung zum Machtanspruch des absolutistischen Staates entwickelt die politische Philosophie dabei mit dem Begriff der Zivilgesellschaft eine - zwar auf das Bürgertum beschränkte aber gleichwohl emanzipatorische Zielvorstellung. Diese ist durch die Forderung nach 307 Sicherung individueller Freiheit und Assoziationsfreiheit, nach Durchsetzung von Rechtsstaatlichkeit, nach einer Verpflichtung zu Toleranz gegenüber kultureller, religiöser und ethnischer Vielfalt aber auch durch das Versprechen sozialer Sicherheit gekennzeichnet. In den 1980er Jahren erfährt die Vorstellung einer Zivilgesellschaft sowohl für die west- wie osteuropäische sozialwissenschaftliche Diskussion eine Renaissance. In Westeuropa führen vor allem zwei Befunde zu einem neuen Nachdenken darüber, wie sich das Zusammenleben in modernen Gesellschaften zukünftig bestimmen soll. Das Erleben wirtschaftlicher Krisensituationen, die Verfestigung sozialer Notlagen und die Sorge um den Verlust des sozialen Zusammenhalts einerseits sowie ein zunehmender Vertrauensverlust in die politische, soziale und wirtschaftliche Steuerungsfähigkeit des Staates andererseits, führen zu einer Auseinandersetzung um eine Neubestimmung des Verhältnisses von Politik, Gesellschaft und Wirtschaft. Dabei wird aber die Existenz des bürgerlichen Staates nicht wie bei Marx grundsätzlich in Frage gestellt; er soll jedoch auf bestimmte Grundfunktionen zurückgeführt werden. Denn als Ergebnis der politischen und sozialen Entwicklung der Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg wird die heutige Gesellschaft als wohlhabender, gebildeter und als in hohem Maß zur Selbstorganisation befähigt begriffen, woraus sich nicht nur das Recht sondern die Pflicht zu gesellschaftlicher Selbsttätigkeit ableite. Private Eigenvorsorge und verstärkte Eigeninitiative, aber auch mehr Bürgerengagement für das (unmittelbare) Gemeinwesen sollen den gesellschaftlichen Zusammenhalt auf eine neue Grundlage stellen. Gleichzeitig wird damit die Legitimation des bestehenden umfassenden -> sozialen Sicherungssystems ebenso in Frage gestellt, wie der sozialstaatliche Anspruch auf Schaffung vergleichbarer Lebensverhältnisse in der Gesamtgesellschaft. Ob zivilgesellschaftliche Konzepte also Eigenverantwortung und staatliche Solidarität in eine ausgewogene Relation bringen, ist deshalb von deren Mischungsverhältnis von Individualisierung und Etatismus (= übermäßige Ausweitung staatlicher Kompetenzen auf Gesellschaft und Wirtschaft) abhängig. 308 In Osteuropa wird vor und in der Phase des Systemwechsels Ende der 1980er Jahre „Zivilgesellschaft“ zum Schlüsselbegriff anti-autoritärer Kritik an den bestehenden politischen Verhältnissen. Er zielt auf den Schutz des Einzelnen gegenüber dem als umfassend erlebten Machtanspruch des Staates, er fordert die Beachtung der Gesetze sowie die Einführung rechtsstaatlicher Prinzipien und impliziert schließlich einen neuen Anspruch auf Solidarität, Moral und Authentizität in der Politik. Die osteuropäische Oppositionsbewegung griff damit ein pluralistisches, liberal-demokratisches Gesellschaftsbild auf, in dem den zivilgesellschaftlichen Organisationsformen eine wichtige Vermittler- und Kommunikationsfunktion zwischen den staatlichen Institutionen und der Gesellschaft zu gewiesen wird. Zivilgesellschaft wurde so zum Gegenmodell einer (staats-)sozialistischen Gesellschaftsform, in der der kollektive Wille über die Bedürfnisse des Individuums gestellt und partizipative, (selbst-)aktivierende Elemente weitgehend verdrängt wurden. Indem die osteuropäischen Gesellschaften einen westeuropäischen Demokratiebegriff sowie demokratische Institutionen und Verfahrensweisen adaptieren, knüpfen sie gleichzeitig wieder an eigene vorrevolutionäre gesellschaftliche Traditionen an. Der Bestand und die Stabilität der neuen Demokratien wird wesentlich davon abhängen, wie schnell sie in der Lage sind, zivilgesellschaftliche Strukturen zu verfestigen. Die Bewertung der Stabilität der russischen Zivilgesellschaft fällt zur Zeit noch ambivalent aus. Einerseits ist unübersehbar, dass sich plurale Strukturen entwikkeln: Parteien haben sich gegründet, die Medienlandschaft hat sich verändert, zahlreiche nicht-staatliche Organisationen (NGOs) sind gegründet worden, Selbsthilfegruppen entstehen und die Russisch-Orthodoxe Kirche nimmt wieder gesellschaftspolitische und soziale Funktionen wahr. Gleichzeitig besteht aber auch noch die Tendenz, alleine den Staat auf die Lösung der sozialen, politischen und ökonomischen Probleme zu verpflichten. Und schließlich wirken alte Netzwerke und Strukturen fort, die eine Demokratisierung der Gesellschaft zumindest behindern und verzögern können. Der Auf- und Ausbau bestehender zivilgesellschaftlicher Strukturen als Ort der gesellschaftlichen Selbstorganisation, als Ort der öffentlichen Diskussion, des Konfliktes sowie der Verständigung, als Ort der Innovation und individuellen Weiterentwicklung, aber auch als Garant einer auf das Gemeinwohl orientierten Gesellschaft, wird deshalb grundlegend darüber mit309 entscheiden, welchen Weg das politische und gesellschaftliche System in Russland nehmen wird. J. Boeckh 310 Verzeichnis der Stichworte A Abweichendes Verhalten / Devianz Adoption Aggression Alkoholismus Alltag Altenarbeit in Deutschland Altenheim Alter Alterssicherung in Rußland Anamnese Androgogik Arbeit Arbeitslosigkeit Armut in Rußland Arttherapie Ausbildung, sozialpädagogische und sozialarbeiterische, in Deutschland Ausbildung von Fachleuten für Sozialarbeit in Rußland Autismus B Behinderte Behinderte Kinder Behindertenrehabilitation Beratung Betreuung Bewährungszeit Beziehung Bildung und Erziehung Biographischer Ansatz C Case Management Casework Einrichtungen für soziale Betreuung Einrichtungen der Nichtsesshaftenhilfe Einsamkeit Einzelhilfe / Einzelfallhilfe Empowerment Entwicklungsförderung Erziehungsmassregel Ethik der Sozialarbeit Europäische Sozialpolitik Evaluation F Familie Familienberatung Familienkinderheime Familienpolitik Familientherapie Frauen- und Kinderpolitik in Russland Freie Wohlfahrtspflege G Gemeinwesenarbeit Geschichte der beruflichen Sozialarbeit in Deutschland Geschichte der sozialen Arbeit in Rußland Geschlecht Gesellschaft Gesundheitsförderung Gesundheitspolitik in Rußland Gesundheitsreform in Russland Gesundheitsschutz in Russland Gewaltfreie Pädagogik Gruppe Gruppenanalyse Gruppenarbeit Gutachten H D Demenz Demographische Entwicklung Devianz Diagnose Down-Syndrom Drogensucht E Ehemündigkeit Heil- und Sonderpädagogik Hilfeplan Hospitalismus Hospiz I Individuum / Individualisierung Infektionskrankheiten Information Integration 311 Intergrative Bildung Intervention Neurose O J Jugend, aktuelle Situation in Russland Jugend (Jugendalter / Jugendliche) Jugendkriminalität Jugendpolitik Jugendpolitik in Russland K Kinderbewegung in Rußland Kindergarten Kinderheime / Familienkinderheime Kindesmißhandlung Kindheit Klient Klient- bzw. personenzentrierte Gesprächsführung Konflikt Kontrakt Konvention der Kinderrechte Körperliche Kindesmißhandlung Korrektionspädagogik (Sonderpädagogik) Krankenversicherung in Deutschland Kulturelle Bildungsarbeit (Sozialkulturelle Arbeit) Kunsttherapie Obdachlosigkeit Orthodoxe Wohltätigkeit und Barmherzigkeit in Rußland P Patronat und Betreuung Pädagogik Persönlichkeit Pflege Pflegefamilie Pflegeversicherung in Deutschland Politische Kultur Prostitution Psychiatrie in Deutschland Psychische Deprivation Psychodiagnostik Psychologie Psychose Psychosoziale Arbeit Public Health Q Qualitätsmanagement L R Lebensalter und Lebensphasen Lebenslage Lebenswelt Lernen Logopädie Logotherapie Rehabilitation Rehabilitationseinrichtungen für Minderjährige Rolle M Mediapädagogik Mediation Menschenrechte Methoden der Sozialarbeit / Sozialpädagogik Migranten Milieu Minimale cerebrale Disfunktion (MCD) Mobilität Moderation Mündigkeit N Netzwerkarbeit 312 S Sanktion Schule in Rußland Schulsozialarbeit Schutz Schweigepflicht Sekten und Beratung in Sektenfragen Sexualität Sexuelle Kindesmißhandlung Solidarität Sonderpädagogik Sonderpädagogische Einrichtungen Sonderpsychologie Sozialarbeit Sozialarbeit in Rußland Sozialarbeitswissenschaft Sozialberichterstattung Soziale Gerontologie Soziale Hilfen in Russland Soziale Probleme Soziale Schicht / Soziale Schichtung Soziale Selbsthilfe Soziale Ungleichheit Sozialepidemiologie Sozialer Wandel / soziale Veränderungen Soziales Sicherungssystem Soziales System Sozialethik Sozialindikatoren Sozialisation Sozialmedizin Sozialökologie Sozialpädagogik Sozialplanung Sozialpolitik Sozialstation Sozialstruktur Sozialversicherung in Deutschland Sozialversicherung in Russland Sozialversorgung in Russland Spieltherapie Stadtteilarbeit Status Straffälligenhilfe in Deutschland Straffälligenhilfe in Russland Straßenkinder Streetwork Subsidiarität Supervision T Themenzentrierte Interaktion Theorie der Sozialarbeit U Übertragung und Gegenübertragung V Verbände Verhaltensauffälligkeit Vernachlässigung Vertretung Verurteilung auf Bewährung Verwahrlosung Vormundschaft Z Zivilgesellschaft 313 Die zweite Auflage enthält Beiträge fogender Autorinnen und Autoren: Prof. Dr. N. F. Bassow, Dr. W. M. Bassowa, B. Benz, Prof. Dr. M. A. Beznin, J. Boeckh, Prof. Dr. M. Bellermann, Prof. Dr. W. Crefeld, A. I. Dodatko, Dr. L. A. Garanina, Dr. J. J. Golubewa, A. N. Gontscharowa, Dr. K. Gulin, Dr. L. Haag, Prof. Dr. M. Hellmann, Prof. Dr. E.-U. Huster, Dr. S. A. Ignatjewa, D. W. Iwanow, Dr. N. W. Jalpajewa, S. A. Jusgin, Prof. Dr. A. W. Kamkin, J. W. Kanistschewa, J. Keden, Prof. Dr. M. Klein-Lange (†), Prof. Dr. B. Klingmüller, J. Kuehn-Velten, Prof. J. J. Kulakowa, Prof. R. Kulbach, A. K. Kuschew, Prof. W. Kunstmann, Prof. Dr. T. W. Lodkina, L. Maschirowa, Dr. S. Michailowa, Prof. Dr. H. Mogge-Grotjahn, Dr. E. Motzkau, J. W. Paljulin, Dr. J. A. Reprinzewa, Prof. Dr. V. Riegels, Dr. J. N. Rossijskaja, Dr. Ž. A. Sacharowa, J. A. Sagrebelnaja, Dr. I. S. Schemet, Prof. F. Schmidt, M. Schofer, Prof. Sieger, O. A. Sigmunt, Prof. K.-J. Spangenberg, Prof. Dr. H.-P. Steden, Prof. W. Specht, I. Sudakowa, Dr. A. I. Timonin, Dr. T. P. Tscherpuchina, T. B. Tschulkowa, M. A. Uglitskaja, Prof. Dr. N. Wohlfahrt, J. I. Worobjowa, Prof. e.h. (RUS) U. Zinda Hinweis zu den Literaturangaben: In der deutschsprachigen Ausgabe des Lexikons der sozialen Arbeit wurde auf die Wiedergabe der Literaturangaben verzichtet, da die angegebene russische Literatur in Deutschland im Regelfall nicht zugänglich ist. Bochum, im Februar 2002 314